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Jaeger, Werner Wilhelm

Geb. 30.7.1888 in Lobberich/Rheinland, gest. 19.10.1961 in Boston.

 

J. war Klassischer Philologe, der seine geistesgeschichtlichen Studien mit editorischer Praxis verband, so daß er marginal hier auch den Sprachforschern zuzurechnen ist. 1907 bis 1911 studierte er Klassische Philologie in Marburg und Berlin, wo er 1911 promovierte und 1914 habilitierte. Entsprechend den Anforderungen der Berliner Promotionsordnung für Klassische Philologen legte er einen Teil seiner Dissertation auf Latein vor (»Emendationum Aristotelearum specimen«), publizierte die größere Arbeit aber schon auf deutsch: »Studien zur Entwicklungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles«.[1] In einer kritischen Sichtung der Quellen, die auch formal-sprachlichen Problemen (etwa zur Kopula, S. 51/52) und kodikologischen Fragen nachgeht, zeigt er nicht nur die Inhomogenität der Überlieferung auf, sondern auch, gegen die philosophiegeschichtliche Kanonisierung des Textes, dessen Werkcharakter als einer nur sekundären Zusammenstellung aristotelischer Texte, die die Entwicklung von dessen Denken zeigen. Das Buch machte ihn in der Fachwelt sofort berühmt – und gab das Thema für seine lebenslange Beschäftigung mit Aristoteles vor.

Er absolvierte eine steile Karriere: bereits 1914 erhielt er eine ordentliche Professur für Klassische Philologie in Basel, 1915 ging er nach Kiel, 1918 wirkte er von dort aus am Aufbau der Universität Hamburg mit, lehnte aber den Ruf nach dort ab, da er auf den Ruf auf die Wilamowitz-Nachfolge in Berlin wartete, den er 1921 auch erhielt. Seitdem nahm er eine Schlüsselrolle in der klassischen Philologie ein. 1923 schrieb er im Anschluß an die Dissertation eine breiter orientierte Gesamtdarstellung: »Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung«[2] (hier jetzt ohne textkritische Details).

Durch sein Lebenswerk zieht sich das Bemühen, den Entwicklungsgedanken in philologische Textexegese umzusetzen. Entwicklung bedeutete für ihn aber auch, den Gegenstand des griechischen Altertums in eine historische Kontinuität bis zur Gegenwart, insbesondere aber zu den christlichen Weiterentwicklungen zu setzen. Darauf zielte auch seine Habilitationsschrift über Nemesius von Emesa (4. Jhd.), bei dem er die Kontinuität der griechischen Stoa und des Neuplatonismus in der christlichen (patristischen) Anthropologie aufzeigte. In diesen Horizont gehört auch ein editorisches Großprojekt, an dem er seit seiner Dissertation, damals im Auftrag von Wilamowitz, arbeitete, die Ausgabe der Schriften des Gregor von Nyssa (4. Jhd.), zu dessen handschriftlicher Überlieferung er von 1911 bis 1913 in Rom forschte. Die ersten Bände der großen Ausgabe erschienen 1921, die weiteren Bände dann später in den USA, wo er dazu ein eigenes Forschungsinstitut aufgebaut hatte, publiziert 1952-1960.

Er war wie sein Lehrer Wilamowitz eine zentrale Figur in der Bildungsszene, nicht nur als Klassischer Philologe, sondern auf einem breiten Feld von Philosophie und Pädagogik, der auch mit programmatischen Beiträgen auf der politischen Bühne auftrat. Nicht nur im Fach, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit verkörperte J. die »geisteswissenschaftliche« (vor allem geistesgeschichtlich artikulierte) Antwort auf die damals so genannte »Zeitkrise«.[3] In diesem Sinne hatte er schon in Hamburg (s.o.) Vorlesungen mit einer politischen Tendenz gehalten, in denen er das Ideal der griechischen Antike der modernen »entarteten Gesellschaft« gegenüberstellte, um zu einer Lösung der gegenwärtigen »Krise« zu kommen.[4] Die Grenzen zum völkisch-nationalistischen Umfeld sind dabei fließend, obwohl er 1918 mit Sympathien für die Sozialdemokratie den gesellschaftlichen Umbruch begrüßte (s. Wegeler, Q: 56). In seinem Beitrag »Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike«[5] beschwor er »die durch die nationale Umwälzung gestellte Aufgabe des Neubaues der deutschen Erziehung« (S. 43), »in dem Augenblick, wo ein neuer politischer Menschentypus sich bildet« (S. 47); dabei reflektiert er »auf die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus« (S. 43).

Mit der rassistischen Politik des Nationalsozialismus geriet er in Konflikt, weil er mit einer Jüdin verheiratet war und sich weigerte, sich von dieser scheiden zu lassen. Das bestimmte seine Entscheidung für eine Emigration mit, weshalb er auch hier am Rande zu den vertriebenen Wissenschaftlern gehört. Nachdem er bereits 1934 eine Gastprofessur in Berkeley wahrgenommen hatte, nahm er 1936 einen Ruf an die Universität Chicago an, was ihm von der politischen Führung in Deutschland geradezu erleichtert wurde.[6] 1939 ging er nach Harvard, wo er bis kurz vor seinem Tod lehrte. In den USA hatte er auch Verbindung zu verschiedenen Emigrantenzirkeln, auch zu politisch und wissenschaftlich ganz anders ausgerichteten wie etwa dem Wiener Kreis: so nahm er im September 1939 an dem von Carnap und anderen organisierten 5. Internationalen Kongreß »for the Unity of Science« teil, auf dem er ein Referat über »Systematization and Unification of Science in the School of Aristotle« hielt.[7] Seine Arbeiten konnten in Deutschland weiter erscheinen (sogar noch in den Kriegsjahren), wo seine Schüler die klassische Philologie in seinem Sinne weiterführten.[8]

Mit seinen editorischen Arbeiten ist J. eine Autorität geblieben, im Fach selbst, aber auch in den breiter orientierten Handbuchdarstellungen (z.B. deutlich an den Verweisen auf ihn in den Artikeln zu den Kirchenvätern der Encyclopædia Britannica). Der Rang seiner textphilologischen Arbeiten wird z.B. bei den Hinweisen auf ihn in der maßgeblichen Ausgabe der Metaphysik des Aristoteles von W. D. Ross deutlich,[9] zu der er selbst später auch eine eigene Ausgabe veranstaltete.

Sein Hauptwerk ist »Paideia. Die Formung des griechischen Menschen«,[10] das weltweit in eine ganze Reihe von Sprachen übersetzt worden ist (zur Bibliographie s. Q). Es war der Versuch einer »Gesamtsicht« des klassischen Griechentums, die er aus den überlieferten Texten von Homer bis Demosthenes entwickelte.[11] Sprachliche Fragen spielten hier allerdings nur eine sehr marginale Rolle, sie kamen allein in Begriffsklärungen, Verweisen auf Wortfelder u. dgl. vor, selbst literarische Gegenstände spielten nur eine untergeordnete Rolle gegenüber einem Gesamtentwurf zum Konzept der griechischen Bildung. Der erste Band erschien 1934 in Berlin, die beiden Folgebände stellte er in den USA fertig, wo sie auch zunächst auf englisch erschienen, kurz darauf dann auf deutsch: »The Ideals of Greek Culture II: In Search of the Devine Centre«, New York 1943; und »The Ideals of Greek Culture III: The conflict of cultural ideals in the Age of Plato«, New York 1944 – Bd. 2 – in Berlin auf deutsch 1944 (!), Bd. 3 auf deutsch in Berlin 1947 (!). Vor allem der erste Band partizipiert deutlich an dem zeitgenössischen politischen Diskurs, was u.a. Bruno Snell heftig kritisierte, der ihm anachronistische Projektionen auf die Antike im Dienste politischer Absichten vorwarf (»[...] die penetrante Beschwörung der griechischen Staatsgesinnung mit einem daherkommenden heroischen Pathos [...]«) und die Kompensation von »unscharfem Denken« durch Rhetorik (S. 350).[12] Die Bände sind relativ flott geschrieben, stilistisch schwanken sie zwischen hohem Pathos und eher saloppen Formulierungen, die sich auch sonst in diesem Umfeld finden. Snell sah darin ein »Literatentum«, das »sich jeder Politik dienstbar machen kann« (S. 353).

In den USA war J. eine prominente Figur, die maßgeblich den Ausbau der klassischen Studien förderte, nicht zuletzt über die zahlreichen späteren Hochschullehrer, die er ausbildete, und die von ihm herausgegebenen New Philological Research Studies. Allerdings nahm er diese Rolle nur mehr noch in der Haltung eines in der amerikanischen Umgebung respektierten »deutschen Gelehrten« ein, der nicht mehr den öffentlichen Status beanspruchte, den er vor der Emigration hatte.[13]

Zwar ist J. seinem Werk nach kein Sprachwissenschaftler, aber die sprachanalytische Kontrolle ist für seine Arbeiten konstitutiv: durch sie grenzt er sich ausdrücklich von der zeitgenössischen Literaturwissenschaft (bei ihm: Literaturgeschichte und Literaturkritik) ab, so vor allem in seiner autobiographischen Bildungsgeschichte (als Einleitung zu seinen »Scripta Minora« 1960; dort bes. S. xviii und xxv). Was ihn faszinierte (und was er in seinen Ausgaben zu Aristoteles und Gregor von Nyssa vorführte), war die Möglichkeit, mit sprachwissenschaftlichen (»philologischen«) Methoden den Originaltext zur Geltung zu bringen – gegen den Positivismus der Reproduktion der Überlieferung, aber auch gegenüber einer unkontrollierten Emendation. In diesem Rahmen konnte er gelegentlich auch sprachwissenschaftliche Einzelprobleme analysieren, so z.B. in: »Adverbiale Verstärkung des präpositionalen Elements von Verbalkomposita in griechischen Dichtern« (1957),[14] wo er syntaktische Fehldeutungen von adverbialen Elementen wie xooris, palin als Präpositionen analysiert, die zu entsprechenden Textemendationen geführt haben.

Sein Bewußtsein für sprachwissenschaftliche Erfordernisse zeigt sich in seiner Kritik an anderen. In seinem Nachruf auf J. Stenzelbemerkt er zu dessen Sprachphilosophie zurecht, daß »Linguisten von heute« das Werk wegen seiner »schmalen [...] empirisch sprachliche[n] Basis« wohl kaum als einschlägig sehen werden (S. 111). Ähnliches könnte man wohl auch in Bezug auf sein eigenes Werk feststellen.

Q: NDB; BHE; Coser 1984: 274-277; zum Nachlaß s. Spalek u.a. 1978. W. Schadewaldt, »Gedenkrede auf W. J.«, Berlin: de Gruyter 1963 (mit Schriftenverzeichnis 25-39); »Scripta Minora«, 2 Bde., Rom: Storia e Letteratura 1960; K. G. Wesseling, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 18/2001, dort auch eine ausführliche Bibliographie der Rezensionen u.a. Arbeiten zu J.; Wegeler 1996.


[1] Berlin: Weidmann 1912. Der lateinische Text ist wieder abgedruckt in seinen »Scripta Minora« (Rom: Storia e Letteratura 1960, 2 Bde.).

[2] Berlin: Weidmann 1923.

[3] So noch im Rückblick deutlich in Schadewaldts Nachruf von 1963 (Q).

[4] S. dazu Krause u.a. 1991, Bd. III: 780-781, 806-807.

[5] In: Volk im Werden 1/1933: 43-49.

[6] Er wurde offiziell mit Dank für seine Leistung entlassen; die entsprechende Urkunde wurde von Hitler und Göring unterschrieben (s. Wegeler, Q: 58).

[7] S. Erkenntnis 8/1939-1940: 371. Die Publikation seines Referats war für den Folgeband vorgesehen, der aber nicht mehr erschienen ist.

[8] Z.B. Richard Harder; dazu und zu den politischen Implikationen s. z.B. Losemann 1977.

[9] W. D. Ross (Hg.), »Aristotle’s Metaphysics«, 2 Bde., Oxford: Oxford UP 1924 (korrigierte Neuauflage 1953, Nachdruck 1966, Vorwort S. VI).

[10] Bd. 1, Leipzig u. Berlin: de Gruyter 1934.

[11] Zu Demosthenes hat er eigene Studien vorgelegt.

[12] S. die ausführliche Besprechung in Göttingische Gelehrte Anzeigen 197/1935: 329-353 (Seitenangaben hier nach dem Wiederabdruck in B. Snell, »Gesammelte Schriften«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966: 32-54). Mit beißender Ironie zerpflückt Snell J.s Großspurigkeit, seine Pose des Heroischen, und holt ihn auf den Boden der Texte herunter, wo er ihm Übersetzungsfehler nachweist und auch sonst historische Ungenauigkeiten (z.B. auf S. 45). Mit J.s politisierendem Stil sieht er die philologischen Leistungen des 19. Jhdts. in der klassischen Philologie preisgegeben und qualifiziert das Werk als »Literatentum« (S. 54).

[13] S. dazu auch Ludwig 1984: 164-169, 172-173.

[14] Wieder abgedruckt in »Scripta Minora« II: 517-524.

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