Maas Logo web

Kurath, Hans

Geb. 13.12.1891 in Villach/Kärnten, gest. 2.1.1992 in Ann Arbor/Michigan.

 

1907 Emigration mit der Familie in die USA, wo er in Milwaukee, einem Zentrum der deutschsprachigen Immigration, aufwuchs und zur Schule ging. Aus dieser Zeit stammen seine engen Beziehungen zu Prokosch, der für seine fachliche Orientierung maßgebend wurde. Nach dem Beginn seines Studiums in Wisconsin ging er zu Prokosch an die Universität Texas, wo er 1914-1919 an der Deutschen Abteilung unterrichtete. Wie Prokosch auch bekam er die antideutschen Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg zu spüren und mußte wie dieser Texas verlassen.[1]

K. setzte sein Studium in Chicago fort, mit einer strikt am deutschen junggrammatischen Modell ausgerichteten Orientierung vor allem durch Charles Buck, der ihm das Thema seiner Dissertation vorgab: »The semantic sources of the words for the emotions in Sanskrit, Greek, Latin and the Germanic Languages«.[2] Die Arbeit dokumentiert die Belege in diesem Wortfeld, wobei für ihn ausdrücklich die Wundtschen sprachpsychologischen Grundannahmen leitend sind; auf diese Weise stellt er Typen der sprachlichen Entwicklung zusammen: von Lauten zu Befehlsausdrücken, von Körperteilbezeichnungen zu psychologischen Ausdrucksformen u. dgl.

Seine weitere Entwicklung brachte ihn in einen engen Kontakt zu der sich neu formierenden US-amerikanischen Sprachwissenschaft, insbesondere auch zu Bloomfield, mit dem er die strikte Fortschreibung des junggrammatischen Modells als Zielvorstellung gemeinsam hatte. Die weiteren Stationen seiner Arbeit markieren jeweils auch die in Angriff genommenen größeren Projekte, die er anregte bzw. leitete. Von 1920-1929 unterrichtete er an der Northwestern University in Evanston, Illinois, wo er orientiert am europäischen Modell der damals dominanten Sprachgeographie dialektologische und volkskundliche Studien zum in der Region gesprochenen Englisch unternahm. 1929-1931 hatte er eine Professur für »German and Linguistics« an der Ohio University, von wo er 1931-1946 an die Brown University (Providence, Rh. I.) ging, wo er die Leitung des von verschiedenen Verbänden seit längerem propagierten Unternehmens für einen amerikanischen Sprachatlas übernahm.

Eine Skizze dieses Unternehmens, in der er es ausführlich in Hinblick auf die europäischen Modelle diskutiert, hatte er 1928 vorgelegt,[3] mit einem Abriß der regionalen Differenzierungen in den USA (besonders im Osten und im Süden), aber auch Binnendifferenzierungen, insbesondere in Hinblick auf »rustic and negro dialects« (S. 295). Er sieht mechanische Aufnahmen (Diktaphon, Schallplatten) vor, neben systematischen Ergänzungen der Atlaskarten durch lokale Monographien. Die Realisierung des Unternehmens konnte 1933 anlaufen, nachdem die Rockefeller-Stiftung die Finanzierung gesichert hatte. Vorausgegangen war eine längere experimentierende Vorphase. Die Publikation der Karten wurde noch im gleichen Jahr vorbereitet; von 1939 bis 1943 erschienen die Karten in drei Bänden an der Brown-Universität: »Linguistic Atlas of New England«. Einer seiner engsten Mitarbeiter war Bernard Bloch (1907-1965), der später zu einer Schlüsselfigur der amerikanischen strukturalen Sprachwissenschaft wurde.

K. orientierte sich bei diesem Unternehmen strikt an europäischen Vorbildern, insbesondere an dem französischen Sprachatlas von Gilliéron und dem italienischen Atlas von Jaberg und Jud, die im übrigen 1931 von der LSA eingeladen wurden, auf einem Linguistic Institute gewissermaßen die künftigen Mitarbeiter am amerikanischen Sprachatlas auszubilden. Daß das Sprachatlas-Unternehmen damals realisiert wurde, hatte vor allem auch gesellschaftliche Hintergründe, in denen sich K.s Biographie spiegelt: es gab damals in den USA eine in der Öffentlichkeit heftig geführte Debatte um den Status des amerikanischen Englischen, wobei rassistische Obertöne dominierten, die in den Besonderheiten des amerikanischen Englischen die Korruption durch »fremdrassische« Einwanderer sehen wollten.[4] K. sah eine primäre Aufgabe der sprachwissenschaftlichen Forschung darin, derartigen Stereotypen, die insbesondere von einem imaginären Gegensatz von britischem und amerikanischem Englisch ausgingen, die Rekonstruktion der Binnendifferenzierung des amerikanischen Englischen entgegenzusetzen, in der er nach dem Modell der europäischen Dialektologie die Spiegelung von Siedlungsprozessen sehen will, mit der Extrapolation von Kernräumen, Fusions- gegenüber Reliktzonen, Staffellandschaften u. dgl. mehr aus den Konfigurationen von Isoglossenbündeln.

Gleichzeitig unternahm K. auch die Auswertung der Befunde des Unternehmens in dem 1939 erschienenen Handbuch (»Handbook of the Linguistic Geography of New England«),[5] das in der Anlage des Leitfadens/Fragebogens und dem Fokus auf der genauen phonetischen Datenerhebung auf der einen Seite, der Korrelation der Untersuchungsräume zu der Siedlungsgeschichte auf der anderer Seite die traditionelle Orientierung des Unternehmens deutlich machte. Das Gegenstück zu diesem Unternehmen war der Versuch, auch die dialektale Differenzierung der mitgebrachten Sprachen der frühen englischen Siedler zu rekonstruieren, s. auf der Grundlage von Studien seines engen Mitarbeiters Lowmann und unter Benutzung der Quellen im mittelenglischen Wörterbuch, s. (gemeinsam mit diesem) »The dialectal structure of Southern England: Phonological Evidence«.[6]

K. erwies sich vor allem auch als guter Organisator eines solchen Großunternehmens: er sah, daß ein Gesamtatlas für die USA nicht in einem Arbeitsgang machbar war (insofern wertete er vor allen Dingen auch die Erfahrungen mit dem bis heute nicht abgeschlossenen Projekt des deutschen Sprachatlasses aus), sondern beschränkte das Unternehmen realistisch auf eine Region, für die er von 1939-1943 auch die Publikation erfolgreich bewerkstelligte, eben den »Linguistic Atlas of New England«. Die negativen forschungspolitischen Auswirkungen des Weltkrieges machten diesem Unternehmen dann aber zu schaffen, sodaß bis heute nicht alle Materialien veröffentlicht werden konnten. Das war nicht nur eine Frage der finanziellen Förderung, sondern war auch der Tatsache geschuldet, daß wichtige Mitarbeiter, wie vor allem Bloch, auf »kriegswichtigere« Unternehmen abgezogen wurden (vor allem das Sprachprogramm der Armee).

Nach dem Modell von Gilliéron begann K. die Auswertung des Atlasses, deren Ziel für ihn einerseits in der Tradition von Wörter und Sachen (also nach dem Modell von Jaberg und Jud) der Zusammenhang von materialer Lebenskultur und Sprache war, andererseits die Rekonstruktion der Siedlungsräume der USA, weshalb der Schwerpunkt der Datenerhebung bei der Suche nach den jeweils ältesten, männlichen (weil Männer stereotyp als konservativer in ihrem Sprachverhalten galten) und möglichst ungebildeten Informanten war – gegebenenfalls allerdings im Kontrast auch zu der Erhebung bei einem örtlichen gebildeten Sprecher. In seinem Band: »A Word Geography of the Eastern United States«[7] gibt er auf der Basis von 163 Karten und ihrer detaillierten Interpretation eine onomasiologische Auswertung im Wörter und Sachen-Format. Dominant wurden für ihn aber bei der Auswertung der so indirekt ins Bild gekommenen lokalen Variation zunehmend die sozialen Differenzierungen, denen er in einer phonetisch-phonologischen Mikroanalyse nachgeht, s. (gemeinsam mit Raven McDavid) »The Pronunciation of English in the Atlantic States«.[8]

Hier reagierte er auf die Idealisierung der damals dominanten phonologischen Analysen und versuchte, auf der subphonemischen Ebene in der phonetischen Variation soziale Strukturen nachzuweisen, die sich z.T. inkongruent mit den sprachgeographisch auszumachenden Dialektlandschaften verteilen. Explizit stellt er dabei heraus, daß eine Sprache nie ganz homogen als System zu fassen ist, sondern durch die Dynamik des Wandels immer heterogen ist. Für die Interpretation der Daten zieht er Feldnotizen heran, die z.T. auch die Haltung der Sprecher zu ihrer Sprechweise dokumentieren. Diese Untersuchungsrichtung hat er allerdings selbst nicht weiter verfolgt.

Von 1946-1948 ging er nach Yale, wo er im Zentrum der neuen strukturalen Sprachwissenschaft stand; von 1948 bis zu seiner Emeritierung war er an der Universität Michigan (Ann Arbor), wo er die Leitung des seit langem vor sich hindümpelnden »Middle English Dictionary« übernahm. In Ann Arbor war er eine der zentralen Figuren der Sprachwissenschaftsszene; er organisierte dort wiederholt linguistische Institute der Linguistic Society, betreute zahlreiche Dissertationen und hatte vor allen Dingen eine ganze Reihe der wichtigen späteren Sprachwissenschaftler der US-Szene als Atlas-Mitarbeiter (darunter Herbert Penzl).

Unter seinen Publikationen findet sich auch eine ausdrücklich traditionell angelegte Darstellung der englischen Phonologie: »A Phonology and Prosody of Modern English«,[9] bei der er die Interpretation der zeitgenössischen Variationen durch die Projektion auf ein historisches Modell bewerkstelligt, wobei für ihn das Mittelenglische ausdrücklich die gleiche Rolle übernimmt, die das Mittelhochdeutsche in den germanistischen Darstellungen für das Neuhochdeutsche hat. Obwohl er hier ausdrücklich die Tradition der »Bloomfieldians« reklamiert, dankt er in den Vorbemerkungen einer ganzen Reihe von europäischen Sprachwissenschaftlern für persönliche Diskussionen, u.a. Trubetzkoy. Auch in den Einzelanalysen zeigt sich das Anknüpfen an die europäische, insbesondere deutsche Tradition etwa von Sievers, so bei seiner Analyse der Entwicklung der Silbenschnittkorrelation, die in seiner Sicht in phonetischer Hinsicht im Englischen abgebaut wird, indem der Anschlußkontrast (checked gegenüber free vowels) durch eine Verschiebung im Vokalismus abgelöst wird (statt »festem Anschluß« im amerikanischen Englischen »ingliding vowels«).

In seinem Einführungsband in die Dialektologie »Studies in Area Linguistics«[10] nimmt er systematisch die Geschichte der europäischen Dialektologie als Folie für das, was in der US-amerikanischen Linguistik zu tun ist. Neben der arealen Ausgliederung der Sprachgeographie (wobei er den Vorbildcharakter der romanischen Sprachgeographie herausstellt), muß es darum gehen, auf der Basis detaillierter phonetischer Beschreibungen die sozialen Differenzierungen in den Dialekten in den Griff zu bekommen, die sich als inkongruent zu phonologischen Strukturierungen, aber auch zur Morphologie und zum Lexikon darstellen. Immer wieder verweist er hier auf deutsche Modelle: so auf Ettmayer (S. 92ff.) oder Baumgartners (1940) Arbeit zu Basel, die für ihn eine Modellstudie zur Verschiebung von der Fixierung auf Dorfmundarten zum sozialen Raum der Stadt bildete, die er geradezu als Gegenmodell zu der für ihn zu mechanisch verfahrenden jüngeren US-amerikanischen Soziolinguistik hinstellt.

Diesen Reorientierungen war bei ihm offensichtlich auch ein nostalgischer Rückbezug auf seine eigene Bildungsgeschichte vorausgegangen, s. seine monographische Darstellung eines deutschen Dialektes: »Die Lautgestalt einer Kärntner Mundart und ihre Geschichte«.[11] Es handelt sich um die Rekonstruktion der Sprachentwicklung (wiederum idealtypisch bezogen auf ein »Normalmittelhochdeutsch«) der Mundart seiner Mutter, für die er 1962 zu Mundartaufnahmen in die Region Villach gefahren war. Hier versuchte er, seine eigene frühere Familiensprache (er betont, daß bei ihm zu Hause »gut kärntnerisch« gesprochen wurde) sprachhistorisch zu verlängern, indem er auch bei seinen Informanten möglichst die konservativen Spuren der Mundart sucht.

Vor diesem Hintergrund verfolgte er die soziolinguistischen Neuentwicklungen mit einer gewissen Skepsis: einerseits sah er in ihnen, insbesondere in den Arbeiten von Labov, die Fortführung des von ihm selbst mit dem Atlas Angeregten, andererseits aber war er äußerst skeptisch gegenüber den schematisierenden Darstellungen, die sich von dem dialektologischen Forschungsprogramm weg entwickelten, s. seinen Vortrag vor der American Dialect Society 1967 »The investigation of urban speech and some other problems confronting the student of American English«[12]. Nach Hinweisen von Herbert Penzl (pers. Mitteilung) war er in privaten Äußerungen äußerst kritisch und ablehnend dem Labovschen Unternehmen gegenüber.[13]

Bei dem zweiten großen Unternehmen, mit dem er betraut war, dem »Middle English Dictionary«, bewies er seine organisatorischen Fähigkeiten, nachdem seine Ernennung an die Spitze des Unternehmens auf den Widerstand traditionell ausgerichteter englischer Sprachhistoriker gestoßen war (s. dazu die Nachrufe, Q). Dieses Unternehmen war damals zwar schon über mehrere Generationen unterwegs, aber mit seiner Verankerung an verschiedenen Universitäten nie richtig in Gang gekommen. K. beschloß, nicht das bereits für den Druck vorbereitete Material zu publizieren, sondern zunächst einmal mit einer neuen Wörterbuchstrecke gewissermaßen eine Modellpräsentation des Materials vorzunehmen, strikt positivistisch beschränkt auf die Dokumentation der Beleglage mit äußerst sparsamen, interpretierenden Hinweisen. Die erste Alphabetstrecke E-F publizierte er 1952-1955. Erst im Anschluß daran erschienen die bereits für den Druck vorher vorbereiteten Artikel A-B (1956-1958) und C-D (1959-1960). Zuletzt erschien 1998 als Bd. 11 die Strecke U-V.[14]

K. starb im biblischen Alter von 101 Jahren als hochgeehrter Fachvertreter, dem die Linguistic Society of America noch 1991 zum 100. Geburtstag einen Jahrgang von Language gewidmet hatte.

Q: Stammerjohann; DBE 2005; R. I. McDavid, in: Orbis 9/1960: 597-612; H. Scholler, in: H. Scholler/J. Reidy (Hgg.), »Lexicography and Dialect Geography (FS für H. K.)«, Wiesbaden: Steiner 1973: 1-4, dort S. 268ff. die Bibliographie. Nachrufe von R. W. Bailey, in: Lg. 68/1992: 797-808; R. E. Lewis, in: Medieval English Studies Newsletter 27/1992: 1-3.



[1] Die engen Beziehungen zu Prokosch blieben lebenslang bestehen. Eine Folge davon war, daß K. in dritter Ehe 1930 dessen Tochter Gertrude heiratete (Gertrude K., geb. Prokosch, war Ethnologin, die wie auch K.s Bruder William über nordamerikanische Indianer forschte).

[2] Menasha, Wisc.: Collegiate Press 1921. Buck (1866-1955) vergab derartige Themen für sein erst sehr viel später veröffentlichtes vergleichendes etymologisches Wörterbuch der indoeuropäischen Sprachen (wobei er im übrigen Ks. Dissertation nur u.a. erwähnt, nicht aber bei den explizit aufgeführten Vorarbeiten herausstellt).

[3] »American Pronunciation« in: Tract 30/1928: 279-297. Zur Genese und Entwicklung des Atlas, s. z.B. N. Brown, »H. K.: Linguistic Atlas of the United States«, s. http://www.csiss.org/classics/content/17 (abgerufen am 29. Juli 2013).

[4] S. dazu K.s Aufsatz von 1928.

[5] New York: AMS 1973 (Nachdruck der Ausgabe von 1939).

[6] Tuscaloosa: Univ. of Alabama Press 1970.

[7] Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1949.

[8] Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1961.

[9] Heidelberg: Winter 1964.

[10] Bloomington: Indiana UP 1972.

[11] Wiesbaden: Steiner 1965.

[12] In: Publications of the American Dialect Society 49/1968: 1-7.

[13] Labov selbst stellt seinen inzwischen veröffentlichten neuen Sprachatlas »Atlas of North American English«, Berlin: Mouton de Gruyter 2000, allerdings emphatisch in die K.sche Tradition – gewissermaßen als Umsetzung dessen, was K. selbst nicht realisieren konnte, so in seinem Plenarvortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft im März 2000 in Marburg. Zu Labov, s. bei U. Weinreich.

[14] Erschienen jeweils Ann Arbor, Mich.: Univ. of Michigan Press.