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Reichenbach, Hans

Geb. 26.9.1891 in Hamburg, gest. 9.4.1953 in Los Angeles.

 

R.s Va­ter war Kaufmann jüdischer Herkunft, der zum Protestantismus konvertierte, die Mutter protestantische Lehrerin. R. war ebenfalls protestantisch getauft, aber ohne religiöse Bindung.[1] 1910-1911 studierte R. zunächst Bauingenieurswesen in Stuttgart, wechselte aber wegen seiner theoretischen Interessen zur Mathematik, Physik und Philosophie, die er in Hamburg (insbes. bei Cassirer), Göttingen und München studierte. Da er für seine Dissertation über mathematische Wahrschein­lichkeitstheorie an diesen Universitäten keinen Betreuer fand, mußte er 1915 extern in Erlangen promovieren, wo der Philosoph P. Hensel und die Mathematikerin E. Noether die Begutachtung arbeitsteilig übernahmen.

R. war bereits als Schüler in der Wandervogelbewegung aktiv, mit ausgesprochen linkem Engagement, das er später in freistudenti­schen Organisationen (mit Affinitäten zum Wandervo­gel) und in Berlin in der »Sozialistischen Studentenpartei Berlin« weiterführte.[2] Gegen seine pazifistische Einstellung wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, aber 1917 wegen Krankheit entlassen. Von 1917 bis 1920 war er als Ingenieur in Berlin bei einer Radiofirma tätig. In dieser Zeit setzte er sein Physikstudium bei Einstein fort, mit dessen Relativitätstheorie er sich systematisch auseinandersetzte. 1920 erhielt er eine Assistentenstelle in Stuttgart in der Physik, wo er sogleich mit einer Habilitationsschrift über die Relativitätstheorie habilitierte. Nachdem die Assistentenstelle 1925 ausgelaufen war, erhielt er, vor allen Dingen auch aufgrund der Unterstützung durch Einstein, 1926 eine außerordentliche Professur für Naturphilosophie in Berlin, die er bis zu seiner Entlassung aus rassistischen Gründen (§ 3 des Beamtengesetzes) 1933 innehatte.

In Berlin hatte er 1929 eine maßgebliche Rolle bei der dort 1927 (noch ohne seine Beteiligung) gegründeten »Gesellschaft für empirische Philosophie« übernommen, die dank ihm dann breit in den verschiedenen Disziplinen verankert war.[3]

Als auch publizistisch exponierter Gegner der Nationalsozialisten war er Ziel systematischer Störungen seiner Lehrveranstaltungen im Sommersemester 1933 (er wurde sowohl als »Marxist« wie auch als »Halbjude« angepöbelt), die ihn zwangen, diese abzubrechen. Er reiste schon vor seiner Entlassung im September in die Schweiz und nahm dort Kontakt zur »Notgemeinschaft« auf. So gehörte er 1933zu den ersten Professoren, die für die Universitätsreform in der Türkei angeworben wurden, wohin er bereits im Herbst 1933 emigrierte. Obwohl er auch hier sein universitätsreformerisches Engagement fortführte und sich auf die türkischen Arbeitsverhältnisse einließ, litt er darunter, daß seine Studenten (an einer philosophischen Fakultät!) keine mathematisch-naturwissenschaftliche Vorbildung mitbrachten; er verlangte von ihnen ein paralleles Studium in solchen Fächern.[4] So vertrat er auch in dieser Zeit sein wissenschaftskritisches Programm nach Möglichkeit auf internationalen Foren, s. sein »La philosophie scientifique: une esquisse de ses traits principaux«.[5] Ohnehin tat er sich mit den Verhältnissen in der Türkei, insbesondere auch den universitären dort schwer und bemühte sich gleich um die Weitermigration.[6] Allerdings band ihn dort ein Fünf-Jahres-Vertrag, sodaß er ein Angebot der Universität New York für eine Philosophieprofessur nicht annehmen konnte. Erst 1938 konnte er in die USA (Los Angeles) weitermigrieren, wo er die Staatsbürgerschaft erwarb und blieb.

R. ist im weiten Sinne von Sprachanalyse hierher zu rechnen, da seine Arbeiten zwar durchweg von naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen bestimmt sind, diese ihn aber früh zur Frage der Form (natur-)wissenschaftlicher Theorie bzw. Argumentation führten (vor allem seit 1920 in zahlreichen, auch populärwissenschaftli­chen Darstellungen zur Relativitätstheorie). Die Ableh­nung »metaphysischer« Argumentationsweisen hatte ihn zu einer seit 1923 engen Zusammenarbeit mit dem Wiener Kreis geführt, die sich seit 1930 in der gemeinsamen Betreuung der Zeitschrift Erkenntnis nieder­schlug. Eine enge, wenn auch nicht spannungsfreie Beziehung bestand vor allem zu Carnap: beide konkurrierten u.a. auch um die Professur in Prag, die Carnap nur erhielt, weil R. es vorzog, in Berlin zu bleiben.

Die Zusammenarbeit mit Carnap setzte R. in der gemeinsamen Emigration in den USA fort – allerdings auch hier nicht ohne Spannungen, die in R.s kritischer Skepsis gegen philosophische Systeme begründet waren; für ihn ging es um die methodischen Fragen wissenschaftlicher Analysen (s. Kamlah, Q). Daraus resultierte sein Versuch, eine systematische Erkenntnistheorie auf die Form wissenschaftli­cher Argumentation zu gründen, was ihn (mehr als andere Vertreter der »analytischen Philosophie«) zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den Strukturen der »natürlichen Sprache« führte. Dazu hat (autobiographischen Bemer­kungen zufolge) auch sein Versuch beigetragen, in verschiedenen Sprachen zu unterrichten (er bemühte sich in den ersten Jahren des Exils sehr um das Türkische). Im Vorwort zu seiner »Logik« (1947, s.u.) führt er ausdrücklich als Ausgangspunkt für die Analyse »the necessity of teaching in several languages« an (S. 6*). In der Art, in der er sich offensichtlich problemlos mit dem Leben in einer zunächst fremden Sprache arrangierte (s. dazu seine Witwe Maria R., in Haller/Stadler, Q),[7] ist er eine große Ausnahme bei den hier betrachteten Sprachforschern – auch im Vergleich mit denen, die sich als empirisch-deskriptive Fachvertreter verstanden. Das stimmt auch zu seiner ausgiebigen studentischen und auch später noch betriebenen aufkläre­rischen publizistischen Tätigkeit. Ein Reflex dieser Bemühungen sind z.B. die Grundzüge einer allgemeinen Sprachtheorie im ersten Teil von »Experience and Prediction«.[8]

In der jüngeren Sprachwissen­schaftsentwicklung sind R.s »Elements of Symbolic Logic«[9] zu einem Handbuch geworden, das seine Aufnahme in diesen Katalog begründet. R. unternahm hier die explizite Modellierung der grammatischen Struk­tur der Umgangssprache (»conversational grammar«) – als Interpre­tation des logistischen Kalküls auf der einen Seite, aber doch eben auch als partiell zu modellierender Gegenstandsbereich auf der anderen Seite (demgegenüber die logisti­schen Modelle Idealisierungen darstellen). Die praktische Zielsetzung (und damit sprachtheoretische Begren­zung) seines Unternehmens ist bei ihm sehr deutlich: ausgehend von einer Variante der Sprachkritik, die die »natürlichen Sprachen« für ihre implizite Ausdrucksweise und Ungenauigkeit (vor allem im Rekurs auf metaphorische Ausdrucksweisen) tadelt, sollen solche expliziten Modellierungen Abhilfe schaffen – wenn er selbst sein wissen­schaftliches Programm mit einer »rationalen Nachkonstruktion« um­schreibt, so betont rational eben die normative, nicht deskrip­tive Zielsetzung. Davon bestimmt sind die Idealisierungen, die er vor­nimmt: von allem Individuellen (»Psychologischen« – wozu er pau­schal Stilfragen rechnet) ist zu abstrahieren; das Modell ist inva­riant dazu. Rekonstruiert werden aber die Differenzen in den ein­zelsprachlichen Grammatisierungen, ausführlich vor allem im Tem­pus/Aspektbereich im 7. Kapitel der »Elements«, wo er auch türki­sche Beispiele mit solchen aus europäischen Schulsprachen kontra­stiert, dabei auch systematisch Fragen der Wortarten behandelt, wobei er sich (anders als die meisten seiner philosophischen Fachkollegen) von schulgrammatischen Vorstellungen löst (etwa bei dem sprachphilosophischen Dauerbrenner der Copula mit Verweis auf die verblosen Konstruktionen des Türkischen mit Personalsuffixen, S. 321).[10]

Seine Modellierung eines Systems temporaler Interpretation ist heute Standardprämisse auch nicht-formaler Darstellungen grammatisierter Zeitverhältnisse:[11] auf ihn geht das Operieren mit einer Ereignisvariablen für die referentielle Interpretation der syntaktischen Prädikate zurück und insbesondere auch die Differenzierung der temporalen Referenz, mit der Unterscheidung von  Sprechzeitpunkt, der Situierung des besprochenen Ereignisses (Ereigniszeit) und darüber hinaus auch einer unabhängigen Betrachtzeit, deren notwendige Annahme er vor allem durch die Analyse komplexer Sätze begründet.[12] Sie gehört bei ihm durchaus in die Umsetzung des sprachkritischen Programms der frühen »Logistik«, das über die Konstruktion einer Metasprache die »umgangssprachlich« verdeckten Strukturen sichtbar machen kann: er spricht ausdrücklich davon, daß die (beobachtbare) Sprache »makes a mistake« in dem, was sie zeigt (Logik, S. 302). So zeigt er in einer für ein Logikbuch erstaunlichen Fülle von Beispielen verdeckte Differenzen wie z.B. bei der nur vordergründig einheitlichen Kategorie von Adjektiven den Unterschied zwischen Attributen wie langsamer Fahrer gegenüber rotes Gebäude, die über ein Netz von Paraphrasen (i. S. Carnaps also: »Transformationen«) zu desambiguieren ist, vgl. er fährt schnell (adverbial) gegenüber das Gebäude ist rot (prädikativ). Zugleich ist für ihn damit die Möglichkeit gegeben, solche sprachspezifischen Strukturen durch ihre Explikation in einer einheitlichen Metasprache sichtbar zu machen, in seiner Darstellung durchweg mit vergleichenden Beispielen deutsch gegenüber englisch, in den Übungsaufgaben auch türkisch. Damit wurde er für neuere sprachtypologische Ansätze grundlegend.

Allerdings konnte seine Modellierung in der Weiterentwicklung der Generativen Grammatik realistisch auch als Explikation von Elementen der Universalgrammatik (miß-)verstanden werden. Aufgrund der kognitiven Orientierung der jüngeren generativen Arbeiten wird dabei R.s metasprachliche Konstruktion, die (wie er nicht zuletzt mit den türkischen Beispielen deutlich macht) für die Darstellung der Verhältnisse in allen Sprachen taugen muß, in eine universalgrammatische Vorgabe uminterpretiert, die gegebenenfalls als »Tiefenstruktur« in allen Grammatiken postuliert wird. Für R. hätte darin ein Verstoß gegen das gelegen, was er in der Tradition der kritischen (kantischen) Philosophie als die Unmöglichkeit apriorischer synthetischer Urteile faßte. Die Konsequenz davon ist, daß sich eine solche realistische Modellierung für die zunehmend feinkörniger gewordene jüngere Forschung als zu komplex und unhandlich erweist, weil die metasprachliche Vorgabe einer maximal expliziten kanonischen Form, die es erlaubt, komplexe Prädikate darzustellen (etwa mit der notwendigen Unterscheidung von Betracht- gegenüber Ereigniszeit bei er hatte es gesehen), zu umständlich und wenig plausibel für einfache Prädikate ist (vgl. im Deutschen die unplausible derartige Unterscheidung bei Ausdrücken wie er sah). Wenn das, wie es in jüngeren Arbeiten gelegentlich zu lesen ist, als Kritik an R. vorgebracht wird, dann wird eben übersehen, daß es diesem um eine metasprachliche kanonische Form, nicht um eine universalgrammatische Modellierung im Sinne der Generativen Grammatik ging. Im Sinne einer metasprachlichen Vorgabe, nicht von realistischen Vorgaben, ist z.B. auch sein Klassifizierungssystem der Deskriptoren für die Wortartendifferenzierung zu sehen (S. 352-354).

Bis heute sind viele der R.schen Symbolisierungsvorschläge in linguisti­schen Darstel­lungen üblich, wenn auch modifiziert bzw. differenziert (durch das Operieren mit Intervallen bei der Modellierung von Zeitverhältnissen, eine weniger direkte Interpretation grammatischer Strukturen durch deutbare Zeitstrukturen usw.). In gewisser Hinsicht verfolgt die theoretische Sprachwissenschaft, sowohl da, wo sie die Axioma­tisierung ihrer Aussagen zum Programm hat, wie da, wo sie im an­wendungsbezogenen Bereich der Künstlichen Intelligenz operiert, das R.sche Programm. Zu R.s Lebzeiten war ein solches Programm innerhalb der sprachwissenschaftlichen Disziplin nicht definiert – heute ist es der Gegenpol zu den hier wiederholt als kulturanaly­tisch angesprochenen Ansätzen, die gerade R.s sprachwissenschaft­liche Mitemigranten prägten.[13]

Eine neunbändige (allerdings nicht auf Vollständigkeit abge­stellte) Werkausgabe erscheint seit 1977 (»Gesammelte Werke« hg. von Andreas Kamlah und Maria Reichenbach, der Witwe, bisher 7 Bände);[14] daneben ist eine zweibändige englischsprachige Werk­auswahl erschienen (»Selected Writings 1909-1953«, hg. von Maria Reichenbach und Robert S. Cohen),[15] die auch die hochschulpolitischen Frühschriften enthält, die in der deutschen Ausgabe nicht vorgesehen sind. Zudem enthält sie eine Sammlung persönlicher Notizen: autobiographisch oder von Ver­wandten, Freunden und Kollegen, die nicht nur die Person H. R. anschaulich machen – sondern auch die Integrationspro­bleme eines europäischen Philosophen, der sich zugleich immer von den heimischen »metaphysischen« Traditionen distanzierte (s. etwa die Bemerkungen von E. Nagel, Bd. I: 45).

Der umfangreiche Nachlaß liegt in der Universitätsbibliothek Pittsburgh (s. Q).

Q: LdS: permanent; BHE; Hoss (2007: 171). Autobiographische Darstellungen (1932, 1936, 1951) in: M. Reichenbach/R. S. Cohen (Hgg.), »H. R. Selected Writings 1909-1953«, 2 Bde., Dordrecht: Reidel 1978, Bd. 1: 1-32; W. C. Salmon in der Einleitung zu den »Gesammelten Werken« (Bd. 1/1977: 7-12); R. Haller/F. Stadler (Hgg.), »Wien-Berlin-Prag. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie«, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1993, s. darin besonders: Maria Reichenbach, »Erinnerungen und Reflexionen« (S. 184-296), D. Hoffmann, »Die ›Berliner Gesellschaft für empirische/wissenschaftliche Philosophie‹« (S. 386-401), A. Kamlah, »Hans Reichenbach – Leben, Werk und Wirkung« (S. 238-283). Der Nachlaß wird elektronisch erschlossen und zugänglich gemacht zugleich an der Universität Pittsburgh: http://www.library.pitt.edu/libraries/special/asp/reichen.html (Febr. 2009) und der Universität Konstanz www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/philarchiv/bestaende/Reichenbach.htm (Febr. 2009); M. Murzi in: »The Internet Encyclopedia of Philosophy«: http://www.iep.utm.edu/r/reichenb.htm (Febr. 2009); C. Glymour/F. Eberhardt, »H. R.«, in: Edward N. Zalta (Hg.), »The Stanford Encyclopedia of Philosophy« (Winter 2012 Edition), s. http://plato.stanford.edu/archives/win2012/entries/reichenbach/ (abgerufen 1. Juli 2013) – mit einer ausführlichen Darstellung von Biographie und Werk und auch dessen kritischer Würdigung.



[1] So Salmon (Q); dagegen schreibt Maria. R. in Haller/Stadler (Q), daß der Vater und auch der ältere Bruder Bernhard praktizierende Juden gewesen seien.

[2] S. z.B. sein engagiertes Plädoyer für eine sozial ausgerichtete Hochschule (gegen eine Reform, die nur auf Didaktik der Lehre zielt) in: »Der Sinn der Hochschulreform«, in dem von ihm selbst mit anderen herausgegebenen Band der Deutschen Freien Studentenschaft, »Studentenschaft und Jugendbewegung«, München: Steinebach 1914: 7-11. In den 20er Jahren war R. Mitglied in einem (sozialistisch ausgerichteten) »Rat geistiger Arbeiter«, s. J. Kurucz, »Struktur und Funktion der Intelligenz während der Weimarer Republik«, Köln: Grote 1967: 93. Dagegen schreibt Kamlah (Q), daß er nach dem Krieg sein sozialistisches Engagement zugunsten einer entschieden wissenschaftlichen Orientierung aufgegeben habe.

[3] Mitglieder waren u.a. auch die Berliner Gestaltpsychologen Köhler und Lewin; Korsch wurde zu einem Vortrag eingeladen, s. Haller/Stadler (Q).

[4] Haller (Q). S. dazu (mit Auszügen aus Briefen von R.) N. Erichsen in: Krohn u. a., »Handbuch« 1998: 798-799.

[5] In: Travaux 9e Congrès intern. de Philosophie, Paris 1937, Bd. 4: 86-91.

[6] 1936 wird er in den Londoner Listen der »Notgemeinschaft« aufgeführt. Zu seiner Einschätzung der Verhältnisse in der Türkei, s. den bei Hoss (2007: 171) zitierten Brief aus dem Jahr 1934.

[7] Maria R., geb. Leroi, selbst auch Philosophin, war seine zweite Frau, die wie R. 1934-1939 als Emigrantin in Istanbul gelebt hatte und dann ebenfalls in die USA weitergewandert war. Von seiner ersten Frau, mit der er in die Türkei eingereist war und mit ihren Kindern dort gelebt hatte, war er 1946 in den USA geschieden worden.

[8] Chicago 1938 – deutsch als Bd. 4 der »Gesammelten Werke«, Braunschweig 1983 – noch in der Türkei auf der Grundlage seiner dortigen Lehrveranstaltungen redigiert, worauf auch türkische Beispiele verweisen.

[9] Zuerst New York: Macmillan 1947. Mein eigenes durchgearbeitetes Exemplar der Ta­schenbuchausgabe von 1966 zeigt mir, daß unsere Bemühungen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre um eine »linguistische Pragmatik« hier ihre methodischen Grundlagen suchten (und eine Strecke weit fanden). Ohnehin läßt sich das, was heute oft unter »theoretischer Linguistik« firmiert, auf die sprachanalytischen Ansätze der Ber­liner (Reichenbach u.a.) u. Wiener (Carnap u.a.) Kreise zurückfüh­ren: das Verständnis von Theorie als formaler Modellierung des Ge­genstandes, wie es damals in der logischen Syntax entwickelt wurde, war ohnehin in Auseinandersetzung mit der Umgangssprache entwickelt – und neben naturwissenschaftlichen Aussagen wurden (von R. nicht anders als von seinen Mitarbeitern) mit Vorliebe »ethisch-moralische« Äußerungen analysiert – auch hier ein Ansatzpunkt für die jüngere »handlungstheoretische« Orientie­rung in der Sprachwissenschaft.

[10] In der 1939 in der Türkei erschienenen sehr elementaren Ausgangsversion dieses Texts: »Lojistik« (Istanbul: Türkiye Basımevi 1939) sind die für die jüngere sprachwissenschaftliche Forschung interessantesten Teile (einschließlich der türkischen Beispiele) nicht enthalten. Sie finden sich erst in der Überarbeitung als »Elements« in Kalifornien. Es kann nur vermutet werden, daß R. sie aber bei seinen Lehrveranstaltungen in Istanbul benutzt hat – hier müßten die Unterlagen im Nachlaß ausgewertet werden. Die deutsche Ausgabe seiner Werke beschränkt sich hier auf eine reine Übersetzung aus dem Englischen (»Grundzüge der symbolischen Logik«, Bd. 6 der WW, Wiesbaden: Vierweg 1999, s.u.) – die kommentierte Einleitung von D. Kaplan ignoriert explizit alle sprachwissenschaftlichen Elemente des Textes. Ein Exemplar des türkischen Bandes verdanke ich C. Schroeder.

[11] In jüngeren formalen Arbeiten wird statt auf R. allerdings oft auf Davidson verwiesen, der R.s Modell systematisch reformuliert hat, s. D. Davidson, »The logical form of action sentences«, in: N. Rescher (Hg.), »The logic of decision and action«, Pittsburgh: Pittsburgh UP 1967, bes. S. 90-92.

[12] Erläutert an seinem Beispiel (S. 294) I had met him yesterday: Die Ereigniszeit (artikuliert durch die präteritale Form met) liegt vor der Sprechzeit, deren (implizites) JETZT (im Sinne von Bühlers Origo) die Interpretation des Satzes deiktisch verankert; aber diese Interpretation wird an einem Referenzpunkt (yesterday) festgemacht, der selbst auch wieder vor der Sprechzeit liegt. Er spielt die verschiedenen Dissoziationen der zeitlichen Bezüge kombinatorisch durch, mit Beispielen wie We shall hear the record when we have dined, wo die Ereigniszeit ebenso wie die Referenzzeit nach der Sprechzeit (»in der Zukunft«) liegen, aber die Referenzzeit (artikuliert durch den when-Satz) vor der Ereigniszeit.

[13] Die Rezeption von R. in der Sprachwissenschaft wäre im einzelnen noch nachzuzeichnen. Präsent war er nicht zuletzt über Mitemigranten, von denen mich H. Kahane ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß R. in diesen Katalog aufzunehmen ist. Zu seiner frühen Rezeption, s. hier bei U. Weinreich. Eine systematische Rezeption setzte mit der Weiterentwicklung der Generativen Grammatik ein, als die semantische Interpretation syntaktischer Strukturen in den Vordergrund rückte z.B. bei D. Wunderlich, »Tempus und Zeitreferenz im Deutschen«, München: Hueber 1970. Zu einer ausgebauten »Reichenbachian Theory of Tense«, s. N. Hornstein, »As time goes by: Tense and universal grammar«, Cambridge/Mass.: MIT Press 1990. Die jüngere, vor allem auch sprachtypologisch orientierte Forschung in diesem Feld hat hier weitere analytische Dimensionen eingezogen, insbesondere durch die Isolierung einer Aspektdimension, deren Artikulation sprachspezifisch unterschiedlich mit der temporalen Situierung interagiert. Aber auch bei solchen jüngeren Arbeiten bleibt R.s Modellierung der Ausgangspunkt, s. z.B. C. S. Smith, »The parameter of aspect«, Dordrecht: Kluwer 1991: 140ff. Für die sprachtypologische Rezeption, s. B. Comrie, »On Reichenbach’s approach to tense«, in: R. A. Hendrick u.a. (Hgg.), »Papers from the 17th regional meeting, Chicago Linguistic Society«, Chicago: Chicago Linguistic Society 1981: 24-30, sowie dann dessen einflußreiches Lehrbuch »Tense«, Cambridge: Cambridge UP 1985. Für einen Abriß der Rezeption s. W. E. McMahon, »H. R’s Philosophy of Grammar«, Den Haag: Mouton 1976, sowie E. Leinfellner-Rupertsberger in Haller/Stadler (Q): 297-310.

[14] Braunschweig: Vieweg – die englischsprachigen Texte in deutscher Übersetzung.

[15] Dordrecht: Reichel 1978.

 

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