Drucken

Maas Logo web

Schmitt, Ludwig E.

Geb. 10.2.1908 in Remscheid-Lennep, gest. 3.1.1994 in Marburg/Lahn.

S. ist ein Grenzfall in diesem Katalog, der ausführlich dargestellt wird, weil hier die komplexen Konfliktverhältnisse deutlich werden. Als Leiter des Forschungsinstituts für deutsche Spra­che/Deutscher Sprachatlas war S. nach dem Krieg einer der einflußreichsten Sprachwissenschaftler in Deutschland (seine Festschrift[1] führt 90 Doktoranden und 16 Habilitanden auf, die eine ebenso eindrucksvolle Zahl von Lehrstühlen in [West-]Deutschland und darüber hinaus be­völkern). Nur selten ist eine Karriere und ein wissenschaftliches Werk so deutlich von frühen lebensgeschichtlichen Erfahrungen ge­prägt wie das von S. (der im übrigen auch selbst im Gespräch immer auf frühe Erfahrungen/Erlebnisse zurückführte). Er kämpfte gegen ein doppeltes Stigma an: eine frühe Kinderlähmung hatte ihn verkrüppelt – aber er schaffte es schließlich, körperlich nicht nur mithalten zu können, sondern als Jugendlicher im Wandervogel sogar eine Schar zu führen (Gewaltmärsche eingeschlossen). Aus ei­ner eher ärmlichen und bildungsfernen Familie kommend, mußte er sich den Zugang zum akademischen Raum nicht minder erkämpfen: nach der Volksschule über eine Hochschulzugangsprüfung an einer Aufbau­schule, im Studium als Werkstudent (bis er auf Vorschlag seiner Gießener Lehrer Viëtor, Behaghel und Götze ein Studienstiftungs-Stipendium bekam). Die Erfahrung, als Krüppel vom Kriegsdienst verschont zu sein, empfand er angesichts der Verluste an jungen Wissenschaftlern in den Weltkriegen als Verpflichtung, wissen­schaftlichen Nachwuchs in großer Zahl auszubilden, was die o.g. exorbitanten Zahlen erklären mag.

Nach dem Abitur 1928 in Wetzlar/Lahn begann er sein Studium in Gießen: einerseits in der Germanistik mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt (bei Viëtor), neben Behaghel und Götze, in der Sprachwissenschaft bei Hirt, wo er zeitweise als einziger Hörer moderne Sprachvergleichung betrieb (u.a. mit Saussures »Mémoire«) und vor allem slawische und balti­sche Sprachen studierte; weiteres Fach war Geschichte. Das Studienstif­tungs-Stipendium erlaubte ihm die Fortsetzung des Studiums in Berlin (dort mit dem Schwerpunkt Anglistik, Altgermanistik/Skandinavistik), das ihn aber wissen­schaftlich nicht befriedigte, sodaß er in das damalige Mekka der Sprach­wissenschaft, nach Leipzig, ging. Hier orientierte er sich in der germa­nischen Sprachwissenschaft an Frings, der ihn sofort als Nachwuchskraft förderte; außerdem war er Hilfskraft bei Sievers (bei dem er ohne großen Erfolg Schallanalysen betrieb), führte darüber hinaus aber auch das Studium der Literaturwissenschaft fort (bes. in der Romanistik, wo ihm von Wartburg auch sonst eine Orientierung auf syste­matische Reflexion bot) sowie der Geschichte: Regionalforschung bei Kötschke sowie (universal ausgerichtete) Kulturgeschichte bei Lam­precht. Es entspricht diesem »generalistischen« Zuschnitt, daß seine Dissertation »Zum Stil der Urkundensprache in der Kanzlei Kaiser Karls IV (1346-1378)«[2] weder strenger junggrammatischer Observanz ist, noch die Fringssche »Kulturmorphologie« verfolgt. Mit der Orientierung auf Stil partizi­piert sie an dem Diskurs der Neuerer.

Einer Subsumtion unter das Fringssche Programm standen auch seine anderen Interessen entgegen: gegen die dominante Betrachtung von Mündlichkeit und »völkischer« Spontaneität stand sein systematisches Interesse an Schrift, das er in einem Diskussionskreis von vorwiegend Alt­philologen und Orientalisten verfolgte (P. Sethe, Steindorff u.a.) und das auch an seine historischen Arbeiten anschloß. Hinzu kam seine Beschäftigung mit dem Slawischen, das der Fringsschen heroischen Vision von den ostmitteldeutschen Siedlungsmundarten auch eher im Wege stand. Frings sah darin allerdings wohl eine optimale Ergänzung zu seinen eigenen Arbeiten, die er in ein eigenes Projekt einer mehr­bändigen »Geschichte der deutschen Sprache« einbeziehen wollte, das er unter der Regie der »Deutschen Akademie« in München plante. In Verbindung damit sollte S. habilitieren und schließlich später die niederlandistische Professur von A. Jolles erhalten.[3]

S. führte für seinen Teil diese Arbeit durch und legte 1937 als Habilitationsschrift einen ersten Band vor, der erst 1966 (nachdem die Druckfahnen im Krieg [1943] zerstört wurden, z.T. aufgrund von erhaltenen Setzvorlagen aus der Kriegszeit) publi­ziert wurde (»Untersuchungen zur Entstehung und Struktur der ›neuhochdeutschen Schriftsprache‹. Band 1: Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersäch­sischen im Spätmittelalter. Die Geschäftssprache von 1300 bis 1500«):[4] zwar sind hier (vor allem im schon 1942 gesetzten 1. Kapitel) die Fringsschen Topoi auch zu finden (die Sonderrolle des sprechsprachlichen Ausgleichs im kolonialen Sied­lungsgebiet, die »biologische Volkskraft«, S. 122 u.a.m.); aber im Kern handelt es sich um eine prosopographische Arbeit, die das sprachliche Profil der Texte mit den Schreiberbiographien ihrer Verfasser korreliert und diese wiederum in epochale sozialgeschichtliche Prozesse einbettet, wobei sich die relative Autonomie schrift­sprachlicher Formen gegenüber der gesprochenen Sprache zeigt: diese ist eben nicht Abbildung von Sprechsprachlichem, sondern Aus­druck einer kulturellen Praxis anderer Art, die als Grundlage für die modernen Schriftsprachen in den spätmittelalterlichen Städten entsteht.

Durch eine akribische Rekonstruktion der Praxis der einzelnen Schreiber zeigt er, daß die Ausgleichsprozesse der modernen Nationalsprache ihren Ort im schriftlichen Verkehr haben, für den er den Terminus »Geschäftssprache« einführt, nach dem Modell des bis dahin im Geschäftsverkehr genutzten überlokalen Latein, nicht aber im Mündlichen; allerdings kommen fördernd dabei die mündlichen Ausgleichsprozesse im Kolonialraum hinzu, bei dem die dialektale Heterogenität den sprachlichen Ausgleich gewissermaßen selbstverständlich machte. In dieser Hinsicht war S. ein Pionier für das auch heute noch nicht eingelöste Forschungsprogramm schriftkultureller Entwicklungsprozesse. Der Terminus der Geschäftssprache anstelle der bis dahin üblichen Urkundensprache signalisiert bei ihm die soziale Neuausrichtung seiner Forschung.

Die Leipziger Karrierepläne scheiterten aber an den politischen Verhältnissen. S. erbrachte zwar formale Anpassungsleistungen: 1934 wurde er Mitglied im NS-Studentenbund, 1935 im NS-Lehrerbund und 1937 im NS-Dozentenbund und schließlich der NSDAP. Aber er hatte sich (pers. Mitteilung, mdl.) mit einem Vortrag über Bebel und die sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereine (1930 in einem Forum der Studienstiftler) die Gegnerschaft einiger »Alter Kämp­fer« an der Universität zugezogen (obwohl der Vortrag persönliche Betroffen­heit und Erfahrungen und nicht politisches Engagement widerspiegelte).[5] Nach der Neuordnung des Habilitationsverfahrens 1937 hatte der NS-Dozentenbund (bzw. das Amt Ro­senberg) bei der Erteilung der Lehrbefugnis mitzuentscheiden – und von dort gab es Widerstand gegen die Einleitung des Habilitationsverfahrens. Das Verfahren wurde denn auch erst am 24.7.1941 mit der Ernennung zum Dr. habil. abgeschlossen (s.u.).

In dieser Zeit arbeite S. auch in einer Kommission des Reichserziehungsministeriums (REM) mit, die eine weitgehende Rechtschreibreform vorbereite (u.a. Abschaffung der grammatisch geregelten satzinternen Großschreibung, phonographische Vereinheitlichung der Schreibungen, »Eindeutschung« der Fremdwortschreibungen). Die entsprechenden Vorschläge legte der Minister im Oktober 1941 dem Innenministerium als Vorlage für einen entsprechenden Erlaß vor; dieser kam nicht zustande, weil das Vorhaben nicht als »kriegswichtig« eingestuft wurde.[6]

Bereits 1938 war S. in die Niederlande gefahren, um sich mit entsprechenden Arbeiten (und Sprachkenntnissen) für die geplante Leipziger Karriere ausweisen zu können – Frings hatte hier wieder eine vermittelnde Rolle. Die persönlichen Kontakte in den Niederlanden liefen über den dortigen Altgermanisten Kapteyn, der später als niederländischer SS-Mann eine Schlüssel­rolle bei der Organisation des »Germanischen Wissenschaftsein­satzes« in den Niederlanden hatte (nach S.s Auffassung vor Kriegsbeginn aber keine offenen Affinitäten zum Regime gezeigt habe).[7] Kapteyn bot S. anläß­lich eines längeren Aufenthaltes bei Frings in Leipzig eine befri­stete Assistentenstelle in Groningen an, die S. mit Studien­jahresbeginn im Herbst 1938 antrat und die er für die in den fol­genden Jahren auch weiter betriebenen regionalen namenkundlichen Studien nutzte. Ein systematischer Niederschlag seiner Forschungen findet sich in: »Die Stadt Groningen und die Mundarten zwischen Laubach und Weser«,[8] wo er die sprachgeographische Variation in dieser Kontaktzone von Friesisch, Niederländisch und Niederdeutsch analysiert, zunächst auch in der dialektologischen Tradition als Niederschlag unterschiedlicher Siedlungen dieses Raumes, dann aber vor allem in der Spannung stadtsprachlicher Entwicklungen, basiert auf der schriftsprachlichen Praxis in einer Hansestadt, gegenüber dem bäuerlichen Umland.

In die Jahresferienzeit 1939, die S. zuhause auf dem Bauernhof seiner Frau im Altenburgischen verbrachte, fiel der Kriegsbeginn: S. wollte unter diesen Umständen seinen Dienst in Groningen nicht wahrnehmen und wurde dort vorläufig be­urlaubt. Die deutsche Besetzung in den Niederlanden änderte S.s Situation: die Wehrmacht, vor allem aber die SS mit ihrem kulturpolitischen Apparat des „Ahnenerbe“ versuchten, die intellektuellen Zirkel in den Niederlanden in den Griff zu bekommen, insbesondere in den Hochschulen.[9]

Der Schlüssel für die verwickelten Verhältnisse in S.‘ niederländischen Jahren liegt bei den engen Beziehungen zwischen ihm und dem NS-Aktivisten Kapteyn. Dieser förderte S., wo es nur ging und designierte ihn als seinen potentiellen Nachfolger auf der Professur in Groningen, wofür S. sich mit wohlwollenden gutachterlichen Stellungnahmen zu Kapteyns wissenschaftlich reichlich problematischen Arbeiten revanchierte. Da die deutschen Besatzungsbehörden alles versuchten, um Kapteyn als ihren niederländischen Brückenkopf zu unterstützen, taten sie auch alles Mögliche, um dessen Pläne für S. zu fördern –Diese Vorgänge waren in kulturpolitischen Zusammenhängen verankert, bei denen das Ahnenerbe mit seinen Aktivisten auf Seite der deutschen Besatzer[10] und in der Verlängerung eben auch Kapteyn eine Schlüsselrolle hatte.[11]

Die Kriegsbedingungen änderten für S. die Voraussetzungen für seine weitere Arbeit in den Niederlanden: nur durch erheblichen Druck war er zur Aufnahme der vorgesehenen Arbeit in den Niederlanden zu bewegen. Zunächst bekam er vom Reichserziehungsministerium ([REM] bzw. vom SS-Mann Harmjanz dort, der als Volkskundler beim Ahnenerbe arbeitete) die Weisung, seinen Dienst in Groningen wieder aufzunehmen. Anfang 1941 war Kapteyn emeritiert worden und die Okkupationsbehörde (unter der Leitung des SS-Mannes Seiß-Inquart) drängte bei der Universität Groningen darauf, S. zurückzuholen bzw. einzustellen. Trotz großer Bedenken im REM wurde daraufhin das Leipziger Habilitationsverfahren abgeschlossen.[12] In der dabei gehaltenen Probevorlesung »Die sprachschöpferische Leistung der deutschen Stadt im Mittelalter«[13] skizzierte S. sein sprachsoziologisch konzipiertes Forschungsvorhaben (als Vorläufer dessen, was sich in den jüngsten Jahren auch als »Stadtsprachenforschung« verselbständigt hat) ausdrücklich im Ausgang von Max Weber, in der publizierten Form allerdings garniert mit der politisch gewollten Rhetorik (»germanischer Geist«, »Führerschaft«, »völkische Kraft« u. dgl.). Die Lehrbefugnis wurde ihm im November 1941 erteilt, nachdem der NS-Dozentenbund die Lehrprobe am 8.10.1941 positiv beurteilt hatte. Dadurch konnte S. nach der Teilung von Kap­teyns altgermanistischem Lehrstuhl im Juli 1941 auf eine Professur berufen werden, mit der Venia für Altgermanische Philologie, Deutsche Sprachwis­senschaft insgesamt und Germanische Volkskunde (den paral­lelen Lehrstuhl für Friesisch und Gotisch erhielt der Niederländer Brouwer); im März 1942 trat er die Stelle an.

Damit war er zwar niederländischer Beamter, aber unter politischem Druck von deutschen Amtsstellen, die unkoordiniert und z.T. auch gegeneinander versuchten in den Niederlanden Fuß zu fassen. Dazu gehörten Versuche, eine politisch instrumentalisierbare "Germanische Universität" aufzubauen: vorgesehen war die Universität Leiden, für die auch eine Professur für Schmitt geplant war. Da S. schon in den Niederlanden war, war seine "Verwendung" immer auch in den entsprechenden Überlegungen. So war er auch für die Universität Leiden vorgesehen. [14] Auch die SS übte Druck auf S. aus, um ihn zur »Mitarbeit« (de facto wohl als SD-Infor­mant) zu gewinnen – S. weigerte sich mit Berufung auf die Dienstaufgaben als niederländischer Hochschullehrer. Für diese Konflikte, die sich über ein Jahr hinzogen, spricht auch, daß die niederländischen Stellen (universitäre wie höhere Amtsstellen) bemüht waren, S. zu stützen.[15]

Hinzu kam bei S. auch, daß sich seine Frau weigerte, nach Groningen in die »arisierte« Villa einer vertriebenen jüdischen Familie umzuziehen.[16] Im Sommer 1942 wurde S. in die Gestapo-Zentrale nach Berlin gebracht, dort über mehrere Tage unter Druck gesetzt; da er nicht »koopera­tionswillig« war, wurden ihm seine Reisepapiere weggenommen und er wurde in Leipzig unter Hausarrest gestellt (fern von seiner Fami­lie!). In Groningen wurde S. von der Fakultät unterstützt (Kapteyn war inzwischen Rektor geworden, der zugleich S. in der Lehre vertrat), im Herbst 1942 allerdings wurde auch schon (auf Betreiben des sicher informierten Kapteyn?) ein Nachfolger für S. gesucht. Im Juni 1943 wurde S. von Seiß-Inquart entlassen – aber die Universität zahlte ihm noch bis Ende des Jah­res sein Gehalt weiter. S. versuchte mit allen Mitteln, wieder in den Dienst zu kommen. Zur Klärung des Sachverhaltes versuchte er zunächst ein Disziplinarverfahren gegen sich anzustrengen, was aber in Deutschland daran scheiterte, daß er niederländischer Beamter war; zuletzt versuchte er es als NSDAP-Mitglied sogar mit einem Parteiordnungsverfahren, das aber ebenfalls nicht verfolgt wurde. Zuletzt lebte er ohne Bezüge auf dem Bauernhof seiner Frau im Thüringischen (Großtauschwitz/Altenburg).

Aufgrund seiner Aktivitäten auch in der örtlichen Parteigliederung (die er selbst in Eingaben an das REM geltend machte) änderten sich die politischen Beurteilungen. Da unter Kriegsverhältnissen zunehmend weniger wissenschaftliches Personal verfügbar war, suchte auch das REM nach einer Möglichkeit, S. »wiederzuverwenden« (so auch Harmjanz). Auch der SD und der Leipziger NS-Dozentenbund beurteilten ihn jetzt positiv (Stellungnahme vom 4.2.1944). Daraufhin wurde er in Leipzig als Oberassistent eingestellt und schließlich im Mai 1944 mit der Vertretung des vakanten Lehrstuhls für deutsche Philologie in München beauftragt.[17] Diese Stelle behielt er bis zu seiner Entlassung im Januar 1946 bei.

Nach Kriegsende nahm Frings (der die Entnazifizierung problemlos überstanden hatte!) seine Bemühungen um S. wieder auf und erreichte, daß dieser trotz der Vorbehalte gegen ein Mitglied der NSDAP wieder eine Stelle an der Universität Leipzig erhielt, 1947 als Nachfolger auf einer vakanten Stelle (die bis dahin von Jolles wahrgenommene Professur für deutsche und niederländische Philologie). Dabei kam es allerdings zu einer Verwaltungspanne: S. wurde zunächst im Februar 1947 zum ordentlichen Professor ernannt, was im Folgemonat in außerordentlichen Professor korrigiert wurde.[18] S. war gekränkt und gab Frings die Schuld an dieser »Rückstufung«, was der Beginn eines in den Folgejahren offensichtlich sich immer mehr zuspitzenden Konfliktes zwischen beiden war, den S. dann auch auf die unterschiedlichen wissenschaftlichen Optionen ausdehnte. Bei den zunehmenden Konflikten mit Frings konnte S. sich zunächst durch seine (von der sowjetischen Admi­nistration unterstützte) Arbeit an slawo-deutschen Problemen einen relativen institutionalen Freiraum verschaffen.

1952 zeichnete sich schließlich doch ab, daß S. in Leipzig entlassen werden sollte. S. reiste mit seiner Familie nach Westdeutschland und wurde 1953 förmlich wegen »Republikflucht« entlassen. Ohne Bezüge überbrückte er die nächsten Jahre mit Lehraufträgen in Köln und Gießen, wo er sich offensichtlich besonders seinem ehemaligen Gießener Lehrer Götze ver­pflichtet fühlte, den er dann mit einer monographischen Würdigung feierte, die alle politisch dunklen Flecken ausblendete (»Alfred Götze als Germanist in Leipzig, Freiburg und Gießen«;[19] vgl. auch seinen Nachruf).[20] In dieser Zeit publizierte und edierte er in der Nachfolge Götzes zum Frühneuhochdeutschen, insbesondere zur Druckersprache (so die unter beider Namen erschienene Edition mit umfangreichem philologischen Kommentar »Aus dem sozialen und poli­tischen Kampf. Die zwölf Artikel der Bauern 1525«).[21]

Erst 1956 erhielt er wieder eine reguläre Stelle mit dem Ordinariat für deutsche Philologie an der Universität Marburg (Nachfolge Mitzka), damit verbunden die Leitung des Deutschen Sprachatlas (DSA), den er zu einem gewaltigen Forschungsunternehmen aus­baute (das zeitweise über 50 MitarbeiterInnen beschäftigte). Sy­stematisch baute er die verschiedenen dialektgeographischen Bereiche aus: die Nachfolgeuntersuchungen des DSA, insbesondere den »Deutschen Wortatlas« (1973 mit Band 20 abgeschlossen), regionale Atlanten, darunter insbesondere die Atlanten der Vertriebenen, also der (ehemali­gen) Auslandsdeutschen; schließlich die Ausweitung auf euro­päische Bezüge, insbesondere mit dem »Europäischen Sprachat­las«, den er wohl schon in den 30er Jahren initiieren wollte (un­terstützt von niederländischen Kollegen wie insbesondere seinem Groninger Nachfolger Heeroma), der aber erst Anfang der 60er Jahre zu er­scheinen begann. Wenn dabei das Niederländische eine besondere Rolle spielte, so spiegelt das seine Biographie, s. etwa »Die niederländische Sprache in Europa«,[22] bei der er die argumentative Frontlinie zu reduktionistischen Sichtweisen in der Art von Frings dadurch unterstreicht, daß er sich ausdrücklich auf die positive Seite der Mehrsprachigkeit in dynamischen sozialen Räumen bezog (hier mit Bezug auf U. Weinreich). Ergänzt wurden diese Großunternehmungen durch zahlreiche monographische Reihen, in denen nicht zuletzt Marburger Qualifikationsarbeiten als Auswertungen der Atlas-Unternehmungen erschienen.

Abgesehen von dem institutionellen Ausbau des Sprachatlasses nutzte er die neue Position, um sich wissenschaftlich-programmatisch von der dominan­ten Frings-Schule abzugrenzen: 1957 erschien unter dem Fringsschen Titel »Sprache und Geschichte«[23] eine systematische Abrechnung mit ei­ner Tradition, die voluntaristisch von modernen Mundartverhältnis­sen aus Rückprojektionen in frühere historische Entwicklungsphasen unternimmt (und mit »Substratlösungen« auch die Frühgeschichte be­völkert, s. bes. S. 273); sprachgeschichtliche Rekonstruktion muß für S. an der Überlieferung kontrolliert werden, sie muß also soweit wie möglich Geschichte der geschriebenen Sprache sein (S. 265). Die Polemik gegen den Fringsschen »wissenschaftlichen Expressionismus« (S. 269), dessen Substitution von Metaphorik für Analyse, zeichnete spätere Invektiven vor, für die S. nachgerade berühmt wurde. Zugleich begründete er die notwendige Ausweitung der Forschung über Laut- und Formenanalyse der DSA- (und Frings-!)Tradition hinaus auf Wort- und Namensforschung sowie Syntax (S. 271-272). Zuletzt skizzierte er dort einen eigenen sprachtheoretischen Systementwurf mit der Ankün­digung einer (nie erschienenen) Monographie »Die Sprache vom Bio­logischen her und das vollständige System der Sprachwissenschaft«, das sich mit Diagramm-Darstellungen zur begrifflichen Ver­deutlichung schon äußerlich um eine symbolische Abgrenzung von anderen Traditionen bemüht (aber mit Anklängen an das in den 30er Jahren in Anschluß an Bühler Übliche; vgl. bes. das »Kom­munikationsmodell« in Abb. 1, S. 276). Bemerkenswert ist auch die explizite Auseinandersetzung mit dem deskriptiven Strukturalismus (Harris, Hjelmslev u.a., S. 281-282); den Gegensatz zu diesem will er ähnlich wie sein früherer Leip­ziger Lehrer von Wartburg in einer kulturgeschichtlich bestimmten dynamischen Wissenschaftskonzeption aufheben (von Wartburg erwähnt er dort nicht, betont dafür aber die »spezifisch deutsche Note« dieser Sichtweise, S. 281).

Diese Demarkation gegenüber der »deutschen Philologie«, wie sie sich gleichzeitig etwa in Stammlers »Aufriß« darstellte, implizierte eine unbedingte Offenheit für alle wissenschaftlichen Innovatio­nen, die sich bei seinen Schülern oft in einer gelegentlich zur Manie getriebenen Neigung zu ästhetischen Modernismen (Neo­logismen, Graphiken...) spiegelt. Früh wurde hier, ausgehend von Zwirners Arbeiten, mit instrumentalphonetischen Mitteln laboriert, Mittel der elektronischen Datenverarbeitung wurden eingesetzt, deren Adaptierung enorme Arbeitskapazität verschlang, die zulasten der nicht abgeschlossenen Projekte ging (insbesondere etwa des immer noch nicht vollständig publizierten »Deutschen Sprachatlas«).[24] Trotz dieser modernistisch »linguistischen« (sic!) Akzente hielt S. die Tradition der philolo­gischen Einheit des Faches aufrecht. Er war Mitherausgeber von li­terarischen Reihen (u.a. mit R. Alewyn, »Neudrucke deutscher Lite­raturwerke«, 1950ff.; »Deutsche Texte«, 1955ff. u.a.) sowie auch des Versuchs, den Paulschen »Grundriß« in modernisierter und handlicher Form zu erneuern (»Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500«,[25][21] Bd. I »Sprachgeschichte« 1970; Bd. II »Literaturgeschichte« 1971 – der dritte, für die »Sach- und Kul­turgeschichte« vorgesehene Band ist nicht mehr erschienen) – mit dem deutlichen Bestreben, die »moderne strukturelle Linguistik« (Bd. 1: VII) einzubeziehen, wofür denn auch zumindest die Beiträge von J. Marchand (Gotisch) und H. Pilch (Altenglisch) stehen.

Q: IGL (E. Feldbusch/S. Grundke); Bonk 1995; Bibliographien und Würdigungen in der Festschrift: E. Feldbusch (Hg.), »Ergebnisse und Aufgaben der Germanistik am Ende des 20. Jahrhunderts.: FS für L. E. Schmitt zum 80. Geburtstag«, Hildesheim: Olms 1989; autobiogra­phische Schrift »Dank und Besinnung zum 75. Geburtstag«, Marburg 1983 (vervielfältigt); zwei ausführliche Gespräche mit S. im Mai 1990; Akten zu S. im Document Center Berlin, Hinweise und Materialien von P. von Polenz und H. Niebaum.

 

[1] Zum 80. Geburtstag, H.H. Munske u.a. (Hgg.), »Deutscher Wortschatz«, Berlin: de Gruyter 1988.

[2] Gräfenhainichen: Heine 1936. Die Dissertation wurde 1934 angenommen und entsprach dem Kapitel 4 der zeitgleich vollständig veröffentlichten Untersuchung »Die deutsche Urkundensprache in der Kanzlei Kaiser Karls IV (1346-1378)«, Halle/S.: Niemeyer 1936.

[3] André Jolles (1874-1946), Vater des hier aufgeführten O. J. M. Jolles, sollte 1939 emeritiert werden, verwaltete dann aber seine Stelle nicht zuletzt auch wegen der politischen Probleme um S. bis Kriegsende, s.u., s. dazu H. Hipp, »Die Leipziger Niederlandistik und ihr Umfeld«, in: dies. (Hg.), »Niederlandistik und Germanistik« (FS G. Worgt), Frankfurt: Lang 1992: 235-245, bes. 240-241.

[4] Köln usw.: Böhlau 1966.

[5] Seine politische Haltung wird recht pla­stisch deutlich, wenn er noch 1982 in seiner Würdigung von Alfred Götze schreiben kann (auf Gießener Universitätsverhältnisse ge­münzt): »Das Jahrzehnt von 1925 bis 1935/36 war menschlich wohltu­end und lebhaft in allen wissenschaftlichen Beziehungen« (in: Gundel u.a. 1982: 322).

[6] In den Kommissionsunterlagen des REM wird er als Oberassistent am Germanistischen Institut der Universität Leipzig aufgeführt, s. H. Strunk, »›Gab es etwas einzustampfen?‹. Bemühungen des Reichserziehungsministers Rust zur Rechtschreibreform während des Dritten Reiches«, in: Deutschunterricht 51/ 1998: 90-95.

[7] Johannes Marie Neele Kapteyn (früher Kapteijn) (8.10.187030.4.1949) niederländischer Altgermanist. K. war nach dem Studium zunächst als Buchhändler tätig, dann in Leiden Gymnasiallehrer für Deutsch, seit 1916 auch Lektor an der U Leiden. Aufgrund einiger altgermanischer Publikationen wurde ihm 1924 Dr. h.c. an der U Bonn verliehen, was ihm die Berufung als Prof. für Germanistik an der U Groningen einbrachte, die seit 1930 explizit auf (Alt-) Friesisch ausgedehnt wurde. 1938 betrieb er dort die Einrichtung einer Friesischen Akademie.

Kapteyn war auf verschiedenen Feldern mit kulturpolitischen Institutionen in Deutschland verbunden, u.a. aktiv im “Ahnenerbe”. Nach 1940 kollaborierte er mit den deutschen Besatzungsinstitutionen, die gegen den Widerstand der Fakultät seine Ernennung zum Rektor der Universität durchsetzten. Er war einer aktivsten niederländischen Vertreter in den Organisationen, die dem deutschen Imperialismus ein “germanisches” ideologisches Fundament zu geben bemüht waren, u.a. auch als Mitglied der ndl. Nationaal-Socialistische Beweging. 1942 wurde er auch in die SS im Rang eines Untersturmführers aufgenommen. Seine germanentümelnden Veröffentlichungen wurden allerdings auch in Deutschland wissenschaftlich kritisiert (ein von ihm geplantes Buch über die Runen wurde auch vom Ahnenerbe nicht publiziert).

1944 floh Kapteyn bei der Befreiung der Niederlande nach Deutschland. Als er nach Kriegende wieder zurückkehrte, wurde er interniert und als Kollaborateur verurteilt, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands aber bald freigelassen. Seine Denunziation von Leo Polak (1880-1941), der  an der Universität Groningen Professor für Philosophie war, und vor allem dadurch veranlaßt rassistisch verfolgt wurde und im KZ Sachsenhausen umkam, spielt(e) in der einschlägigen niederländischen Diskussion eine wichtige Rolle.

[8] In: Z. f. Mundartforschung 18/1942: 134-170.

[9] Diese Verhältnisse sind insbesondere auch in Hinblick auf die verwickelte Konstellation in Schmittts niederländischen Jahren inzwischen anderswo aufgearbeitet und dokumentiert worden, so von Ludwig Jäger, Seitenwechsel. Der Fall Schneider / Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München: Fink 1998, bes. S. 169-180, und jetzt auf der Grundlage der niederländischen Akten von Gerrold van der Stroom, J. M. N. Kapteyn en Leo Polak, en Ludwig Erich Schmitt. Dubelvourdig verraad en overmoed aan de Rijksuniversiteit Groningen tijdens de Duitse besetting (1940-1942), Amsterdam: Stichting NeerlandistiekVrije Universiteit 2018. Die Ausführungen im Text stützen sich vor allem auf die Personalakten des REM zu S.

[10] Dabei hatte der SS-Mann Schneider / Schwerte eine Schlüsselrolle, die Jäger (1998) aufgearbeitet hat, s. die vorige Fn.

[11] Das ist von den politischen Plänen für eine imperialistische Neuordnung Europas unter deutscher Vorherrschaft zu trennen – was ich in früheren Darstellungen ungenügend getan habe. Zu diesen Plänen gehörten auch die in den besetzten Ländern einzurichtenden Wissenschaftlichen Institute, wie es auch in den Niederlanden geplant war (selbstverständlich in der Metropole Amsterdam); zu diesen Instituten s. Hausmann 2001, hier auch bei Fahrner.  Planungen zu einem niederländische Institut sind noch 1941 aktenkundig, 1942 wurden sie aufgrund der sich schnell abzeichnenden „Resistenz“ der niederländischen Gesellschaft und der als schwierig eingeschätzten Möglichkeiten der Kooperation mit niederländischen Wissenschaftlern insbesondere aufgegeben und ein „Germanisches Forschungsinstitut" als ausdrücklich niederländische Stiftung gegründet (Hinweise dazu in der Neuauflage von Hausmann [2001] 2002: 15; außerdem Hinweise und Recherchen von G. van der Stroom, Amsterdam). Darüberhinaus hatte die Subsumption und entsprechende Förderung von bestimmten ausländischen Universitäten als „ Außenstellen“ eine wichtige Aufgabe Im Rahmen der fluktuierenden Pläne für eine planwirtschaftliche Reorganisation der Forschung im neuen „Großdeutschland“. Bei den für die NS-Führung sperrigen Verhältnissen in den Niederlanden war dabei zunächst die Universität Leiden im Blick.

[12] Auch ein Bei­spiel mehr dafür, daß Widerstände aus dem Amt Rosenberg in der ef­fektiven Wissenschaftspolitik nicht verfingen.

[13] In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 66/1942: 196-226.

[14] S. Jäger (1998:  178)

[15] In der Personalakte ist der Konflikt relativ ausführlich dokumentiert. So schreibt z.B. Harmjanz vom REM an die deutsche Amtsstelle in den Niederlanden, die S.s »Einsatz« organisieren sollte, am 11.7.1941, daß S. bei seinem »Einsatz« in den Niederlanden »politisch restlos versagt« habe und »insgesamt für die von uns vorgesehene Aufgabe« ungeeignet sei. Bemerkenswert ist allerdings, daß zugleich beim REM die Einschätzung von S. als weltfremder und daher politisch abstinenter Wissenschaftler aufrecht erhalten wurde, die nicht zuletzt auch durch entsprechende Interventionen von Frings gestützt wurde. Zum politischen Kontext dieses Konfliktes s. Jäger 1989: 174-180.

[16] Der ausgesprochen umfangreiche Schriftwechsel in der Personalakte von S. macht deutlich, wie konfus die Konfliktkonstellation war, bei der S. offensichtlich auch nur einen partiellen Durchblick hatte; formal versuchte er, auf seinem Status als deutscher Beamter zu insistieren.

[17] Zu seinen Lehrveranstaltungen (Altgermanisch und Mundartkunde) s. das Vorlesungsverzeichnis München, WS 1944/1945.

[18] S. V. S[chulte], »Zum Tod des Sprachwissenschaftlers L. E. S.«, in: Universität Leipzig 2/1994 (mit dem Abdruck einiger einschlägiger Akten).

[19] Gießen: Schmitz 1980.

[20] In: Gundel u.a. 1982: 318-325.

[21] Halle/S.: Nie­meyer 1953.

[22] In: Z. Dialektologie und Linguistik 34/1967: 1-13.

[23] Im Hessischen Jb. f. Landesge­schichte (Bd. 7: 259 - 282).

[24] Basierend auf den Aufnahmen in den 80er Jahren des 19. Jhdts., die G. Wenker seinerzeit von Marburg aus im gesamten deutschen Reich hat durchführen lassen.

[25] Berlin: de Gruyter.

 

 

 

Zugriffe: 4640