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Wittfogel, Karl

Geb. 6.9.1896 in Woltersdorf (bei Hannover), gest. 25.5.1988 in New York.

 

Nach dem Abitur 1912 Studium der Geschichte, Philosophie und Geowissenschaften in Leipzig, Berlin, München und Rostock. Als Schüler war W. im Wandervogel aktiv, später dann als Student in der »Freideutschen Jugend« (u.a. gemeinsam mit H. Reichenbach). 1917-1918 wurde er zum Militärdienst eingezogen, was ihn zu einem radikalen Pazifisten machte und seine Politisierung einleitete: 1918 trat er in die USPD, 1920 in die KPD ein (mit enger Verbindung zu K. Korsch). Er war schon in dieser Zeit ausgiebig literarisch tätig (u.a. mit mehreren politischen Theaterstücken), v.a. auch mit politischen Schriften im Umfeld der KPD. Zwischen seinem Studium und seinen politischen Aktivitäten bestand eine große Durchlässigkeit, so in seiner Beschäftigung mit marxistischer Ästhetik/Literaturtheorie, historischer Soziologie und v.a. auch der Sinologie, deren Studium er in Leipzig bei Erkes aufnahm, mit dem ihn auch die politische Option verband. Seit 1925 hatte er enge Verbindungen zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt. 1928 promovierte er in Frankfurt in Verbin­dung mit seiner Arbeit am Institut für Sozialforschung mit der Disserta­tion: »Die ökono­mische Bedeutung der agrikolen und industriellen Produktiv­kräfte Chinas«.[1] Ein Angebot des Frankfurter Instituts zur vollzeitwissenschaftli­chen Mitarbeit lehnte er ab, weil er praktisch (vor allem publizi­stisch) gegen den aufgekommenden Faschismus kämpfen wollte.

Als er 1933 Deutschland illegal verlassen wollte, wurde er festgenommen und in Konzentrationslagern interniert (u.a. in Papenburg). Die Erfahrungen dort verarbeitete er literarisch in dem Roman »Staatliches Konzentrationslager VII«.[2] Der Roman stellt die Ohnmachtserfahrungen im Lager dar, konfrontiert mit sadistischen Aufsehern. Diese Erfahrungen bildeten einen Bruch in seinem intellektuellen Lebensentwurf: nachdem er Ende 1933 frei gelassen wurde, reiste er nach England aus, setzte aber seine vorher extensiv betriebene Analyse des faschistischen Systems nicht mehr fort; ein wohl schon weit gediehenes Buchmanuskript dazu hat er nie publiziert – die Analyse war wohl nicht mehr mit seinen Erfahrungen des KZ-Systems zu vermitteln.[3]

Ende 1934 emigrierte er in die USA, wo er zunächst weiter beim inzwischen in New York angesiedelten Institut für Sozialforschung mit seinem alten Arbeitsschwerpunkt der »Asiatischen Produktionsweise« tätig war. Mit einem Stipendium der Rockefeller Stiftung konnte er mit seiner (zweiten) Frau Olga (geb. Joffe) 1935-1937 eine Forschungsreise nach China unternehmen, in der er neben seinen politischen Studien auch das chinesische Alltagsleben (und damit auch die Sprache) studieren konnte.[4] Mit Unterstützung der Stiftung konnte er nach der Rückkehr in New York ein großes Chinese History Project aufbauen, angesiedelt an der Columbia Universität in New York, wo er auch lehrte (weiterhin zunächst in enger Verbindung zum exilierten Frankfurter Institut). Das Projekt lief von 1939-1949 und wurde mit einer monumentalen Publikation (über 700 S.) über die Verhältnisse bei den Liao abgeschlossen, einer der altaischen Völkerschaften, die von Norden her das chinesische Reich vom 10. bis 12. Jahrhundert eroberten (»History of Chinese Society. Liao (907-1125)«).[5] Zwar wird das Problem der Arbeit mit chinesischen Quellen dort auch methodisch reflektiert (besonders S. 36-38), aber sprachliche Fragen spielen nur eine marginale Rolle, praktisch nur bei den Kommentaren zu den abgedruckten Quellenauszügen. Gelegentlich werden Kommunikationsprobleme in dem mehrsprachigen Reich angesprochen, auch die Etablierung einer lingua franca (z.B. S. 222). Für solche Aspekte wird wohl Menges zuständig gewesen sein, dessen Mitarbeit auch auf dem Titelblatt genannt wird.

Auf der Basis dieser Arbeiten entwickelte er in den folgenden Jahren seine Theorie der »Orientalischen Despotie«, die für ihn v.a. auch eine Form der Analyse der sowjetischen politischen Verhältnisse war.[6] Er faßte sie als Herrschaftstypus und bezog sie nach seinem Bruch mit der KPD (Parteiaustritt 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt) insbesondere auch auf die Sowjetunion. Eine abschließende Publikation ist »Oriental despotism«,[7] wo er eine gesellschaftliche Strukturanalyse im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, insbes. dem Wasser, entwickelt, und so die Entwicklung der Weltgesellschaft aus einer eindimensionalen Ausrichtung auf die Entwicklung hin zu Industriestaaten löst. Obwohl er recht detailliert eine Fülle solcher »hydraulischer Gesellschaften« vorstellt, mit den unterschiedlichen Ausbildungen von Staatsformen und ihren sozialen Konsequenzen, fehlt eine Analyse der dabei ausgebildeten sprachlichen Verhältnisse.

In den USA entwickelte er sein Verständnis von Wissenschaft und Poli­tikberatung weiter – insbes. auch in Hinblick auf die Entwicklung der weltpolitischen Aufgaben der USA. Zunehmend stand für ihn seitdem der Kampf gegen den Kommunismus und ins­bes. seine intellektuellen Parteigänger im Westen im Vordergrund. So avancierte er zum Expo­nenten der politischen Rechten in den USA, der sogar den Mc­Carthyismus unter­stützte.[8] Die Konsequenz davon war al­lerdings, daß er in der akademischen Öffentlichkeit (nicht nur bei den Betroffenen) zunehmend isoliert war, zeitweise sogar an der eigenen Universität »unerwünscht« war – was seine rigide Haltung wohl nur noch verstärkte.[9] 1947-1966 war er Professor für Chinesische Ge­schichte an der Universität Washington (Seattle).

Auch wenn W. in seinen Ar­beiten (und insbes. auch in seiner akademischen Lehre) die chine­sische Sprache behandelt hat, ist er sicher nicht als Sprachwis­senschaftler zu bezeichnen – obwohl er in seinen frühen Arbeiten die Sprachwissenschaft als anthropologische Schlüs­seldisziplin verstand. So standen bei seinen Arbeiten sprachanalytische Fragen nie im Vordergrund, auch nicht bei seiner umfassend intendierten frühen »Geschichte der bürgerlichen Gesell­schaft. Von ihren Anfängen bis zur Schwelle der großen Revolu­tion«.[10] Bei seinen späteren Arbeiten stützte er sich für diesen Be­reich auf Kol­legen wie den mit ihm eng befreundeten Menges; s. aufschluß­reich dazu seinen autobiographischen Beitrag »China und die osteura­sische Kavallerie-Revolution. Sozialhistori­sche Einsichten, gewon­nen in Begegnungen mit Karl Heinrich Men­ges«.[11]

Q: BHE; DBE 2005; Hanisch 2001 sowie in den erwähnten Büchern von Heilbut und Coser. Zu seinem Leben und Werk sei die panegyrische, aber faktenrei­che Arbeit: G. L. Ulman, »The Science of society. Toward an Under­standing of the Life and Work of Karl August Wittfogel«, Den Haag: Mouton 1978 genannt (dort s. S. 510-523 Schriftenverzeichnis). Der­selbe hat auch eine Festschrift herausgegeben (»Society and Hi­story. Essays in Honor of Karl August Wittfogel«, Den Haag: Mouton 1978), die seine Arbeitsschwerpunkte reflektiert: Immerhin haben dazu auch Sprachwissenschaftler beigetragen wie I. Lichtenstadter, K. H. Menges (der mit ihm eng befreundet war, s. derselbe) und Ni­cholas Poppe. Vor allem in den später publizierten Nachdrucken seiner frühen Schriften finden sich ausführliche autobiographische Darstellungen in Vor- bzw. Nachworten.

Autobiographisches Interview mit M. Greffrath in dessen »Die Zerstörung einer Zukunft«, Reinbek: Rowohlt 1979: 299-346. G. Glombik u.a., »K. A. W.« in: Johanneum Lüneburg Informationssystem (W.s ehemalige Schule): http://rzserv2.fhnon.de/u1/gym03/homepage/chronik/wittfogl/wittfogl.htm (Dez. 2008). Nachruf: K. H. Menges, in: Central Asiatic Journal 33/1989: 1-7; Kern; Rockefeller Archiv.

 


[1] Stuttgart: Kohlhammer 1930.

[2] London: Malik 1936, Nachdruck Bremen: Temmen 1991.

[3] So J. Radkau im Nachwort zum Nachdruck des Romans.

[4] Seine Frau Olga publizierte die von ihr bei dieser Reise durchgeführten ethnologischen Untersuchungen unter dem später (nach der Scheidung von W.) angenommenen Namen Lang: »Chinese family and society«, New Haven: Yale UP 1946.

[5] Philadelphia: American Philosophical Society 1949.

[6] Damit führte er seine wirtschaftshistorischen Studien zur asiatischen Produktionsweise fort, die er schon in den 20er Jahren angefangen hatte, die dann offiziell von der Komintern für falsch erklärt wurden, so insbesondere auf dem zu diesem Gegenstand einberufenen Leningrader Kongreß 1931, auf dem W. auch anwesend war. Wie auch seine frühen Schriften wurden diese Auffassungen nicht zuletzt in der Studentenbewegung heftig diskutiert und von unterschiedlichen Positionen aus in der Regel auch kritisiert, so z.B. bei Rudi Dutschke (»Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen: über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus«, Berlin: Wagenbach 1974), der ihn dort als »Plechanovist« apostrophiert (S. 122-123, also einen Vertreter der Menschwiki), ihn an anderer Stelle auch direkt als »Renegaten« bezeichnet (S. 27). Dadurch, daß in der jüngeren politischen Diskussion das Problem einer eurozentrischen Sicht der Dritten Welt zunehmend fragwürdig geworden ist, ist W. auch wieder neu gelesen worden, s. dazu Radkau im Nachdruck des Romans (1936), 1991: 289-290. Auch Dutschkes persönliches Verhältnis zu W. änderte sich dabei (ebd.).

[7] 1957 – für die Mitarbeit dankt er dort u.a. außer Menges noch H. Wilhelm.

[8] Vor dem Untersuchungs­ausschuß denunzierte er seine früheren Genossen; zu seiner Rolle dabei s. etwa Heilbut 379-382.

[9] S. dazu Coser: 126-134, Heilbut: 379-381, Hanisch 2001: 117, außerdem Pa(e)chter in Boyers 1972.

[10] Zu­erst Wien 1924, nachgedruckt mit einem umfangrei­chen autobiogra­phischen Vorwort zu W.s Bildungsgeschichte Hanno­ver: SOAK 1977.

[11] In: Ural-altaisches Jb. 49/1977: 5-68. Gerade aber Menges hat mir ausdrücklich nahe gelegt, W. auch als Sprachforscher in den Katalog aufzunehmen.