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Seidel-Slotty, Ingeborg

Geb. 29.5.1910 in Potsdam (Vater ist der hier aufgeführte klas­sische Philologe Friedrich Slotty), gest. 15.8.1973.[1]

 

Nach dem Abitur 1926 in Staßfurt (vorher hatte sie zeitweise auch in Prag die Schule besucht) Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft und Germanistik in Jena, München, Prag und Breslau, abgeschlossen mit der Promotion 1935 in Breslau (bei Havers). Die Dissertation »Zur Geschichte der Teleologie in der Sprachwissenschaft (Bopp, Humboldt, Schlei­cher)«[2] arbeitet zwei Idealtypen in der Entwick­lung der Sprachwissenschaft heraus: eine methodologisch sprachimmanent operierende Richtung, die sie durch funktionalisti­sche Argumentationen seit den Anfängen bei Bopp identifiziert, ge­genüber einer sprachextern argumentierenden Rich­tung, deren Höhe­punkt sie bei den Junggrammatikern sieht, die pro­grammatisch alle Argumente jenseits naturwissenschaftlich inter­pretierbarer »Ge­setze« ablehnten. Konsequent (und insofern sehr ak­tuell) ordnet sie dem ersten Typ über die extensiv behandelten Bopp, Humboldt und Schleicher ansonsten so heterogene Positionen zu wie die von de Saussure, den Prager Linguistenkreis, aber auch Vossler und Havers. Die Rede von der »Teleologie« im Titel der Ar­beit, die einer wei­teren Rezeption der Arbeit im Wege gestanden haben mag,[3] erklärt sich aus der nicht nur damals aktuellen Frontstellung ge­gen psychologisierende Argumentationen, die mit Absichten und anderen Be­wußtseinszuständen der Sprecher als letzten In­stanzen des Sprach­wandels operieren. Setzt man dafür den im Text von ihr selbst be­nutzten Terminus des Funktionalismus ein, so wird die Arbeit wie­der aktuell angesichts modisch reklamierter »Para­digmenwechsel«, die in ihrem Sinne in die »sprachexterne« Reduktion der sprachwissen­schaftlichen Argumen­tation auf andere Disziplinen (vor allem die Psychologie) zurückfallen.

Sie war damals schon mit Eugen Seidel verheiratet (in den Veröffentlichungen fir­miert sie manchmal auch nur unter dem Namen Seidel), mit dem sie 1933 aus expliziter Geg­nerschaft zum Faschismus Deutschland ver­ließ. Sie emigrierten nach Prag, wo ihr Vater Friedrich Slotty Professor war (weshalb sie dort wohl auch einige Zeit studiert hatte). Dort war sie wie ihr Mann im Prager Linguistenzirkel aktiv. Nach der Okkupation im März 1939 (vielleicht aber auch schon nach der »Sudetenkrise« im Septem­ber/Oktober 1938) migrierten sie gemeinsam weiter nach Rumänien, wo sie zunächst Schwierigkeiten mit den Faschisten hatten – 1944 nach der Befreiung aber als Deutsche interniert wur­den (worunter sie wohl mehr noch als ihr Mann gelitten hat). 1955 remigrierten sie in die DDR. Ob sie selbst später dort eine aka­demische Tätigkeit aus­übte oder »Privatgelehrte« blieb, ließ nicht ermitteln.

In Rumänien beschäftigte S. sich mit dem Rumänischen, in den publizierten Aufsätzen aber immer mit anspruchsvollen Obertönen der »teleologischen Sprachbetrachtung«, die durch die angedeuteten Analysen kaum eingelöst werden. So analysierte sie Formen der pronominalen Wiederaufnahme im Rumänischen (als Parallele im Deutschen führt sie selbst an: Der Mann der trinkt viel) als Konsequenz eines prosodischen Filters, der das Aufeinandertreffen starktoniger Formen vermeidet (»›Hypertrophie‹ der Pronomina im Rumänischen«).[4] Dabei blendet sie syntaktische Funktionen weitgehend aus (sie fand damit wohl auch bei rumänischen Fachkollegen keinen Anklang). Sie sah darin ein charakteristisches Bauprinzip des Rumänischen, dem sie in einer unveröffentlicht gebliebenen größeren Arbeit wohl auch systematischer nachgegangen ist: auf ein Manuskript »Ästhetische Tendenzen im Rumänischen« verwies sie später (s. die Hinweise in: »Mit rhythmischem Wert verwendete Präpositionen im Rumänischen«).[5] Wie hier folgte sie auch in parallelen Studien ihrem Lehrer Havers, so z.B. in »Über die Sprache der Höflichkeit«,[6] wo sie die Grenze zwischen Stil und Grammatik (z.B. der Grammatikalisierung der Kongruenz zwischen Anredeform und der Personalmarkierung am finiten Verb) im Rumänischen nachgeht und dessen Besonderheit in der großen Variation und insofern nicht grammatisch gefestigten Struktur sieht (mit Vergleichen zu anderen europäischen Sprachen).

Ihre späteren Veröffentlichungen sind orientiert an Fragen der Se­mantik – und zugleich bestimmt von dem Versuch, die politischen Erfahrungen der eigenen Biographie, bes. mit dem Faschismus, zu bear­beiten. Das wird deutlich selbst bei der kleinen, populärwissen­schaftlich gehaltenen Einführung »Die Bedeutung der Wörter«,[7] die in einem knappen Durchgang durch die Probleme der Semantik (theoretische Grundbegriffe, Abriß der historischen Be­deutungslehre) vor allem die Notwendigkeit herausstellt, den kul­turellen und gesellschaftlichen Kontext der Sprachform in die Ana­lyse mit einzubeziehen, und so Fragen des »Wertakzentes« vor allem im politischen Wortschatz dokumentiert.

Am deutlichsten ist das bei ihrer Auseinandersetzung mit der Sprache im Nationalsozialismus. Bereits im tschechoslowakischen Exil hatte sie mit ihrem Mann begonnen, eine Belegsammlung des Sprach­gebrauchs im »Dritten Reich« anzulegen und dazu auch im Prager Linguistenkreis schon vorgetragen.[8] Darauf bezieht sich u.a. auch die Studie von 1958 »Eugen Dühring als Vorläufer der Natio­nalsozialisten. Eine sprachliche Untersuchung«.[9] Dabei werden zwei Themen deutlich, die ihre Arbeit aus der Fülle von (vor allem bundesrepu­blikanischer) Veröffentlichungen zur Sprache des/im Nationalsozia­lismus herausheben:

 

(1) Das Bemühen, die sprachliche Form nicht deskrip­tiv zu isolieren, sondern sie funktional im Zusammenhang von Sprache und Denken zu analysieren, und

(2) der Bezug auf die ge­sellschaftlichen Determinanten der Sprachpraxis, der den National­sozialismus nicht als exotische Monstrosität aus der Geschichte ausgrenzt, sondern (wie hier an den Parallelen in einem bestimmten sozialdemokratischen Diskurs schon vor der Jahrhundertwende) die Kontinuität in der gesellschaftlichen Verarbeitung der kapitali­stischen Entwicklung in Deutschland aufzeigt.

Deutlicher noch ist das in der 1961 erschienenen gemeinsamen Publikation mit ih­rem Mann »Sprachwandel im Dritten Reich. Eine kritische Untersu­chung faschistischer Einflüsse«.[10] Ausdrücklich gegen die Ausgrenzung eines »Braunwelsches« gerichtet, versuchen sie hier die Normalität der Sprachpraxis, ihre Durchdringung mit faschismuskonformen Strukturen aufzuzeigen (s. bes. S. 128): politische Pornographie wie im »Stürmer« bleibt da­her ausgeklammert, ausführlich werden dagegen wissenschaftliche Texte analysiert, die »mitspielen« und so die faschistischen Verhältnisse reproduzieren, gerade auch wenn die Verfasser sich nicht offen als Partei­gänger ausweisen (S. 155), wie sie ausführlich z.B. an Texten von Leo Weisgerber demonstrieren (s. bes. S. 139-143). Obwohl die Ar­beit in der Hauptsache auf die Untersuchung des Lexikons bezogen ist, praktizieren sie hier eine von ihnen auch so deklarierte Stilanalyse, bei der sie die zentrale Problematik angehen, wie die jeweiligen sprachlichen Ausdrucksformen praktisch gelebt wurden, also (in Lévi-Strausscher Redeweise:) die Homologie etwa in der verbreiteten militaristischen Metaphorik zur faschistischen Militarisierung der Gesellschaft – jenseits aller bewußten Absich­ten und Parteigängerschaft (s. bes. S. 9 ff.); dabei verweisen sie auf die komplexe Kollusion mit den Verhältnissen, die gleiche Formen selbst bei Antifaschisten hervorrufen (S. 89 ff.).

Von den neueren Arbeiten, die bei der Rekonstruktion der sprachli­chen Prozesse unter dem Anspruch größerer Explizitheit ihrer Mo­dellierung stehen, sind die Grundthesen dieser Untersuchung noch längst nicht eingeholt (s. auch zu Klemperers Arbeit »LTI«): an die Stelle einer bequemen (und den Intellektuellen schmeicheln­den!) Vorstellung von sprachlicher Indoktrination bzw. Manipula­tion tritt hier (wenn auch im Buch nicht immer mit der nötigen Klarheit herausgestellt) die These von der Entwertung der rationa­len Potentiale der Sprache (für das Denken wie die Verständigung) durch den faschistischen Diskurs. Dieser ist nicht in ei­ner (fehlenden) einheitlichen Terminologie (exhibitionistische Fremdwortmanie hier z.B. zusammen mit deutschtümelndem Sprachpu­rismus, S. 123ff.) zu fassen, sondern in der Auflösung rationaler Poten­tiale durch die »dynamisierende« Anhäufung rationaler Figuren (De­finitionsschemata, wissenschaftliche Termini, S. 16ff.), die zu einer Dominanz der »Ausdrucksbewegung« gegenüber »rationalen Konturen« führt und so in der rituellen Formalisierung des Diskurses bei der Partizipation daran das Erleben von Sicherheit und Macht vermittelt. Was für viele einschlägige Arbeiten im Vordergrund steht: die »Verhunzung« der deutschen Sprache (gemessen meist an den Texten der »Klassiker«), kommt in dieser Betrachtung zwar auch vor, findet aber eine angemessene Be­wertung als Ausdruck einer nur sprachlich verlängerten sozialen Unsicherheit, die diese »Dynamisierung« der Sprachbewegung trägt – und die insbes. bei »halbgebildeten« Autodidakten wie vor allem Hitler zu den oft aufgespießten sprachlichen Entgleisungen führt (s. S. 145-150); dabei machen sie deutlich, daß das analytische Problem nicht in der schulmeisterlichen Bewertung, sondern in der hier angedeuteten prima facie erstaunlichen gesellschaftlichen Akzeptabilität dieser Redeweisen liegt. In dieser praktizierten Stil­analyse zeigt die Arbeit sich als politisch engagierte Fortführung und Anwendung der kulturanalytisch orien­tierten Stildiskussion der 20er Jahre (damit eine große Ausnahme unter den einschlägigen Arbeiten!)

Q: V.



[1] So nach der genealogischen Aufstellung der Nachkommen von Andreas Slota, s. http://ebookbrowse.com/descendents-of-andreas-slota-pdf-d54078819 (Okt. 2012).

[2] Würzburg: Triltsch 1935.

[3] Ich habe sie in fachgeschichtlichen Werken bisher nicht zitiert gefunden! Den Terminus übernahm sie von ihrem Lehrer Havers.

[4] In: Bulletin Linguistique (Bukarest) 8/1940: 142-153.

[5] In: »Studia Romanica« (= FS Lerch), Stuttgart: Port 1955: 394-399.

[6] In: Bulletin Linguistique (Bukarest) 10/1942: 48-66.

[7] Halle/S.: VEB Verlag Sprache und Literatur 1960 – in der von K. Ammer und G. Meier herausgegebenen »Taschenbuchreihe Sprache und Gesell­schaft«.

[8] Eine erste Ausarbeitung veröffentlichte sie auch (auf Tschechisch) schon in Prag, s. dazu Ehlers (2005: 444).

[9] In der FS Klemperer (s. ebd.), S. 383-396.

[10] Halle/S.: VEB Verlag Sprache und Literatur 1961.