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Jokl, Norbert

Geb. 25.2.1877 in Bzenec (damals Bisenz, Südmähren), gest. 11.5.1942 im Lager Maly Trostinec oder auf dem Transport von Wien (6.5.1942) dorthin.[1]

 

Nach dem Abitur in Ungarisch Gradisch (Uherské Hradiště, Tschechien, damals Mähren) studierte er Jura seit 1895 in Wien. 1901 Promotion zum Dr. jur.[2] Er schloß ein Studium der Sprachwissen­schaft (Schwerpunkt Slawistik) in Wien an, zunächst noch neben seiner Tätigkeit als Rechtsreferen­dar. Promotion zum Dr. phil. 1908; die Dissertation war die erweiterte Fassung eines bereits 1906 veröffentlichten Aufsatzes »Ein urslawi­sches Nasalierungsgesetz«. Danach schwerpunktmäßig Ar­beit zum Al­banischen. Seit 1903 arbeitete er an der Wiener Universitätsbi­bliothek, seit 1907 im Rang eines »Hofrats«. 1913 Habilitation (Venia für Albanisch, Slawisch, Baltisch); im Habilitationsverfah­ren wird er ausdrücklich als Linguist gewürdigt mit indogermani­schem Arbeitsgebiet; die Habilitations­schrift »Studien zur alba­nischen Etymologie und Wortbildung« war bereits 1911 veröffent­licht worden. Seitdem lehrte er an der Universität Wien, seit 1923 als a.o. Professor. In Hinblick auf seine weiteren Karrieremöglichkei­ten fühlte er sich wohl zurecht aus rassisti­schen Gründen zurück­gestellt: daß er »jüdischen Glaubens« war (Selbstbezeichnung im Lebenslauf), spielte bei allen Personalvor­gängen seiner Akte eine Rolle – und spiegelt sich mit unterschied­lichsten Vorzeichen in seiner ausgedehnten Korrespondenz. Gegen­über Freunden wie Vasmer klagt er Mitte der 20er Jahre schon über seine ungerechtfertigte Zurückstellung, bei der auch die Unterstüt­zung seines Lehrers Kretschmer nichts fruchtete.

1938/1939 begann die Verfolgung; 1939 erhielt er Publikations­verbot. Immerhin versuchte er bis Juni 1940 noch für die Indogermanische Forschungen bzw. das Jahrbuch zu schreiben; auch nachdem Debrunner sich resigniert zurückgezogen hatte, stützten ihn Krahe und sogar Porzig noch als für den Balkanraum nicht ersetzbaren Mitarbeiter, der regelmäßig die Literaturberichte verfaßte.[3] 1939 stellte J. den Antrag, formal einem »Mischling 1. Grades« gleichgestellt zu werden, um so zumindest die Bibliotheken benutzen zu können – dieser Antrag wurde trotz der Unterstützung durch den Dekan der Wiener Phil. Fakultät (und zugleich SS-Mann) Viktor Christian abgelehnt. So bemühte sich J., unterstützt durch  eine ganze Reihe von Fachkollegen, um die Emigra­tion bes. in die USA (H. Pedersen, E. H. Sturtevant und nicht zu­letzt Leo Spitzer, für den er im Ersten Weltkrieg als Briefzensor ge­arbeitet hatte, s. Dodic, Q); diese Bemühungen scheiterten, wie sich deprimierend in den Briefen spiegelt, an J.s Alter, das eine In­tegration in US-amerikanische Universitäten unmöglich machte (so Spitzer noch 1941). Es charakterisiert die damalige Situation, daß ei­ner seiner Helfer (L. Mises) ihm als einzige Chance riet, sich ein In­teresse an seiner Emigration in die USA mit der Offerte seiner reichhaltigen Bibliothek zu erkaufen, mit der zusammen man ihn wohl in Kauf nehmen würde (Korrespondenz 1939 bis Febr. 1941) – diese Bibliothek war in Fachkreisen notorisch: ihr Grundstock war die Bibliothek eines anderen Albanologen, F. Nopcsa (1877-1933), die dieser ihm testamentarisch vermacht hatte. Da Albanien seit 1939 von Italien besetzt war, versuchten italienische Fachkollegen, für J. eine Auswanderung nach dort zu arrangieren. Durch C. Tagliavinis[4] Vermittlung hatte J. 1941 schließlich auch vom Unterrichtsministerium einen Vertrag für das albanische Bibliothekswesen erhalten, aber die Ausreise wurde von den deutschen Behörden nicht genehmigt. Dabei spielte J.s Bibliothek eine entscheidende Rolle: die Wiener Machthaber wollten zwar J., aber nicht seine Bibliothek gehen lassen, die J. aber seinerseits schon testamentarisch dem albanischen Staat vermacht hatte. Dazu gibt es eine ausgedehnte Korrespondenz vor allem auf SS-Kanälen, bei der wieder V. Christian eine Schlüsselrolle spielte, der diese Bibliothek in Wien bewahren wollte.[5]

J. war ein vergleichender Sprachwissenschaftler der alten (»positi­vistischen«) Schule; in der Korrespondenz mit Neuerern wie Spitzer, mit dem er eine kontinuierliche fachliche Korre­spondenz unterhielt (bestimmt durch Spitzers Feuerwerk an Postkar­ten mit etymologischen Anfragen/Einfällen, die J. offensichtlich nicht sonderlich la­gen ...), wird das besonders deutlich; Spitzer titu­liert J. dabei aus­drücklich als Vertreter der alten junggrammati­schen (»Lautgesetz«-) Schule (z.B. am 10.3.1924). Aber wie viele der hier Aufgeführten hatte J. eine ausgeprägte kulturhistori­sche Orientierung, bei der er sich auch auf seine juristische Aus­bildung stützen konnte, etwa in seinen »Linguistisch-kulturhistori­sche[n] Untersuchungen aus dem Be­reiche des Albanischen« (1923). Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag bei der wortgeschichtlichen For­schung, in Anlehnung an die Wörter und Sachen-Richtung, die er wie dort üblich mit detail­lierten dialektgeographischen Untersu­chungen zu verbinden wußte. Von daher arbeitete er auch am italie­nischen Sprachatlas von Jaberg und Jud mit, für den er die Aus­wertung der albanischen Aufnahmen kon­trollierte (vor allem mit Jud verband ihn auch in der späteren schlimmen Zeit ein enges kolle­giales Verhältnis). Dabei hat er in durchaus struktureller Orien­tierung die systemischen Bedin­gungen des Albanischen herausge­stellt (was ihm auch die Wertschät­zung des offiziellen Albaniens ein­gebracht hat, u.a. in einer Ehrung 1937 in Alba­nien – übrigens sein einziger Aufenthalt dort: an­sonsten stützte er sich bei sei­ner Arbeit auf schriftliche Quellen oder Informanten in Wien). Die formalen Fragen behandelte er im Kontext der souverän beherrschten kul­turellen Zusammen­hänge der Balkanphilologie; ein ausführliches Bei­spiel für seine minutiös rekonstruierten Etymologien, mit der Differenzierung in »Urverwandtschaften« und kulturell bedingte Lehnbeziehungen, findet sich in dem von O. E. Pfeiffer postum ver­öffentlichten Manuskript »Sprach­liche Beiträge zur Paläo-Ethnolo­gie der Balkanhalbinsel / Zur Frage der ältesten griechisch-albanischen Be­ziehungen«.[6] Sein Lebenswerk war die Neubearbeitung des etymologischen Wörterbuchs des Albanischen von Gustav Meyer (Straßburg 1891); die handschriftlichen Ausarbeitungen sind bei seiner Deportation verschwunden bzw. vernichtet worden.

Die Bandbreite seiner Veröffentlichungen ist entsprechend umfas­send: nicht nur grammatische Arbeiten gehören dazu, auch solche zu Standardisierungsproblemen der al­banischen Schriftsprache, Terminologiefragen genauso wie philolo­gische Arbeiten im weiteren Sinne zur albanischen (älteren wie zeitgenössischen) Literatur. Nach fachkundiger Meinung (s. Ça­bej, Tagliavini und die vielen Zeugnisse, die Dodic [Q] zusammen­stellt) war J. zu seiner Zeit der anerkannt führende Albanologe. Ein leicht makabrer Beleg dafür ist eine gutachterliche Anfrage bei J. von der Deut­schen Akademie (von Thierfelder) in Sachen einer beantrag­ten Über­setzungsbeihilfe – J. war eben der deutschsprachige Al­banologe.[7]

Q: Was J.s Werk betrifft, so stütze ich mich auf die Ausführun­gen in dem Sammelband von Ölberg, der schon durch die zahlreiche Teil­nahme albanischer Wissenschaftler an der Gedächtnis-Konferenz im Jahre 1972 die hohe Wertschätzung J.s in Albanien deutlich macht: H. M. Ölberg (Hg.), »Akten des internationalen albanologi­schen Kollo­quiums zum Gedächtnis an Univ.-Prof. Dr. Norbert Jokl«, Innsbruck: Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 41/1977, hier insbes. auf die Beiträge von L. Dodic »Die Beziehun­gen Nor­bert Jokls zu den zeitgenössischen Albanologen und albani­schen Schriftstellern anhand seines Nachlasses«: S. 35-66, sowie des Jokl-Schülers E. Çabej, »Das albanologische Werk Norbert Jokls«, a.a.O., S. 3-21; außerdem auf den Nachruf von C. Tagliavini, »Norbert Jokl (1877-1942)«, in: Idg. Jb. 28/1949: 296-301 (dort S. 296 eine Anmerkung des Hg. Krahe, die das Ende von J. darstellt). Ergänzende Hinweise in dem Vorwort von Solta zu der o.g. postumen Veröffentlichung von Pfeiffer 1984; Stammerjohann 1996; ÖBL 2/1962; A. Ramaj, »Jüdischer Albanologe N. J«, in: G2W – Glaube in der 2. Welt 35 (2)/2007: 24-25 (elektronisch zugänglich http://david.juden.at/kulturzeitschrift/70-75/73-ramaj3.htm); M. Kazek, »N. J. – ein Lebensweg«, http://www.david.juden.at/kulturzeitschrift/55-5/Main%20frame_Artikel56_KACZEK_1.htm (abgerufen 14.2.2013).  Hinweise von Solta (Interview im März 1988); Nach­laß von J. in der Österr. Nationalbibliothek; DBE 2005.Systematization and Unification of Science in the School of Aristotle



[2] Die Dissertation ist nicht im Schriftenverzeichnis von Ölberg (1977, Q) aufgeführt. Auch sonst ist sie nicht zu ermitteln.

[3] Zu den makabersten Dokumententen aus dieser Zeit in J.s Nachlaß gehört die Korre­spondenz mit dem Jahrbuch-Hg. Porzig, der seine Schreiben an ihn markig mit »Heil Hitler« unterzeichnete.

[4] Carlo Tagliavini (1903-1982), italienischer vergleichender Sprachwissenschaftler. Arbeiten insbes. zu den romanischen Sprachen, aber z.B. auch zum Albanischen.

[5] S. den Schriftwechsel in der Ahnenerbe-Akte im BA Koblenz, NS 21/38. G. Simon hat wiederholt zu diesen Vorgängen publiziert, s. z.B. »Tödlicher Bücherwahn. Der letzte Wiener Universitätsrektor im 3. Reich und der Tod seines Kollegen N. J.«, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/buecherwahn.pdf , s. auch R. Stumpf, »Wissensspeiche in Zeiten politischer Umbrüche: Bruchstücke zur Geschichte der Universitätsbibliothek Wien 1938-1945«, in: Mitt. d. VÖB 60/ 2007: 9-29, bes. 19-20.

[6] Wien: Österr. AdW. 1984, Phil.-hist. Kl., Balkan. Komm., Ling. Abt. 29.

[7] So wird er auch in neueren Arbeiten gewürdigt, etwa bei Sh. Demiraj, »Historische Grammatik der albanischen Sprache«, Wien: Verlag der Österreichischen AdW 1993, O. Bucholz/W. Fiedler, »Albanische Grammatik«, Leipzig: Verlag Enzyklopädie 1987.