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Friedmann, Wilhelm Reginald

 

Geb. 19.3.1884 in Wien, gest. 11.12.1942 in Be­dous (Frankreich, in den Pyrenäen südl. von Pau, Freitod).

Abitur 1902 in Wien. Danach zunächst Militärdienst (beendet als Leutnant der Reserve), dann seit 1903 Studium der ro­manischen Philologie in Wien, Heidelberg, Berlin, Paris und Rom, 1907 in Wien bei Meyer-Lü­bke mit der Promo­tion abge­schlossen. Die Dis­sertation liefert die grammatische Be­schreibung einer ita­lienischen Handschrift des 14. Jhdts. aus dem Corpus der Le­genda Aurea, die er dann als Einleitung zu seiner Edition veröffentlicht (»Altitalienische Heili­genlegenden nach der Hand­schrift xxxviii.110 der Biblio­teca Nazio­nale Cen­trale in Flo­renz«).[1] Im Sinne seines Dok­torvaters lie­ferte er eine dialektale Einordnung der Handschrift (Veronesisch mit tos­kanischen Einschlä­gen, ne­ben La­tinismen vor allem in den Graphien) so­wie ein etymo­logisch durchgearbei­tetes ausführ­liches Glossar (S. 115-65).

1910 habilitierte er in Leipzig mit einer Edi­tion eines provenza­lischen Dichters; publiziert hat er davon aber wohl nur die »Einleitung zu einer text­kritischen Ausgabe der Ge­dichte des Trou­badours Ar­naut de Mareuil« mit ei­ner Teil­ausgabe[2] – dort findet sich der Hinweis, daß der sprachwissenschaft­lich-textkritische Teil »nahezu ganz fer­tig« sei. In den späteren Jah­ren wandte er sich in der For­schung zuneh­mend der französischen Gegenwarts­literatur zu, wozu er einflußreiche Studien vorlegte (vor al­lem auch im Vossler-Umfeld, u.a. im Jb. f. Ph.).

1914 wurde er mobilisiert und geriet im gleichen Jahr an der Ostfront in russische Gefangenschaft, in der er Russisch lernte.[3] 1918 konnte er fliehen und nach Wien zurückkehren. Bei Kriegsende war er für das österreichische Rote Kreuz in Bern als Übersetzer tätig, wo dieses die Rückführung österreichischer Kriegsgefangener organisierte. Hier war er in enger Verbindung mit pazifistischen Kreisen, die damals in der Schweiz organisiert waren (s. hier auch bei Spitzer). 1919 kehrte er nach Leipzig zurück, wo er als unbesoldeter Privatdozent insbes. über französische Gegenwartsliteratur las (was ihm zusätzliche Feindschaften im frankophoben Kollegenmilieu einbrachte – über den Antisemitismus hinaus).[4] Beruflich war er seit 1926 durch seine Lekto­renstelle für Italienisch an der Univ. Leip­zig abgesi­chert, in Verbindung mit der wohl auch seine Bearbeitung ei­ner italie­nischsprachigen deutschen Grammatik[5] zu se­hen ist. Sein wichtigstes Arbeitsfeld war aber die Vermittlung der gegenwärtigen französischen Kultur, wofür er 1927 an der Universität eine »Deutsch-französische Studiengesellschaft« gründete, die regelmäßig französische Intellektuelle, vor allem Literaten, einlud.[6] In dieser Zeit entfaltete er eine rege publizistische Aktivität, vor allem mit Beiträgen zu Frankreich im Leipziger Tageblatt (wieder abgedruckt in Delphis, Q).

Im September 1933 wurde ihm aus politischen Gründen die Lehrbefug­nis entzogen.[7] Er emigrierte nach Frankreich, wo er mit Un­terstützung des »Comité des savants« (zusätzlich noch mit einem darüber vermittelten Stipendium der Rockefeller Stiftung) zunächst an der Sorbonne und der »Ecole prati­que des hautes Etudes«, später auch an der »Freien Deutschen Hoch­schule« lehrte: in seinem Fachgebiet, der italieni­schen Philologie, wo er die historische Sprachwissenschaft vermittelte, mit dem Schwerpunkt bei dialektologischen und vor allem auch syntaktischen Fragen (s. seine Selbstdarstellung in Delphis, Q) sowie zur deutschen Literatur, aber auch zu allgemein-politi­schen Themen; so hielt er an der Freien Deutschen Hochschule 1938 einen Kurs über »L' idée de la paix dans la littérature française du Moyen-Age jusqu'à nos jours«).[8] Finanziell konnte er sich und seine Familie (Frau und Tochter) aber nur über Wasser halten, weil er daneben auch noch Privatunterricht gab (und zeitweise auch Englisch unterrichtete).

Der Kürschner registrierte ihn noch 1934 als »beurlaubt« mit unbe­kannter Adresse. Nach der Kriegserklärung Frankreichs im September 1939 wurde er beim Informationsministerium für die Auswertung deutscher Rundfunksendungen angestellt. Anträge von ihm auf Einbürgerung wurden abgelehnt.[9] Vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris floh er mit gefälschten Papieren (1940 war er in Deutschland ausgebürgert worden und daher staatenlos) in den »freien« Süden, wo er von einer protestantischen Pfarrersfamilie in einem Dorf im Béarn untergebracht wurde.[10] Formal gedeckt wurde sein Aufenthalt von der Universität Toulouse, über die er auch weiterhin das Rockefeller-Stipendium erhielt. Für diese führte er in seiner Wohngegend, dem Tal von Aspe, auch eine dialektologische Untersuchung durch, die postum publiziert wurde: »Maintien ou rétablissement des consonnes sourdes dans les parlers de la vallée d’Aspe«,[11] in der er Besonderheiten dieses gaskognischen Dialektgebietes diskutiert, in dem die lateinischen stimmlosen Plosive nicht wie sonst im Okzitanischen stimmhaft erscheinen (bzw. intervokalisch als Frikative oder schwinden).[12] F. argumentiert für eine Erklärung als konservative Bewahrung des lateinischen Konsonantismus, da eine Rückbildung (wie sie z.T. angenommen wurde) auch das Stimmloswerden alter stimmhafter Konsonanten erwarten ließe, was sich aber nicht findet (S. 45).

Am 10. Dezember 1942 wurde F. von einer deutschen Polizeistreife aufgrund der gefälschten Papiere festgenommen. In der folgenden Nacht nahm er sich das Leben und rettete damit nicht zuletzt seine Familie vor weiterer Verfolgung, die in Frankreich überleben konnte (seine Frau war nicht von der rassistischen Verfolgung betroffen).[13] Am 8.7.1940 war ihm aufgrund der entsprechenden rassistischen Verordnung der Dr.-Titel entzogen worden – die Universität Wien brauchte bis zum 13.5.1955, um ihm postum den Titel wieder zuzugestehen.

Q: LdS: temporary; Aufbau 9 (H.13 v. 26.3.1943); Christ­mann/Hausmann 1989 (bes. auch Christmann dort S. 257-258); C. Delphis: »W. F. (1884-1942). Le destin d’un francophile. Correspondence avec Georges Duhamel, Jean-Richard Bloch et Marcel Raymond«, Leipzig: Universitätsverlag 1999; dies.: »A propos de l’hommage à W. F. publié en 1943 dans le Journal Aufbau«, in: Grenzgänge (Romanisten im Exil), 12 (H. 24)/2005: 79-83; A. Ruiz: »W. F. (1884-1942), émigré du IIIe Reich, et sa fin tragique dans les Pyrénées«, in: Grenzgänge (Romanisten im Exil), 12 (H. 24)/2005: 4-45; Heuer 1992ff. (Bd. 8); Parak 2004; Lambrecht 2006: 79-80; Archiv B/J.


[1] Dresden: Gesell­schaft für romanische Literatur 1908.

[2] Halle: Karras 1910.

[3] Was er später nutzte, um auch über russische Literatur zu publizieren.

[4] Für den auch nicht zählte, daß er zwar aus einer (nicht praktizierenden) jüdischen Familie stammte, aber mit 18 Jahren zum Protestantismus konvertiert war. Biographische Einzelheiten bei Delphis (Q).

[5] Sauer/Ferrari, »Grammatica della lingua tedesca con temi, letture e dialoghi in gran parte rifatta del dottore W. F.«, Hei­delberg: Groos 1930.

[6] Darauf gingen seine engen Beziehungen zu vielen von diesen zurück, die ihn später in Frankreich unterstützten. Nach seiner Auswanderung wurde die Gesellschaft 1933 aufgelöst, kurzfristig nur noch von von Wartburg als »Deutsch-romanische Gesellschaft« wiederbelebt, s. dazu Delphis (Q: 187).

[7] Nach § 4 des Beamtengesetzes, s. Gerstengarbe 1994: 29.

[8] S. Roussel 1984: 341, FN 52.

[9] Offensichtlich aus antisemitischen Gründen – trotz großer Unterstützung, auch auf offiziellem Weg durch die Sorbonne, s. dazu Delphis (Q: 201-209).

[10] In diesem Fall kam ihm die oppositionelle Tradition der protestantischen Minderheit zugute, die F. und seine Familie als die Ihren ansah. Nach seinem Freitod hat die Gemeinde ihn auch auf ihrem Dorffriedhof begraben.

[11] Zuerst in: Revue Pyrénées (Jan.-Juni) 1950: 56-64, repr. in Grenzgänge 12/2005: 40-45.

[12] F. war mit der einschlägigen romanistischen Forschungsdiskussion vertraut, die seit Gilliérons Atlas ohnehin ein Standardthema der romanischen Sprachwissenschaft war; auf Gilliéron bezieht er sich explizit (für den zeitgenössischen Diskussionsstand zu dieser Erscheinung, s. etwa J. Ronjat, »Grammaire istorique des parlers provençaux modernes«, Montpellier: Société des langues romanes, bes. Bd. 2/1932: 73-75).

[13] Der Nach­ruf in Aufbau 1943 schreibt fälschlich, daß er sich der Festnahme durch die Gestapo in Marseille durch den Frei­tod entzog, weil er keine Hoffnung auf ein Vi­sum für die USA hatte, das ihm tatsäch­lich zu diesem Zeitpunkt aber bereits gewährt wor­den sei. Diese falschen Angaben finden sich auch in der späteren Literatur zu F., z.B. bei Heuer (Q).

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