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Furth, Hans Gerhard

Der Familienname war vor der Auswanderung Fürth (nach dem Herkunftsort der Familie). Geb. 2.12.1920 in Wien, gest. 7.11.1999 in Washington. Von der rassistischen Verfolgung bedroht, floh er mit gefälschten Papieren 1938 nach England, wo er als enemy alien für anderthalb Jahre auf der Isle of Man interniert wurde. Teile seiner Familie (darunter der Vater) wurden Opfer der Verfolgung. Bereits vor der Auswanderung war er zum Katholizismus konvertiert. Nach der Internierung trat er in den Kartäuserorden ein, den er nach sieben Jahren aber wieder verließ. Er wanderte dann nach Kanada aus, von dort weiter in die USA, wo er heiratete. In Portland (Oregon) studierte er klinische Psychologie, die er danach bis zur Emeritierung 1990 an der Catholic univ. of America in Washington lehrte.  Einen Schwerpunkt hatten dabei kognitive Fragen, für die er sich vor allem mit den Arbeiten von Jean Piaget (1896-1980) auseinandersetzte, auf die auch eine Reihe seiner pädagogisch einflußreichen Veröffentlichungen abstellte.[1] Bei Piaget absolvierte er in den 1966/67er Jahren auch einen längeren Forschungsaufenthalt in Genf. [2]

Wie Piaget faßte er die kognitive Entwicklung als Moment der zunehmenden Selbstorganisation des kindlichen Lebens, angefangen bei der Kontrolle der körperlichen (motorischen) Aktivitäten. Ihre weitere Entfaltung verläuft über das Lernen spezieller Fertigkeiten, für die Kinder sich die gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen aneignen müssen. Grundlage dafür sind operationale Schematisierungen von Handlungsmustern, die auch symbolisiert werden können, verankert in kognitiven Schematismen wie der Gestaltschließung. Motor dieses Aneignungsprozesses ist das Bemühen des Kindes um die Selbstorganisation in der Welt, in die es hineingeboren wird. Im Rückgriff auf psychoanalytische Konzeptualisierungen (über Freud hinaus vor allem auch auf Lacan) entwickelte F. die Entfaltung der kognitiven Fähigkeiten als libidinös bestimmten Prozeß (er sprach so auch von einem damit ausagierten Trieb). Auf diese Weise baute er ein monistisches Theoriegebäude, das biologisch (in den leiblichen Ressourcen) fundiert ist, aber seine Form in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Praxis erhält. In diesem Sinne sprach er bei der Entfaltung der Fähigkeiten von ihrer „Kokonstruiertheit“.

Bei seinen theoretisch oft weit ausgreifenden Überlegungen versuchte F. eine Integration von zumeist als disparat hingestellten Ansätzen. In einer Reihe von empirischen Studien  argumentierte er strikt psychologisch, mit Verweis auf die biologische Fundierung, gestützt auf die Befunde bei größeren Probandenzahlen mit einer statistischen Auswertung.[3] Dabei war er bemüht, die theoretische Orientierung seiner Analysen praktisch-pädagogisch nutzbar zu machen. In diesem Sinne arbeitete er bei einem Schulversuch „School for Thinking“ zur Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten mit, der 1970-71 in Charleston (West Virginia, USA) durchgeführt wurde.[4] Für den begrifflichen Rahmen verschaffte er sich im Rückgang auf Piaget die epistemologischen Grundlagen. Darauf zielte auch sein als grundlegende Einführung intendierter Band (1969, s. Anm. 2). Indem er dabei explizit in einem gesellschaftstheoretischen Horizont argumentierte, ging er nicht nur über diesen hinaus, sondern z.B. auch über den in dieser Literatur gängigen Verweis auf Vygotzki. Dazu setzte er sich explizit mit neueren marxistischen Arbeiten auseinander.

Grundfigur seiner Modellierung ist das Bemühen (explizit bei ihm: desire) des Kindes, in der Welt zum Akteur zu werden. Dessen Denken ist von Anfang an eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt, durch die es sich zur Person entwickelt. Dabei stellte er heraus, daß die Weltbezüge keine extern an das Kind herangetragenen Anforderungen sind, wie es in der gängigen Sozialisationstheorie meist dargestellt wird. Einen entsprechend großen Raum nimmt in seinen Arbeiten das Bemühen ein, bei der Darstellung kindlichen Denkens dessen Eigenständigkeit zur Geltung zu bringen. Dazu analysierte er Rollenspiele („let’s pretend‘-Spiele) und Aufzeichnungen kindlicher Monologe (etwa vor dem Einschlafen, in denen die Tageserlebnisse verarbeitet werden), um zu zeigen, daß Kinder damit soziale Konzeptualisierungen inszenieren.[5] Das kindliche Spielen hatte durchgehend in seinen Forschungen eine Schlüsselrolle. Um die kognitiven Grundstrukturen gegenüber kontingenten Erscheinungen in den Beobachtungen zu isolieren, unternahm er vergleichende Studien, darunter auch ethnologisch fundierte z.B. in Durban (Südafrika), gestützt auf lokale Feldassistenten. Dort stellte er als bemerkenswert heraus, daß bei spielenden Zulu-Kindern keine Tötungen inszeniert werden.[6] Im Rückschluß auf kindliche Kriegsspiele in westlichen Gesellschaften findet er darin ein Charakteristikum von diesen.

Bei allen seinen Arbeiten bemüht er sich zu zeigen, daß Kinder eigenständige Personen sind, deren Welt zwar verglichen mit der von Erwachsenen eingeschränkt ist und deren kognitive Strukturierungen relativ unterdifferenziert sind, daß damit aber von ihnen die Welt symbolisch greifbar gemacht wird (engl. to grasp ist der von ihm in diesem Zusammenhang gerne genutzte Begriff). Daher führte er auch systematisch explorierende Interviews mit Kindern unterschiedlichen Alters, in denen diese aufgefordert wurden, soziale Sachverhalte zu artikulieren.[7]

Das Grundproblem der empirischen Forschung liegt für ihn darin, daß aus dem beobachtbaren Verhalten nicht direkt auf die kognitiven Ressourcen geschlossen werden kann, da es aus den in den Verhaltensweisen sedimentierten lebensgeschichtlichen Praktiken resultiert, also aus den gemachten Erfahrungen und dem Umgang mit ihnen. Was in beobachtbarem Verhalten sichtbar wird, ist geprägt durch die biographischen Erfahrungen, anders bei urbanem Leben als auf dem Land, ggf. da wieder besonders bei bäuerlichen Lebensverhältnissen. Bestimmend sind soziale Muster, darunter insbesondere die in Familienstrukturen verankerten. Entscheidend ist, welche Problemlösungen lebensgeschichtlich verlangt waren, sodaß sie sich operativ festigen konnten. Bei seinen Untersuchungen mit goßen Populationen differenzierte er entsprechend bei den Befunden.

Für das komplexe menschliche Verhalten ist die Fähigkeit zum Symbolisieren grundlegend, das Sinnzusammenhänge greifbar macht. Diese Fähigkeit kann mit der Sprache ausgebaut werden. Er stellte mehrfach heraus, daß Sprache gegenüber der kognitiven Entwicklung sekundär ist: sie wird kommunikativ ins Werk gesetzt und kommt lebensgeschichtlich unterschiedlich zur Geltung. Sie kann vor allem auch pathologisch blockiert werden, z.B. bei Gehörlosigkeit. Daher operierte er bei seinen experimentellen Untersuchungen mit dem Faktor der unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Erfahrung mit komplexen (kontextfrei definierten) Aufgaben bei hörenden und gehörlosen Menschen, die einer direkten Projektion der Befunde auf die körperliche Ausstattung im Wege stehen: gehörlose Menschen haben in Hinblick auf die von ihren bewältigten Probleme dieser Art zumeist eingeschränktere Erfahrungen als hörende. Das definiert für ihn auch den Ort von Sprache bei der kognitiven Entwicklung. Diese ist zwar genetisch verankert, muß in ihrer kognitiven Ausprägung aber in der Auseinandersetzung mit der Welt angeeignet werden, wobei die kognitiven Fähigkeiten potenziert werden können, aber eben auch blockiert werden können.

Dieses Spannungsfeld bestimmte seine Forschungsarbeit, bei der Untersuchungen zu Gehörlosen einen Schwerpunkt bildeten, dabei vor allem auch bei diesen die nonverbale Entfaltung der symbolischen Fähigkeiten in der Gebärdensprache, die er praktisch auf eine entsprechende pädagogische Arbeit ausrichtete. [8] Bei Untersuchungen zu gehörlosen Lernern isolierte er die verschiedenen Dimensionen der Sprachpraxis, auf der Basis systematischer Tests für die Differenzierung der verschiedenen Faktoren. Diese bestätigen für ihn eindeutig, daß die kognitive Entwicklung der sprachlichen vorgelagert ist. Auch gehörlose Kinder, die keinen Zugang zur Verbalisierung haben, zeigen die gleichen kognitiven Fähigkeiten wie hörende. Dabei sind die beobachtbaren Probleme bei Gehörlosen nicht eindeutig: diese haben lebensgeschichtlich durchgängig eine andere Erfahrungswelt als verbal Aktive. Daher kann aus den beobachtbaren (und experimentell operational ermittelbaren) verbalen und nonverbalen Leistungen nicht direkt auf die ins Werk gesetzten kognitiven Ressourcen geschlossen werden.

Für seine theoretische Modellierung schloß F. explizit an die frühe russische Psychologie an (Wygotskij und Lurija figurieren zentral in seinen Literaturverweisen), grenzte sich aber von der für ihn zu schematischen Konstruktionen von ‚innerer‘ vs. ‚äußerer Sprache‘ ab. Für eine systematische Konzeptualisierung setzte er sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinander.[9] Dabei konstatierte er, daß sich bei der theoretischen Modellierung des Umgangs mit Erfahrung eine Schere geöffnet hat zwischen der psychoanalytischen Modellierung, die auf die Verankerung im emotionalen Erleben ausgerichtet ist, und der theoretisch an der Arbeit am Begriff orientieren Forschung. F. zielte auf eine Integration dieser Reflexionsstränge im Sinne eines komplexen Grundbegriffs der Erfahrung, ausgerichtet auf die biographische Perspektive der Persönlichkeitsbildung.

Er bemühte sich um einen anthropologisch ausgerichteten Ansatz, der Denken (auch in seiner sprachlichen und ggf. auch logischen Ausformung) von dem Bemühen um eine selbstbestimmte Ausgestaltung des Lebens her faßt: als Aneignung der (gelebten) Welt und damit der Positionierung in ihr.[10] In seinen empirischen Forschungen zeigte er, daß diese Frage auch als Motor für die kognitive Entwicklung bei Kindern fungiert (s.o.).

In seinen letzten Arbeiten blieb er nicht bei dieser disziplinären (kognitionspsychologischen) Ausrichtung, sondern reflektierte die mit den menschlichen Potentialen produzierten Ressourcen der Selbstzerstörung: von der in der eigenen Familienbiographie erfahrenen traumatischen Shoa bis zum Atombombenabwurf über Japan.[11]

 Q: Für die biographischen Daten stütze ich mich auf den Wikipedia-Eintrag zu F.

 

1 In deutscher Übersetzung, s. H.G. Furth, Piaget für Lehrer. Düsseldorf: Schwann 1990.

[2] S. dazu H.G Furth, Piaget and Knowledge: Theoretical Foundations. Chicago: University of Chicago Press. 1969., 2. A. 1981; dt. Fassung  H.G. Furth, Intelligenz und Erkennen. Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. Den Band (1969) datiert er im Vorwort in Genf, März 1967.

[3] Z.B. H.G.Furth, Conceptual discovery and control on a pictoral part-whole task as a function of age, intelligence and language, in: Journal of Educational Psychology 54/ 1963: 191-196, oder H.G.Furth, Conservation of weight in deaf and hearing children, in: Child Development 35/ 1964: 143-150.

[4] S. dazu (mit H. Wachs), Thinking goes to school. New York: Oxford univ. pr. 1975. Harry Wachs (1924-2016) war als medizinischer Supervisor beteiligt.

[5] Ausführlich in H.G.Furth, Desire for Society. Children’s Knowledge as Social Imagination. New York: Plenum 1996.

[6] S. in dem Band (1996), S. 59.

[7] H.G.Furth, The world of grown-ups. Children’s conceptions of society. New York elsevier 1980.

[8] H.G Furth, Thinking without Language. Psychological Implications of Deafness. New York: The Free Press 1966

[9] Sein darauf abgestelltes Werk Knowledge as desire. An essay on Freud and Piaget. (New York: Columbia univ. pr. 1987) ist leider an österreichischen Bibliotheken nicht zugänglich, sodaß ich mich dazu nur auf Verweise darauf in anderen Werken von F. stützen kann.

[10] Darauf ist insbesondere der Band (1996) ausgerichtet, s. Fn. 5.

[11] Vgl. die instruktive Parallele bei Günther Stern / Anders.

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