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Korsch, Karl

Geb. 15.8.1886 in Tostedt (Lüneburger Heide), gest. 21.10.1961 in Belmont/Mass.

 

Studium der Jura, Volkswirtschaft und Philosophie in München, Genf, Berlin und Jena. 1910 Promotion zum Dr. jur. mit einer Dissertation zum Zivilprozeß.[1] Seit 1910 juristische Studien und Assistententätigkeit in London. Dort Engagement im Umfeld der Sozialdemo­kratie (Fabian Society), von wo er genossenschaftliche (und elitäre!) Vorstellungen mitbrachte. 1914-1918 Kriegsdienst (mit Auszeichnungen, aber nach pazifistischer Verweigerung des Dienstes mit der Waffe als Offizier degradiert). 1919 juristi­sche Habilitation in Jena. Die Habilitationsschrift über das englische Zivilrecht ist nicht erhalten (in der Werkausgabe Bd. 2 sind nur die Habilitationsgutachten abgedruckt, S. 563-566). 1922 publizierte er u.a. einen umfangreichen Kommentar zum damals verabschiedeten neuen Betriebsverfassungsrecht.[2]

K. war eine der führenden Figuren in der freistudentischen Bewegung, die sich einerseits gegen die Korporierten stellten (darauf zielt das Attribut "frei"), andererseits gegen die sich abzeichnende Engführung des Studiums auf eine Berufsqualifikation in der schon damals so gennanten "Massenuniversität". In diesem "lebensreformerischen" Umfeld vertrat er auch publizistisch aktiv eine explizit politische Linie, die sich einer marxistischen Argumentation bediente (u.a. in zahlreichen Beiträgen in der "Jenaer Hochschulzeitung").[3] In diesem freistudentischen Umfeld hatte enge Kontakte zu Reichenbach (in Berlin), zu Carnap (der damals auch in Jena war) u.a.. Im Ersten Weltkrieg radikalisierte sich K.s Position zunehmend, und seit Kriegsende war er politisch organisiert aktiv: 1919 in der USPD, seit 1920 in der KPD, für die er als Redner und Parlamentskandi­dat aktiv war (er vertrat eine »leninistische« Linie und war z.B. für den bewaffneten Kampf). Seine frühen journalistischen Arbeiten, allgemein zu Bildungsfragen wie besonders auch zum Frauenstudium, zur Rassenhygiene u.a., zeigen vor allem eine moralisch engagierte Position. Seit 1920 betrieb er intensive Studien zum Marxismus, die auch die Basis für seine damaligen öffentlichen Auftritte wurden.[4] Schon seit seiner Studentenzeit war er aktiv in der Arbeiterschulung gewesen mit Pu­blikationen und Vorträgen (zunächst noch auf »freistudentischer« Plattform, wo er in Berlin vermutlich auch Kontakte ; später mit sozialistischen Vorzeichen, dabei zeit­weise Zusammenarbeit mit Wittfogel).

1923 wurde er in Jena zum Pro­fessor er­nannt und im gleichen Jahr Justizminister in Thüringen (in der SPD/KPD-Koalition). In der folgenden Bürgerkriegssituation wurde ihm die Professur durch die neue (rechte) Regierung aberkannt; daraufhin war er in der Ille­galität weiter po­litisch-wissenschaftlich aktiv (er hielt Vorlesun­gen vor Arbeitern statt in Uni­versitäten). Seit 1925 Konflikt mit der KPD, deren politische und ideologische Unterordnung unter die Sowjetunion er nicht mehr mittrug. Die von ihm damals entwickelte Kritik an der Degeneration marxistischer Positionen zur »Legitimationswissenschaft« machte ihn in den 60er und 70er Jahren zu einem zentralen Bezugspunkt für die undogmatische Linke der Studentenbewegung. 1926 wurde er aus der KPD ausgeschlos­sen. Er war weiter im Parlament aktiv, zunächst im Umfeld der linken Op­position (KAPD), später dann mit der Orientierung an anarcho-syndikali­stischen Vorstellungen (1931 fuhr er nach Spanien). In diesem Kon­text entstand sein Projekt zu einer theoretischen Rekonstruktion des Marxismus.

1925 erhielt er seine Professur zurück, aber unter der Bedingung, keine Lehrveranstaltungen durchzuführen. Er war weiter publizistisch und in Ar­beiter- bzw. Volksbildungsinstitu­tionen tätig (u.a. in Verbindung mit dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt). Sein theoretisches Projekt war bestimmt durch die Auseinandersetzung mit Lenin, dessen frühe politischen Schriften für ihn Anlaß zu einer philosophischen Rekonstruktion des Marxismus war (auf der Basis eines Hegel-Studiums), dessen ideologiekritischen Schriften er jetzt aber historisch analysierte (vor allem Lenins Auseinandersetzung mit dem Positivismus: »Materialismus und Empiriokritizismus« 1909) – der Gegensatz von Idealismus und Materialismus war für ihn in der fortgeschrittenen bürgerli­chen Gesellschaft wie in Deutschland obsolet, Lenins Analyse war demnach nur den rückständigen Verhältnissen in Rußland angemessen. Eine poli­tische Theorie erforderte es für ihn, die bürgerliche Ideologie in ihrem fort­geschrittenen Zustand zu analysieren, also bestimmt durch einen spe­zifischen »Materialismus«, statt einer ideologischen Orientierung an den Naturwissenschaften. Von daher kam er seit 1930 zunehmend zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Logistik und formaler Philosophie (u.a. Kontakt mit Reichenbach, zu dem er ja ohnehin ältere Beziehungen hatte, Carnap, Neurath u.a.).

Als Kommunist wurde er im März 1933 entlassen und war zunächst noch im Untergrund aktiv. Im Herbst 1933 emigrierte er über Dänemark, wo er freundschaftliche Beziehungen zu Bert Brecht hatte, und vermutlich Schweden nach London. 1936 emigrierte er weiter in die USA. Dort fand er keine feste Stelle, hatte nur gelegentlich Gastprofessuren (u.a. in New Orleans). Zeitweise arbeitete er mit dem Institut für Sozialforschung zusammen; größere Stipendiengesuche blieben erfolglos. Bemühungen um eine Hochschullehrerstelle scheiterten an politischen Vorbehalten. So lebte er in der Zeit in den USA wohl überwiegend vom Einkommen seiner Frau Hedda, die an einem Mädchen-College in Boston eine Professur für Literatur hatte.[5] K. arbeitete als freier Publizist und versuchte dabei, sein theoretisches Projekt weiterzutreiben. In diesem Zusammenhang studierte er u.a. in Harvard bei R. von Mieses angewandte Mathematik und symbolische Logik. Gemeinsam mit »positivistischen« Sozialwissenschaftlern, insbes. dem Psycho­logen Kurt Lewin,[6] beteiligte er sich an Unternehmungen zur Formalisierung der Gesellschaftswissenschaften.

In diesem Rahmen konzipierte er ein Projekt, das seine Aufnahme unter die »Sprachforscher« begründet: er begann, eine materia­listische Sprachtheorie auszuarbeiten – wovon mir allerdings nur einige Konzepte aus dem Nachlaß durch die freundliche Hilfe von M. Buckmiller zugänglich waren. Dabei führte er die frühere Aus­einandersetzung mit der analytischen Sprach­philosophie/Logistik systematisch weiter (s. auch oben zu seinen Kontakten zu Reichenbach und Carnap). Seine Briefe sind durchzogen von Hinweisen auf die Mühe beim Einarbeiten in »den formalen Kram« – zugleich verbunden mit einer heftigen Polemik gegen die akademisch-philosophischen Traditionalisten im Umfeld der Arbeiterbewegung, die sich diese Mühe durch das Festhalten an Hegel ersparen wollen.[7] So nahm er auch an dem 5. Intern. Kongr. »The Unity of Science« (Sept. 1939 an der Harvard Univ.) teil, wo er zusammen mit Lewin einen Vortrag »Mathematical Con­structs in Psychology and Sociology« hielt (die Akten des Kongres­ses sind nicht mehr erschienen; der Vortrag war mir daher nicht zugänglich).[8]

In diesen Arbeiten entwirft er ein Konzep­t, Spra­che historisch im materiellen Prozeß der (Re-)Produktion des Le­bens zu fassen, d.h. in ihrer sozialen Verfaßtheit (das Dis­kursive auf die Formen der Arbeitsteilung rückbezogen). Der Akzent liegt dabei auf einer Ideologiekritik an dem herrschenden Behavio­rismus und Physikalismus, den er als Moment des »Fetischcharakters der Begriffe/Wörter« faßt (anscheinend gab es dazu eine ge­meinsame Diskussion mit Kurt Lewin). Bei seiner Kritik der zeitgenössischen, vor allem auch US-amerikanischen Sozial- und Sprachphilosophie ist die Figur der »Robinsonade« leitend, indem er zeigt, daß diese sich, gerade weil sie ihre Annahmen für natürlich hält, nicht bewußt ist, daß diese aus der Anschauung der US-amerikanischen Gesellschaft stammen.[9] Dem setzt er die Notwendigkeit entgegen, die konkreten Erscheinungsformen der Kommunikation, an denen ihn nicht zuletzt auch die spezifischen Formen des American Way of Life (etwa in der Werbung) faszinierten, historisch zu rekonstruieren und dabei zu zeigen, wie sich in ihnen die Produktionsbedingungen des Lebens reproduzieren und insofern die gesellschaftliche Arbeitsteilung symbolisch präsent ist. Aus den verschiedenen Notizen zu diesem Gegenstandsbereich in seinem Nachlaß, z.T. vermutlich auch als Notizen für einen Stipendienantrag, läßt sich ein größeres Projekt zur Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse seit der Französischen Revolution extrapolieren. Genaueres dazu müßte die Auswertung des Nachlasses ergeben.

Von dem publizier­ten Werk her gehört K. nicht in die Reihe der Sprachforscher. Aber er steht für eine 1933 abgebrochene Tradition, Sprachprobleme als unmittelbar politisch zu fassen und sie gerade auch von marxisti­scher Seite her in Auseinandersetzung mit der »fortgeschrittenen« Form der (Sprach-)Wissenschaft anzugehen (vgl. auch Benjamin). Nach 1968 hatte die Korsch-Rezeption eine Schlüsselrolle bei dem Versuch, in der Studentenbewegung von der Rezeption des offiziel­len »Marxismus-Leninismus« der DDR loszukommen.[10]

Q: NDB; BHE; Sternfeld/Tiedemann 21970; DBE 2005. Eine Werkausgabe von K., hg. von M. Buckmiller, erscheint seit 1980 (Frankfurt: EVA), erschienen Bd. 1 »Recht, Geist und Kultur. Schriften 1908-1918« (Frankfurt: EVA 1980), Bd. 2 »Rätebewegung und Klassenkampf. Schriften 1919-1923« (Frankfurt: EVA 1980), Bd. 3 »Marxismus und Philosophie« (Frankfurt: EVA 1993), Bd. 5 »Krise des Marxismus« (Frankfurt: EVA 1996), Bd. 8/9 »Briefe« (Frankfurt: EVA 2001), Bd. 7 »Marxism, State and Counterrevolution« (Hannover: Offizin 2006). Eine ausführliche Biographie bei M. Buckmiller, »Marxismus als Realität. Zur Rekonstruktion der theo­retischen und politischen Entwicklung Karl Korschs«, in: C. Pozzoli (Hg.), »Über Karl Korsch«, Frankfurt/M.: Fischer 1973, S. 15-85; außerdem M. Buckmiller (Hg.), »Zur Aktualität von Karl Korsch«, Frankfurt: EVA 1981: Vita dort S. 164-170; Hedda Korsch (die Ehefrau), »Memories of K. K.«, in: New Left Review 76/1972 (http://www.marxists.org/archive/korsch/memories-korsch.htm abgerufen am 11. Juni 2013).


 

[1] »Die Anwendung der Beweislastregeln im Zivilprozeß und das qualifizierte Geständnis«, gedruckt 1911, Wiederabdruck in den Schriften Bd. 1: 127-261.

[2] »Arbeitsrecht für Betriebsräte«, Wiederabdruck in der Werkausgabe Bd. 2: 279-492.

[3] Wieder abgedruckt in Bd. 1 der Werkausgabe.

[4] Nachdrucke der da­maligen Arbeiten, außer in der Werkausgabe Bd. 2, z.B. auch als »Marxis­mus und Philosophie«, Frankfurt: EVA 1966 und »Die materialisti­sche Geschichtsauffassung«, Frankfurt: EVA 1971.

[5] Hedda K. war Lehrerin gewesen, war wie K. politisch aktiv und wurde wie er 1933 aus politischen Gründen entlassen. Ihre Emigrationsstationen waren gemeinsam: zunächst unterrichtete Hedda K. in Schweden an Heimvolkshochschulen, dann gingen sie gemeinsam in die USA. Zu ihr s. G. Kreis, »Frauen im Exil«, Düsseldorf: Claassen 1984: 157ff.

[6] K. L. (1890-1947), Gestaltpsychologe aus dem Berliner Kreis um Stumpf, wo er auch seit seiner Habilitation 1920 lehrte. Von der rassistischen Verfolgung bedroht, emigrierte er 1933 in die USA, wo er schon vorher Forschungstätigkeiten übernommen hatte. Seit 1935 verschiedene Professuren an Universitäten der Ostküste.

[7] S. M. Buckmiller/G. Langkau (Hgg.), »Karl Korsch: Briefe an P. Partos, P. Mattick und B. Brecht 1934-1939«, in: C. Pozzoli (Hg.), »Jahrbuch Arbeiterbewegung«, Bd. 2 »Marxistische Revo­lutionstheorien«, Frankfurt: Fischer 1974: 117-294, vgl. z.B. S. 214.

[8] S. aber Erkenntnis 8/1939-1940: 369-371, bes. S. 370.

[9] So wie Robinson seine Geräte scheinbar neu erfand, dabei aber nur das reproduzierte, was er vor seinem Schiffbruch in England gesehen hatte. Die Robinsonade ist eine analytische Figur marxistischer Ideologiekritik.

[10] Der Eintrag zu K. stammt aus einer ersten Fassung der Dokumentation, die vor 1989 geschrieben ist. Der Schlußabschnitt dieser Version ist noch in der Druckfassung von 2010 übernommen. Er sei gewissermaßen als historisches Dokument hier noch zitiert: »Das ist in den dürftigen Ansätzen zu einer marxistischen Sprachwissenschaft wohl noch weniger gelungen als in anderen Bereichen. Angesichts der langweiligen Serienproduktion von marxistisch-leninistischer Sprachwissenschaft (made in GDR – oder ihre westdeutsche Replik) läßt sich kaum abschätzen, was eine nach 1933 inexistente Auseinandersetzung mit einem Denker wie K. hätte bewirken können, der dazu gezwungen hätte, die sprachtheoretische Analyse tatsächlich historisch zu betreiben.«

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