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Neuberger-Donath, Ruth

Geb. 21.7.1914 in Wien.

 

Nach dem Abitur 1933 in Wien studierte N. dort Klassische Philologie. 1938 brach sie unter dem Druck der rassistischen Verfolgung die Arbeit an der bereits begonnenen Dissertation ab und floh über Italien in die Niederlande, wo sie in den letzten Kriegsjahren in einem Versteck lebte. 1946 emigrierte sie weiter nach Palästina, wo sie illegal einreiste und zunächst von Gelegenheitstätigkeiten lebte. Erst sehr viel später, nachdem sie geheiratet hatte, nahm sie 1966 ihr Studium in Tel Aviv wieder auf. Dabei hatte sie über die Klassische Philologie hinaus einen Schwerpunkt in der vergleichenden Sprachwissenschaft (bei H. B. Rosén). Das Studium schloß sie 1968 mit dem Master ab. Bereits vorher, seit 1967, unterrichtete sie an der Universität Tel Aviv. 1969 promovierte sie in Wien mit der inzwischen fertiggestellten Dissertation, die sie 1938 abgebrochen hatte. 1975 erhielt sie eine Assistentenstelle an der Bar-Ilan Universität (Ramat Gan), wo sie 1980 zur Professorin ernannt wurde. 1983 ging sie in den Ruhestand.

In der Dissertation »TO MHXANHMA: Der Aufbau der Intrige in der griechischen Tragödie«[1] vergleicht sie den Aufbau einer Intrige als dramaturgisches Element in den sechszehn vollständig überlieferten klassischen griechischen Tragödien (bei Aischylos, Sophokles und Euripides), ausgehend von einer Grundidee, die sie gestützt auf einen Aufsatz von Solmsen zunächst in einer Seminararbeit bei Radermacher entwickelt hatte. Offensichtlich entspricht die eingereichte Dissertation in der Anlage der 30 Jahre früher begonnenen Arbeit. Sprachwissenschaftliche Bezüge im engeren Sinne finden sich hier nur im Anhang in einer Aufstellung der Bezeichnungen für die Intrige im (Alt-)Griechischen (S. 88-91).

Der Schwerpunkt ihrer jüngeren Arbeit liegt im Bereich der Syntax und der Stilistik, wobei sie die sprachwissenschaftliche Analyse in den Dienst der Textinterpretation stellt; gelegentlich verfaßte sie auch literaturwissenschaftliche Studien. Ausdrücklich reklamiert sie die strukturale Sprachwissenschaft, wobei sie öfters auf Seminararbeiten bei ihrem Lehrer H. B. Rosén verweist. Basis für ihre Studien ist jeweils eine ausführlich exzerpierte Beleglage, bei der sie die Relevanzstellungen für potentielle Oppositionen herausarbeitet, wo die Handbücher quasi-synonyme Variationen sehen. Dabei bevorzugt sie Homer,[2] was ihr die Möglichkeit gibt, die stilistisch differenzierteren Belege im klassischen Griechischen in einer Entwicklungsperspektive zu sehen; andererseits führt sie auf diese Weise auch Parallelen in den älteren indoeuropäischen Sprachen an, öfters im Sanskrit.

In einer Reihe solcher Studien arbeitete sie satzmodale Differenzierungen heraus: so die Opposition faktiver Präsuppositionen vs. Potentialis als Schiene, auf der z.B. der Gebrauch von an (faktiv) vs. ke (potential) differenziert werden kann, »On the Synonymity of αν and κε«,[3] und ähnlich bei der Subjunktion mit hoti (faktiv) vs. hoos (potential) (»Der Gebrauch von ὅτι und ώς in Subjekt- und Objekt-Sätzen«).[4] Im speziellen Fall der Subjunktion mit verba dicendi bzw. sentiendi besteht dabei ein Kontrast zwischen Indikativ und Optativ, wo sie im Gebrauch des Optativs nach einem Verb im Präteritum eine Kategorie Mirativ sieht (»Die Funktion des Optativs in abhängigen Aussagesätzen«).[5] Ebenfalls im satzmodalen Bereich analysiert sie den Kontrast von infinitiven Aufforderungen als einer stärkeren Obligation gegenüber den personal spezifizierten (subjektiven) Imperativen (»The Obligative Infinitive in Homer and its Relationship to the Imperative«).[6]

In ähnlicher Weise hat sie eine ganze Reihe von grammatischen Feldern exploriert. Diathesekontraste analysiert sie als Möglichkeit, Aktionsartdifferenzen zu markieren: das Medium als Artikulation von reiner Aktivität gegenüber einer telischen Aktion im Aktiv, vor allem so bei Bewegungsverben: »Eine Studie über den Diathesenunterschied bei Homerischen Verben«;[7] ähnlich bei kopulativ gebrauchten peloo/pelomai »sich befinden«, wo das Medium eine inhärente Relation ausdrückt (»Πελω – syntaktischer Gebrauch und Diathesenunterschied«).[8] In dem Maße, wie sie auf diese Weise zeigen kann, daß solche Kontraste grammatikalisiert sind, kann sie zugleich auch ihr Verfügbarwerden für eine metaphorische Nutzung im Sprachgebrauch deutlich machen.

Im Bereich der Kasussyntax zeigt sie, daß bei Homer keineswegs eine freie Variation der Präpositionen en und eis besteht, sondern daß diese Formen dort als adverbiale Spezifizierung der primären Opposition von Direktiv (Akkusativ) und Lokativ (Dativ) verwendet sind, die insofern auch mit diesen beiden Kasus mit einem entsprechenden Bedeutungsunterschied zu verbinden sind (»Zum Gebrauch von εν und εις bei Homer«).[9] Diesen Ansatz führte sie auch in lexikalischen Untersuchungen fort. So findet sie im Kontrast von dynamai vs. hoios te eimi den vorhin schon angesprochenen satzmodalen Kontrast: dynamai als Realisierung der dynamis eines Subjekts im Gegensatz zu den Potentialen einer kontingenten Konstellation (»Zum Bedeutungsunterschied zwischen δυναμαι und οιος τε ειμι«).[10] Weiter analysiert sie konnotative Strukturen im Lexikon (bei ihr mit dem griechischen Terminus des ethos der Formen angesprochen), die in ähnlicher Weise der meist angenommenen freien (synonymen) Variation widersprechen: so boulomai als »lieber wollen« (lat. malle) vs. etheloo »(aus-)wählen« (»Die Bedeutung von βουλομαι bei Homer«).[11] Auch hier kann sie wieder zeigen, daß solche festen Kontraste metaphorisch genutzt werden können, so insbesondere die geschlechtsspezifischen Kollokationsbeschränkungen bei Attributen u. dgl., »Τέρεν δάκρυον: θαλερòν δάκρυον:[12] Über den Unterschied der Charakterisierung von Mann und Frau bei Homer«.[13]

Diese analytische Arbeit setzt sie noch im hohen Alter fort: noch 2004 erschien von ihr eine Studie zur Entwicklung von Komposita durch die Inkorporation von Adverbien in Verbstämme, gestützt auf eine systematische Auswertung der Belege bei Homer (»Adverb, Präposition, Präverb in der Sprache Homers«)[14], auch wieder unterfüttert mit der Kontrolle syntaktischer Kriterien (bis hin zur Prosodie) und nicht zuletzt in kritischer Auseinandersetzung mit H. B. Rosén.

In der Regel sind diese Studien an Interpretationsprobleme der Texte gebunden. Auf ihrer Grundlage macht sie gelegentlich auch Emendierungsvorschläge bei schwierigen Lesweisen, so etwa in »Sappho Fr. 1.1. Ποικιλóθρον' oder Ποικιλóφρον'«,[15] wo sie aus Gründen der konnotativen Verträglichkeit für poikilophron (»verschlagen«) gegenüber der meist angenommenen Leseweise poikilothron (»auf buntem Sessel«) argumentiert. Arbeiten ohne einen solchen literarischen Textbezug sind bei ihr eine Ausnahme, wie z.B. die Wortbildungsanalyse »Abs-condo: ab-scondo«),[16] die vor allem auch mit Strukturen des Sanskrit argumentiert (und wohl auf eine Seminararbeit bei H. B. Rosén zurückgeht).

Q[17]: V; Keintzel/Korotin 2002.

 


[1] Masch.-schriftl. Wien-Tel Aviv 1969. mee´xaneema, wörtlich: »Maschine, Kriegslist«.

[2] Ausgehend von dem sie auch schon die Struktur der Mee’xaneema in ihrer Dissertation entwickelt hatte.

[3] In: Classical Philology 71/1977: 116-125.

[4] In: Rheinisches Museum 125/1982: 252-274.

[5] In: Proc. 13th Intern. Congr. Linguistics (Tokio 1982), Den Haag: CIP 1984: 715-718.

[6] In: Folia Linguistica 14/1980: 65-82.

[7] In: Scripta Classica Israelica 2/1975: 1-25.

[8] In: Grazer Beiträge 9/1980: 1-10.

[9] In: Grazer Beiträge 14/1988: 1-13.

[10] In: Hermes 110/1982: 363-367.

[11] In: Grazer Beiträge 3/1975: 263-273.

[12] Etwa dt. »zarte Tränen« – »heftige Tränen«.

[13] In: R. Katzoff u.a. (Hgg.), »Festschrift David Sohlberg«, Ramat Gan: Bar-Ilan UP 1996: 57-60.

[14] In: Wiener Studien 117/ 2004: 5-14.

[15] In: Wiener Studien NF 3/1969: 15-17.

[16] In: Idg. F. 80/1975: 106-109.

[17] Für die Beschaffung von Materialien danke ich dem Kollegen B. Hurch, Graz.

 

 

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