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Schmidt, Pater Wilhelm

Geb. 16.2.1868 in Hörde/Westf., gest. 10.2.1954 in Fribourg/CH.

 

Mit 15 Jahren trat S. in das Ausbildungsinternat der Steyler Mission ein,[1] wo er 1886 das Abitur machte und anschließend eine Ausbildung zum Priester (Priesterweihe 1892). Im Anschluß daran praktizierte er ein Jahr in einem Missionshaus in Schlesien, wurde dann für das Studium der Orientalistik in Berlin beurlaubt (1893-1895). Danach wurde er als Lektor an das Missionspriesterseminar in St. Gabriel (bei Wien) abgeordnet, wo er ein systematisches Studium der Sprachwissenschaft (mit Phonetik) und Ethnologie einführte. 1902 nahm er die österreichische Staatsbürgerschaft an, diente im Ersten Weltkrieg auch als Kaplan in der österreichischen Armee und unterhielt enge Beziehungen zum habsburgischen Herrscherhaus, für das er als Hofkaplan fungierte.

Von St. Gabriel aus betreute er die sprachwissenschaftliche Ausbildung der Missionare, deren Berichte er systematisch bearbeitete und die er von Wien aus bei ihren Arbeiten anleitete. Einen regionalen Schwerpunkt bildeten dabei die Sprachen im Pazifikraum, die damals in deutschen Kolonialgebieten gesprochen wurden: in Melanesien/Mikronesien und vor allem in Papua Neuguinea (»Kaiser-Wilhelm-Land«) und in dem vorgelagerten »Bismarck-Archipel«. Er kommentierte Berichte von Missionaren, vor allem in Hinblick auf die sprachlichen Erscheinungen, z.B. in: »Ethnographisches von Berlinhafen, Deutsch-Neu-Guinea«.[2] Über eine Sekundäranalyse der vorgelegten Materialien kam er auch zu systematischen Darstellungen wie z.B. bei seiner Grammatik »Die Jabim-Sprache (Deutsch-Neu-Guinea) und ihre Stellung innerhalb der melanesischen Sprachen«[3] oder auch in der Aufbereitung von grammatischen Skizzen seiner Missionare wie in seiner Ausgabe von »Die Sprachen des Berlinhafen-Bezirks in Deutsch-Neuguinea« (verfaßt von J. Klaffl/F. Vormann).[4] Aus der Perspektive der Missionare war die außerordentliche Vielfalt an Sprachen auf kleinstem Raum ein vordringliches Problem, das einen vergleichenden Umgang nötig machte, den er systematisierend aufnahm, s. z.B. »Über das Verhältnis der melanesischen Sprachen zu den polynesischen und untereinander«.[5]

Bei diesen vergleichenden Betrachtungen standen für ihn phonetische Erscheinungen im Vordergrund, neben morphologischen Formen und Ähnlichkeiten im Wortschatz, ohne daß er eine etymologische Rekonstruktion der Sprachverhältnisse angegangen wäre. Wo er sich im größeren sprachvergleichenden Rahmen bewegt, folgt er denn auch in der Regel schon etablierten Betrachtungen, wie z.B. in der Nachfolge von E. Fischer bei den austro-asiatischen Sprachen, die er zu einem systematischen Schwerpunkt seiner Arbeiten machte, s. z.B. »Die Quantität der Vokale im Khassi«.[6] Er bereitete die ihm zugänglichen Materialien akribisch auf (er selbst hat nie Feldforschung betrieben), hatte dabei aber keinen sprachvergleichenden oder gar rekonstruktiven Standpunkt, wie er zeitgenössisch selbstverständlicher Ausgangspunkt für z.B. Boas war; so hat er die grammatischen Kategorien auch nicht systematisch aus dem Bau der Sprache als Artikulation von Äußerungen rekonstruiert, obwohl die Missionare für ihn Texte liefern mußten, die er publizierte. Für ihn ging es darum, einen systematisch geklärten Beschreibungsstandpunkt außerhalb der Sprachen zu definieren, wobei er versuchte, die so herausgearbeiteten Befunde mit ethnologischen Daten im weiteren Sinne zu korrelieren. Dabei betonte er, daß sprachliche und ethnologische Gliederungsgesichtspunkte grundsätzlich unabhängige Dimensionen sind (so in seiner Studie »Über das Verhältnis der melanesischen Sprachen zu den polynesischen und untereinander«).[7]

1906 gründete er die Zeitschrift Anthropos, die sich zunehmend zu einer international renommierten ethnologischen und sprachwissenschaftlichen Zeitschrift entwickelte.[8] In diesem Rahmen organisierte er internationale Tagungen und Ausbildungsseminare für Missionare in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Italien. Er stand in engem Kontakt zu den Orientalisten an der Universität Wien, bei denen er seit 1899 Vorträge hielt und in deren »Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft« er publizierte; 1906 wurde er als korrespondierendes Mitglied in die Österreichische Akademie der Wissenschaften aufgenommen.

Bei der (sprach-)wissenschaftlichen Fundierung der Ausbildung und Betreuung der Missionare stand zwangläufig die Notation der sprachlichen Daten im Vordergrund. Die damit verbundenen Probleme ziehen sich durch seine frühen Arbeiten und brachten ihn dazu, eine eigene Anthropos-Notation zu entwickeln, in systematischer Auseinandersetzung mit allen damals genutzten Notationssystemen. Er insistierte auf einer sprachunabhängig vereinheitlichten Notationsweise auf der Basis des lateinischen Systems, gegen orthographisch orientierte Praktiken mit Di- und Tri-Graphien, dafür unter Zuhilfenahme von Diakritika. Eine systematische Entwicklung eines solchen Notationssystems gibt er in: »Die Sprachlaute und ihre Darstellung in einem allgemeinen linguistischen Alphabet«.[9] Dabei setzte er sich mit der neuen instrumentellen Phonetik auseinander (insbesondere mit Rousselot), im Gegensatz zu der in Deutschland damals noch dominierenden »Ohrenphonetik« (und vor allen Dingen auch im Gegensatz zu einer anderen Missionarsschule, der von Meinhof in Hamburg), s. dazu »Was erwartet die allgemeine Sprachwissenschaft von der Experimentalphonetik?«.[10] Früh ging er schon auf die problematische Notation von Tonverhältnissen ein, s. »Einiges über afrikanische Tonsprachen«.[11] Diese bringen ihn dazu, einerseits das eigene Anthropos-Alphabet zu differenzieren, andererseits auch in Hinblick auf Sandhi-Verhältnisse zu fordern, die Darstellungen an gesprochenen Texten durch die Lautaufzeichnungen mit einem Phonographen zu kontrollieren. Diese strikt wissenschaftlich-deskriptiven Überlegungen hatten bei ihm einen praktischen Kontext: er verlangte, die »Eingeborenen«-Sprachen nicht nur im Anfangsunterricht der Grundschule zu nutzen, sondern systematisch zu verschriften, um sie im weiterführenden Bildungssystem auszubauen, s. »The Use of the Vernacular in Education in Africa«.[12]

1921 habilitierte er für Ethnologie und vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Wien, ohne promoviert zu sein (erst 1948 verlieh ihm die Universität Wien den Doktor h.c.), seit 1924 als a.o. Professor. Seit der Habilitation lehrte er dort auch als Privatdozent. Neben wissenschaftlichen Tätigkeiten war er auch politisch-publizistisch tätig, aktiv in monarchistischen/religiös-konservativen Bewegungen, von denen aus er heftige Kritik an der kommunistischen Bewegung (dem Bolschewismus in der Sowjetunion), aber auch der Psychoanalyse übte.[13] S. entwickelte seine explizit christlich deklarierte Sicht der Gesellschaft als Zivilisationskritik, die der Massenkultur: der Großstadt, der Atomisierung des Menschen, dem »Internationalismus« und dgl., eine aristokratische Kultur gegenüberstellte, die die traditionelle Werteordnung bewahrt, so in seiner unter dem Pseudonym Austriacus Observator veröffentlichten Intervention in die Verfassungsdebatte in Österreich am Ende des Ersten Weltkriegs (»Zur Wiederverjüngung Österreichs«).[14]

In dieser Linie nahm er auch in der Debatte um Rassefragen Stellung, wobei er den christlichen Antisemitismus fortschreibt (die Schuld der Juden gegenüber Jesus...), darüber hinaus aber an dem damals nicht nur in Wien virulenten Diskurs partizipierte, der das Christentum von seinen jüdischen Elementen "reinigen" wollte - was ein wichtiges Moment für sein w.u. besprochenes großes Werk über die Gottesidee war, die gewissermaßen als anthropogische Konstante verstand (s. FN 31).

S. Marchand (2009) für diesen Diskurs, dort S. 313 zu S.

Aber er nahm in seinen Einlassungen auch das vordergründige Ressentiments auf, daß die Juden im Kulturbetrieb und in den freien Berufen vorherrschten. Zwar lehnte er einen biologischen Rassismus strikt ab, war aber ebenso eindeutig in der Ausgrenzung der Juden gegenüber dem deutschen Volk (»Zur Judenfrage«).[15] Er wandte sich heftig gegen biologistische Reduktionen in der Rassenfrage, auch gegen die Konstruktion einer Rassenseele, und kritisierte in diesem Sinne die Positionen der Nationalsozialisten, mit denen er ansonsten durchaus Übereinstimmungen feststellte, so in: »Rasse und Volk«,[16] und dann vor allem in »Blut-Rasse-Volk«,[17] wo er explizit auch Hitler zustimmte, bis hin zu dessen Sozialpolitik. Die Konfliktlinie zum Nationalsozialismus lag für ihn da, wo dieser explizit eine Weltanschauung reklamierte, was für ihn unverträglich mit einer christlichen Grundhaltung war; das markierte umgekehrt auch die Konfliktlinie für die Nationalsozialisten ihm gegenüber. Vor allem in Nebenbemerkungen seiner Schriften wird deutlich, wie sehr er in rassistischen Ressentiments verwurzelt war, so, wenn er z.B. die Verelendung deutscher Kinder in den USA beklagt, die in Abhängigkeit von »Negern« geraten.[18]

In Wien baute er die institutionelle Ausbildungsstätte der Steyler Mission aus, seit 1931 als Direktor des Anthropos-Instituts in Mödling bei Wien. Nach dem Anschluß wurde er verhaftet und ihm die Lehrbefugnisse entzogen, allerdings zunächst noch diplomatisch abgefedert (die Lehrbefugnis sollte bis auf weiteres »ruhen«) – im Gegensatz zum Vorgehen gegenüber dem Institutsleiter Koppers: erst 1939 wurde der Entzug bei S. amtlich festgesetzt.[19] Mit Unterstützung des Vatikans[20] konnte er in die Schweiz emigrieren und das Anthropos-Institut nach Posieux bei Fribourg verlagern. Dort gab er seitdem die Zeitschrift Anthropos heraus und wurde im gleichen Jahr (1938) an der Universität Fribourg Dozent für Ethnologie, 1942 ordentlicher Professor. Während des Weltkrieges hatte er Verbindungen zu österreichischen monarchistischen Exil- und Widerstandsgruppen.[21] Nach Kriegsende 1945 unterrichtete er auch wieder als Gastprofessor an der Universität Salzburg. In seinem Fach war er international eine anerkannte Autorität, was sich in zahlreichen Ehrenmitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften und Ehrendoktoraten ausdrückte.

Schwerpunkt seiner Arbeiten war zunächst ein sprachlicher Ausgliederungsversuch des pazifischen Raumes, den er zugleich auch als Rekonstruktion der Kultur- und Bevölkerungsgeschichte dieses Raumes verstand. Die empirischen Grundlagen dafür verschaffte ihm die Betreuung von Missionarsarbeiten, die er als Beschaffung von Primärmaterial organisierte, daneben aber die Aufbereitung der verfügbaren Literatur. Im Laufe der Zeit weitete er seine Rekonstruktionen systematisch aus, über den pazifischen Raum hinaus im globalen Horizont, so in seiner zusammenfassenden Darstellung »Die Sprachfamilien und Sprachenkreise der Erde«.[22] Seine Klassifikationen operieren relativ flach mit sprachlichen Indikatoren, die er den zugänglichen Beobachtungen entnimmt und nach Ähnlichkeiten gruppiert. Zielsetzung ist dabei, zu arealen Gliederungen zu kommen. Seine so extrapolierten Areale sind bis in die von ihm eingeführte Etikettierung hinein (z.B. »Austronesisch«) bis heute einigermaßen robust. Für viele Bereiche leistete er so eine Pionierarbeit, die auch heute noch als Bezugspunkt genutzt wird.

Das gilt z.B. für die australischen Sprachen, die bis zu seinem Ausgliederungsversuch in der Allgemeinen Sprachwissenschaft/Sprachtypologie nur einen relativ marginalen Stellenwert eingenommen hatten.[23] Dazu hatte er in Anthropos eine Reihe von Forschungsberichten vorgelegt, die er 1919 zu einer systematischen Darstellung zusammenfaßte: »Die Gliederung der Australischen Sprachen«.[24] Grundlage sind für ihn wieder lautstrukturelle und lexikalische Ähnlichkeiten, die letzteren vor allem im Nominalsystem, die für ihn Indikatoren für ethnische Gliederungen und darüber hinaus die Geschichte dieser Völker sind. Dabei gliederte er den australischen Sprachraum geographisch in einen kompakten südlichen Großraum und einen heterogenen nördlichen Raum auf, der typologisch anders gebaute Sprachen aufweist, s. die detaillierte Sprachenkarte im Band, die mit den heute publizierten Karten weitgehend homomorph ist,[25] wo allerdings die Nordsüdgrenze bei S. südlicher verläuft (heute werden die zentrale Aranda-Gruppe und die Sprachen in Cape York zum Pama-Nyunga gerechnet).

Die Grundstruktur seiner Gliederung entspricht der mit den heute aufgrund detaillierter interner Rekonstruktionen erreichten,[26] wobei aber der methodische Unterschied zu den neueren sprachwissenschaftlichen Arbeiten deutlich ist: während die neueren Arbeiten auf diesem Wege Familienzusammenhänge rekonstruieren und so mit einer entsprechenden historischen Tiefe auch daran gehen, die nördlichen Sprachen als u.U. sekundär aus der gleichen proto-australischen Grundsprache herzuleiten wie die südlichen (für Hinweise s. Dixon 1980), projiziert S. seine Ausgliederung unmittelbar in die Geschichte zurück und postuliert unterschiedliche Wanderungswellen, mit den südlichen Sprachen als Repräsentanten der ersten Wanderung und den nördlichen als Repräsentanten einer späten Wanderung im Übergangsbereich zu den Sprachen Papua Neuguineas. Immerhin hatte S. richtig gesehen, daß für eine Rekonstruktion der genetischen Sprachverhältnisse vor allem das relativ robuste Pronominalsystem geeignet sei, während die Verhältnisse im Lexikon sonst (bei den »Inhaltswörtern«) durch Reaktionen auf die endemischen Tabus und infolge extensiven Sprachkontakts weitgehend uneindeutig sind.[27] Bei seiner kritischen Aufarbeitung der vorliegenden Berichte nutzte S. systematisch auch seine Arbeiten zur Notation solcher Sprachen; so stellte er z.B. in Rechnung, daß die englischen Missionare für die [a]-Laute <u> schrieben u. dgl.

Hinter seiner flachen Modellierung stand bei ihm letztlich kein sprachwissenschaftliches Interesse, sondern der Versuch, sprachliche Indikatoren für die ethnologische Struktur im weiteren Sinne zu finden, wobei für ihn die Pronominalsysteme soziale Ordnungsstrukturen unmittelbar spiegeln, weshalb sie in seinen Arbeiten einen so großen Raum einnehmen. Die Sprachanalyse operiert bei S. gewissermaßen spiegelverkehrt zu dem, was inzwischen seit Boas (den S. in seinen Arbeiten ignoriert) methodisch etabliert ist.

S. operierte unter den Prämissen der »Kulturkreislehre«, die er durch sprachliche Indikatoren anreicherte.[28] Kulturkreise galten als komplexe Einheiten, die funktional differenziert einen gewissermaßen organischen Zusammenhang hatten – gegen die Vorstellung von kulturellen Aggregaten heterogener Versatzstücke. Diese in gewisser Weise durchaus strukturale Grundannahme verband sich mit der Vorstellung, daß solche Kulturkreise relativ robust und insofern transhistorisch stabil sind. Das geht mit der weiteren Annahme zusammen, daß nur wenige Kulturkreise existieren, deren Ausbreitung allerdings historisch variabel ist. Das steht gegen die Vorstellung (wie bei Boas), daß kulturelle Strukturen als Antworten auf spezifische soziale Konstellationen produziert werden und insofern ähnliche kulturelle Muster unabhängig voneinander entstehen können. S. hat das Kulturkreis-Konzept auf »Sprachkreise« ausgeweitet, indem er sprachliche Indikatoren zur Bestätigung bzw. Differenzierung der auf soziale Indikatoren gestützten Kulturkreise packte (Techniken der Reproduktion, Heiratsverhältnisse, mutter- bzw. vaterrechtliche Strukturen, und dgl.). Das wird in seiner zusammenfassenden Darstellung »Die Sprachfamilien und Sprachenkreise der Erde« (s.o.) besonders deutlich, von der er abschließend auch feststellt: »[...] diese genaue Beobachtung, diese peinliche Beschränkung auf das rein Linguistische mußte zur Quälerei überall dort werden, wo man wußte oder fühlte, daß mit dem rein Linguistischen das Auslangen nicht zu finden war, daß insbesondere die eigentlichen tieferen Gründe des Linguistischen im Außerlinguistischen, insbesondere im Soziologischen und Ethnologischen, also in den Kulturkreisen lägen« (S. 528). Faktisch verfährt er denn auch so, daß er einzelne sprachliche Erscheinungen: für ihn auffällige Formen des Vokalismus wie z.B. gerundete Palatalvokale, markierte grammatische Kategorien wie den Dual, syntaktische Muster wie die Position des Genitivattributs und dgl. mit analog gedeuteten sozialen Mustern korreliert.

Seine materialreichen und methodisch durchaus kritischen Zusammenstellungen machten S. zu einer Autorität in der damaligen allgemeinen Sprachwissenschaft, wie seine durchgängigen Erwähnungen in den Handbuchdarstellungen zeigen (er ist z.B. bei Sapir 1921 der meist zitierte Autor), aber auch von ihm verfaßte Überblicksdarstellungen, etwa zu Sprachfragen in der Encyclopædia Britannica. Die methodischen Fragen seiner Arbeiten wurden entsprechend kontrovers diskutiert, von sprachwissenschaftlicher Seite aus vor allem mit einer Kritik an seiner direkten Leseweise sprachlicher Erscheinungen als Indikatoren von Sozialstrukturen, z.B. das nachgestellte Genitivattribut als Indikator für mutterrechtliche Strukturen (s. die Karte 14 im Atlas zu seinen »Sprachfamilien« 1926). Methodische Einwände, etwa der Hinweis auf die nötige Differenzierung syntaktischer Sachverhalte, spielten für ihn keine Rolle, wie sich z.B. an seiner Diskussion mit dem Wiener Ethnologen Viktor Christian zeigt: »Zur Genitivstellung als Ausdruck der geistigen Einstellung«.[29]

In den späteren Jahren hat sich das Koordinatensystem seiner Überlegungen verschoben: eindeutig sprachanalytische Arbeiten finden sich bei ihm später nicht mehr. Nach seinem großen Werk über die »Sprachfamilien« gibt es kaum noch direkte sprachwissenschaftlich gewidmete Arbeiten.[30] Bereits 1908 hatte er in einer Reihe von Aufsätzen an seinem religionsgeschichtlichen Hauptwerk zur »Gottesidee« gearbeitet, bei dem er von einer Uroffenbarung ausging, von der aus er gegen eine Herleitung monotheistischer Religionen, vor allem des Christentums, aus der mosaischen Tradition des Judentums anging. Dafür dienten ihm die Verhältnisse in den »primitivsten« Kulturen als Kronzeugen: in seinen ersten Arbeiten waren es die Pygmäen in Afrika, später vor allen Dingen die australischen Stämme, die daher in den Vordergrund seiner Analysen rückten.

In gewisser Weise waren seine sprachanalytischen und ethnographischen Arbeiten für ihn nur instrumentell für seine religionsgeschichtliches Hauptwerk, das er von 1912 bis 1955 in zwölf Bänden ausarbeitete.[31] In systematischer Hinsicht war das eine Absage an jede Art sozialwissenschaftlicher Herangehensweise, die für ihn in einen unakzeptablen Kulturrelativismus führte – insofern bildete er den expliziten Gegenpol zur Boasschen Tradition der Ethnologie.[32] Gerade die »primitiven« Kulturen (bei den Pygmäen und den australischen Aborigines) zeigen für ihn die Offenbarung unmittelbar, die in den Hochkulturen vielfach überformt ist. Dabei operiert er mit einem linearen Entwicklungsmodell, auf dem die verschiedenen kulturellen Manifestationen (mythologische Ausarbeitungen und religiöse Praktiken) abgetragen werden können, wozu er eine ungeheure Fülle von ethnologischen Beobachtungen als Belege zusammenträgt (dabei arbeitete ihm der Apparat des Anthropos-Instituts zu).[33] Zu diesem Projekt einer homogenen Rekonstruktion der kulturellen Entwicklungsformen gehörte für ihn auch eine Art Rückprojektion »primitiver« Artikulationsformen auf die hochkulturelle christliche: so analysierte er die sprachliche Form der Evangelien nach dem Muster primitiver Mythen und Epen, indem er die metrische Form, Parallelismen u. dgl. als mnemotechnische Formbeschränkungen herausstellte: »Der strophische Aufbau des Gesamttextes der vier Evangelien«.[34]

Methodische Probleme, wie sie bei seinen frühen kritischen Arbeiten zu den australischen Sprachen sichtbar geworden waren, die die Inkongruenz von Verbreitungen lautlicher Strukturen gegenüber grammatischen zeigen, nahm er nicht mehr auf, obwohl gerade hier die unterschiedlichen Barrieren für die Diffusion im Raum (also der Sprachkontakt) gegenüber Reproduktion tradierter Formen (also den genetischen Sprachverhältnissen) greifbar werden, die in der Nachfolge von Boas in das Zentrum der sprachwissenschaftlichen Diskussionen gerückt waren. Bühler hat ausführlich nachgewiesen, daß S. bei seiner Argumentation mit den Mitteln einer Trivialpsychologie verfährt, s. seine »Sprachtheorie« (1934, bes. S. 327-332). Eine detaillierte sprachwissenschaftliche Kritik findet sich 1929 bei E. Lewy,[35] der das Fehlen sprachwissenschaftlich-struktureller Kontrolle monierte: mit der Gefahr von Kling-Klang-Etymologien bei direktem Rückgriff auf lautliche und semantische Ähnlichkeiten ohne strukturelle Kontrolle der jeweiligen Sprachsysteme, vor allem aber das Ausklammern des sozialen Faktors bei der Artikulation sprachlicher Systeme (Lewy verweist dort auf die von S. ignorierten Arbeiten von Vossler).[36] Wo S. Inkongruenzen bei seinen Zuordnungen feststellt, findet er das irritierend, setzt aber auf den Fortgang der Wissenschaft, die hier eine Lösung finden werde, und sieht keinen Grund, seine methodischen Prämissen zu revidieren; ein Beispiel dafür ist das für ihn »inakzeptable« Vorkommen komplexer gerundeter Palatalvokale in einem als primitiv postulierten Areal wie beim Tasmanischen.[37]

Obwohl S. eine ungeheure Fülle sprachwissenschaftlicher Arbeiten publiziert hat, machen diese nur einen kleinen Teil seines veröffentlichten Werkes aus, das kulturhistorischen Themen im umfassenden Sinne gilt (z.T. auch mit Koppers gemeinsam publiziert), vor allem aber religionswissenschaftliche Arbeiten aufweist. Dort zeigt sich seine durchgängige Idee, in den verschiedensten Bereichen seiner wissenschaftlichen Arbeit gewissermaßen den Schöpfungsmythos nachzuerzählen und insofern eine Monogenese der Religion nachzuweisen, so vor allem in seinem monumentalen Werk über die »Gottesidee«. Dabei operierte er mit der Grundidee von einer ursprünglich einheitlichen religiösen Vorstellung, selbstverständlich monotheistisch, die dann in den verschiedenen Kulturkreisen sekundär andere Formen angenommen hat. Von seinem dezidiert katholischen Standpunkt aus hat er nach dem Krieg auch die Rassendiskussion aufgegriffen und sich mit der rassistischen Verfolgung im Nationalsozialismus auseinandergesetzt, vor allem so in "Rassen und Völker in Vorgeschichte und Geschichte des Abendlandes".   

FN 3 Bde., Luzern: Stocker 1946 - 1949. Der erste Band ist nach den Bemerkungen im Vorwort eine Neubearbeitung einer bereits 1927 erschienenen Vortragssammlung, die er 1935 erneut als Monographie publizierte. Im Vorwort zu Bd. 3 situiert er seine Argumentation explizit in den neuen Frontstellungen des Kalten Krieges, bei denen der Gegenspieler für ihn jetzt die Sowjetunion ist.

Dieser fundiert für ihn in einer "irrationalen Rassebewegung", der er den "rationalen Rassegedanken" gegenüberstellt. Für ihn handelt es sich vor allem um einen Angriff auf das Christentum, mit Hitler als Verkörperung des Anti-Christen (drastisch so z.B. in Bd. I: 33); insofern behält er seine Argumentationslinie von vor dem Krieg in den Grundzügen bei.

Zusammen mit seinen politischen und auch religiösen weiteren Arbeiten, darunter auch solchen mit einem seelsorgerischen Gegenstand, der sich bis hin in die kirchenmusikalischen Bereiche erstreckt (er komponierte auch Kirchenlieder), umfaßt seine Bibliographie 600 Titel.

Q: BHE; Kürschner 7/1950; 8/1954; H. Burgmann, »P. W. S. als Linguist«, in: Anthropos 49/1954: 627-658 (nachgedruckt auch im Sebeok 1966: 287-328); J. Henninger, in: Anthropos 51/1956: 1-60; E. Brandewie, »When Giants Walked the Earth. The Life and Times of W. S.«, Fribourg: Fribourg Univ. Pr. 1990; Kowall; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 17/2000: Sp. 1231-1246 (K. J. Rivinius). Bibliographie: F. Bornemann, in: Anthropos 49/1954: 385-432.



[1] Missionsgesellschaft des Göttlichen Wortes/ Societas Verbi Divini [SVD], Heimatsitz in Steyl, Limburg, Niederlande.

[2] In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien 29/1899: 13-29.

[3] In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien 143/1901: 1-60. Heute wird der Name der Sprache als Jabêm angeführt.

[4] In: Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen 8/1905: 1-83.

[5] In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien 141/1899: 1-93.

[6] In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 17/1903: 303-322.

[7] In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien 141/1899: 88ff.

[8] Sie besteht immer noch; heute erscheint sie im jetzigen Standort der Steyler Mission in St. Augustin bei Bonn.

[9] In: Anthropos 2/1907, in mehreren Teilen, insgesamt 126 Seiten, auch separat in deutscher und französischer Fassung erschienen

[10] In: Wiener medizinische Wochenschrift 27/1914: Sp. 1557-1565.

[11] In: Anthropos 7/1912: 783-791.

[12] In: Africa 3/1930: 137-149.

[13] Freud sah in ihm denn auch den Hautgegner der Psychoanalyse in der österreichischen Gesellschaft, s. R. Robertson, »Freud und Pater Wilhelm Schmidt«, in: J. Nautz/R. Vahrenkamp (Hgg.), »Die Wiener Jahrhundertwende«, Köln usw.: Böhlau 1993: 349-359 mit ausführlichen Belegen (ich danke P. Hödl für den Hinweis auf diesen Aufsatz).

[14] Wien: Braumüller 1917.

[15] In: Schönere Zukunft 17/1934: 408-409. S. auch Robertson (1993) für weitere Belege (s. Anm. 13).

[16] München: Pustet 1927.

[17] In: C. Holzmeister (Hg.), »Kirche im Kampf«, Innsbruck: Seelsorger Verlag 1936: 43-81.

[18] »Das Verhältnis von ›höheren‹ zu ›niederen‹ Rassen«, in: Anthropos 5/1910: 564-565.

[19] S. detailliert zu diesen Vorgängen J. Gohm/A. Gingrich, »Rochaden in der Völkerkunde. Hauptakteure und Verlauf eines Berufungsverfahrens nach dem ›Anschluß‹«, in: Ash u.a. (2010): 167-198. Die Leitung des Instituts übernahm kommissarisch V. Christian&.

[20] S. war von 1926-1938 vom Vatikan mit der Organisation von Missionsaufgaben betraut, u.a. als Leiter des Museo Missionarico Ethnologico im Lateran. Seit 1937 war er Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften im Vatikan. Der Vatikan brachte Mussolini dazu, für die Freilassung von S. zu intervenieren und seine Auswanderung zu ermöglichen. S. selbst hat das beschrieben in: »Das Anthropos-Institut. Seine Geschichte und Aufgabe«, in: Stadt Gottes (Steyl: Steyler Missionsgemeinschaft), Jg. 1950: 199-200.

[21] Zur Rolle der monarchistischen (pro-habsburgischen) Richtungen im österreichischen Exil, s. P. Schwarz in: Krohn u.a. (Hgg.) 1998: Sp. 519-543.

[22] Heidelberg: Winter 1926, mit einem Atlasband, Nachdruck Hamburg: Buske 1977.

[23] Der Rang seiner Arbeit geht z.B. daraus hervor, daß er durchgängig Bezugspunkt und Ausgangspunkt für die Argumentation ist bei R. M. W. Dixon, »The languages of Australia«, Cambridge: Cambridge UP 1980.

[24] Wien: Mechitharisten 1919.

[25] Vgl. die synoptische Karte bei Dixon 1980 (s. FN 21): 20. Nur die als dominant herangezogenen Kriterien der Ausgliederung sind heute anders als bei S.: heute vor allem der Unterschied von strikt suffigierenden Sprachen (im Süden) gegenüber präfigierenden (im Norden).

[26] Die neueren Arbeiten mit einer dichten internen Rekonstruktion sind vor allem von K. Hale in den 60er Jahren angestoßen worden. Zur Wertschätzung von S.’ Arbeiten in der heutigen Forschung zu den australischen Sprachen, s. die Hinweise auf ihn in dem fachgeschichtlichen Band von W. B. McGregor, »Encountering Aboriginal Languages«, Canberra: Pacific Linguistics 2008, dort bes. F. Schweiger, »W. S.s ›Die Personalpronomina in den australischen Sprachen‹ revisited«: 459-484.

[27] S. dazu den erwähnten Aufsatz von Schweiger 2008 (FN 24).

[28] Die Kulturkreislehre wurde um die Jahrhundertwende von R. F. Graebner (1877-1934) begründet. Sie war damals nicht nur im deutschsprachigen Raum in der Ethnologie das Leitparadigma. In seinem Nachruf auf Graebner (Anthropos 30/1935: 203-214) bemüht S. sich v.a., seine Selbständigkeit gegenüber diesem herauszustellen – mit einem Rundumschlag gegenüber der damaligen ethnologischen Szene, bei der vor allem auch die US-amerikanischen Forscher schlecht abschneiden, hier explizit so auch die Boas-Schüler, während er diesen selbst nicht erwähnt.

[29] In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien 58/1928: 234-236.

[30] Eine Ausnahme macht sein (vermutlich aber schon älterer) zusammenfassender Beitrag über das Tasmanische in dem Band von A. Meillet/M. Cohen, »Les langues du monde«, Paris: CNRS 1952: 711-721.

[31] Band 1 »Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie«, Münster: Aschendorff, 1912 – dort auch die weiteren Bände; die letzten beiden Bände erschienen postum.

[32] S. auch die explizite Kritik von Sapir in einer unveröffentlichten Arbeit von 1933, in dessen WW 4: 251-252.

[33] In diesem Sinne sind für ihn auch die Zwischenstufen zivilisatorischer Artikulation von Interesse, die er in unterschiedlichen Gegenden der Welt aufsucht, s. z.B. »Menschenweihe an das höchste Wesen bei den Samojeden«, in: FS J. Schrijnen: 785-787.

[34] Akademie der Wissenschaften, Wien, Phil.hist.Kl. 9/1921: 10-43.

[35] In: Z. vgl. Sprachwiss. 56/1929: 142-159, Nachdruck in seinen »Kleine(n) Schriften«, Berlin: Akademie Verlag 1961: 157-173.

[36] Außer den reichen bibliographischen Informationen hält Lewy S. vor allem zugute, daß er mit seiner Argumentation einer einheitlichen (monogenetischen) Entwicklung keinen Raum für rassistische Prämissen läßt (S. 171).

[37] »Sprachenfamilien«, S. 531.

 

 

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