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Siemsen, Anna Maria

(Pseudonym: Friedrich Mark)

Geb. 18.1.1882 in Mark bei Hamm/Westfalen, gest. 22.1.1951 in Hamburg.

 

Nach Abschluß der höhe­ren Mädchenschule in Hamm absolvierte sie über eine private Vor­bereitung 1901 die Lehrerin­nenprüfung in Münster. Danach war sie Hauslehrerin bei einem Pfarrer in Herford. In dieser Zeit bereitete sie sich in Osna­brück auf das externe Abitur vor, das sie 1905 in Hameln ablegte. Seit­dem Stu­dium der Germanistik, Latinistik und Philosophie in Mün­chen, Mün­ster und Bonn, über weite Strecken gemeinsam mit ihren Brüdern bzw. ihrer Schwester (sie stammten aus einer Pfarrersfami­lie). 1908/1909 promovierte sie in Bonn.

Die Dissertation wurde betreut von Wilmanns: »Die Wörter der Form u´-`-x in den Versen Hartmanns von Aue, ein Beitrag zu seiner Verstech­nik«;[1] sie ist eine deskriptive Darstel­lung der Handhabung dieser metrisch schwierigen (daher im Minne­sang ge­miedenen) Formen. Die Belege werden sortiert nach Wortbil­dungs- und lautlichen Typen aufgelistet (ggf. mit Angabe der Reimbindun­gen) und statistisch ausgewertet. Darüber hinaus enthält die Arbeit keine Ausführungen (Umfang 36 S.).

Nach der Promotion legte sie das Staatsexamen ab und war von 1909-1917 Lehrerin in Detmold, Bremen und Düsseldorf. Im Ersten Weltkrieg war sie (wie ihre Geschwister) pazifistisch und zunehmend auch politisch engagiert (zunächst im Bund Neues Deutschland), was Konflikte mit Vorgesetzten brachte. 1918 war sie auf der Seite der Räte aktiv, was sie seitdem politischen Schikanen aussetzte. Von 1919 bis 1922 war sie Mitglied der USPD, 1919 bis 1920 auch als Mitglied der Düsseldorfer Stadtverordnetenversammlung. 1923 trat sie in die SPD ein, wo sie auf dem linken (pazifistischen) Flügel aktiv war, 1928 bis 1930 auch als Reichstagsabgeordnete (wie auch ihr Bruder, der Pädagoge August S.). 1917 hatte sie den aktiven Lehrerberuf und war danach zunächst in der Kultus­bürokratie tätig: im Ministerium in Berlin sowie in der Schulauf­sicht (vor allem für Berufsschulen) im Rheinland und in Thüringen.

Seit 1923 lebte sie in Jena, wo sie auch eine Honorarprofessur für Pädagogik erhielt. Sie engagierte sich in der Erwachsenen­bildung und entfaltete eine ausgedehnte publizistische Tätigkeit im Bereich der Pädagogik, darüber hinaus aber auch zu allgemein kul­turellen und politischen Fragen (u.a. im Bund sozialdemokratischer Intellektueller, als Mitherausgeberin der Jungsozialistischen Schriftenreihe usw.). Im Horizont vor allem auch praktisch ausgerichteter Bildungsreflexion blieben für sie Sprachfragen zentral, jetzt allerdings mit einer Fokussierung der sprachlichen Form als Artikulation von Gedanken. Hier sah sie vor allem auch eine Aufgabe der Erwachsenenbildung wie bei ihrem Bändchen »Stilproben«,[2] in dem sie eine Textauswahl versammelt, von Luther bis ins 19. Jahrhundert (auch nicht-deutsche Texte), ergänzt um einen Anhang mit Wort- und Begriffsklärungen. Die geplanten beiden Folgebände sind nicht mehr erschienen (als 3. Band hatte sie eine Sammlung von Briefen geplant).

In der SPD gehörte sie zum opposi­tionellen Flügel, 1931 trat sie der SAPD bei. Von Anfang an war sie Zielscheibe nationalsozialisti­scher Angriffe, politisch, aber auch als Jüdin denunziert (so im Wahlkampf 1924). Das führte 1924 in Thüringen zu ihrer Entlassung, 1932 auch zum Verlust der Ho­norarprofessur (nach ihrer Selbstdar­stellung in Gumbel 1938: 282-283 war ihr Protest gegen die Entlas­sung Gumbels in Heidelberg der Anlaß).

Im April 1933 emigrierte sie in die Schweiz, wo sie einen jüngeren schweizer Genossen (W. Vollenweider) heiratete, um mit einer schweizer Staatsbürgerschaft weiter politisch arbeiten zu können. Im Exil arbeitete sie u.a. an einer systematischen gesellschaftstheoretischen Begründung der Pädago­gik, die sich gleicherweise gegen individualisierendes wie bio­logisches Denken richtete, s. »Das Problem der Erziehung«[3] (wo sie die Notwendigkeit systematischer Reflexion für die Zeit nach dem Nationalsozialismus betont, S. 44). Vor allem aber war sie politisch tätig: mit Vortragsaktivitäten und Schriften (z.T. unter dem Pseudonym Friedrich Mark). 1936 reiste sie nach Spanien als Beobachterin des republikanischen Aufbaus und Kampfes gegen die Faschisten, worüber sie einen Bericht veröffentlichte: »Spanisches Bilderbuch«.[4] Politisch klarsichtig sieht sie hier die Vorzeichen für den drohenden Zweiten Weltkrieg; in der Sache beschreibt sie ausführlich vor allem die Bildungsarbeit der Republik, den Kampf gegen den Analphabetismus.

1946 kehrte sie nach Westdeutschland zurück und war bis zu ihrer Krankheit weiter politisch aktiv für den Aufbau eines pa­zifistischen Europas. Bereits 1947 war sie auch wieder in der Ausbildung von Volksschullehrern tätig und wurde in Hamburg von der britischen Militärregierung als Oberschulrätin eingesetzt. Von 1947-1949 hatte sie einen Lehrauftrag für Neuere Literatur an der Universität Hamburg, von 1949-1951 lehrte sie am Pädagogischen Institut dort, aber sie wurde (wohl aus politischen Gründen) nicht mehr verbeamtet. Zu ihrer großen Verbitterung konnte sie keinen größeren Einfluß mehr auf die Reform der Lehrerausbildung nehmen (Hinweise von H. Feidel-Mertz). Während ihre politische und pädagogische Arbeit ebenso wie die umfangreiche Schriftenproduktion inzwischen gewürdigt worden sind (s. Q – an der Hamburger Universität wurde ihr am 25.10.2005 ein Hörsaal gewidmet), bleiben ihre sprachwissenschaftlich-philologischen Anfänge, deretwegen sie hier aufgenommen ist, unerwähnt.

Q: V in der Dissertation und in Gumbel 1938: 282-283; August Siem­sen: »Anna Siemsen. Leben und Werk«, Hamburg usw.: Europäische Ver­lagsanstalt 1951; dort S. 221-222 ein Schriftenverzeichnis; Boedecker/Meyer-Plath 1974; Inge Hansen-Schaberg, »A. S. (1882-1951)«, in: G. Horn (Hg.), »Die Töchter der Alma mater Jenensis«, Jena: Hain 1999: 113-136; Wall (mit Teilbibliographie); H. Pestrup, »A. S. – Wer war die sozialistische Pädagogin?« (online: http://www.arbeiterjugend.de/cms/index.php/component/content/article/101.html?showall=1 , 2012); Peter Faulstich, »A. S. – Beispiel für soziales Engagement in der Erwachsenenbildung« (online: http://www.die-bonn.de/doks/faulstich0102.pdf, 2012); Christine Mayer, »A. S«, Laudatio anläßlich der feierlichen Benennung des großen Hörsaals (Von-Melle-Park 8) in den Anna-Siemsen-Hörsaal (online: http://www.epb.uni-hamburg.de/files/siemsen_christine_mayer.pdf, 2012). Große Teile ihres Nachlasses stehen im Schweizerischen Sozialarchiv, Zürich, s. http://findmittel.ch/archive/archTec/Ar142.pdf (abgerufen am 23. Juli 2013). 



[1] Bonn: Georgi 1909.

[2] Bielefeld: Velhagen und Klasing 1922 – Band 11 der »Bücherei der Volkshochschule«; vorher schon »Die Kunst des Erzählens«, Bielefeld und Leipzig: Vehlhagen & Klasing 1921, auch hier wieder mit der Übersetzung nicht-deutscher Texte.

[3] In: Gumbel 1938: 29-43.

[4] Zuerst Paris 1937, nachgedruckt Düsseldorf: Komet 1947.

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