Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG

Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein ›Freilichtmuseum‹ der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen.

Die These, dass die kulturelle Moderne im damals noch sehr viel beschaulicheren Wilmersdorf begann, die steht also schon mal. Aber die Dokumentenlage – und auf die kommt es ihm immer und bei allem an – die ist leider, aber zum Glück für Detlev Schöttker, sehr dürftig. – Noch! Jetzt muss akribisch und mit viel Geschick rekonstruiert werden, wo der Lebensmittelladen stand, in dem Brecht und Simmel zusammengetroffen sein könnten, wer die Besitzer, die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser waren, die oft schon lange nicht mehr stehen. Alte Stadt- und Baupläne müssen gefunden, studiert und mit der jüngeren Stadtentwicklung abgeglichen werden, Postkarten mit unserem Vor-Vorgängerbau sind ausfindig zu machen und zu ersteigern. Es sind aber auch Kontakte zu knüpfen, Netzwerke müssen ausgebildet werden, Projekte geschmiedet, Kooperationen in die Wege geleitet und Ausstellungen geplant werden. Man kann davon ausgehen, dass Detlev Schöttker, der die Gegend seit letztem Jahr systematisch zu Fuß erkundet hat, in der näheren und ferneren Nachbarschaft längst bestens bekannt ist. Pünktlich zum 70. Geburtstag ist der Spurensucher einmal mehr in seinem Element. Wie es sich für einen Detektiv gehört, gibt er sein inzwischen akkumuliertes Wissen strategisch dosiert preis, wittert manchmal Konkurrenten und leidet unter Ignoranten. Er wird schon einmal etwas ungeduldig, wenn jemand versucht, seinen Elan zu bremsen. Er ist nämlich nicht nur ein so skrupulöser wie findiger Forscher, sondern er kann auch ziemlich laut poltern. Als ich ihm aber den neuen Status als Senior Fellow so behutsam wie möglich antrug, grummelte er etwas in sich hinein und war’s zufrieden. – Das ist, muss man schon sagen, eine eher seltene Reaktion.

Das Es-gut-sein-Lassen liegt Detlev Schöttker nämlich eigentlich nicht. Bis heute hat er es mit Walter Benjamin keinesfalls gut sein lassen. 1999 erschien im Suhrkamp Verlag Konstruktiver Fragmentarismus, dessen Untertitel Form und Rezeption erkennen ließ, wie die Deutung der fragmentarischen Form von Benjamins Schreiben in seiner Rezeptionsgeschichte fortwirkt: »So vollendet die Nachwelt, was Benjamin begonnen hatte.« 2006 erschien im gleichen Verlag die unschätzbare Studie über das Verhältnis von Arendt und Benjamin, die die Dokumente im Streit zwischen Scholem, Adorno und Arendt um Benjamins Nachlass erstmalig und mustergültig aufbereitete. 2007 folgte der ebenso wertvolle Kommentar zum vielleicht meistgelesenen Text Benjamins, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2015 in der vierten Auflage). Durchgängig zeichnen sich alle Publikationen und Herausgaben Detlev Schöttkers durch den Vortritt aus, den sie dem Material und den Dokumenten einräumen. Bestimmte und immer wichtige Texte in mühevoller Kleinarbeit mit so viel Sinn für das Detail wie übergreifende Relevanz erst einmal aus den Archiven geklaubt und, perfekt kommentiert, der Nachwelt zur Verfügung gestellt zu haben, gehört zu Detlev Schöttkers größten Verdiensten.

Unter den Dokumenten und Materialien spielen Briefe für ihn schon lange eine besondere Rolle, über die er wiederholt nachgedacht hat, etwa in dem Band Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung (2008). Als Dokumente verstanden, werden Briefe zu einer entscheidenden Schnittstelle zwischen der Person in der Zeitgeschichte, ihrem weiteren Umfeld und der Nachwelt. Aber zum dokumentarischen Charakter der Briefe gehören auch die Briefmarken und zu ihnen wiederum die Stempel. Und beides hat nicht nur ihn, sondern auch Walter Benjamin brennend beschäftigt, wie ein Beitrag in dem von ihm und Dirk Naguschewski gemeinsam herausgegebenen Band Philatelie als Kulturwissenschaft (2019) belegt.

Mit dem erst in jüngerer Zeit hinzugekommenen, manche unter den eingefleischten Benjamin-Expert*innen irritierenden, aber leidenschaftlich und ertragreich verfolgten Interesse an Ernst Jüngers gigantischem Briefkosmos hat sich Detlev Schöttkers Spürsinn neue Jagdgründe erobert und gesichert, die vielleicht nicht ewig, aber doch sehr lange vorhalten werden. Der unter dem Titel Einer der Spiegel des Anderen gemeinsam mit Anja Keith edierte und vielbesprochene Briefwechsel zwischen Gretha und Ernst erschien 2021. Derzeit arbeitet Detlev Schöttker mit Katja Schicht an der Edition des Briefwechsels der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Und das ist erst der Anfang.

Wer Dokumenten auf der Spur ist, kann sich an das Kleinformat einer Briefmarke mit oder ohne Stempel verlieren, aber es zeichnet Detlev Schöttker aus, dass er darüber die Monumente nicht vergisst, die Stein und Bau, Platz und Haus gewordene Geschichte. Ein 2010 im Merkur unter dem Titel Der Beobachter des Parterres erschienener Text über Architektur bei Kafka bildet den Auftakt seiner anhaltenden Auseinandersetzung mit Architektur und Stadtgeschichte. Bei DOM publishers erschien 2019 unter dem Titel Ästhetik der Einfachheit die Geschichte eines Bauhausprogramms, die mit Aristoteles beginnt und in der Spätmoderne endet. Detlev Schöttkers Moderne begann früh und ist noch nicht vorbei. Beim selben Verlag war bereits 2017 unter dem Titel Über Städte und Architekturen eine Anthologie mit Texten von Walter Benjamin erschienen. 2021 schließlich hat Detlev Schöttker mit Kollegen einen Band zu Architekturtexten der Wiener Moderne herausgegeben, darunter Bekanntes, aber auch sehr viel vordem Unbekanntes.

Die mit Architektur befassten Bücher und Editionen sind übrigens ausnehmend schön gemacht. Und zu Detlev Schöttkers Auseinandersetzung mit der Moderne gehört sein eigener an ihr und mit ihr entwickelter Sinn für das Ästhetische. Dieser Sinn lässt nichts aus und ist unbeirrbar. Jüngst waren für unser neues Domizil Möbel für die Lounge auszuwählen. Das uns dabei beratende Team eines Möbelausstatters (Tipp von Detlev Schöttker) hatte seine liebe Not mit uns. Es waren harte Kämpfe ums Ganze. Denn so geht es einem mit Detlev Schöttker: Immer steht mit jedem Detail alles auf dem Spiel. Das kann anstrengend sein, aber wir möchten ihn und seine Moderne nicht missen und zählen weiterhin auf beide.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: Detlev Schöttker zum 70. Geburtstag, in: ZfL Blog, 20.6.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240620-01

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