Matthias Schwartz: Das kosmische Zeitalter reloaded. ZUR RENAISSANCE DER MENSCHLICHEN RAUMFAHRT IN RUSSLAND

Als 2011 der 50. Jahrestag von Juri Gagarins Weltraumflug vom 12. April 1961 gefeiert wurde, fiel der »hohe Grad der Ratlosigkeit« auf, der bei den Feierlichkeiten rund um den Globus vorherrschte. Zwar gab es eine Vielzahl von Veranstaltungen, Ausstellungen und anderen medialen Events, doch sei das Gedenken, bei dem »unterschiedliche Sinngebungen und Politisierungen« sich kreuzten, insgesamt eher ungeordnet und gedankenlos verlaufen.[1] Seither ist einiges passiert, vor allem bei den alten Konkurrenten des Wettlaufs im All und der aufstrebenden Industriemacht China. Die Volksrepublik hat erfolgreich ihr eigenes Weltraumprogramm mit bemannten und unbemannten Flügen sowie einer eigenen Raumstation aufgelegt, und in den USA entfalten die NASA mit ihren Marsmobilen und Privatunternehmen wie SpaceX des Elektroautobauers Elon Musk wieder stärkere Aktivitäten. Selbst Russland hat sich nach dem »verkorksten Gagarin-Jahr«[2] 2011 wieder ambitioniertere Ziele gesetzt. Juri Gagarin als Kulturheros und Erinnerungsfigur[3] kommt dabei eine zentrale, symbolträchtige Rolle zu, wie ein Blick auf das Gedenken an Gagarins Pionierleistung zum 60. Jubiläum im vergangenen Jahr zeigt.

I.

Als Juri Gagarin am 12. April 1961 in dem Raumschiff Wostok (dt. ›Osten‹) 108 Minuten lang einmal um die Erde kreiste, war das wohl der größte symbolische Erfolg der Sowjetunion im Kalten Krieg mit dem Westen. In den Vereinigten Staaten leitete Präsident John F. Kennedy daraufhin den Wettlauf zum Mond ein, indem er versprach, dass die Amerikaner bis zum Ende des Jahrzehnts zum Erdtrabanten fliegen würden. Im Land der Sowjets symbolisierte der Himmelsstürmer Gagarin den Beginn einer Epochenwende. Die Verwirklichung des Kommunismus auf Erden innerhalb von 20 Jahren erschien als eine realistische Möglichkeit. »Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch man kann nicht ewig in der Wiege leben« – immer wieder wurden diese dem Raketenpionier Konstantin Ziolkowski zugeschriebenen Worte zitiert. Gagarin bereiste als Botschafter für Frieden und Freundschaft die nach Unabhängigkeit strebenden Staaten in Afrika, Asien und Südamerika und stand für die Aussicht, dass die poststalinistische Sowjetunion eine bessere Alternative zum globalen Kapitalismus und Imperialismus sein könne.

Gagarin war ein Mann des Militärs und des Systems, der mit seinem charmanten Lächeln sowohl die alten Eliten als auch das neue Selbstbewusstsein der Weltmacht jenseits des Eisernen Vorhangs verkörperte. Zugleich entfaltete er innenpolitisch und diskursiv eine enorme Ausstrahlungskraft. Sein Flug fiel in die Zeit des sogenannten Tauwetters, in der der Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow eine spürbare kulturpolitische Liberalisierung des Landes eingeleitet hatte, die neue Freiheiten, eine vorsichtige Öffnung nach Westen und ein aufblühendes kulturelles und künstlerisches Schaffen mit sich brachte. Gagarin und die nachfolgenden Kosmonautinnen und Kosmonauten – insbesondere Walentina Tereschkowa, die im Juni 1964 drei Tage lang als erste Frau im Weltraum um die Erde kreiste –, lebten diesen Neuanfang vor, indem sie als emanzipierte, elegante und verantwortungsvolle Celebrities insbesondere auch im neuen Medium des Fernsehens glänzten. Hinzu kam, dass der Himmel als Sitz der Götter und Sterne seit jeher eine große Faszination besitzt, die sich insbesondere in dem damals boomenden Genre der sowjetischen Science-Fiction ausdrückte. Weltraumreisen zu fernen Planeten, Besuche von Außerirdischen und Begegnungen mit unbekannten Lebensformen und Zivilisationen entfalteten (wie im Westen auch) eine immense Popularität, allerdings weniger im Kino und als »Krieg der Sterne«, sondern eher in der Literatur und als soziale und wissenschaftliche Phantastik, die die Grenzen des Menschen und auch des eigenen Zivilisationsmodells auslotete.

Nachdem Gagarin im März 1968 im Alter von 34 Jahren in seinem Kampfjet tödlich verunglückt war, setzte ein regelrechter Kult um seine Person ein. Er wurde zur zentralen Erinnerungsfigur einer zunehmenden Musealisierung der sowjetischen Raumfahrt. Überall im Land erstanden Denkmäler und Museen der Kosmonautik. Filme, Bücher, Briefmarken und Souvenirs widmeten sich seinem Andenken. ›Unser Gagarin‹ wurde zum Symbol für eine vergangene Epochenwende, die unter Breschnew zunehmend verklärt wurde. Seine Präsenz in der Kinder- und Jugendliteratur sowie im Schulunterricht machten Gagarin zu einem Idol, auf das sich jede und jeder einen eigenen Reim machen konnte, wobei die anfangs mit ihm verknüpften gesellschaftspolitischen Versprechen eines globalen Kommunismus bald ganz aus seiner Ikonographie verschwanden. Diese nahm stattdessen verstärkt nationale und religiöse Züge an und machte ihn zu einem überzeitlichen, Frieden, Freundschaft und Hoffnung symbolisierenden Kulturheros, der den Menschen den Weg in die Weiten des Weltalls gewiesen hat. Gleichzeitig wurde er zu einer Projektionsfigur für alle möglichen eskapistischen Wunschträume. Der Mensch, der aus seiner Wohnung in den Weltraum flog (1982) zum Beispiel, eine bekannte Installation des Künstlers Ilya Kabakov, stand in der dissidenten Subkultur der Sowjetunion für den Ausbruch aus der dogmatischen Enge des Alltags. Und dieses diffuse Heilsversprechen, das mit Gagarin verbunden war, lebte auch in der postsowjetischen Zeit weiter, egal, ob es sich um Mobilfunkunternehmen handelte, die mit seinem Porträt für die neue Freiheit warben, überall hin telefonieren zu können, oder um Technopartys, die unter seinem Label das ultimative Tanzvergnügen versprachen. Seit 2001 wird am 12. April weltweit der Aktionstag Yuri’s Night veranstaltet, an dem neben nächtlichen Feiern auch ein umfangreiches Bildungs- und Unterhaltungsprogramm für die ganze Familie zum Thema Raumfahrt angeboten wird.

Die religiöse Dimension der kosmischen Epochenwende wurde schon beim 50. Jahrestag des ersten Weltraumflugs immer wieder aufgegriffen. So stellte Lev Danilkin, der ehemalige Chefredakteur des russischen Playboy und Literaturredakteur eines Moskauer Stadtmagazins, in seiner zum Jubiläum erschienenen Biographie den »Lichtstrahl« Gagarin, der einer Begegnung mit Gott entgegenstürme,[4] dem Gründer des Online-Netzwerks Facebook, Mark Zuckerberg, als »lebender Ikone« des geistigen Niedergangs entgegen:

»Darin aber besteht die Idee Gagarins: dass all diese Menschen, die ein Restaurant eröffnen, eine Facebook-Seite pflegen und glauben, sie seien die ›Kolumbusse des Weltalls‹ von heute, – dass sie ein Stromschlag treffen möge, sie den Kopf hochreißen und dort eine aus Sternen verfasste Inschrift lesen: ›Aus Restaurants fliegt man nicht in den Kosmos‹, wie es einmal Juri Alexejewitsch mit genialer Arglosigkeit formulierte […]. Der Kapitalismus kann sehr komfortabel sein, doch wie man die Sache auch dreht, als Zukunftsbild stellt er das abgeschmackteste aller denkbaren dar.«[5]

Der erste Kosmonaut tritt hier als göttliches Warnsignal gegen die apokalyptischen Reiter der neuen Zeit auf, und so endet Danilkins Biographie mit den Worten:

»Nichts sind eure Diäten, nichts eure Gigabytes textuellen und visuellen Ramsches wert, gespeichert auf amerikanischen Servern, nichts eure Supermärkte, solange es […] den Kosmos gibt: Berge von Brot und Unmengen von Macht. Das aber ist Gagarin.«[6]

Gagarin wird also implizit zu einem (christlichen) Erlöser verklärt, der ein halbes Jahrhundert zuvor in Russland auf Erden erschienen ist und dessen Botschaft es heute gegen den zu einer diabolischen Macht mutierten kapitalistischen Klassenfeind zu verteidigen gilt.[7]

Transhumanistinnen und Kosmisten, die von der menschlichen Unsterblichkeit träumen, können sich auf seine Person ebenso einigen wie avantgardistische Filmemacher und Künstlerinnen, die in seinem individuellen Schicksal die Tragik des gesamten sowjetischen Modernisierungsprojekts verkörpert sehen, so wie Aleksej German Junior in seinem Film Der Papiersoldat (Bumažnyj soldat, 2008). Die von Kritikern beklagte Unordnung des Gagarin-Archivs war 2011 tatsächlich erheblich.

II.

Zehn Jahre später war der »hohe Grad der Ratlosigkeit« einem gehörigen Maß an politischem Pragmatismus und intellektuellem Idealismus gewichen, wobei die bereits in den 1960er Jahren angelegte Ambivalenz der Figur Gagarin als symbolische Verkörperung staatlicher Machtpolitik und zugleich imaginärer Bezugspunkt für kosmische Schwärmereien neue Aktualität bekommen hat. Alles andere als ein Zufall war es daher, dass der im August 2020 in Russland – als erster weltweit – zugelassene Impfstoff gegen SARS-CoV-2 den Namen Sputnik V (wobei V für Victory steht) erhielt, womit an den ersten künstlichen Erdtrabanten 1957 erinnert werden sollte, in dessen Kontinuität man die eigenen Pionierleistungen sieht.

Wie sehr die Kosmonauten schon immer treue Diener und überzeugte Vertreterinnen staatlicher Machtpolitik gewesen sind, wurde in den letzten Jahren wohl am deutlichsten, als die inzwischen 83-jährige Walentina Tereschkowa am 20. März 2020, einen Tag nach Gagarins Geburtstag, im russischen Parlament vorschlug, die neu zu verabschiedende Verfassung der Russischen Föderation so abzuändern, dass der amtierende Präsident Wladimir Putin auch nach 2024 wiedergewählt werden könne. Der entsprechende Änderungsvorschlag wurde vom Parlament mehrheitlich angenommen, sodass es womöglich die erste Frau im Weltraum gewesen sein wird, der Putin weitere Amtszeiten zu verdanken haben wird.

Am Tag des Jubiläums von Gagarins Flug war die Allianz von Raumfahrerin und Politik beim wichtigsten Festakt des Tages gut zu beobachten: Am frühen Morgen des 12. April 2021 flogen Putin und Tereschkowa gemeinsam in der Präsidentenmaschine von Moskau in die Stadt Engels an der Wolga und fuhren von dort zu jenem Ort, wo Gagarin mit dem Fallschirm gelandet war. Hier eröffneten sie den neu angelegten Park der Eroberer des Kosmos, legten Blumen nieder und pflanzten Kiefernbäume – ›Kiefer‹ war der Codename Gagarins für die Funkverbindungen mit der Erde während seines Fluges. Dieser Besuch war symbolisch umso stärker aufgeladen, als in der Sowjetunion bis 1991 geheim gehalten worden war, dass der Kosmonaut Nr. 1 nicht in seiner Raumkapsel auf die Erde zurückgekehrt war, sondern sich aufgrund der Befürchtung, er könne den harten Aufprall nicht überleben, wenige Minuten vor der Landung in sieben Kilometern Höhe aus ihr herauskatapultiert hatte. Diese Geheimhaltung wurde später damit begründet, dass die internationale Raumfahrtagentur für die Anerkennung eines Kosmosflugs eine Landung innerhalb der Kapsel vorgegeben habe. So war der Ort, an dem Gagarin mit dem Fallschirm aufsetzte, 30 Jahre lang fälschlich als Landungsort der Kapsel bezeichnet worden, obwohl diese einige Kilometer davon entfernt in unmittelbarer Nähe zum Wolgaufer niedergegangen war. Erst 2021 wurden beide Orte offiziell als Gedenkstätten anerkannt. An dem neu eingerichteten Erinnerungsort kann man nun eine originalgetreu nachgebildete Kapsel bestaunen, während an Gagarins tatsächlicher Landestelle neben dem bereits in den 1960er Jahren errichteten Obelisken eine genaue Kopie des Autobusses zu besichtigen ist, mit dem Gagarin seinerzeit zur Startrampe gebracht wurde.

Diese Art der Anlage einer Gedenkstätte mit reproduzierten Artefakten ist keineswegs singulär. Der legendäre Kosmos-Pavillon Nr. 32 auf der ehemaligen Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR wurde nach jahrelanger Verwahrlosung 2018 von Putin feierlich wiederöffnet, das Geburtshaus Gagarins und das Kosmonautik-Museum in Kaluga wurden aufwändig renoviert und ausgebaut. Die sowjetische Musealisierung der Raumfahrt hat im letzten Jahrzehnt ein Revival erfahren, bei dem all diese Rekonstruktionen und Nachbildungen offensichtlich mit patriotischen und praktischen Aufgaben verbunden werden. Zum Jubiläum brachte es Putin klar und deutlich auf den Punkt:

»Damals – am 12. April 1961 – veränderte dieses große Ereignis ohne jeden Zweifel die Welt. Eine neue Ära begann, es begann die kosmische Ära, die Ära der Eroberung des Weltraums. Wir werden immer stolz darauf sein, dass es unser Land gewesen ist, das den Weg zum Universum geebnet hat, und, wie gesagt, unser Landsmann war der Erste bei diesem großen Unterfangen. […] Es ist unsere Pflicht, uns auch heute dafür einzusetzen, dass die Arbeit in der Raketen- und Raumfahrtindustrie der Größe entspricht, die uns von den Pionieren der Raumfahrt vorgegeben wurde.«[8]

Die Raumfahrt soll wieder stärker popularisiert und auch in die Schulbildung als wichtiges Element patriotischer Erziehung integriert werden. Zu diesem Ziel wurde unter anderem ein nationaler Wettbewerb für die weibliche Hauptrolle in dem Spielfilm Die Herausforderung ausgelobt, für den Szenen auf der Internationalen Raumstation ISS gedreht werden sollten. Es gab über 3.000 Bewerberinnen, von denen es Anfang des Jahres 2021 20 in die engere Wahl schafften, die daraufhin ausführlichen Fitnesstests unterzogen wurden. Im Mai wurden Julia Peressild als Gewinnerin und Alena Mordowina als ihr Double gekürt. Den gesamten Auswahlprozess konnte das russische Publikum als Realityshow im Fernsehen verfolgen. Im Herbst flog Peressild dann zusammen mit dem Regisseur Klim Schipenko für zweiwöchige Dreharbeiten zur ISS.

Damit wurden die 20 Kandidatinnen der gleichen Prozedur wie 60 Jahre zuvor die ersten männlichen Kosmonauten unterzogen – auch damals kamen 20 Kandidaten in die engere Auswahl, ehe die Entscheidung für Gagarin und sein Double German Titow fiel. Die Geschichte wiederholt sich als televisuelle Fiktion vor authentischer Kulisse: im Weltraum. Aus dem realen Kalten Krieg um die militärische und technologische Vorherrschaft im Weltraum ist ein mediales Spektakel geworden, das dazu dient, beim Publikum zu Hause die Liebe zur Raumfahrt aufs Neue zu entfachen. Raumfahrt ist damit heute in Russland wieder zu einer nationalen Angelegenheit geworden, in der Politik, Medien und Staat die »Energie, Liebe und Leidenschaft«[9] des eigenen Volkes zu wecken versuchen.

Doch wie schon zu seinen Lebzeiten, verkörpert Gagarin beim ›Volk‹ noch immer den Ausbruch aus dem Alltag, den Flug zu den Göttern und Sternen, die Flucht in unbekannte Weltgegenden und Sphären. Und wie damals werden diese Wunschträume von anderen Welten jenseits der irdischen Tristesse vor allem im Medium der Literatur artikuliert. In den Monaten vor dem neuerlichen Jubiläum nahm beispielsweise das Moskauer Puschkin-Institut für russische Sprache Gagarins Himmelsflug zum Anlass, um in Gesprächen mit Literaturwissenschaftlerinnen und Kosmonauten und in Liveübertragungen zur Internationalen Raumstation die kosmischen Dimensionen der Literatur von Alexander Puschkin bis Boris Pasternak auszuloten. Das Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften veranstaltete im März 2021 zusammen mit der Moskauer Fjodorow-Bibliothek und dem Verbund der Kosmonautik-Museen der Russischen Föderation eine internationale Konferenz mit dem Titel Die geflügelte Menschheit. Die Idee des Kosmosflugs und des fliegenden Menschen in russischer Literatur und Kultur. Drei Tage lang diskutierten mehr als 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über künstlerische Werke und religiöse Fragen genauso ernsthaft wie über die Funktion von Engeln und Geistern oder ethnographische Untersuchungen zum Kosmonauten-Kult in der russischen Provinz. Gagarin ist in diesen Debatten zum Medium einer transzendenten Neuorientierung des Menschen geworden, der demnach erst in der spirituellen Begegnung mit dem Weltall zu seiner eigentlichen Bestimmung finden könne. Als Inspirationsquelle hierzu dient insbesondere der russische Religionsphilosoph Nikolaj Fjodorow, der Anfang des 20. Jahrhunderts die infantile Menschheit in unsterbliche kosmische Verstandeswesen transformieren wollte.

III.

Wenn im Westen über die große Epochenwende diskutiert wird, der sich die Menschheit im Zeichen der Globalisierung und des menschengemachten Klimawandels ausgesetzt sieht, ist die menschliche Raumfahrt häufig bestenfalls eine Fußnote. Dabei waren es auf beiden Seiten des Ost-West-Konflikts vor allem die bemannten Raumflüge und die farbigen Film- und Fotoaufnahmen aus dem Weltall, die erst das Bild des ›Blauen Planeten‹ als ein alle politischen und kolonialen Grenzen überschreitendes Ganzes geschaffen haben. Und noch heute sind es vor allem auf das Weltall bezogene, meist populärkulturelle Produkte – Kinofilme, TV-Serien, Science-Fiction-Literatur – die für ein breites Publikum Fragen des Fortlebens und Aussterbens der Menschheit, der Umsiedlung der Menschheit nach der ökologischen Apokalypse oder auch der Rettung der Erde vor der Klimakatastrophe in eingängige Bilder und Narrationen fassen. So stagniert zwar die tatsächliche Erschließung und Besiedelung des Weltraums durch die bemannte Raumfahrt seit Jahrzehnten – woran auch die Privatunternehmungen einzelner Milliardäre nichts ändern werden. Doch für die imaginäre Neuaushandlung irdischer Befindlichkeiten und kollektiver Zugehörigkeiten hat die ›kosmische Ära‹ auch nach 60 Jahren immer noch eine enorme Faszinationskraft, wie das russische Beispiel zeigt.[10] Und je düsterer die tagespolitischen Diagnosen für eine revolutionäre ökologische Umgestaltung des Planeten unter den Bedingungen des späten Kapitalismus aussehen, desto attraktiver wird womöglich auch in anderen Erdteilen der Blick zu den Sternen zukünftig werden.

 

Der Slawist Matthias Schwartz arbeitet am ZfL an seinem Projekt »Weltfiktionen post/sozialistisch. Literaturen und Kulturen aus Osteuropa« und ist Ko-Leiter des Programmbereichs »Weltliteratur«.

 

[1] Kevin Anding/Holt Meyer: »Das Jubiläumsjahr und seine Folgen in Russland, Indien, England und andernorts. Das Chaos des Archivs zwischen Offizialität und Medialität«, in: dies./Matthias Schwartz (Hg.): Gagarin als Archivkörper und Erinnerungsfigur, Berlin 2013, S. 221–235, hier S. 234 f.

[2] Gerhard Kowalski: »Gagarin und kein Ende. Selbst 50 Jahre nach dem historischen Flug Juri Gagarins sind noch nicht alle Geheimdokumente offengelegt«, in: ebd., S. 209–220, hier S. 214.

[3] Vgl. zu Gagarin meinen Beitrag »Bote des Weltalls, Ikone des Fortschritts. Heroische und postheroische Figurationen des ersten Kosmonauten Jurij Gagarin«, in: Zaal Andronikashvili/Giorgi Maizuradze/Matthias Schwartz/Franziska Thun-Hohenstein (Hg.): Kulturheros. Genealogien – Konstellationen – Praktiken, Berlin 2017, S. 334–365.

[4] Lev Danilkin: Jurij Gagarin (Žizn‘ zamečatel’nych ljudej, Bd. 1500), Moskau 2011, S. 486.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Diese russisch-orthodoxe Neudefinition Gagarins ist auch explizit in dem 2013 in die Kinos gekommenen russischen Spielfilm Gagarin. Der Erste im Kosmos (Gagarin. Pervyj v kosmose) von Pavel Parchomenko angelegt, der allerdings an den Kinokassen und bei der Kritik keinerlei Erfolg hatte.

[8] Soveščanie o dolgosročnych prioretach razvitija kosmičeskoj dejatel’nosti, 12.4.2021.

[9] »Seit sehr vielen Jahren hat es mich frustriert, dass nach 1991, wenn zuvor jeder zweite Junge Kosmonaut werden wollte, danach jeder zweite Junge Anwalt, Systemadministrator oder Banker werden wollte. Was natürlich nicht schlecht ist, aber es ist in vielerlei Hinsicht deprimierend. Und für uns war es wichtig, dass wir Roskosmos […] die Energie, Liebe und Leidenschaft des Volkes für das Thema der bemannten Kosmonautik zurückbringen. Denn wenn ein Volk eine Sphäre seines Schaffens liebt, dann fließt diese Energie in diesen Bereich, in diesen Prozess.« Stali izvestny imena tech, kto poletit na orbitu dlja s’emok v proekte Roskosmosa i Pervogo kanala, 13.5.2021. Roskosmos heißt die staatliche russische Raumfahrtagentur, vergleichbar mit der NASA.

[10] Vgl. Natalija Majsova: »Enhanced Documents of a Past Future: Re-interpretation of the Soviet History of Spaceflight in Contemporary Russian Blockbusters«, in: Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 8 (2019) = Fiction in Central and Eastern European Film Theory and Practice, hg. von J. Alexander Bareis/Mario Slugan; Matthias Schwartz: »Abschied von einer Utopie. Mediale Inszenierungen der Raumfahrt in der russischen Gegenwartskultur«, in: Tobias Haupts/Christian Pischel (Hg.): Space Agency – Medien und Poetiken des Weltraums, Bielefeld 2021, S. 73–98.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: Das kosmische Zeitalter reloaded. Zur Renaissance der menschlichen Raumfahrt in Russland, in: ZfL BLOG, 26.1.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/01/26/matthias-schwartz-das-kosmische-zeitalter-reloaded-zur-renaissance-der-menschlichen-raumfahrt-in-russland/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220126-01

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