ZfL, Autor bei ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/author/zfl/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 15 Jul 2024 15:04:40 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png ZfL, Autor bei ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/author/zfl/ 32 32 Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/ Fri, 12 Jul 2024 08:03:38 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3328 Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. ›Glas‹) Weiterlesen

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Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3]

Bevor die letzten Folgen überhaupt ausgestrahlt worden waren, gab es auf Ehrenwort eines Kerls bereits in beiden Ländern ein breites Medienecho,[4] wobei die Kritiken kontrovers ausfielen und von enthusiastischer Begeisterung bis zu hellem Entsetzen und kategorischer Ablehnung reichten. In der Ukraine kreiste die Diskussion vor allem um die Frage, ob die Fernsehserie allein schon deshalb gefährliche Kriegspropaganda sei, weil sie aus dem Feindesland kommt. In Russland erregte die vermeintliche Romantisierung der Verbrecherwelt Anstoß. Manche Kritiker deuteten die Serie aber auch als subversiven Zerrspiegel der militärischen Aggression. Was war das aber für ein populärkulturelles Werk, das für so viel Aufmerksamkeit und Aufregung sorgte?

1.

Ehrenwort eines Kerls spielt im Jahr 1989 in Kasan, der Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik Tatarstan, fast 800 Kilometer östlich von Moskau. Der erste sozialistische Staat der Welt befindet sich im Zusammenbruch, und während die staatlichen Behörden zunehmend an Autorität und Macht verlieren, übernehmen Jugendgangs die Herrschaft über die Straße. Die tatarische Hauptstadt gelangte damals unionsweit zu Berühmtheit als einer der gefährlichsten Orte des Landes, wo kriminelle Gruppierungen mit großer Brutalität Schutzgeld erpressten und ihre Einflusssphären verteidigten, was immer wieder zu Todesfällen führte. In dieser Umgebung zeichnet die Serie das tragische Schicksal zweier ca. 14-jähriger Jungen nach, die sich in der Zeit von Glasnost und Perestroika einer dieser Gruppen anschließen. Marat und Andrej unterwerfen sich rigiden Ehrencodes, geraten immer tiefer in den Strudel der Gewalt und landen am Ende in einem Gefängnis für Jugendliche.

Einhellig lobte die Kritik den Realismus der Darstellung des damals so genannten »Kasaner Phänomens« und sah darin einen wesentlichen Schlüssel zum Erfolg der Produktion.[5] Die »dramatische Serie« sei ausgezeichnet gemacht, versuche die wahre Natur der Jugendbanden zu verstehen[6] und biete eine »glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche«.[7] Dieser »Schwanengesang auf den sowjetischen Kollektivismus«,[8] der an Martin Scorseses Gangs of New York (2002) erinnere,[9] sei zugleich »die (freudige und verhängnisvolle) Anerkennung der Macht und Autorität« des Stärkeren über die Schwächeren, weswegen die Serie »von Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Ansichten« gemocht werde.[10] Doch gerade die offen dargestellte Gewalttätigkeit der Jungen gab auch Anlass für Bedenken: die Jüngeren seien fasziniert von der »Exotik«, während Ältere »Nostalgie« überkomme, was vor allem durch die »Romantisierung des Banditentums« hervorgerufen werde.[11]

In Russland stieß die Serie deswegen anfangs gerade von politischer Seite auf teils scharfe Ablehnung.[12] Die Ombudsperson für Kinder in Tatarstan forderte ein vollständiges Verbot, da hier eine »falsche Vorstellung der kriminellen Welt« vermittelt und die »psychische und sittliche Gesundheit der Jugend« gefährdet werde.[13] Auch Duma-Abgeordnete warnten und riefen zur Zensur auf.[14] Aber nachdem Prominente wie der Kinoregisseur Nikita Michalkow und sogar Priester sich positiv über Ehrenwort eines Kerls geäußert hatten,[15] erhielt das Werk in Russland inzwischen eine Vielzahl an Auszeichnungen, darunter einige der renommiertesten Preise für Fernsehserien.[16]

Auf ukrainischer Seite dagegen wurde die Verbotsforderung vor allem mit der Herkunft der Serie begründet und ein angeblicher fundamentaler zivilisatorischer Unterschied zwischen beiden Ländern hervorgehoben. So argumentierte das Ministerium für Kultur und Informationspolitik, die Serie propagiere »Gewalt, Verbrechen und die Ästhetik des Aggressorlandes sowie feindselige Propaganda, was in der Ukraine während des Krieges inakzeptabel ist«.[17] Manche fanden die Serie gar gefährlicher als den russischen Angriffskrieg selbst, wecke sie doch unter den Teenagern Sympathien für ein Land, das »uns alle umbringt«.[18] Der ukrainische Schriftsteller und Drehbuchautor Andrij Kokotjucha kritisierte, dass darin der Ukraine unliebsame Werte vermittelt würden:

»Russische Vorstellungen unterscheiden sich von denen der zivilisierten Welt dadurch, dass sie Gewalt akzeptieren und sie direkt oder indirekt kultivieren […]: Nicht die Diebe sind schlecht, sondern das Leben, das ihnen keine Wahl ließ. Deshalb sollten wir die Verbrecher bemitleiden. Westliche Krimis, vor allem für ein junges Publikum, warnen indes immer wieder davor, dass der Weg des Verbrechens ein Weg ins Nichts ist. Mitglieder von Jugendbanden enden böse und verlieren alles. […] Die westliche Kultur bietet einen ganz anderen Ehrenkodex als die russische Kultur.«[19]

Diese dem ›zivilisierten‹ Westen entgegengestellte, angeblich spezifisch russische Gewaltkultur hebt auch die in New York lehrende Politikwissenschaftlerin Nina Khrushcheva, Urenkelin des sowjetischen Parteisekretärs Nikita Chruschtschow, hervor. Sie sah in der Serie gar eine Vorbereitung zu einem »permanenten Krieg«:

»In dem russischen Kriminaldrama [führt] eine aggressive und chaotische Politik zu Aggression und Chaos auf den Straßen. Wenn die Führung erklärt, dass sich überall Feinde verstecken, oder dass die beste Verteidigung darin besteht, zuerst zuzuschlagen, dann nehmen Paranoia, Intoleranz und Aggression zu. Und so ist es nicht verwunderlich, dass vor dem Hintergrund des von Putin angezettelten Krieges gegen die Ukraine russische Kinder ihre Klassenkameraden schikanieren, Jugendliche Passanten angreifen und dies auf Video festhalten und Erwachsene auf öffentlichen Plätzen Massenschlägereien anzetteln.«[20]

Aber haben diejenigen, die so nachdrücklich die Schädlichkeit der Serie hervorhoben und teils vehement ihr Verbot forderten, die Serie wirklich gesehen?[21] Müsste man ihnen nicht vielmehr entgegnen, dass alles, was sie als gefährliche Folge der Popularität der Serie beschwören, in dieser bereits Gegenstand der Kritik und Reflexion ist?

2.

Die Serie ist ein Werk des Regisseurs Shora Kryshownikow, der zusammen mit Andrej Solotarjow auch das Drehbuch geschrieben hat. Kryshownikow hat als Theaterregisseur und Kurzfilmer begonnen, ehe er im letzten Jahrzehnt vor allem mit Komödien teils äußerst erfolgreich war, die weder Kitsch noch Exzentrik scheuen und meist unverhohlen die neue russische Mittelklasse und das Showbusiness ins Visier nehmen. Dabei steckt hinter dem satirisch-ironischen Zugriff oft ein ernstes sozialpolitisches Anliegen. Die mehrfach preisgekrönte Fernsehserie Rufen Sie DiCaprio an! (Zwonite DiKaprio!, 2018) beispielsweise stellt die ansonsten im Staatsfernsehen kaum thematisierte Verbreitung von HIV-Infektionen unter gut situierten heterosexuellen Erwachsenen ins Zentrum und nimmt zugleich die allgemeine Homophobie und das verlogene patriotische Pathos der russischen Medienbranche aufs Korn.

Satirische Elemente sind in der neuen Serie kaum vorhanden, stattdessen dominiert die von der Kritik so sehr gefeierte realistische Darstellung. Grundlage ist das Sachbuch Ehrenwort eines Kerls. Das kriminelle Tatarstan der 1970er bis 2000er Jahre (2021) des Journalisten Robert Garaev, der 1989 als 14-Jähriger selbst Mitglied einer Straßengang in Kasan wurde und an der Serienproduktion als Berater beteiligt war. Sein Buch basiert auf umfangreichen Interviews mit ehemaligen Mitgliedern und Beteiligten und gliedert die gesammelten Aussagen systematisch nach Themenbereichen, denen kurze Einführungen vorangestellt sind. Das Buch habe, schreibt Garaev im Epilog, ein »psychotherapeutisches« Ziel, es solle die unzähligen traumatisierten »Kerle und ihre Opfer« zum Sprechen bringen und so zum Verständnis des »Kasaner Phänomens« beitragen. Denn nur durch eine »Desakralisierung« des Banditentums ließe sich verhindern, dass dessen falsche Ehrvorstellungen und der damalige »Verfall der moralischen Norm« noch in den heutigen Alltag eindringen.[22]

Auch die gleichnamige Serie von Kryshownikow versteht sich als ein »Sozial- und Bildungsprojekt, das Jugendlichen und ihren Eltern in akuten Situationen helfen soll«, wie es im Abspann jeder Folge heißt. Im Netz und in den sozialen Medien wird dazu begleitend ein umfangreiches Hilfs- und Beratungsangebot angeboten.[23] Entsprechend beginnt die Serie mit der Verführungskraft und Faszination, die die Stadtteilgangs damals auf Teenies ausgeübt haben. Erst wenn man Mitglied einer solchen Gruppierung wurde und ihren Regeln und Ritualen folgte, galt man als richtiger ›Kerl‹ (russ. pazan) und konnte sich so aus den Zwängen familiärer Enge, schulischer Disziplin und staatlicher Obrigkeit befreien. Die Mitgliedschaft versprach ein selbstbestimmtes Leben ohne Rücksicht auf Gesetze und Konventionen. Dem sowjetischen Muff aus autoritärer Erziehung und kommunistischen Phrasen, in dem jegliches abweichendes Verhalten als anstößig gilt, wird in der Serie die schöne neue Welt amerikanischer Baseballcaps, Kung-Fu-Filme, Pornovideos und Popmusik gegenüberstellt. Hierbei sind es vor allem die eingängigen Disco-Hits jener Jahre, die den pubertierenden Jungs aus der Seele sprechen, wie der Song Musyka nas swjasala (1989, Die Musik hat uns verbunden) der russischen Popband Mirage:

»Wieder fliehe ich zu meinen Freunden.
Was mich hierher zieht, weiß ich nicht
Ohne Musik kann ich nicht lange sein.

(Refrain:) Die Musik hat uns verbunden
Dies ist unser Geheimnis.
Auf alles Zureden gebe ich die Antwort:
›Uns trennt man nicht, nein!‹«

Von Anfang an macht die Serie deutlich, dass diese neue Welt ungemein brutal ist. Bereits in der ersten Szene versetzt der halbstarke »Kerl« Marat in der Straßenbahn dem »Loser« Andrej für eine Nichtigkeit einen Faustschlag. Andrej, ein junger Klavierspieler und begabter Schüler, der mit seiner alleinerziehenden Mutter und einer jüngeren Schwester in eher ärmlichen Verhältnissen aufwächst, versteht schnell, dass er sich gegen solche Schikanen alleine nicht behaupten kann. Als er ausgerechnet Marat, dessen Vater Vorsitzender eines großen Rüstungskonzerns ist, Nachhilfe in Englisch geben soll, freunden die beiden sich an und Andrej beschließt, ebenfalls Bandenmitglied zu werden. Damit gerät er in eine raue Jungswelt, in der bedingungslose Unterordnung und gegenseitige Demütigungen, Pöbeln und Prügeleien mit anderen Stadtteilgangs zum Alltag gehören. Bei einem Ausflug nach Moskau, bei dem Andrej einem von Marat fast totgetretenen Punk helfen will, gerät er das erste Mal in Polizeigewahrsam.

Die Sehnsucht, ein cooler Kerl zu sein, wird ständig durch die Konsequenzen des eigenen Handelns konterkariert. Versuchen die Freunde, etwas wiedergutzumachen, wird es nur noch schlimmer. So als Andrejs Mutter in ihrer Naivität beim Hütchenspiel mit Mitgliedern der Gang alles Geld und ihre Pelzmütze verwettet und Marat erst im letzten Moment durch einen falschen Polizeialarm verhindern kann, dass sie auch noch ihren Mantel aufs Spiel setzt. Zwar bekommt er zunächst Ärger von den eigenen Bandenmitgliedern. Doch da der Ehrencode es verbietet, den Familien der »Kerle« zu schaden, stiehlt Marat anschließend die Pelzmütze der Englischlehrerin, um sie im Beisein der ganzen Bande schließlich Andrejs Mutter als Entschädigung zu überreichen. Als die Mutter jedoch später stolz mit der neuen Pelzmütze wegen Andrejs Fehlverhalten bei der Englischlehrerin in der Schule vorsprechen muss, erkennt diese ihr Eigentum, und jene steht als gemeine Diebin dar, worüber sie den Verstand verliert.

Die entscheidende Eskalation setzt ein, als Marats älterer Bruder, ein ehemaliger Boxchampion mit Spitznamen Adidas, aus dem Afghanistankrieg zurückkehrt. Er stürzt die korrupten und in Drogenhandel involvierten Bandenbosse, möchte wieder Disziplin einführen, versucht ein Alkohol- und Rauchverbot durchzusetzen, und statt undurchsichtiger Deals mit anderen Stadtteilgruppierungen will er wieder klare Machtverhältnisse etablieren. Das misslingt gründlich: Schutzgelderpressung und ein Videosalon sind nur begrenzt erfolgreich, die Schlägereien werden immer blutiger. Als schließlich eine andere Gang Marats Freundin entführt und vergewaltigt, Adidas furchtbar gedemütigt wird und letztlich die Peiniger eiskalt erschießt, bricht nicht nur die Welt der starken Kerle zusammen, sondern Andrej und Marat ziehen auch ihre eigenen Familien und Freundinnen mit sich in den Abgrund. Das verführerische Bandenleben erweist sich als Alptraum, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört und sie selbst schwer schädigt.

So geraten die Freunde wiederholt mit dem strengen Ehrenkodex der Kerle in Konflikt: Diese verlangen nämlich nicht nur absolute Loyalität gegenüber der Gruppe und verbieten Entschuldigungen gegenüber allen anderen, sondern folgen auch patriarchalen Rollenbildern, wonach nur ein unschuldiges Mädchen ›rein‹ ist und Umgang verdient, während alle anderen als ›Schlampen‹ und ›Huren‹ ohne Ehre gelten. Gibt man sich dennoch mit ihnen ab, ist man selber ›befleckt‹ und wird als ›Dreckskerl‹ aus der Gang ausgeschlossen. Andrej und Marat versuchen anfangs noch mit teils äußerster Rücksichtslosigkeit ihre erwählten Frauen ›rein‹ zu halten, doch das misslingt. Denn Andrejs geliebte Irina arbeitet bei der Miliz, ist im kommunistischen Jugendverband Komsomol und amüsiert sich mit der subkulturellen Boheme, die dem ›Hooligan‹ Andrej nur Verachtung entgegenbringt. Nicht Andrej schützt Irina, sondern umgekehrt muss die bereits volljährige Irina wiederholt die Folgen seiner Straftaten und Grenzüberschreitungen ausbügeln. Marat wiederum hält seiner Freundin Aigul zwar nach deren Vergewaltigung verzweifelt die Treue. Trotzdem wird sie von der Gang und deren Mädchen als Hure geächtet. Selbst ihre Eltern können die Schande nicht ertragen, bis sie keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. In ihrer besinnungslosen Wut über die eigene Hilflosigkeit werden Andrej und Marat beinahe selbst zu Mördern der vermeintlich schuldigen rivalisierenden Bandenmitglieder.

Das Einzige, was als Trost am Ende bleibt, ist die die Kerle in allen Lebenslagen begleitende Popmusik, und hier insbesondere die Hits der Boygroup Laskowy Mai (Zärtlicher Mai‹). Deren Sänger Juri Schatunow – selber ein Waisenjunge aus einem Jugendheim, der bei der Bandgründung 1986 gerade einmal 13 Jahre alt war – wurde mit seinem androgynen Auftreten zum ersten Teeniestar der Sowjetunion. Seine Songtexte bringen auf den Punkt, was die wilden Kerle nicht in eigene Worte fassen können, wenn sie in der Schlussszene der Serie im Kulturklub des Gefängnisses unter dem roten Banner »Wir preisen die Arbeit, unser Land und die Zeit« mit kahlgeschorenen Köpfen gemeinsam den Refrain von Sedaja notsch (1987, Graue Nacht) grölen:

»Und wieder die graue Nacht, und nur ihr vertraue ich.
Du kennst, graue Nacht, all meine Geheimnisse.
Aber auch du kannst mir nicht helfen, und deine Dunkelheit
Nützt mir rein gar, rein gar nichts.«[24]

Das unheimlich-vertraute Geheimnis der ergrauten Nacht aber, das weiß man am Ende der Serie, sind die traumatischen Gewalterfahrungen, über die gemeinhin auch im Fernsehen nicht öffentlich gesprochen wird.

3.

Die enthusiastischen Filmkritiken hoben vor allem die detailgetreue Darstellung der Bandenkriminalität Ende der 1980er Jahre hervor, deren mediale Aufbereitung eine therapeutische Wirkung entfalten könne und die manche auch als ein spektakuläres Menetekel für die Gegenwart im Angesicht des Krieges deuteten. Doch die Serie ist mehr als das. Denn sie unternimmt zugleich eine Revision gängiger Bilder der Perestroika-Periode und folgt dabei dem aktuellen Zeitgeist innerhalb der Russischen Föderation. Am deutlichsten wird das bei Andrejs Onkel Ildar, der ein leitender Ermittler bei der Kriminalpolizei ist. Unter Einsatz von Bestechung, Gewalt und Erpressung versucht er, seinen Neffen zu Aussagen über die Mitglieder seiner Bande zu bringen. Außerdem beginnt er eine Affäre mit Andrejs Mutter. Doch als er eines Abends Andrejs Freund Marat aus ihrer Wohnung rausschmeißen möchte, hält die Mutter zu ihrem Sohn und weist stattdessen Ildar die Tür. Erst als die an ihrem kriminellen Sohn zerbrechende Mutter psychisch erkrankt, wendet sich Andrej in seiner Verzweiflung erneut an seinen Onkel, um sie vorübergehend aus der gefürchteten Psychiatrie zu holen, wo sie aber letztlich doch besser aufgehoben ist als zu Hause.

Ildar zeigt sich im Laufe der Ermittlungen gegen die Jugendbande immer mehr als ein einfühlsamer und rechtschaffener Mensch, der mit aller Gewalt, aber im Namen der Menschlichkeit den Rechtsstaat und das Gesetz gegen die ausufernde Straßenkriminalität durchsetzen möchte. Hier bekommt die Serie deutlich kontrafaktische Züge – waren in der späten Sowjetunion doch die Korruption der staatlichen Behörden und der Missbrauch der Psychiatrie zur medikamentösen Ruhigstellung widerspenstiger Staatsbürger sprichwörtlich. Diese beabsichtigte Rehabilitierung staatlicher Instanzen zeigt sich noch in der Darstellung der Lehrerinnen, die anfangs klischeehaft aufgedonnert und verstockt wirken, im Laufe der Geschichte aber sympathischere Züge bekommen, halten sie doch angesichts der umgreifenden Jugendkriminalität verzweifelt an zivilisierten Umgangsformen fest.

Am deutlichsten ist die ideologische Ausrichtung der Fernsehserie in der Darstellung des Afghanistankrieges zu erkennen, in den die Sowjetunion nach ihrem Einmarsch im Dezember 1979 ein Jahrzehnt lang bis Februar 1989 involviert war. Eine ganze Generation von zwangsweise in den Kampf geschickten jungen Wehrpflichtigen wurde durch den Guerillakrieg der Mudschahedin traumatisiert. Nach Kriegsende hatten sie massive Probleme, sich in die zusammenbrechende Gesellschaft zu reintegrieren, viele verfielen dem Alkohol und Drogen. All dies kommt in der Serie überhaupt nicht vor, im Gegenteil: Adidas scheint im Krieg gestählt worden zu sein, hasst die US-Amerikaner aufgrund ihrer Waffenlieferungen an die afghanische Opposition, empört sich, dass »wir« die »Demokratische Republik Afghanistan« verraten haben, ist Liebling aller älteren und jüngeren Frauen und übernimmt sofort die Führung der Stadtteilbande.[25] Dass auch er schwer traumatisiert ist, zeigt die Serie nur mittelbar, etwa in der Szene, in der er eine romantische Nacht mit seiner Geliebten Natascha nicht im Bett, sondern mit Gitarre in der Küche verbringt und so lange Afghanistanlieder singt, bis sie weinend ausruft, sie wolle nichts mehr vom Tod hören. Seine Rückkehr in die Gesellschaft misslingt letztlich auf allen Ebenen: Statt militärische Ordnung und Disziplin zu schaffen, schaden alle seine Aktionen der Gruppierung nur; und sein Vater, der als Chef eines Rüstungsbetriebs Karriere als Waffenlieferant für die sowjetische Invasionsarmee gemacht hat, ist am Ende als Vater eines Kriminellen und Mörders ein gesellschaftlich geächteter Mann.[26] Kriegshelden, so die implizite Botschaft, sind fürs Zivilleben nicht zu gebrauchen.

Eng verbunden mit dieser indirekten Kritik an den destruktiven Folgen des Krieges sind Fragen nach der Menschlichkeit. Deren Abwesenheit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Serie, verbildlicht durch diskriminierende Rede, despektierliche Gesten und übergriffiges Verhalten.[27] Vor allem aber entfaltet der omnipräsente Sexismus innerhalb der Gruppierung seine toxische Wirkung. Auch sonst präsentiert die Serie kein idealisiertes Bild der Sowjetunion: Die Mütter der beiden Jungen beispielsweise sind keineswegs emanzipierte Frauen, sondern folgen weitgehend traditionell-weiblichen Rollenmustern. Und der Vorsitzende des örtlichen Komsomol ist ein typischer Karrierist der Wendezeit, der früh die kapitalistischen Zeichen der neuen Zeit erkannt hat und in den Klubräumen eine Produktionsstätte für Bluejeans betreibt.

So erweist sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt einerseits als Versuch, im zunehmend repressiven und autoritären Russland der Gegenwart mit einem populärkulturellen Werk den staatlichen ideologischen und pädagogischen Anforderungen zu genügen, lässt aber andererseits auf subtile Weise auch andere Sichtweisen zu. Deutlich folgt die Serie dem offiziellen Narrativ, dass nur ein starker Staat für Recht und Ordnung sorgen könne und alle Formen von selbstorganisierter Autonomie oder alternative Gemeinschaftsformen nur zu Chaos und blutiger Gewalt führen. Putins Diktum vom Zusammenbruch der Sowjetunion als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« wird anhand des »Kasaner Phänomens« anschaulich demonstriert. Zugleich zeigt die Serie am Beispiel der beiden jugendlichen Protagonisten Marat und Andrej die Faszination, die gegenkulturelle Jugendbewegungen entwickeln können, und die fatalen Konsequenzen, die extreme Gewalt für alle Beteiligten mit sich bringt. Die katastrophalen Folgen des sowjetischen Afghanistaneinsatzes für eine ganze Generation junger Soldaten werden hingegen nur indirekt anhand der Figur des Kriegsveteranen Adidas thematisiert, dem eine Rückkehr in den zivilen Alltag nicht gelingt.

Es dürfte diese gelungene Verknüpfung einer spannenden und mitreißenden Geschichte über jugendliche Alternativkulturen mit einer vielschichtigen Thematisierung der Folgen von Gewalt und Krieg für die eigene Gesellschaft sein, die die enorme Popularität der Serie beiderseits der russisch-ukrainischen Front begründet. Denn, wie Robert Garaev im Nachwort zur Neuauflage seines Buches schreibt:

»Leider ist die Welt der Kerle nicht nur auf die Bildschirme gekommen, sondern auch in unsere Realität zurückgekehrt – und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als man sich vorstellen konnte. Die Sprache der Kerle wird inzwischen von russischen Politikern, Beamten und Talkshow-Moderatoren gesprochen. […] Angesichts der Situation im Jahr 2023, in der die Welt in Chaos und militärischen Konflikten versinkt, möchte ich daran glauben, dass der Leser nach der Lektüre dieses Buches die richtige Schlussfolgerung zieht: Kriege können Gründe und Voraussetzungen haben, aber manchmal ist der Gewinner nicht derjenige, der sich Hals über Kopf in diesen Konflikt gestürzt hat, wie die Helden aus Ehrenwort eines Kerls, sondern derjenige, der sich abseits dieser Kämpfe befand, sich in die Materie vertiefte, sie verstand, sich weiterentwickelte und allem widerstand, ausgehend von seinem Weltverständnis und seinen Ehrregeln.«[28]

Zu verstehen und zu widerstehen: ein solches Angebot enthält auch die Fernsehserie.

Der Slawist Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und leitet das Projekt Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg.

[1] Da Aigel Gaisina, die Sängerin der Band, nach kritischen Äußerungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine emigriert ist, sind später alle Angaben zum Song aus dem Abspann der Serie entfernt worden.

[2] Pazan bedeutet so viel wie ›Kerl, Bursche, Junge‹. Das Substantiv hat im Russischen umgangssprachlich einen herablassenden Beiklang und kann auch die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Gruppierung markieren. Ein Trailer zur Serie mit englischen Untertiteln findet sich auf Youtube. In Deutschland ist die Serie bislang nur mit englischen Untertiteln auf der Filmplattform Soviet & Russian Movies zu sehen. Ich danke Franziska Thun-Hohenstein, Nina Weller, Roman Dubasevych und Dirk Naguschewski für ihre hilfreichen Hinweise.

[3] Vgl. u.a. Anastasija Chochlova: »Zusammenkünfte, Schlägereien und Einflusszonen: Was Jugendliche nach dem Ansehen der Fernsehserie Ehrenwort eines Kerls tun« (auf Russisch), in: Radio 1 (29.11.2023); [Anon.]: »Russische Propaganda: Ukrainische Schulen schlagen wegen der Serie Ehrenwort eines Kerls Alarm« (auf Ukrainisch), in: Gazeta.Ua (4.12.2023). Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen von mir.

[4] Vgl. u.a. Anastasija Gončarenko:»Ehrenwort eines Kerls: Warum man diese Serie in der Ukraine hasste und warum Jugendliche ›süchtig‹ nach ihr wurden« (auf Ukrainisch), in: TSN (11.12.2023); Anna Kundirenko: »Ehrenwort eines Kerls. Warum die skandalträchtige russische Serie in der Ukraine populär wurde« (auf Russisch), in: BBC News (Russkaja služba) (9.12.2023).

[5] Vgl. Varvara Košečkina: »Die Serie Ehrenwort eines Kerls über Jugendbanden zur Zeit des Zerfalls der UdSSR ist erschienen« (auf Russisch), in: Lenta.ru (10.11.2023); Svetlana Stephenson: »Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land« (übersetzt von Ruth Altenhofer), in: Dekoder (2.1.2024). 

[6] Anton Chitrov: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt ist eine hervorragende Serie von Shora Kryshownikow über das kriminelle Kasan der 1980er Jahre, in das sich das Russland der 2020er Jahre zu verwandeln droht« (auf Russisch), in: Meduza (25.11.2023).

[7] Aleksandr Folin: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt: Eine glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche« (auf Russisch), in: KinoReporter (9.11.2023).

[8] Sergey Toymentsev: Review of »Zhora Kryzhovnikov: The Boy’s Word of Honor (TV)«, in: KinoKultura 83 (2024).

[9] Vasilij Stepanov: »Angst haben zu fliehen« (auf Russisch), in: Kommersant’ (3.11.2023).

[10] Anton Dolin: »Ehrenwort eines Kerls wurde zu einer echten Sensation« (auf Russisch), in: Meduza (22.12.2023).

[11] Kundirenko: Ehrenwort eines Kerls (Anm. 4).

[12] Il’ja Litov: »›Sie haben das Land aufgefressen‹: Ist die Serie Ehrenwort eines Kerls wirklich so schädlich für die Jugend?« (auf Russisch), in: Moskovskij Komzomolec (5.12.2023).

[13] Alja Trynova: »Die Ombudsperson für Kinder von Tatarstan bittet Roskomnadzor die Serie Ehrenwort eines Kerls zu überprüfen« (auf Russisch), in: Večernie vedomosti (29.11.2023). Roskomnadzor ist die »Föderale Aufsicht für Informationstechnologie und Massenkommunikation« in Russland.

[14] Sergej Aksenov: »Der Film Ehrenwort eines Kerls erinnert an die Perestroika-Probleme der 80er Jahre« (auf Russisch), in: Svobodnaja Pressa (6.12.2023).

[15] Tass: »Michalkow bezeichnete Forderungen nach einem Verbot der Serie Ehrenwort eines Kerls als eine große Dummheit« (auf Russisch), in: TASS (9.12.2023); Sergij Kruglov: »Verbieten, um sich selbst nicht zu erkennen« (auf Russisch), in: Pravmir (14.12.2023). Bereits Ende 2023 kürten russische Kinokritiker die Serie zur besten des Jahres, vgl. [Anon.]: »Kritiker haben die Serie Ehrenwort eines Kerls zur besten des Jahres 2023 erklärt« (auf Russisch), in: TASS (25.12.2023).

[16] So erhielt die Serie im April 2024 die höchsten Auszeichnungen des Nationalpreises für Webinhalte (National’naja premija v oblasti veb-kontenta). Bei der Preisverleihung des Verbands der Film- und Fernsehproduzenten (Associacija prodjuserov kino i televedenija, Abk. APKiT) in Moskau – etwa vergleichbar den US-amerikanischen Emmy Awards – kam sie im Juni 2024 sogar auf neun Auszeichnungen. Vgl. Susanna Al’perina: »Bondarčuk und Ehrenwort eines Kerls. Die Gewinner des V. Nationalpreises für Webinhalte wurden bekanntgegeben« (auf Russisch), in: Rossijskaja gazeta (16.4.2024); »Ehrenwort eines Kerls erhielt die Hauptauszeichnungen des National Web Content Award« (auf Russisch), in: InterMedia (15.4.2023); Vera Cvetkova: »Das magische Ehrenwort eines Kerls …« (auf Russisch), in: Nezavisimaja gazeta (20.6.2024).

[17] Marija Kabacij:»Ohne Tscheburaschka und Ehrenwort eines Kerls geht es nicht: Welche Filme die Ukrainer im Jahr 2023 gegoogelt haben« (auf Ukrainisch), in: Ukraijns’ka pravda (12.12.2023).

[18] Julija Ljubčenko: »›Seid ihr noch bei Verstand?‹ Irma Vitovska wendet sich an die Zuschauer der russischen Serie Ehrenwort eines Kerls« (auf Ukrainisch), in: RBK-Ukrajina (7.12.2023).

[19] Andrij Kokotjucha: »Das Schweigen des ukrainischen Kerls« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (11.12.2023). Diese Extrapolation aller negativen Seiten der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit als ein genuin russisches, der ukrainischen Kultur fremdes Element, ist kein Sonderfall. Typisch für die filmische Darstellung der Straßengewalt der späten 1980er und der 1990er Jahre ist Oleh Senzows Film Rhino (Nosorih, 2021), dessen Handlung vor allem in der Ostukraine spielt. Er stellt gewissermaßen einen Gegenentwurf zu dem russischen Kult-Film der 1990er Jahre Bruder (Brat, 1997) von Alexei Balabanow dar.

[20] Nina Khrushchova: »Russland bereitet sich auf einen permanenten Krieg vor. Wie es dazu kommt« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (24.1.2024).

[21] Die deutschsprachige Presse hat zwar über den Erfolg und die öffentliche Resonanz auf die Serie in Russland und der Ukraine berichtet, eine genauere Besprechung ihres Inhalts fand aber nur selten statt, vgl. beispielsweise Artur Weigandt: »Wer um Gnade fleht, muss schießen (Russische Serie über Jugendbanden)«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.1.2024), S. 15; Ueli Bernays: »Stammesdenken in Russland. Du gehörst zu uns, alle anderen sind Feinde«, in: Neue Zürcher Zeitung (1.2.2024); Inna Hartwich: »Gewalt, Lügen und Zynismus (Medien in Russland)«, in: tageszeitung (12.12.2023).

[22] Robert Garaev: Slovo pacana, Kriminal’nyj Tarastan 1970–2010-ch [12021], erweiterte Auflage, Moskau 2024, S. 613, 616–617. Garaev hat sich in Interviews wiederholt positiv zu der Verfilmung geäußert, die dem Anliegen seines Buches entspreche, vgl. Polina Chabarova: »Die Gruppierungen waren staatsähnlich«, in: Kommersant’ (4.2.2024).

[23] Vgl. zum Beispiel die Webseite Pacany menjajutsja [Kerle verändern sich].

[24] Mit Szenen aus der Fernsehserie unterlegt: https://www.youtube.com/watch?v=CbbGV1JthRA. Im Russischen gibt es zwei Worte für ›grau‹, zum einen seryj für die Farbe Grau, was aber auch ›trist‹ oder ›langweilig‹ bedeuten kann, zum anderen sedoj, was vor allem auf die Haarfarbe bezogen wird (›grauhaarig, ergraut‹). Der Titel Sedaja noč’ (1988) konnotiert diese Bedeutung im Sinne von einer alt gewordenen Nacht.

[25] Diese geschönte Darstellung des sowjetischen Afghanistaneinsatzes und seiner Folgen ist kein Novum. Nachdem in der Glasnostzeit und Anfang der 1990er Jahre eine schonungslose Auseinandersetzung stattfand – deren im Westen bekanntestes Zeugnis Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman Die Zinkjungen (Cinkovye mal’čiki,1989) ist –, änderte sich das im neuen Jahrtausend langsam. Kameradschaft, Disziplin und Durchhaltewille als militärische Tugenden traten wieder in den Vordergrund, wofür im Bereich der Populärkultur Fjodor Bondartschuks Blockbuster Neunte Kompanie (9 rota, 2005) wegweisend war.

[26] Auch die Flucht ans Meer mit der Geliebten im gestohlenen Auto – wie man sie aus dem Genre des Roadmovies kennt – vermasselt Adidas zum Schluss. Denn zuvor versucht er vergeblich, sich mit seinem Vater zu versöhnen und wird bei einer Polizeiaktion niedergeschossen.

[27] Auffällig ist dabei, dass nationalistische oder identitäre Diskurse keinerlei Rolle spielen, sämtliche Helden sind diesbezüglich auffällig farbenblind. Auch Christentum und Islam kommen nur am Rande vor. In der Tat, das zeigt auch Robert Garaevs Buch, ist der Alltagsrassismus zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erst ein Phänomen der 1990er Jahre.

[28] Robert Garaev: »Posleslovie k izdaniju 2024 goda« [Nachwort zur Ausgabe von 2024], in: ders.: Slovo pacana (Anm. 22), S. 634, 638.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: In der Welt der wilden Kerle. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges, in: ZfL Blog, 12.7.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240712-01

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Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/ Thu, 20 Jun 2024 12:27:33 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3312 Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug Weiterlesen

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Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein ›Freilichtmuseum‹ der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen.

Die These, dass die kulturelle Moderne im damals noch sehr viel beschaulicheren Wilmersdorf begann, die steht also schon mal. Aber die Dokumentenlage – und auf die kommt es ihm immer und bei allem an – die ist leider, aber zum Glück für Detlev Schöttker, sehr dürftig. – Noch! Jetzt muss akribisch und mit viel Geschick rekonstruiert werden, wo der Lebensmittelladen stand, in dem Brecht und Simmel zusammengetroffen sein könnten, wer die Besitzer, die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser waren, die oft schon lange nicht mehr stehen. Alte Stadt- und Baupläne müssen gefunden, studiert und mit der jüngeren Stadtentwicklung abgeglichen werden, Postkarten mit unserem Vor-Vorgängerbau sind ausfindig zu machen und zu ersteigern. Es sind aber auch Kontakte zu knüpfen, Netzwerke müssen ausgebildet werden, Projekte geschmiedet, Kooperationen in die Wege geleitet und Ausstellungen geplant werden. Man kann davon ausgehen, dass Detlev Schöttker, der die Gegend seit letztem Jahr systematisch zu Fuß erkundet hat, in der näheren und ferneren Nachbarschaft längst bestens bekannt ist. Pünktlich zum 70. Geburtstag ist der Spurensucher einmal mehr in seinem Element. Wie es sich für einen Detektiv gehört, gibt er sein inzwischen akkumuliertes Wissen strategisch dosiert preis, wittert manchmal Konkurrenten und leidet unter Ignoranten. Er wird schon einmal etwas ungeduldig, wenn jemand versucht, seinen Elan zu bremsen. Er ist nämlich nicht nur ein so skrupulöser wie findiger Forscher, sondern er kann auch ziemlich laut poltern. Als ich ihm aber den neuen Status als Senior Fellow so behutsam wie möglich antrug, grummelte er etwas in sich hinein und war’s zufrieden. – Das ist, muss man schon sagen, eine eher seltene Reaktion.

Das Es-gut-sein-Lassen liegt Detlev Schöttker nämlich eigentlich nicht. Bis heute hat er es mit Walter Benjamin keinesfalls gut sein lassen. 1999 erschien im Suhrkamp Verlag Konstruktiver Fragmentarismus, dessen Untertitel Form und Rezeption erkennen ließ, wie die Deutung der fragmentarischen Form von Benjamins Schreiben in seiner Rezeptionsgeschichte fortwirkt: »So vollendet die Nachwelt, was Benjamin begonnen hatte.« 2006 erschien im gleichen Verlag die unschätzbare Studie über das Verhältnis von Arendt und Benjamin, die die Dokumente im Streit zwischen Scholem, Adorno und Arendt um Benjamins Nachlass erstmalig und mustergültig aufbereitete. 2007 folgte der ebenso wertvolle Kommentar zum vielleicht meistgelesenen Text Benjamins, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2015 in der vierten Auflage). Durchgängig zeichnen sich alle Publikationen und Herausgaben Detlev Schöttkers durch den Vortritt aus, den sie dem Material und den Dokumenten einräumen. Bestimmte und immer wichtige Texte in mühevoller Kleinarbeit mit so viel Sinn für das Detail wie übergreifende Relevanz erst einmal aus den Archiven geklaubt und, perfekt kommentiert, der Nachwelt zur Verfügung gestellt zu haben, gehört zu Detlev Schöttkers größten Verdiensten.

Unter den Dokumenten und Materialien spielen Briefe für ihn schon lange eine besondere Rolle, über die er wiederholt nachgedacht hat, etwa in dem Band Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung (2008). Als Dokumente verstanden, werden Briefe zu einer entscheidenden Schnittstelle zwischen der Person in der Zeitgeschichte, ihrem weiteren Umfeld und der Nachwelt. Aber zum dokumentarischen Charakter der Briefe gehören auch die Briefmarken und zu ihnen wiederum die Stempel. Und beides hat nicht nur ihn, sondern auch Walter Benjamin brennend beschäftigt, wie ein Beitrag in dem von ihm und Dirk Naguschewski gemeinsam herausgegebenen Band Philatelie als Kulturwissenschaft (2019) belegt.

Mit dem erst in jüngerer Zeit hinzugekommenen, manche unter den eingefleischten Benjamin-Expert*innen irritierenden, aber leidenschaftlich und ertragreich verfolgten Interesse an Ernst Jüngers gigantischem Briefkosmos hat sich Detlev Schöttkers Spürsinn neue Jagdgründe erobert und gesichert, die vielleicht nicht ewig, aber doch sehr lange vorhalten werden. Der unter dem Titel Einer der Spiegel des Anderen gemeinsam mit Anja Keith edierte und vielbesprochene Briefwechsel zwischen Gretha und Ernst erschien 2021. Derzeit arbeitet Detlev Schöttker mit Katja Schicht an der Edition des Briefwechsels der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Und das ist erst der Anfang.

Wer Dokumenten auf der Spur ist, kann sich an das Kleinformat einer Briefmarke mit oder ohne Stempel verlieren, aber es zeichnet Detlev Schöttker aus, dass er darüber die Monumente nicht vergisst, die Stein und Bau, Platz und Haus gewordene Geschichte. Ein 2010 im Merkur unter dem Titel Der Beobachter des Parterres erschienener Text über Architektur bei Kafka bildet den Auftakt seiner anhaltenden Auseinandersetzung mit Architektur und Stadtgeschichte. Bei DOM publishers erschien 2019 unter dem Titel Ästhetik der Einfachheit die Geschichte eines Bauhausprogramms, die mit Aristoteles beginnt und in der Spätmoderne endet. Detlev Schöttkers Moderne begann früh und ist noch nicht vorbei. Beim selben Verlag war bereits 2017 unter dem Titel Über Städte und Architekturen eine Anthologie mit Texten von Walter Benjamin erschienen. 2021 schließlich hat Detlev Schöttker mit Kollegen einen Band zu Architekturtexten der Wiener Moderne herausgegeben, darunter Bekanntes, aber auch sehr viel vordem Unbekanntes.

Die mit Architektur befassten Bücher und Editionen sind übrigens ausnehmend schön gemacht. Und zu Detlev Schöttkers Auseinandersetzung mit der Moderne gehört sein eigener an ihr und mit ihr entwickelter Sinn für das Ästhetische. Dieser Sinn lässt nichts aus und ist unbeirrbar. Jüngst waren für unser neues Domizil Möbel für die Lounge auszuwählen. Das uns dabei beratende Team eines Möbelausstatters (Tipp von Detlev Schöttker) hatte seine liebe Not mit uns. Es waren harte Kämpfe ums Ganze. Denn so geht es einem mit Detlev Schöttker: Immer steht mit jedem Detail alles auf dem Spiel. Das kann anstrengend sein, aber wir möchten ihn und seine Moderne nicht missen und zählen weiterhin auf beide.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: Detlev Schöttker zum 70. Geburtstag, in: ZfL Blog, 20.6.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240620-01

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Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/ Fri, 24 May 2024 08:22:47 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3300 Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Weiterlesen

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Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt.[3] Obwohl das Wort »dämonisch« nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren.

Gemäß Goethes berüchtigter Antidefinition in Dichtung und Wahrheit (1831) manifestiert sich das Dämonische nur als Widerspruch. Seine Struktur ist ein Weder-noch: weder göttlich noch menschlich, weder teuflisch noch engelhaft, weder unvernünftig noch verständig, weder Zufall noch Vorsehung. Während die Dämonen von Anbeginn von Dämonologien eingehegt wurden, zelebriert das Dämonische einen Bruch mit dem Logos. Deshalb wandert es aus dem Bereich der Theologie und Philosophie in ästhetisch-existenzielle Zusammenhänge: Goethe, der das Dämonische in einer Entscheidungskrise erlebte, flüchtet sich gegen Ende seiner gescheiterten Definition »hinter ein Bild«, womit er die literarische Figur seines Egmont meint.[4] Bei Georg Lukács fließt das Dämonische schließlich in die Theorie des Romans ein.[5] Das Dämonische streift die Phantastik ab und wird zum Signum der Moderne.[6]

Auch Benjamin assoziiert das Dämonische mit der Moderne. Er nähert sich der ambivalenten Kategorie in mehreren Texten und aus unterschiedlichen Richtungen: von Goethe in seinem großen Wahlverwandtschaften-Aufsatz (1924/25), von Karl Kraus, den Benjamin als dämonische Gestalt einer unerlösten Moderne porträtiert,[7] oder vonseiten der jüdischen Dämonologie – wie nicht zuletzt Giorgio Agamben (der Partei für die Engel ergreift) auf den Spuren von Gershom Scholem betont.[8] Aus diesen Blickwinkeln zeigt sich das Dämonische tief in Benjamins Geschichts- und Sprachphilosophie eingebettet. Dagegen nimmt Das dämonische Berlin, das in der Forschung kaum Beachtung fand, eine scheinbar naive, kindliche Perspektive ein. Das Dämonische offenbart sich ausgerechnet in »einer klaren prosaischen Stadt«, die dem Aberglauben und Ominösen abschwören will.[9]

Die Wendung »dämonisches Berlin« stammt von dem Germanisten und Museumsdirektor des Märkischen Museums Otto Pniower, der in einem Aufsatz historische Berliner Schauplätze in Hoffmanns Erzählungen identifizierte.[10] Benjamin, der Pniowers Ansatz folgt, eröffnet Das dämonische Berlin mit einer Kindheitserinnerung: Als er vierzehn Jahre alt war, kam der Komponist und Musikschriftsteller August Halm in seine Schule, um Hoffmann vorzulesen. Wozu jemand solche unerklärlichen Geschichten schreibe, wollte Halm bei einem späteren Besuch erklären. Dazu kam es nicht, und so versuchte Benjamin, die Frage selbst zu beantworten. In einem ersten Schritt ersetzte er das Wozu durch ein Warum: Warum schreibt einer so bizarre Geschichten? Seine Antwort: Hoffmann gehört zu denjenigen Schriftstellern, die »von ihren Figuren besessen sind«, von phantastischen Visionen heimgesucht werden und sich erst beruhigen, wenn sie diese niederschreiben.[11]

Einen Monat nach Ausstrahlung von Das dämonische Berlin, im März 1930, führte Benjamin seine Antwort in dem Vortrag E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza für den Frankfurter Rundfunk weiter aus: Hoffmann erzähle Geschichten, »um die Figuren, Arabesken, Ornamente festzuhalten, in denen alte Geister- und Naturdämonen ihr Wirken in der Tageshelle des neuen Jahrhunderts […] einzuzeichnen suchen«.[12] Er verleihe archaischen Naturmächten, die in der Moderne verdrängt wurden, ein Sprachrohr. Das Dämonische wird zur Wiederkehr der vorgeschichtlichen Dämonen in der »Tageshelle«. Der Dichter erscheint folglich als ein von besessenen Figuren Besessener, als dämonisches Medium. Sein Schreiben ist ein Exorzismus.

In einem zweiten Schritt thematisiert Benjamin die Wirkung von Hoffmanns Texten: Die dämonischen Mächte, von denen sich der Dichter schreibend befreit, fahren in die Leserinnen und Leser seiner Geschichten. Benjamin erinnert sich, wie er, als seine Eltern einmal nicht zu Hause waren, als Kind heimlich Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) las und plötzlich »alle Schrecken wie Fische mit stumpfen Mäulern sich allmählich in der umgebenden Dunkelheit um die Tischkanten sammelten, so dass meine Augen wie an einer rettenden Insel sich auf die Buchseiten hefteten, aus denen doch alle diese Schrecken kamen«.[13] Das Dämonische verwandelt sich von einer Naturmacht in eine literarische Überwältigung. Das Medium Schrift wird zum Ursprung der dämonischen Versuchungen, vor denen es uns zugleich zu retten verspricht. Nicht mehr der Autor oder der Text, sondern die Lesenden sind nun dämonisch.[14]

Die »Fische mit stumpfen Mäulern« sind ein Echo der Bergwerke zu Falun, deren Protagonist Elis Fröbom vom Meeresgrund träumt, um in der Dunkelheit eines Stollens zu verschwinden. Doch zugleich erinnern sie an die Dämonen, die den Heiligen Antonius auf zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Darstellungen aus der Dunkelheit bedrängen. So bildet sich etwa auf einem Gemälde von Jan Brueghel d. Ä. (1603/04), das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet, ein dämonischer Lesekreis um den Heiligen, der sich in einer grotesken nächtlichen Landschaft in ein Buch vertieft. Die Dämonen werden von dem Licht und der Lektüre angelockt, die sie seltsamerweise selbst erst ermöglichen: ein Frosch-Dämon leuchtet dem lesenden Antonius mit der Fackel. Das Dämonische offenbart sich im hermeneutischen Drama von Dunkelheit und rettendem Licht der Schrift.[15]

Nach dieser Lektüreszene kommt Benjamin in einem dritten Schritt wieder auf den Dichter zurück, dem er ein erzählerisches »satanisches« Wissen attestiert, das »die Geister unter ihrer raffiniertesten Verkleidung aufspürt«.[16] Eine solche Gabe hätte man früher in der monastisch-mystischen Tradition, die Antonius repräsentiert, als »Unterscheidung der Geister« bezeichnet.[17] Bei Benjamin erscheint sie in einem profanen urbanen Licht: Hoffmann erfinde seine Gestalten nicht, er erspähe sie in der Großstadt (nicht in der Wüste). Er entdecke sie hinter der Fassade des preußischen Bürger- und Beamtentums, dem der Autor selbst angehört. Für ihn sei immer »Geisterstunde«, auch »in diesem vernünftigen Berlin am hellen Mittag« begegne ihm das Dämonische.[18] Daher sei er »weniger ein Seher, als ein Anseher«; ein genauer Beobachter, ein »Physiognomiker von Berlin«, der eine Tradition gründet, die laut Benjamin in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) kulminiert.[19]

Die alte »Unterscheidung der Geister« wird zur Physiognomie. Man könnte mit Georg Friedrich Lichtenberg – dem Benjamin sein letztes Hörspiel Lichtenberg. Ein Querschnitt (1933) widmete – von einer Pathognomik sprechen, der Beobachtung der affektiven Regungen und Bewegungen. Das ist die »Kunst zu schauen«, wie wir sie insbesondere in Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) finden: Das Alltagstreiben auf dem Berliner Gendarmenmarkt wird aus diesem »Eckfenster der Moderne«[20] zu einem Wimmelbild in »Callots Manier« – man denke an Jacques Callots Radierung Die Versuchungen des Hl. Antonius (zweite Version 1635), die Hoffmann in der Einleitung seiner Fantasiestücke (1814/15) erwähnt (und die später über Gustave Flauberts Arbeitstisch hing). Das Phantastische konvergiert bei Hoffmann mit dem Realistischen, den Versuchungen des Marktes. Das Dämonische äußert sich in den anonymen urbanen »Figuren, Arabesken, Ornamenten«, die die individuellen Schicksale bestimmen und deren historische Schichtungen Benjamin in seinen eigenen Berlin-Texten untersucht.[21] Damit wird endlich das Wozu geklärt – nicht das Wozu des Dichters, sondern das des Lesens: Wir sollen Hoffmanns Texte lesen, als ob ihr Zweck darin bestünde, die affektiven, sozialen, ökonomischen Zwänge aufzudecken, die sich hinter der scheinbaren Tageshelle unsrer eigenen Gegenwart immer noch verbergen. So endet Das dämonische Berlin mit einer Lektüreanweisung.

Abschließend möchte ich eine weitere Ebene andeuten, die Benjamin nicht dezidiert anspricht: 25 Jahre nach seiner Begegnung mit Halm, der 1929 starb, schlüpft Benjamin in dessen Rolle, um lauschenden Kindern eine Antwort zu geben. Der Vortrag ist damit selbst eine dämonische Wiederkehr; die Radiostunde eine Geisterstunde. Das junge Medium des Radios, das den mesmeristischen Phantasien und unheimlichen Automaten Hoffmanns entgegenkommt, musste zwangsläufig als dämonisch empfunden werden. Das »Stimmenhören« wird zur elektromagnetischen Technik. Benjamin, der in einem Brief an Scholem erwähnt, dass er ein »Hörfunkspiel über Spiritismus« plant,[22] ist sich der spiritistischen Anklänge des Medienbegriffs bewusst. Im Vortrag über Hoffmann und Panizza betont er – unter Rückgriff auf die Erzählung Die Automate (1814) –, dass Hoffmann Musiker, nicht bloß Physiognomiker war. Als solcher habe er »wirkende Zusammenhänge mit der fernsten Urzeit« im »Hörbaren« erkannt.[23] Dies gilt für den Gesang und die Musik, in der die Romantik einen verzerrten Nachhall einer natürlichen pantheistischen Harmonie erkennen will. In der Maschinenmusik, die in Die Automate verdammt wird (man denke an den aktuellen Widerstand gegen KI in der Musikindustrie), äußert sich hingegen das dämonische Prinzip der Moderne, welche das Radio mit der lebendigen Stimme versöhnen wird. Für Benjamin überwindet das Radio diesen »manichäischen« Dualismus von »Schein und Leben«, Technik und Liebe, den Hoffmann verficht.[24] Das Radio ermöglicht eine Chance, die dämonische Moderne mit dämonischen Mitteln zu überwinden.

Jakob Moser ist Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Philosophie der Universität Wien und forscht zur Geschichte und Theorie dämonischer Trugbilder. Im Sommersemester 2024 ist er Gastwissenschaftler am ZfL.

[1] Siehe hierzu den grundlegenden Sammelband: Eva Geulen/Kirk Wetters/Lars Friedrich (Hg.): Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014.

[2] Goethe schreibt in seiner polemisch zugespitzten Übersetzung von Walter Scotts Essay über Hoffmann: »Es ist unmöglich, Märchen dieser Art irgendeiner Kritik zu unterwerfen; […] es sind fieberhafte Träume eines leichtbeweglichen kranken Gehirns.« Zit. nach: Hartmut Steinecke: »Kommentar«, in: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 3, hg. v. dems., Frankfurt a.M. 2009, S. 949.

[3] Vgl. Walter Benjamin: »Das dämonische Berlin«, in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Christoph Göde/Henri Lonitz, Bd. 9.1: Rundfunkarbeiten. Texte, hg. von Thomas Küpper/Anja Nowak, Berlin 2017, S. 206–212, hier S. 206-212.

[4] Dies betont Martina Wagner-Egelhaaf: Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020, S. 170ff.

[5] Vgl. Kirk Wetters: »The Luciferian and the Demonic in Georg Lukácsʼ ›Die Theorie des Romans‹«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 243–266. Siehe auch das Projekt von Patrick Eiden-Offe am ZfL.

[6] Dies verhindert freilich nicht, wie Martina Wagner-Egelhaaf kürzlich in einem Vortrag im Warburg-Haus in Hamburg demonstrierte, dass Dämonen als metaphorische Kräfte in Gegenwartsliteratur und ‑theater Hochkonjunktur haben.

[7] Vgl. Eva Axer: »Alldeutig, mehrdeutig, undeutig. Walter Benjamins ›Bezwingung‹ dämonischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 325–343.

[8] Vgl. Giorgio Agamben: »Walter Benjamin und das Dämonische«, in: ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. von Francesca Raimondi, Frankfurt a.M. 2013, S. 237–273.

[9] So der Philosoph Fritz Mauthner, der über Goethes »Aberglauben« bezüglich des Dämonischen schreibt: »je höher ein Mensch, desto mehr stehe er unter dem Einfluß der Dämonen; Raphael, Mozart, Napoleon, auch Lord Byron, werden dämonisch genannt; das Dämonische werfe sich gern an bedeutende Figuren; in einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren.« Zit. nach Cornelia Zumbusch: »Dämonische Texturen. Der Durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 79–95, hier S. 79.

[10] Vgl. Otto Pniower: »E. T. A. Hoffmanns Berlinische Erzählungen«, in: Archiv der Brandenburgia. Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin 12.II (1907), S. 6–25. Vgl. auch Michael Bienert: E. T. A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze, Berlin 2015.

[11] Vgl. Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 207.

[12] Walter Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza«, in: ders.: Rundfunkarbeiten (Anm. 3), S. 458–467, hier S. 461.

[13] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 208.

[14] Dies argumentiere ich ausführlich in meinem Buch Lesende Dämonen. Schrift als Versuchung, Wien/Berlin 2022.

[15] Zu Brueghels Bild ebd., S. 42–47.

[16] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[17] Zu diesem Begriff siehe z.B. Niklaus Largier: »Rhetorik des Begehrens. Die ›Unterscheidung der Geister‹ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität«, in: Martin Baisch u.a. (Hg.): Inszenierung von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein i. Ts. 2005, S. 249–270.

[18] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[19] Vgl. ebd., S. 210.

[20] Ich übernehme diesen Ausdruck von Helmut Lethen: »Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann«, in: ders.: Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg. i. Br. 2009, S. 9–42.

[21] Zu Benjamins Straßen-Literatur vgl. Gerhard H. Hommer: Attraktionen der Straße. Eine Berliner Literaturgeschichte 19271932, Göttingen 2021.

[22] Dies bemerkt Reinhard Döhl: »Walter Benjamins Rundfunkarbeit«, in: Stuttgarter Schule.

[23] Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza« (Anm. 12), S. 461.

[24] Vgl. ebd., S. 462.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Jakob Moser: »Das Dämonische Berlin«: Walter Benjamin über E. T. A. Hoffmann, in: ZfL Blog, 24.5.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240524-01

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Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: EVALD ILYENKOV AT 100 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/08/isabel-jacobs-martin-kuepper-philosopher-of-the-ideal-evald-ilyenkov-at-100/ Wed, 08 May 2024 07:57:26 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3277 February 18th 2024 marked the centenary of the birth of Evald Ilyenkov (1924–1979) – a brilliant and influential Soviet philosopher whose most important early works remained unpublished during his lifetime (fig. 1). Two days before Ilyenkov’s 100th birthday, Russian opposition leader Alexei Navalny was found dead in a Siberian prison colony; that news overshadowed the Weiterlesen

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Fig. 1: Evald Ilyenkov in the early 1950s. Credits: Elena Illesh

February 18th 2024 marked the centenary of the birth of Evald Ilyenkov (1924–1979) – a brilliant and influential Soviet philosopher whose most important early works remained unpublished during his lifetime (fig. 1). Two days before Ilyenkov’s 100th birthday, Russian opposition leader Alexei Navalny was found dead in a Siberian prison colony; that news overshadowed the little attention given to Ilyenkov’s anniversary in Russia. The manner in which Ilyenkov’s centenary and Navalny’s death were treated reflects memory culture in Putin’s Russia, where the legacies of Soviet Marxism are often suppressed by ultra-nationalist propaganda. Abroad, Ilyenkov’s prestige has seen a remarkable rise in recent years, accompanied by translations and new scholarship in, for example, Sweden, Ukraine, Peru, Turkey, Canada and Cuba.

On his 100th birthday, Ilyenkov continues to shape Marxist philosophy, radical pedagogy and psychology around the world. His philosophical interests included political economy, logic, cybernetics, science fiction, epistemology and aesthetics. His radical fusion of Spinoza, Hegel and Marx transformed Soviet intellectual life from the 1950s to the 1970s. Best known for his analysis of Marx’s dialectical method, he reinvented the study of materialist dialectics in the Soviet Union. The Dialectics of the Abstract and the Concrete in Marx’s Capital (1960) made him famous both at home and abroad. Swiftly translated into Italian, Spanish, German and English, his succinct reading of Marx’s Capital significantly influenced Italian and Latin American leftist thought.

Ilyenkov’s philosophy emphasizes the importance of connecting philosophy, pedagogy and psychology to promote the emancipation of the individual. Various notions, among them the idea of tacit knowledge, are very much indebted to him. His warnings against the dangers posed by quantification measures, artificial intelligence and unrestrained capital accumulation amount to a socialist humanism that has great relevance today.

Born in Smolensk, Ilyenkov grew up in Moscow. His mother was the teacher Yelizaveta Ilyinichna (Ilyenkova), his father the novelist Vasily Ilyenkov (1897–1967). The family lived in a commune house, a progressive form of early Soviet housing popular with the intelligentsia. Shortly before the German invasion of the Soviet Union, Ilyenkov began studying philosophy at the famous Moscow Institute of History, Philosophy and Literature (IFLI). There, his teacher Boris Chernyshev (1896–1944) sparked Ilyenkov’s interest in classical German philosophy. An expert in Greek philosophy, Chernyshev also introduced him to the history and study of dialectics, which he considered essential for forming philosophical arguments.

In Moscow, during the height of Soviet war propaganda against fascism and German culture, Ilyenkov read Hegel and listened to Wagner. In 1942, being drafted into the Red Army, he interrupted his studies. He marched to Berlin as an artillery lieutenant with his camera, and photographs from that time show him posing in uniform. At Dorotheenstadt cemetery, he visited the graves of Hegel and Fichte. Upon his return to the Soviet Union in 1946, he continued his studies at the Faculty of Philosophy in Moscow, graduating with honours in 1950.

Communist Cosmology

The late 1950s saw a renaissance of philosophy in the Soviet Union. Previously banned thinkers and ideas briefly gained popularity. Hegel and the Romantics weere now seen as forerunners of Marxism-Leninism. Ilyenkov organized a private reading group in his apartment to discuss Hegel’s Phenomenology of Spirit, which had just been published in Russian. Still, despite de-Stalinization, he was unable to publish his first philosophical works. In Notes on Wagner (Zametki o Vagnere), published posthumously, Ilyenkov interprets Wagner as a radical socialist and a Romantic counter-figure to Marx, detecting in his music traces of an anti-capitalist cosmology.[1]

Ilyenkov’s most important text, Cosmology of the Spirit (Kosmologiia dukha), also remained unpublished during his life. Drawing on Engels’s Dialectics of Nature, Ilyenkov argues that in communism, the act of thinking materially manifests itself as a cosmic event – a crucial stage in the circular evolution of the solar system which, according to the laws of thermodynamics, can only end in thermal death. To defy the law of entropy in the solar system, he suggested that humanity would commit collective suicide, as “a gesture of self-destruction on the part of communist reason.”[2]

According to Ilyenkov, matter gains consciousness in certain parts of the universe. The “thinking brain appears as one of the necessary links, locking together the universal [vseobshchee] big circle of universal [mirovoi] matter.”[3] Cosmology of the Spirit draws on scientific theories and innovations, such as thermodynamics, the Soviet space program and the construction of the first nuclear power plant near Moscow in 1954. It is a reflection on technology and materialism and was Ilyenkov’s first attempt to develop a theory that can avoid both crude materialism and idealism.

Philosophy as the Science of Thinking

Ilyenkov’s official career had begun in 1953 when he completed his thesis on Marx’s materialist dialectics. He soon became a popular lecturer in philosophy. After Stalin’s death in 1952, philosophy in the Soviet Union shifted towards scientification, circumvening political or ideological questions. In 1954, Ilyenkov and Valentin Korovikov (1924–2010) were commissioned to write a paper on the status of philosophy. They argued that the categories of logic are the forms in which human practice embodies scientific knowledge, and that their historical development belongs to the domain of philosophy. Philosophy is therefore not a meta-science, but, they claimed, rather the science of thinking, analyzing its general laws and historical development. For Ilyenkov and Korovikov, this renewal of philosophy would need to be accompanied by a transformation of the entire system of science. Each scientific discipline would have to develop its subject matter and methodology without the interference of other scientific disciplines. Philosophy’s task would be to generalize and interpret the results of the natural sciences, devoting itself to each science with its own categories and concepts. Their 15 Theses provoked fierce resistance among the philosophical establishment. After a general meeting at the Faculty of Philosophy of Moscow’s State University in the spring of 1955, during which Ilyenkov and Korovikov clashed with members of the conservative establishment, a decision was taken to ban both scholars from teaching. While Korovikov left academia and became a successful journalist for Pravda in Africa, Ilyenkov took up a position at the Philosophical Institute of the Academy of Sciences. There he was supported by Bonifaty Kedrov (1903–1985), who had been one of the founders and the first editor-in-chief of Voprosy Filosofii [Problems of Philosophy], the leading philosophy journal in the Soviet Union.

The Ideal in Dialectical Materialism

Having posited philosophy as the science of thinking, Ilyenkov sought to further develop Marxist epistemology. Of course, the very notion of thinking poses a challenge for every materialism, including dialectical materialism. It asks whether thought is just a function of the material brain best explained by physiology. Popular theories by the physician and physiologist Ivan Pavlov (1849–1936) led many philosophers to believe that physiology would provide all the answers. Ilyenkov strongly opposed the view that thinking could be reduced to a measurable product of the brain. Instead, he insisted that only philosophy would be up to the task of understanding what thought and thinking are. He therefore introduced the concept of “the ideal” into Soviet Marxist philosophy, arguing that philosophy should attempt to explain in on a material basis. The ideal is the idea that the foundation of thinking should be sought in the historical development and social practices of humans, rather than in their biological makeup. In 1962, in an important article in the Soviet Encyclopedia of Philosophy, Ilyenkov explained his position:

“The ideal is not an individual-psychological, even less a physiological fact, but a social-historical fact […] realized in the manifold forms of social consciousness and the will of the human being as a subject of the social production of material and spiritual life.”[4]

For Ilyenkov, the ideal encompasses feeling, thinking and the psyche, but also culture and theory. According to him, all these phenomena possess a special kind of objectivity, distinct from that of physical-material matter. The ideal, he suggests, exists independently of any particular individual human being. However, it depends on humanity’s material reproduction processes. The ideal is essentially the social interactivity of all people. It assumes form as a relationship between material things, processes and events, whereby an object remains what it is while simultaneously representing another object, just as a coin remains a coin but at the same time functions as a means of payment in society, thus representing a social relationship.

Ilyenkov opposed attempts to limit the ideal to the psyche or to locate it within the brain. He defends this view in the sci-fi parable On Idols and Ideals (1968), an intense critique of cybernetics, automation and artificial intelligence. From the mid-1950s onwards, cybernetics had been discussed in the Soviet Union as a potential break-through in overcoming economic and social stagnation. Ilyenkov was sceptical of such visions of “machine communism” and insisted that human thinking possessed unique strengths.

According to Ilyenkov, a conscious human being is not a thinking machine. He or she is an embodied, social being with different organs of thinking: brain, hands, and eyes. What distinguishes a human being from a machine is its ability to deal with contradictions and to comprehend alterity. Whereas a machine can only process information according to its own logic “through rubber-stamped actions encoded into the hand or mind,”[5] humans have the ability to interact with many things that are not themselves. To create artificial intelligence, Ilyenkov argues, it is not enough to create a “model brain.” The brain on its own is as incapable of thinking as legs removed from the body are of walking. Organs can only work when connected to what Ilyenkov, with reference to Spinoza, calls a “thinking body.” This body is not necessarily an individual’s body, but rather the totality of social activity.

The Zagorsk Experiment

The idea that the foundation of thinking should be sought in the historical development and social practices of humans, rather than in their biological makeup, is referred to as the “ideal.” The concept of the ideal can be explained with reference to the sensory activity of “thinking bodies” in space and in their interactions with others. This position was not a central belief to Soviet Marxism because it defied experimental verification, but Ilyenkov found like-minded thinkers within cultural-historical psychology, such as Alexander Luria (1902–1977) and Alexei Leontiev (1903–1979), who also wanted to break the dominance of physiology in this matter. His closest ally at the time was the psychologist Alexander Meshcheriakov (1923–1974), temporarily a colleague of Luria, who headed the laboratory for deaf-blind education at the Institute of Defectology in Moscow. Later on, Mescheriakov headed a school for blind and deaf children that was located in Zagorsk (today Sergiyev Posad) in the suburbs of Moscow. Known as the “Zagorsk Experiment,” the innovative education of deaf-blind people under his aegis made history. After Meshcheriakov’s death in 1974, Ilyenkov continued his work until his suicide in 1979 (fig. 2).

Fig. 2: Ilyenkov and his deaf-blind student Alexander Suvorov, early 1970s. Credits: Elena Illesh

While Meshcheriakov primarily tried to clarify what distinguished deaf-blind people from those who can see and hear, Ilyenkov was more interested in exploring where the human mind begins and how it works. With his work, he challenged Western Enlightenment’s idea that the mind forms a self-contained, interior world accessible only through language. Meshcheriakov and Ilyenkov’s work with deaf-blind children suggested that learning to speak through tactile sign language is a social, embodied process that cannot be reduced to an individual’s acquisition of language. The development of the mind begins when a child engages in an elementary activity, such as initiating a coordinated movement in space. If the child is deaf-blind from birth, and if unassisted, they cannot satisfy its need to eat. Through interactions with parents or teacher, a child learns the actions they require to satisfy their basic needs. In the case of learning to use a spoon a child has to adapt their hand movements to the shape of the spoon and learn the necessary physical motions. Initially, they resist this motion because they do not know that a spoon can be used to eat soup. Only with practice is a mark left on the child’s thinking body. Ilyenkov drew a provocative conclusion from his work in Zagorsk. All expressions of the human mind are socially determined:

“The whole of the human mind (all 100 percent of it and not 80 percent or even 99 percent) emerges and develops as a function of the work of the hand in an external space filled with such objects as a spoon, a potty, a towel, a pair of pants, socks, tables and chairs, boots, stairs, windowpanes, and so on. The brain is merely the natural material that turns into an organ of specifically human life activity and the mind only as a result of the actively formative influence of active work by external organs of the body in an external space filled not with natural but with artificially created things.”[6]

Some of Ilyenkov’s pupils at Zargosk went on to graduate from the Faculty of Psychology at Moscow University, such as Alexander Suvorov, who earned a doctorate in psychology. Could it be said that such success stories proved correct the ideas of Ilyenkov and his colleagues? His critics thought not, and the Zagorsk Experiment was heavily criticized from the start. It was argued that being deaf-blind automatically limits a child’s development. By contrast, Ilyenkov’s inclusive, anti-ableist vision for the human being pointed to what was achievable in a socialist society.

On his 100th anniversary, Ilyenkov may teach us that philosophy, psychology and pedagogy are not three different disciplines but one science dedicated to the same ideal: the development of human personalities, in harmony with their environment and with each other.

 

Isabel Jacobs is a PhD student in Comparative Literature at Queen Mary University of London, Martin Küpper is a PhD student at Kiel University and doctorand at the project “Philosophy in Late Socialist Europe: Theoretical Practices in the Face of Polycrisis” at Babeș-Bolyai University. Together with Zaal Andronikashvili and Matthias Schwartz (both ZfL), they organize the International Conference Images of the Ideal. Evald Ilyenkov at 100, taking place at the ZfL from the 15th to the 17th of May 2024.

 

[1] Evald Ilyenkov: “Notes on Wagner,” translated by Isabel Jacobs, in: Studies in East European Thought (2024).

[2] Alexei Penzin: “Contingency and Necessity in Evald Ilyenkov’s Communist Cosmology,” in: e-flux Journal 88 (February 2018).

[3] Evald Ilyenkov: “Cosmology of the Spirit,” in: Stasis 5.2 (2017), 164–190.

[4] Evald Ilyenkov: “Ideal’noe” [1962], translated by Isabel Jacobs, in: Kul’turno-istoricheskaia Psikhologia 2 (2006), 18.

[5] Ibid.

[6] Evald Ilyenkov: “A Contribution to a Conversation About Meshcheriakov” (1975), in: Journal of Russian and East European Psychology 45.4 (2007), 85–94, p. 93.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: Evald Ilyenkov at 100, in: ZfL Blog, 8.5.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/08/isabel-jacobs-martin-kuepper-philosopher-of-the-ideal-evald-ilyenkov-at-100/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240508-01

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Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/04/17/falko-schmieder-soziodizee-des-kapitalismus/ Wed, 17 Apr 2024 08:12:09 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3262 In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Glossare zu Leitvokabeln der Gegenwart entstanden, auffällig oft konzipiert von Soziolog*innen. Mit diesem flexiblen Genre lässt sich auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, die auch in der Sprache ihren Niederschlag finden. Die Transformationen der Semantik indizieren tiefgreifende Wandlungen kollektiver Wahrnehmungsweisen, Erwartungshaltungen sowie Zeitvorstellungen; ihre Analyse dient so einer historischen Weiterlesen

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In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Glossare zu Leitvokabeln der Gegenwart entstanden, auffällig oft konzipiert von Soziolog*innen. Mit diesem flexiblen Genre lässt sich auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, die auch in der Sprache ihren Niederschlag finden. Die Transformationen der Semantik indizieren tiefgreifende Wandlungen kollektiver Wahrnehmungsweisen, Erwartungshaltungen sowie Zeitvorstellungen; ihre Analyse dient so einer historischen Selbstaufklärung der Gegenwart, die sich mit wachsender Geschwindigkeit selbst überholt und ins Präzedenzlose vorstößt. Armin Nassehis Buch zu gesellschaftlichen Grundbegriffen setzt diese Reihe soziologischer Standortbestimmungen im Medium der Sprachreflexion fort (Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede, München: Beck 2023).

In seiner Einleitung nimmt der Münchner Soziologe Bezug auf die großen, bereits in den 1960er Jahren konzipierten begriffsgeschichtlichen Lexika, die Geschichtlichen Grundbegriffe und das Historische Wörterbuch der Philosophie, die er als Dokumente »einer historischen Situation« versteht, »in der womöglich zum letzten Mal eine kanonisierbare Bestandsaufnahme gemacht werden konnte« (15). Die Gegenwart sieht er im Unterschied dazu durch eine wachsende Beliebigkeit und »geradezu programmatische Fluidität und Freihändigkeit« (ebd.) charakterisiert, der er mit seinem Buch entgegenwirken möchte. Zu diesem Zweck nimmt er sich in eigenständigen Essays insgesamt 19 Begriffe vor, die in der öffentlichen Kommunikation den Status von Grundbegriffen erlangt haben: Demokratie, Freiheit, Fremdheit/der Fremde, Gesellschaft, Gleichheit/Ungleichheit, Handeln, Identität, Kommunikation, Konflikt, Krise, Kritik, Kultur, Lebenswelt, Macht, Natur, Öffentlichkeit, Populismus, Technik, Wissen. Seine soziologische Begriffsarbeit verfolgt das Ziel, die gesellschaftlichen Debatten über sich selbst aufzuklären und auf ein höheres Niveau zu heben. Diesem Anspruch liegt die These zugrunde, dass die gesellschaftlichen Grundbegriffe theoriehaltig und die öffentlichen Debatten, in denen sie Verwendung finden, daher theoriebedürftig sind. Theoriehaltig sind die Begriffe, weil sie Nassehi zufolge ihren Ursprung in der Soziologie haben und von hier in allgemeinere Diskurse eingewandert sind. Im Zuge dieser Diffusion seien die theoretischen Gehalte sukzessive in die Latenz abgedrängt worden oder ganz in Vergessenheit geraten.

Mittels einer soziologischen »Rückholaktion« (9), die er zugleich als »Wiedereinführung von Selbsteinschränkungen« (15) oder auch als »begriffshygienische Maßnahme« (22) versteht, möchte Nassehi nun prüfen, ob die Begriffe noch angemessen funktionieren, bzw. sie durch eine Neubestimmung ihres jeweiligen theoretischen Gehalts schärfen. In einiger Spannung zu diesem normativen Anliegen steht Nassehis Behauptung, es solle keineswegs darum gehen, »irgendjemanden auf einen richtigen oder legitimen Begriffsgebrauch festzulegen« (9). Vielmehr gehe es um eine funktionalistische Analyse, die danach fragt, welche Funktion der jeweilige Begriff im öffentlichen Gebrauch hat, für welches Problem er die Lösung ist und worin sich das wissenschaftliche vom außerwissenschaftlichen Bezugsproblem der Begriffe unterscheidet.

Aus der Perspektive der historischen Semantik erscheinen einige Grundannahmen aus der Einleitung Nassehis problematisch. Zum einen ist es erstaunlich, dass Nassehi den Ursprung der von ihm behandelten Begriffe in der Soziologie verortet. Denn etliche von ihnen haben ihre Wurzeln bereits in der Antike, während die Soziologie doch, wie er selbst zeigt, erst um die Wende zum 20. Jahrhundert als eigenständige akademische Disziplin entstanden ist. Statt von einer »Rückholaktion« der Begriffe zu sprechen, wäre es demnach wohl angemessener, nach den spezifischen soziologischen Perspektivierungen in der Geschichte der Begriffe und nach ihrer Relevanz für die Orientierungsversuche in der Gegenwart zu fragen. Damit verbunden erscheint es nicht unproblematisch, den wissenschaftlichen (soziologischen) Sprachgebrauch derart strikt vom öffentlichen Sprachgebrauch abzusetzen. Diese Entgegensetzung ist auch insofern unplausibel, als Nassehi selbst nicht die Perspektive der Soziologie im Allgemeinen, sondern mit der Systemtheorie einen Ansatz unter vielen anderen vertritt. Nassehi versteht dann auch sein Buch »als eine (Selbst-)Kritik der Soziologie« (17), als Einsatz, »der einen Unterschied machen« soll, der sich »aus einer bestimmten Art des soziologischen Argumentierens« (18, Hervorhebungen im Original) ergibt – des systemtheoretischen nämlich. Gerade hier, in der kritischen Auseinandersetzung mit konkurrierenden soziologischen Deutungen, besteht ein großer Reiz von Nassehis begrifflicher Aufklärungsarbeit.

Jeder Begriffsessay folgt demselben Schema und ist an der Leitfrage orientiert, für welches Problem der jeweilige Begriff die Lösung ist. Wenn das Buch im Untertitel als Glossar der öffentlichen Rede vorgestellt wird, dann ist das missverständlich, denn Nassehi ist nicht am Facettenreichtum und den verschiedenen, je nach Sprechergruppen differierenden Bedeutungen, sondern eher an allgemeineren Argumentationsfiguren interessiert, ohne dass allerdings klar wird, für wen diese Argumentationen charakteristisch sein sollen. Idiosynkratisch erscheinen auch die Rückgriffe auf soziologische Theorietraditionen. Eine durchgehende Konstante ist der Rekurs auf eigene Arbeiten, deren Befunde zuweilen als Versatzstücke übernommen werden. Der organisierende Zentralbegriff Nassehis, von dem her Licht auf viele andere Begriffsanalysen fällt, ist der der Gesellschaft, dem ein eigener Essay gewidmet ist. Nassehi macht vielen soziologischen Ansätzen, etwa dem Konstruktivismus oder der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours, den Vorwurf, keinen Sinn für die Form des Gesellschaftlichen zu haben (vgl. 287). In der öffentlichen Debatte setze sich dieses Defizit fort. Einen Tiefpunkt, der Nassehi schaudern lässt, markiert die Wendung »Wir als Gesellschaft«, die immer dann strapaziert wird, wenn ein großer Problemdruck konstatiert und ein entsprechender Veränderungsbedarf angemahnt wird (vgl. 94). An dieser Wendung deutet sich bereits an, zur Bewältigung welches Problems der Gesellschaftsbegriff verwendet wird – nämlich des Problems, einem abstrakten, in verschiedene autonome Teilsysteme mit jeweils eigener Logik ausdifferenzierten System eine Adresse zu geben, die es erlaubt, strukturelle Probleme zurechenbar zu machen:

»Gesellschaft dient zumeist als Imaginationsbegriff für eine soziale Einheit, der begrifflich mehr Einheit unterstellt wird, als tatsächlich vorzufinden ist.« (71)

Mit dieser Lösung, die eine Scheinlösung sei, werde verdeckt, dass es in der Gesellschaft kein Zentrum gibt und dass auf allgemeine Probleme keine Antwort aus einem Guss möglich ist. Hier wie auch in etlichen anderen Begriffsessays führt Nassehi das Beispiel des Klimawandels an, der zwar als allgemeine Bedrohung der Überlebensbedingungen erscheint, aber dennoch nicht zentral und nach Maßgabe der besten wissenschaftlichen Einsichten angegangen werden kann, weil es eben kein einheitliches, mit sich identisches Handlungssubjekt gibt. Die Reduktion der Gesellschaft auf ein kollektives Wir muss somit ein ums andere Mal die von der Systemtheorie exponierte Komplexität der Gesellschaft verfehlen und bleibt so im Wiederholungszwang von Forderungen fixiert, die sich nicht einlösen lassen.

Der Vorwurf der Komplexitätsreduktion zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch. In der Analyse des Begriffs Handeln wird als ein zentrales Problem herausgestellt, dass das Handeln von vorgelagerten Bedingungen abhängig ist, die durch den Handlungsakt selber nicht kontrolliert oder bestimmt werden können – ebenso wenig wie die Konsequenzen, die sich aus den Handlungen ergeben. Gerade die für aktivistische Bewegungen charakteristische emphatische Beschwörung, endlich ins (transformative) Handeln zu kommen, täuscht für Nassehi über die Bedingtheit und die begrenzte Reichweite des Handelns hinweg. Im Pathos des Handelns sieht Nassehi eine Soziodizee par excellence. Er versteht darunter kognitive Formen,

»die dabei helfen, die Komplexität der Welt bzw. der Gesellschaft durch semantische Anker und Signale gewissermaßen unsichtbar zu machen. Solche begrifflichen Soziodizeen verdecken die Komplexität ihres Bezugsproblems und erzeugen […] illusorische Vorstellungen darüber, wie die Dinge funktionieren.« (139)

Ähnlich gelagert ist die Argumentation im Essay zum Begriff Konflikt. Der Konfliktbegriff hat für Nassehi in den öffentlichen Debatten die Funktion, in komplexen Verhältnissen durch die Konzentration auf eine Konfliktlinie oder einen binären Grundkonflikt eine Eindeutigkeit zu generieren und damit die wahren, vielfach überdeterminierten Konfliktverhältnisse zu simplifizieren. Auch der Einsatz des Begriffs Öffentlichkeit evoziere mehr Einheit, als empirisch nachvollziehbar sei. Seine performative Funktion sieht Nassehi darin, die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft kommunikativ adressierbar zu machen und eine Sphäre zu simulieren, in der sich die Gesellschaft über sich selbst verständigen kann (vgl. 310). In Bezug auf seinen eigenen Ansatz muss sich Nassehi allerdings fragen lassen, ob er in seiner Gegenüberstellung von soziologischem und öffentlichem Diskurs nicht selber eine krasse Simplifizierung vornimmt, wenn er die öffentlichen Diskurse auf zentrale Argumentationsstränge reduziert und die Vielstimmigkeit der Semantiken in den diversen Begriffsstreitigkeiten einebnet.

Die Spezifik des kritischen Einsatzes Nassehis tritt vielleicht am deutlichsten in seinem Essay zum Begriff der Kritik selbst hervor. Als eine Art argumentativer Leitfaden dient hier Reinhart Kosellecks Dissertationsschrift Kritik und Krise, an der Nassehi vor allem die Diagnose der fortschreitenden Abstraktion von den konkreten Anlässen und Verhältnissen und der daraus resultierenden Verselbständigung der Kritik hervorhebt, ohne jedoch ein Wort über die verschwörungsmythischen und aufklärungsfeindlichen Dimensionen dieser Arbeit zu verlieren. Wenn Nassehi zustimmend Wendungen Kosellecks zitiert wie diejenige von der sich selbst Absolution erteilenden Kritik, die »alles und jedes in den Strudel der Öffentlichkeit« ziehe mit der Konsequenz, dass die Kritik zu einer »geheimnisvollen Herrschaft« anwachse, »die alle Lebensäußerungen verfremdet« (214), dann schreibt er diesen Verschwörungsmythos fort. Kosellecks Ausführungen dienen Nassehi als Blaupause für seine eigene Kritik an kapitalismuskritischen Protestbewegungen, denen er die Abstraktifizierung der Kritik zum Vorwurf macht. Der kritische Habitus habe sich hier verselbständigt und gerate zur selbstgefälligen Pose, bei der Kritik sich gegen alles richte und dabei jeden Bezug verliere. Die Protestierenden könnten sich darin umso bequemer einrichten, als sie keine Probleme lösen müssten. Sachlich begründet Nassehi die Verselbständigung der Kritik mit dem Umstand, dass die aufs Ganze des Kapitalismus zielende Kritik keinen Angriffspunkt findet. Dies ergebe sich zwangsläufig, da der Kapitalismus, den er als »Chiffre für die Struktur der modernen Gesellschaft« oder als »Platzhalter für das Unbehagen an der Unübersichtlichkeit der Moderne« (220) versteht, kein Gegenstand für emanzipatorisches Handeln sein kann.

Kritik, so Nassehi, müsse konstruktiv sein und brauche stets eine konkrete Adresse, sonst laufe sie ins Leere. Der frei flottierenden Kritik, die sich von konkreten Gegenständen ablöse, hält Nassehi die im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft breit ausdifferenzierten institutionalisierten Formen der Kritik und des Widerspruchs entgegen, die etwa in politischen und rechtlichen Verfahren, in der Bildung, in der Kultur und Kulturkritik etabliert sind und die sich um die Bewältigung konkreter Probleme bemühen. Nassehi weist aber auch darauf hin, dass die Protestbewegungen ihre radikalisierte Kritik nicht zuletzt damit begründen, dass die institutionalisierten Formen der Kritik angesichts der immer drängender werdenden Probleme versagen (vgl. 217). Der Konflikt, der sich hier abzeichnet, ist ein politischer und kann auf dem Papier nicht gelöst werden. Mit Bezug auf die Klimakrise als wohl größte Herausforderung räumt Nassehi ein, dass es gerade die Erfolge der Moderne sind, die zur Gefährdung der Überlebensbedingungen geführt haben:

»Daraus aber abzuleiten, dass es sich um geradezu notwendige Entwicklungen handelt, wäre insofern naiv, als es die Möglichkeit von Selbstkorrekturen ausschlösse. Die Entwicklung des Kapitalismus ist jedenfalls eindeutig ein Gegenbeispiel, weil er eben stets und immer wieder zu Selbstanpassungen in der Lage war, und für die ökologische Krise sollten wir dies zumindest hoffen.« (194)

Mit Blick auf die ungebrochenen Trends der Großen Beschleunigung erscheint Nassehis Position allerdings reichlich naiv. Sie lädt dazu ein, seinen Kampfbegriff der Soziodizee auf seinen Ansatz selbst anzuwenden, als semantische Form der Naturalisierung und Sakralisierung der Gesellschaft. Eine sachliche Ursache liegt paradoxerweise in Nassehis Gesellschaftsbegriff, dessen Unzulänglichkeit schon darin zum Ausdruck kommt, dass er ›Kapitalismus‹ lediglich als Chiffre statt als adäquaten wissenschaftlichen Begriff ansehen kann, der die spezifische Form der modernen Gesellschaft erfasst. Ein Grundcharakteristikum dieser Gesellschaft ist der mit dem Profitmotiv verbundene permanente Wachstumszwang. In den 1970er Jahren erschien es den Kritikern der politischen Ökologie noch als Binsenweisheit, dass auf endlicher Grundlage kein unendliches Wachstum möglich ist. Es wurde ein notwendiger Zusammenhang zwischen kapitalistischem Wachstum und Naturzerstörung konstatiert. Hans Magnus Enzensberger, der Begründer des Kursbuchs, dessen heutiger Herausgeber Nassehi ist, war nur einer unter vielen, die daraus das existenzielle Erfordernis der Überschreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise abgeleitet haben. Selbst Niklas Luhmann hatte in den 1980er Jahren die Möglichkeit erwogen, dass das System so auf seine Umwelt einwirkt, dass es später in dieser Umwelt nicht mehr existieren kann. Nassehi hält unter deutlich verschärften Gefährdungsbedingungen an der Illusion einer ökologischen Selbstkorrektur der Gesellschaft fest. Von vielen Aktivist*innen der Protestbewegungen wird diese Illusion eines grünen Kapitalismus nicht mehr geteilt. Nicht wenige scheinen resigniert und den Glauben an eine Veränderung der Gesellschaft verloren zu haben. In diesem Sinne lässt sich vielleicht auch die allgemeinere Wende zur Identitätspolitik und die Konzentration auf Identitätsfragen deuten, die Nassehi einmal mehr als Kompensation für die »Nicht-Erreichbarkeit« von strukturellen gesellschaftlichen Problemen ansieht (vgl. 157).

Falko Schmieder leitet am ZfL das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Falko Schmieder: Soziodizee des Kapitalismus, in: ZfL Blog, 17.4.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/04/17/falko-schmieder-soziodizee-des-kapitalismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240417-01

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Sebastian Truskolaski: AKTIVISMUS, OFFENSIV UND POLEMISCH: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/ Thu, 07 Mar 2024 09:19:22 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3249 Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch Weiterlesen

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Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch gestaltenden vita activa. Zur Veranschaulichung nennt sie eine »Kontroverse zwischen Herbert Marcuse und Jürgen Habermas aus den späten 1960er Jahren«, in der Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Praxis verhandelt wurden. In der Folge wird die Frage aufgeworfen, ob denn die Polarität von »›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement« unter heutigen Bedingungen so noch bestehe oder ob wir es nicht eher »mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus ›von oben‹ und ›von unten‹ zu tun« haben.

Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. So könnte man auch fragen, was denn die erwähnte Konvergenz für die vielleicht bekannteste Formulierung des Spannungsverhältnisses von Aktivismus und Wissenschaft bedeutet, nämlich für die Marx’sche Forderung, die Philosophie (und damit stellvertretend die Geisteswissenschaft) habe die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern.[1] Jedenfalls hätte der berühmte letzte Abschnitt aus den Thesen über Feuerbach im gegenwärtigen universitären Rahmen eine ganz andere Resonanz als noch bei Habermas und Marcuse. Die Konvergenz von Aktivismen von oben und unten müsste dann auch heißen: die Aufhebung eines kritisch-transformativen Imperativs. Im Zeitalter des Impact-Faktors wäre Wissenschaft dann nicht mehr kritisches Medium transformativer Praxis, sondern nur noch affirmativer Leistungsträger; und Aktivismus wäre kein direkter Eingriff mehr in bestehende Ungerechtigkeiten, sondern ein Aspekt korrekter Abrechnungsmethodik. Aus Negation müsste sich folglich Affirmation ergeben (Adorno ahnte dies schon früh); das kritisch-polemische Moment des Aktivismus »von unten« ginge verloren.

Nun lässt sich gewiss nicht leugnen, dass den Aktionen von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion Polemik innewohnt (ikonoklastische Angriffe auf bekannte Kulturgüter oder die Stillstellung großstädtischen Pendlerverkehrs seien hier angeführt). Obwohl sie von wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgehen (zum Beispiel den Berechnungen der katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung), stehen diese Gruppen – wohl auch aus strategischem Kalkül – in keinem klaren Verhältnis zu dem, was gemeinhin Wissenschaft genannt wird. So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert?

***

Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt.[2] Die Rede ist vom sogenannten »literarischen Aktivismus«,[3] auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom »Umfeld des Expressionismus« spricht, in dem der »Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste«. Was hat es hiermit auf sich?

Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) – deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist – diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 »Literarischer Aktivismus« als Name der von ihm gegründeten, »ethisch-politischen« Bewegung beschlossen worden sein.[4] Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist, in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt (der Untertitel änderte sich im Laufe der Jahre mehrmals, etwa 1919–20, als die Zeitschrift in Das Ziel: Jahrbücher für geistige Politik umbenannt wurde). 1924 wurde sie jedenfalls endgültig von der Zensur verboten. In der Zwischenzeit trat Hiller unter anderem zusammen mit Magnus Hirschfeld aktiv für Schwulenrechte ein und agitierte als Teil des »Rates geistiger Arbeiter« im Kontext der Münchener Räterepublik gegen den Kapitalismus; bis zu seinem Tod im Jahre 1972 mischte er die publizistische Landschaft Deutschlands weiter auf.[5]

Mit seiner Zeitschrift aber ging es dem jungen Hiller vornehmlich um eins: um die Literatur als politisches Werkzeug im Dienste radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Schon aus diesem Grund empfiehlt sich für die Literaturwissenschaft die Auseinandersetzung mit seinen Positionen. In seinem die erste Ausgabe beschließenden Beitrag Philosophie des Ziels[6] schreibt Hiller im charakteristisch hochtrabendem Duktus des abtrünnigen Expressionisten (der stets angriffslustige Hiller zerstritt sich alsbald mit vielen expressionistischen Wegbegleitern): »Ziel« sei »die Weltverbesserung« (34), die von der Ablehnung des Weltkriegs und des Zustands allgemeiner geistiger Verkümmerung auszugehen habe (41). Dieses Ziel sei durch »Erziehung […] der Jugend, des Volkes« zur »Aktivität« zu erreichen (35), vor allem durch die Herausbildung eines »tätige[n] Geistes« (42), welcher wiederum an anderer Stelle mit »Verantwortung« (38) gleichgesetzt wird. Voraussetzung derartiger Tätigkeit sei eine spezifische Gemeinschaftsform, zu deren Formierung Hiller explizit aufruft: ein »Bund« der Geistigen (42), der »in lauter kleine Einzelbünde« (50) zu unterteilen wäre. Nicht umsonst spricht Hiller anderenorts von seiner »Reverenz« für den für seine Generation wohl bedeutendsten politisch-literarischen Aktivisten, Gustav Landauer, trotz aller Abneigung gegenüber dessen Anarchismus.[7] Das Modell des Bundes – das Wort lässt Freiwilligkeit und Konkordanz vermuten – versteht der Marx-Kritiker Hiller allerdings gar nicht demokratisch, sondern ausgesprochen elitär. So schreibt er etwa: »Es bleibt ein Irrtum, die Pyramide der menschlichen Gesellschaft […] von der Basis her bearbeiten zu wollen«, wo doch die »kräftigere Methode« die »von oben« sei (44). Hiller beruft sich auf eine prophetische Form von Führerschaft, eine quasiplatonische »Monarchie – des Besten« (53), in der vor allem »der Literat von morgen« zum »große[n] Verantwortliche[n]« stilisiert wird, dessen »Intellekt […] die Tat nicht mehr hemmt« (48).

Obschon die Platon-Analogie spätestens mit dem Auftritt des Literaten endet, nimmt Hiller hier sein späteres Lob dessen, was er Logokratie nennt, vorweg. Das brachte ihm schließlich die durchaus berechtigte Kritik seines ehemals ebenso jugendbewegten Zeitgenossen Walter Benjamin ein.[8] Es folgen in der Philosophie des Ziels einige aktivistische Gedanken zur Rolle der Wissenschaft und zum Begriffspaar »Geist und Praxis« (46). So sei die Wissenschaft im Zuge der modernen Arbeitsteilung »zerfallen in nützliche […] und überflüssige« Wissenschaft, wobei angeblich nur letztere in irgendeiner residualen Verbindung zum Geist zu stehen vermag. An die Stelle der arbeitsteiligen Pseudowissenschaft müsse laut Hiller eine andere treten, nämlich eine aktivistische, die den historisch gewachsenen Gegensatz von Geist und Praxis aufzuheben verstünde. So behauptet er apodiktisch: »Geist und Praxis – das war ehemals eine Antithese; heute bezeichnen diese Worte korrelative Abhängigkeit« (47), wenn auch nur im Horizont des Ziels: »Der Geist setzt die Ziele, die Praxis verwirklicht sie« (47) – man müsse nur wollen. Ob dies wirklich so einfach geht, darf man bezweifeln. Die eigentlichen Ziele des Ziels folgen am Ende des Textes. Unter anderem beinhalten sie die »Abschaffung der Todesstrafe« und des »Krieges«, die »Umgestaltung der höheren Erziehung«, die »Gewährung eines Existenzminimums«, und eben die »Einführung der Monarchie – des Besten« (51–53). Manchem davon kann man vielleicht heute noch etwas abgewinnen; anderen Forderungen bestimmt nicht, wie etwa jener nach »Rationalisierung der Kindererzeugung nach eugenischen Gesichtspunkten« (53), die Hillers elitären Bund-Gedanken zur Gänze disqualifiziert.

***

Wozu nun dieser historische Exkurs, wo doch Hillers Programm eines literarischen Aktivismus unter heutigen Gesichtspunkten – sachte formuliert – problematisch erscheinen muss (das war es wohl schon immer)?

Einen Grund liefert eine Randbemerkung Hillers, in der es um die Charakterisierung des von ihm geforderten aktivistischen Bundes als »offensiv« geht. Dieser Bund zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich polemisch von dem absetzt, was er seinem Selbstverständnis nach nicht zu sein hat. So teilt Hiller zum Beispiel in dem »Durchstoß zum Aktivismus« betitelten Abschnitt seiner Autobiographie aufs Schärfste gegen Hegel aus, der als ein »zum Riesen aufgeblasener Denkknirps und Pfuscher« verunglimpft wird; »wann«, wird hier etwa gefragt, »steigt aus dem Wellenschaum« des überflüssigen Hegel-Erbes endlich »die Aphrodite einer Doktorarbeit, die Opus für Opus […] das Fäkalische der Hegelprodukte nachweist?«[9] Derartige Stellen gibt es bei Hiller viele. Offensiver, polemischer, zugespitzter geht es kaum.

Nun berufen sich die prominenten Aktivismen von heute wohl aus guten Gründen nicht auf Hiller (ohnehin kann man das Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus schwerlich mit Verweis auf Genealogien dieser Art bestimmen). Gleichwohl ist das marginale historische Interesse der Literaturwissenschaft an Hillers Person doch auch dies: wissenschaftlich; und als wissenschaftliches – zumal als literaturwissenschaftliches – darf es vielleicht den bescheidenen Anspruch erheben, Hillers Aktivismus doch zumindest diesen polemischen (sprich: offensiven) Zug abzugewinnen, just jenen also, der im heutigen, zum Affirmativen tendierenden Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus allzu oft fehlt.

Der Komparatist Sebastian Truskolaski ist Lecturer (Assistant Professor) in German Cultural Studies an der University of Manchester; am ZfL bearbeitet er als Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung sein Projekt »Gesten von Gemeinschaft: Hölderlin bei Benjamin, Landauer und Rosenzweig«.

[1] Vgl. Karl Marx: »Ad Feuerbach«, in: Karl Marx / Friedrich Engels Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1998, S. 21.

[2] Vgl. Matthias Heine: »Aktivisten aller Länder, vereinigt euch!«, in: Die Welt, 26.2.2014.

[3] Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, Frankfurt am Main 1981.

[4] Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Hamburg 1969, S. 98. Vgl. Daniel Münzer: Kurt Hiller: Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015.

[5] Vgl. Wolfgang Rothe: »Einleitung«, in: Der Aktivismus, 1915–1920, hg. von Wolfgang Rothe, München 1969, S. 7–21.

[6] Kurt Hiller: »Philosophie des Ziels«, in: Der Aktivismus, 1915–1920 (Anm. 5), S. 29–54. Alle Nachweise erfolgen direkt im Text.

[7] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 138.

[8] Vgl. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 179. Vgl. auch Lisa Marie-Anderson: »Translator’s Preface: Kurt Hiller, Anti-Cain: A Postscript to Rudolf Leonhard’s Our Final Battle Against Weapons«, in: Walter Benjamin: Toward the Critique of Violence: A Critical Edition, hg. von Peter Fenves und Julia Ng, Stanford 2021, S. 179–185.

[9] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 99–100.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sebastian Truskolaski: Aktivismus, offensiv und polemisch: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs, in: ZfL Blog, 7.3.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240307-01

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Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: DER POLITISCHE GEBRAUCH UND NUTZEN VON LITERATUR https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/21/benjamin-kohlmann-ivana-perica-der-politische-gebrauch-und-nutzen-von-literatur/ Wed, 21 Feb 2024 09:52:31 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3194 »Erst der neue Zweck macht die neue Kunst«, erklärte Bertolt Brecht in seinem kurzen Essay Über Stoffe und Formen von 1929.[1] Formuliert als Begründung für die Entwicklung seiner Lehrstücke um 1930, liefert Brechts Äußerung einen Zugang zu den Debatten über den politischen Nutzen von Literatur nicht nur in der Zwischenkriegszeit, sondern auch in unserer Gegenwart. Weiterlesen

Der Beitrag Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: DER POLITISCHE GEBRAUCH UND NUTZEN VON LITERATUR erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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»Erst der neue Zweck macht die neue Kunst«, erklärte Bertolt Brecht in seinem kurzen Essay Über Stoffe und Formen von 1929.[1] Formuliert als Begründung für die Entwicklung seiner Lehrstücke um 1930, liefert Brechts Äußerung einen Zugang zu den Debatten über den politischen Nutzen von Literatur nicht nur in der Zwischenkriegszeit, sondern auch in unserer Gegenwart. Obwohl die Äußerung den Anschein eines unerschütterlichen künstlerischen Dogmas hat, verbleibt sie in einer ambivalenten Schwebe zwischen zwei scheinbar konträren Positionen in Bezug auf die eigentlichen Verpflichtungen engagierter Kunst. Einerseits scheint Brechts Satz auf dem absoluten Vorrang des politischen Engagements vor ästhetischen Belangen zu bestehen, indem er suggeriert, dass die inneren Funktionsweisen der Literatur notwendigerweise einem äußeren (d.h. politischen oder gesellschaftlichen) Zweck untergeordnet sind; andererseits behauptet er, dass Politik für den Künstler nur insofern von Wert ist, als sie eine radikale Umgestaltung der Muster und Formen der Kunst ermöglicht. Anders ausgedrückt: Künstlerische Innovationen scheinen ohne eine vorherige Verpflichtung auf (politische oder gesellschaftliche) Zwecke, die als außerhalb der Kunst liegend vorgestellt werden, undenkbar zu sein. Doch gleichzeitig muss, was die Arbeit des Schriftstellers betrifft, der Wert dieser ›vorherigen‹ Verpflichtungen an ihrem Vermögen gemessen werden, neue ästhetische Formen hervorzubringen. Brecht zufolge birgt die Frage nach den Verpflichtungen der Kunst eine unauflösbare Dialektik: Kunst und politischer Zweck sind einander nicht äußerlich, ihre Beziehung ist nicht durch Konflikt oder gegenseitigen Ausschluss gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Versprechen schöpferischer Reibung und gegenseitiger Bereicherung.

Dies entspricht nicht der Art und Weise, in der die Literaturwissenschaft traditionell über die Beziehung der Literatur zur Sphäre der Politik nachgedacht hat. Sie hat vielmehr dazu geneigt, den Versuch, Kunst als politische Arbeit zu begreifen, als Kategorienfehler zu betrachten – als eine von außen herangetragene Zumutung, die beiden schadet: der Kunst und der Politik. Um nur ein besonders prominentes Beispiel zu nennen: Der marxistische Literatur- und Kulturkritiker Fredric Jameson prägte die These, dass die Politik literarischer Werke auf der Ebene eines textuellen Unbewussten angesiedelt sei. Er plädierte dafür, Politik nicht im Sinne einer manifesten oder expliziten Zielsetzung zu denken, sondern argumentierte, dass die Politik ästhetischer Gegenstände am besten anhand der Beziehungen zwischen den verschiedenen formalen und Gattungsmerkmalen eines Textes beschrieben werden kann. Das politische Unbewusste zeigt sich ihm zufolge »not by abandoning the formal level for something extrinsic to it – such as some inertly social ›content‹ [or political ›purpose‹] – but rather immanently, by construing purely formal patterns as a symbolic enactment of the social within the formal and the aesthetic«.[2] Demnach wäre die Politik eng mit der Textur des literarischen Werks selbst verwoben. Indem die Literatur die Politik in die Form sublimiert, trägt sie sie als ihren immanenten oder intrinsischen Subtext in sich.

Wenn wir verschüttete literaturgeschichtliche Genealogien wiederherstellen, um der theoretischen Untersuchung alternative Wege aufzuzeigen, orientieren wir uns an neueren Bemühungen, ausgewählte Episoden politisierten Schreibens nicht als literaturgeschichtliche Anomalien zu betrachten, sondern als Schlüsselmomente in der Konfiguration der Beziehung zwischen Literatur und Politik – als einflussreiche Epizentren interventionistischer Kunst, von denen aus Debatten über Literaturpolitik und Praktiken engagierten Schreibens in neue und global ausgedehnte Kontexte ausstrahlen können.[3] Die von uns vorgeschlagene Periodisierung verbindet experimentell drei Perioden intensiv politisierter und aktivistischer Kunst und Schriftstellerei: die Zwischenkriegszeit, die langen 1960er Jahre und die Gegenwart. Damit sollen alternative Traditionen sichtbar gemacht werden, die Raymond Williams zufolge oft an den Rändern des Jahrhunderts zurückgelassen wurden.[4] Diese Periodisierung verzichtet auch bewusst darauf, eine einzige oder eindeutige Geschichte politisierter Literatur nachzuzeichnen. Die Verknüpfung der Zwischenkriegszeit mit den langen 1960er Jahren und unserer Gegenwart macht jedoch sichtbar, was der Künstler und Kunsttheoretiker Gregory Sholette kürzlich als »fragmented and boisterous reservoir of past interventions« bezeichnet hat.[5] Sholette betont die unautorisierte und nicht formalisierte Qualität dieses Reservoirs. Er spricht auch von einem nichtkanonisierten »phantom archive of activist art, overflowing with interventions, experiments, repetitions, compromises, minor victories and outright failures«.[6] Und er vermutet, dass die Gründe für die Fragmentierung dieses verschütteten Archivs – und auch für einen großen Teil seiner Ungebärdigkeit – in der hochgradig partikularen Natur der aktivistischen Kunst liegen, d.h. in der Intensität, mit der sie auf die spezifischen Situationen und historischen Momente eingeht, in die sie zu intervenieren versucht.

Gerade in dem letztgenannten Sinne bietet Brechts Bemerkung einen wertvollen Einblick in die umfassendere Problematik, die uns beschäftigt. Denn sie scheint zwar eine allgemeine Wahrheit über die Beziehung zwischen Literatur und Politik zu verkünden, dürfte aber wohl besser als unmittelbare Reaktion auf die sich verdüsternde politische Atmosphäre der späteren Weimarer Republik zu verstehen sein – den Aufstieg des Faschismus, die ›Klasse-gegen-Klasse‹-Politik der Kommunistischen Partei (KP), das Verbot des Roten Frontkämpferbundes (der paramilitärischen Organisation der KP) durch die regierenden Sozialdemokraten und die anschließende Denunziation der Sozialdemokraten als Sozialfaschisten durch die KP. In den Augen Brechts und seiner Mitstreiter*innen erforderten diese Entwicklungen eine neue Art von interventionistischer, aktivistischer Kunst, die in der Lage wäre, die Massen zu erziehen – eine pädagogisch-künstlerische Waffe, die zu der neuen Phase des politischen Kampfes passte und die seine Lehrstücke liefern sollten.

Der Fall Brecht zeigt, dass bestimmte literarisch-politische Konstellationen nicht ohne Berücksichtigung ihrer unmittelbaren (historischen, geographischen, sozialen, politischen, aber auch ästhetischen) Kontexte zu verstehen sind. Ausgehend von der Einsicht, dass Kunst ohne ihre konstitutive Ausrichtung auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte historische Situation, in die sie zu intervenieren versucht, unverständlich bleibt, argumentieren wir, dass eine neuerliche wissenschaftliche Debatte über den politischen Gebrauch und Nutzen von Literatur nicht davon absehen kann, die Logik der Ortsbezogenheit offenzulegen, die Kunst kennzeichnet, die im weitesten Sinne politisch ›nützlich‹ sein will. Dies verlangt von der wissenschaftlichen Arbeit, sich intensiv mit spezifischen lokalen Situationen auseinanderzusetzen und Werke zu untersuchen, die in breitere historische Zusammenhänge intervenieren. Ein Beispiel: Während der kanonische Sartre’sche Begriff der littérature engagée eine dezisionistische Betonung impliziert – d.h. die Fähigkeit des Menschen, sich aus freien Stücken für diese oder jene Sache zu engagieren[7] –, vermittelt Antonin Artauds Konzept der culture orientée (entwickelt in seinen Messages révolutionnaires) eine unauslöschliche anthropologische Orientierung gegenüber der Welt, eine quasi physische Positionierung, die auch für alle Arten von literarisch-politischem Engagement grundlegend ist. In diesem letztgenannten Sinne kann die lokale Erkundung des politischen Nutzens von Literatur zu einem umfassenderen Verständnis ihres interventionistischen Potentials führen, nicht als historische Sackgasse oder Verirrung, sondern als grundlegende Modalität künstlerischer Produktion als solcher.

Neue Verpflichtungen: Literaturwissenschaft und der politische Nutzen von Literatur

Die Literaturwissenschaft interessiert sich seit Langem für die Politik des Schreibens. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit wurde dabei allerdings Werken zuteil, die explizit versuchen, in ihre jeweiligen historischen Produktions- oder Rezeptionskontexte einzugreifen –  als ob diese einen zu engen Fokus auf einen bestimmten, fremden ›Zweck‹ hätten, um künstlerisch von Bedeutung zu sein. Viele der Wissenschaftler*innen, die den politischen Nutzen von Literatur verteidigen, greifen auf bewährte Argumente aus dem 20. Jahrhundert zurück, in denen es um die Art und Weise geht, wie politische Verpflichtungen literarischer Texte in ihren formalen Merkmalen kodiert werden. Andere gehen davon aus, dass die Auseinandersetzung von Literatur mit der Politik am besten als eine Form der Metapolitik zu verstehen sei, d.h. dass literarische Werke insofern politisch sind, als sie die hegemonialen gesellschaftlichen Protokolle verfremden, Formen politischer Sichtbarkeit schaffen oder politische Unsichtbarkeit erzwingen.[8] Zwar haben einige Wissenschaftler*innen in jüngster Zeit damit begonnen, spezifischer über den ›Nutzen‹ nachzudenken, den Literatur in den verschiedensten Kontexten hat, doch operieren sie dabei in der Regel mit einem pragmatischen Verständnis des Konzepts ›Nutzen‹. Wissenschaftler*innen wie Rita Felski argumentieren, dass Literatur in dem Maße nützlich sei, wie sie ein individuelles (affektives oder intellektuelles) Bedürfnis befriedigt. Aus diesen Überlegungen sind zwar viele wichtige Arbeiten hervorgegangen, doch diese haben dazu geführt, dass die Frage nach dem explizit politischen Nutzen von Literatur in den Hintergrund gedrängt wurde. Durch die Ablehnung der Binarität zwischen der Skylla des politischen Funktionalismus und der Charybdis der Kunst um der Kunst willen[9] haben Wissenschaftler*innen in jüngerer Zeit die unterschiedlichen Zwecke aus den Augen verloren, denen literarische Texte im Kontext der zahllosen sozialen und politischen Bewegungen gedient haben, die sich ›da draußen‹ entwickeln.

Die Literaturtheorie hat ein umfangreiches kritisches Vokabular entwickelt, um die Frage des direkten Handelns oder der instrumentellen Nutzbarmachung aus der akademischen Beschäftigung mit Literatur zu verdrängen. So schreibt Gabriel Rockhill in einer bemerkenswerten neueren Studie, es sei »crucial to rethink the operative logic of political efficacy outside of the instrumentalist framework«; stattdessen müssten wir die Handlungsversuche der Literatur im Kontext einer komplexen »conjuncture of determinants with multiple tiers, types, and sites of agency« verstehen.[10] Dem zweiten Teil dieser Aussage stimmen wir vollkommen zu: Politisches Handeln ist immer komplex, und was es für einen Text bedeutet, ›zu intervenieren‹ und politisch aktiv zu werden, hängt von dem jeweiligen historischen Zeitpunkt und der jeweiligen Situation ab. Den ersten Teil dieser Aussage möchten wir jedoch noch etwas komplexer fassen, da wir der Meinung sind, dass die Literaturwissenschaft es versäumt hat, über die Anziehungskraft nachzudenken, die der instrumentalistische Rahmen auf Schriftsteller*innen ausübt, die versuchen, ihren Werken politische Wirksamkeit und Absicht zu verleihen. Mit den folgenden Fragen muss sich die zeitgenössische Literaturwissenschaft daher auseinandersetzen: Wie verhalten sich bestimmte literarische Werke zur machtvollen und attraktiven Vorstellung einer direkten instrumentellen Handlungsfähigkeit? Wie versuchen manche, diese umzusetzen, während andere sich bemühen, ihrer Anziehungskraft zu widerstehen?

Diese Fragen stehen durchaus im Widerspruch zu einigen der Leitideen, die die Literaturwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen und die Weltliteraturforschung im Besonderen geprägt haben. Die Idee der Weltliteratur – von der ersten Formulierung des Konzepts durch Johann Wolfgang von Goethe bis hin zu ihren verschiedenen Nachleben, z.B. in den nach wie vor sehr einflussreichen Arbeiten von Pascale Casanova, Gayatri Chakravorty Spivak oder David Damrosch – hat allzu oft dazu gedient, die komplexe lokale Verstrickung der Literatur in die praktische Politik in den Hintergrund zu drängen oder ganz zu verneinen. In diesem Zusammenhang haben Teile der Forschung die Möglichkeit einer »ästhetischen Bildung im Zeitalter der Globalisierung« – d.h. die Erweiterung der ethischen Vorstellungskraft der (›westlichen‹) Leser*innen – in den Vordergrund gestellt, was auf Kosten einer detaillierteren Betrachtung der Art und Weise ging, wie sich radikale Politik in einer Vielzahl historischer Situationen und geographischer Gegebenheiten abspielt.[11]

Diese ›Säuberung‹ des aktivistischen, explizit politischen Wirkens von Literatur hat im Übrigen auch in selbsterklärt linken Theoriekreisen stattgefunden, vor allem in der festgefahrenen Konfrontation zwischen Formalismus und Marxismus bzw. zwischen Avantgarde und Realismus, für die Theoriegrößen wie Theodor W. Adorno und Georg Lukács stehen. Mit der Kanonisierung dieser Konfrontation erstarrten die Pole, und in der Folge vergaß man, wie problematisch und historisch kontingent diese Binaritäten von Anfang an gewesen waren. Wie Joe Cleary feststellte, wurden Modernismus und Realismus ab den 1930er Jahren als verdinglichte Kategorien und als unhinterfragbare Bezeichnungen für die moderne ›Weltliteratur‹ zugleich produziert: Während die Sowjetunion den Realismus für sich beanspruchte, nahm New York sich (mit großzügiger Unterstützung aus Washington) des Modernismus an.[12] Wenn wir Clearys Weltsystem-Perspektive erweitern, wird deutlich, wie das Vorgehen, einen formal innovativen, aber weitgehend selbstbezogenen Modernismus gegen einen künstlerisch rückwärtsgewandten, aber gesellschaftlich aktiven Realismus auszuspielen, in wichtigen linken Beiträgen zur Debatte über Literatur und Politik implizit bestätigt wird. Hierfür gilt Aesthetics and Politics, die wegweisende Anthologie von 1977, die Schlüsseltexte zur Realismus-Modernismus-Debatte der 1930er Jahre (unter anderem von Ernst Bloch, Adorno und Lukács) versammelt, als Paradebeispiel. Der Band ist zwar das Standardwerk für mehrere Generationen von Literaturwissenschaftler*innen zu diesem Thema, hat aber unser Verständnis der literaturhistorischen Landkarte, die wir hier wiederherstellen wollen, dramatisch verengt. Es ist ein unbeabsichtigter Effekt der Sedimentierung und Kanonisierung solcher theoretischer Konstrukte, dass sie dazu neigen, bestimmte Gegensätze zu enthistorisieren und sie als natürlich oder als ontologisch gegeben und nicht als gesellschaftlich produziert darzustellen. Infolgedessen hat die strenge Dichotomisierung der künstlerischen Debatten, die die Jahre des Kalten Krieges kennzeichnete, viele Wissenschaftler*innen dazu verleitet, irreführende oder verkürzte Ansichten über den politischen Nutzen von Literatur zu übernehmen. Obwohl wir die zentralen Konzepte Realismus und Modernismus hier keiner systematischen oder umfassenden Revision unterziehen wollen und können, schlagen wir eine alternative Konfiguration der Beziehung zwischen ihnen vor: Einerseits erscheint der literarische Realismus nicht als eine einzelne Form, sondern definiert sich vielmehr durch das, was er in der Welt zu leisten vermag;[13] andererseits wurden formale Experimente, wie sie oft mit der Moderne in Verbindung gebracht werden, selbst allzu oft im Dienste des ›realistischen‹ Projekts zur Kartierung und Befragung gesellschaftlicher Totalität benutzt.

Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, die Diskussion über das politische und aktivistische Potential der Literatur neu zu eröffnen, indem wir sowohl einzelne literarische Werke betrachten als auch breitere theoretische Debatten über die Fähigkeit der Literatur, in die gesellschaftliche Realität einzugreifen, wieder aufnehmen. Wir sehen unseren Vorschlag von einer wachsenden Zahl wissenschaftlicher Arbeiten bestätigt, die sich mit dem langen kulturellen (Nach-)Leben und den globalen Verflechtungen der Literaturproduktion in der transnationalen Welt der Komintern sowie in den kolonialen Peripherien in Vergangenheit und Gegenwart befassen.[14] So haben wir große Sympathie für die jüngsten Bemühungen der Autor*innen des von Amelia Glaser und Steven Lee herausgegebenen Sammelbandes Comintern Aesthetics, »[to] unearth a lost genealogy for present-day activism, demonstrating ways of connecting the local and the global, the personal-as-political and world revolution«.[15] Ähnlich inspirierend sind Forschungsarbeiten zu antikolonialer Literatur, darunter z.B. jene von J. Daniel Elam, der versucht, den Geist eines egalitären Internationalismus wiederzubeleben,[16] und Sonali Perera, die in ihrer Untersuchung eines literarischen Internationalismus der Arbeiterliteratur feststellt, dass die Schriften der Arbeiterklasse aus verschiedenen Teilen der Welt mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als zumeist angenommen wird.[17] Offenbar haben wir es heute mit einer Art nichtformalisierter Internationale engagierter Schriftsteller*innen zu tun, deren Werke zu einem gemeinsamen Projekt des politischen Wandels und der Erneuerung beitragen. In den Händen dieser Schriftsteller*innen erscheint Literatur nicht in erster Linie als Ware, die mit anderen Waren um die begrenzte Aufmerksamkeit potentieller Konsument*innen konkurriert – wie es beispielsweise in Casanovas Modell des weltliterarischen Systems der Fall ist –, sondern als ein Medium der Weltgestaltung, das sich für größere politische Projekte gemeinschaftlicher Weltgestaltung öffnet.

Diese Projekte sind literarisch, wissenschaftlich und politisch. Sie können sich auf wichtige neue Studien stützen, die die Aufmerksamkeit auf interventionistische Künste lenken, die in den Räumen zwischen den ›westlichen‹ Literaturen und den Literaturen des antikolonialen Widerstands auf der ganzen Welt entstehen. Uns ist klar, dass die Literatur des Globalen Südens oftmals direkte Allianzen mit politischen Bewegungen gesucht hat (und immer noch sucht) – und dass solche Allianzen für jede Darstellung des politisierten Schreibens im Kontext der Globalisierungsprozesse des 20. und 21. Jahrhunderts zentral sind.[18] Wie wir bereits festgestellt haben, sollte diese horizontale Ausdehnung über verschiedene geographische Räume und Schauplätze hinweg stets durch die Hervorhebung von Affinitäten ergänzt werden, die sich diachron, d.h. über mehrere markante historische Momente hinweg manifestieren (wofür das oben erwähnte revolutionäre Schreiben der Zwischenkriegszeit und die engagierte Literatur der langen 1960er Jahre nur die prominentesten Beispiele sind). Anstatt jedoch anzunehmen, dass sich diese lokalen Affinitäten und diachronen Korrespondenzen zu ununterbrochenen historischen Kontinuitäten oder einheitlichen Teleologien verfestigen, möchten wir sie im Sinne einer Konstellation oder Montage begreifen: Mit Blick darauf, wie linke Filmemacher wie Chris Marker auf die Montage zurückgegriffen haben, um die (Dis-)Kontinuität revolutionärer Traditionen zu vermitteln, sollten die einzelnen literaturwissenschaftlichen Bereiche jene lokalen Ausprägungen aktivistischer Kunst untersuchen, die in der Lage sind, über die Zeit hinweg miteinander zu sprechen.[19] Die literarisch-aktivistischen Konstellationen, die ein solches wissenschaftliches Vorgehen aufzudecken vermag, sollten sich einer Verfestigung zu starren Genealogien widersetzen. Nur dann bleiben sie offen und formbar und bieten neue Anknüpfungspunkte für zukünftige politische Zwecke.

Eingreifendes Denken: Literatur und Politik jenseits linker Melancholie

Diese neuen kritischen Interventionen lassen sich, so unsere These, entlang dreier miteinander verbundener Achsen organisieren: Erstens könnte eine erneuerte Aufmerksamkeit für besonders intensive Momente radikaler literarischer Produktion Öffnungen für neue, zukunftsorientierte Genealogien aktivistischer Literatur schaffen. Diese pluralen Geschichten, wie wir sie uns vorstellen, widerstehen der Tendenz, die Rückbesinnung auf revolutionäre Vergangenheiten mit der nostalgisch-retrospektiven (und politisch ohnmächtigen) Form ›linker Melancholie‹ zu verbinden.[20] Wenn man die Diskussion über solche radikalen Momente bis in die Gegenwart verlängert, sollte man nachverfolgen, wie die vitalen literarischen und theoretischen Interventionen, die zwischen den beiden Weltkriegen formuliert wurden, im Lichte neuer und aufkommender politischer Forderungen (einschließlich feministischer und antikolonialer Kämpfe) in den langen 1960er Jahren wie auch in unserem eigenen historischen Moment neu artikuliert wurden. Die politische Wirksamkeit der Literatur ist sicherlich auch heute noch eine offene Frage – was nicht zuletzt mit der anhaltend unsicheren Position der politisierten Literatur zwischen ihren großen, revolutionären Horizonten und ihrer Verpflichtung zur Konstituierung einer marginalisierten oder untergründigen »Gegenöffentlichkeit« zusammenhängt.[21] Die kritische Analyse der Jetztzeit lässt sich dadurch stärken, dass zeitgenössische Interventionen in einen Dialog mit früheren historischen Momenten gebracht werden, in denen Literatur und Politik einander entscheidend beeinflussten. In diesem Zusammenhang kommt der Theorieproduktion selbst eine radikale Rolle zu, indem sie die Rolle dessen übernimmt, was Brecht einst als »eingreifendes Denken« bezeichnete (eine Formulierung, die er mit leuchtendem Rot in sein Notizbuch von 1931–1932 eintrug).[22]

Zweitens möchten wir hervorheben, dass bei der Erforschung des politischen Gebrauchs und Nutzens von Literatur die globale Übertragbarkeit der Praktiken und Debatten berücksichtigt werden muss, die sich ja in einem breiten Spektrum von geographischen Kontexten und historischen Situationen entwickelt haben. So blieben die Konfigurationen des Verhältnisses zwischen Literatur und Politik im Europa der Zwischenkriegszeit auf die besonderen Artikulationen dieses Verhältnisses in anderen, weit entfernten (›peripheren‹) geographischen Kontexten abgestimmt und umgekehrt. Die Literaturwissenschaftlerin Snehal Shingavi schreibt dazu: »[A]esthetic and political notions put forward through various organs of the Communist Party were translated, reinterpreted, reimagined, and refigured«.[23] Dieser kritische Blick auf kulturelle Übersetzungs- und Umgestaltungsprozesse zeigt, dass wir besser daran täten, uns mit genauer bestimmten Formen des Politischen zu befassen, anstatt den Begriff des Politischen als unspezifisches Label zu verwenden. In den Worten von Sholette ist jede aktivistische Kunst, ob sie nun einen Gefängnisausbruch, eine Revolution oder lediglich die Neukonzeptionierung bestehender Institutionen in Betracht zieht, »haunted by the elusive dream of historical agency and its unceasing hunger for total emancipation«.[24]

Drittens: Zeitgenössische Untersuchungen zum politischen Aktivismus in der Literatur führen zu neuen Konzeptualisierungen des ›Nutzens‹ der Literatur für Literaturgeschichte und Literaturtheorie. In der Tat ist die Beschäftigung mit der Frage nach dem offenkundig politischen Nutzen von Literatur eine sowohl notwendige als auch dringende Aufgabe. Mit dem Fokus auf Politik als bewusstes Engagement und prinzipiengeleitetes Handeln müssen Untersuchungen über die modische (und politisch schwache) Behauptung der literarischen ›Affordanzen‹ der Form hinausgehen, indem sie untersuchen, wie literarische Werke als Momente der aktivistischen Intervention eingesetzt werden.[25] Dies bedeutet nicht, literarische Handlungsfähigkeit auf naive Weise als unvermittelt anzunehmen – im Gegenteil, es gilt, darauf zu bestehen, dass selbst das flachste und flüchtigste Pamphlet (um W. H. Audens berühmten Satz von 1937 zu adaptieren)[26] eine hochgradig vermittelte Form politischen Engagements ist. Um dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen, ist stets ein breites Spektrum an literarischen Gattungen, Textformen und künstlerischen Darstellungen zu berücksichtigen. Gleichzeitig sollte man eine entscheidende Akzentverschiebung wagen: weg von der Auffassung, dass die Frage des ›Nutzens‹ in erster Linie von den Eigenschaften des Objekts (literarische Formen, ästhetische Strukturen usw.) abhängt, und hin zu der Ansicht, dass Künstler*innen aktiv auf bestimmte Formen zugreifen (make use), um bestimmte Ziele zu erreichen. Der Kunsttheoretiker Stephen Wright hat unlängst festgestellt, dass die ›Nutzbarmachung‹ künstlerischer Formen ein aktives ›Umrüsten‹ und ›Umfunktionieren‹ dieser Formen selbst beinhaltet.[27] Der Versuch, Literatur zu einem Mittel des gesellschaftlichen und politischen Wandels zu machen, bedeutet nicht, auf Fragen der spezifisch ästhetischen Vermittlung gänzlich zu verzichten. Vielmehr, und das wusste schon Brecht, bringt diese aktivistische Umgestaltung von Formen unser Annahme ins Wanken, dass die Arbeit der ästhetischen Vermittlung das Einzige ist, worauf wir achten sollten, insbesondere wenn sie im modernistischen Gewand der künstlerischen ›Komplexität‹ oder ›Schwierigkeit‹ des ästhetischen Anspruchs daherkommt.

Wie wir bereits festgestellt haben, wurde die Forderung, dass Literatur politisch aktiv sein solle, stets von situativen und konjunkturellen Zwängen vorangetrieben. Zweifellos ist der ›kapitalistische Realismus‹ (Mark Fishers Begriff für die zeitgenössische Schließung revolutionärer Horizonte) ein solcher Zwang, und trotz einer Vielzahl miteinander verbundener Krisen – Wirtschafts-, Klima-, Hunger-, Migrations- und Kriegskrisen – erweist er sich immer noch als kraftvoll genug, um jede Form des Handelns zu blockieren, die in der Lage sein könnte, seinen global herrschenden Status quo grundlegend infrage zu stellen.[28] Wie die Mitglieder des Endnotes Collective kürzlich festgestellt haben, produziert unsere gegenwärtige historische Situation »revolutionaries without revolution, as millions descend onto the streets and are transformed by their collective outpouring of rage and disgust, but without (yet) any coherent notion of transcending capitalism«.[29] Manche meinen, dass wir uns nicht die Mühe machen sollten, in der Literatur nach Lösungen für diese zutiefst politischen Probleme zu suchen. Aktivistische Literatur und Kunst stellen jedoch nicht bloß ein totes oder verknöchertes Archiv dar – sie liefern vielmehr die notwendigen Werkzeuge, um radikale politische Impulse zu bewahren und in neuen Konstellationen erneut aufzugreifen. Insofern stellen sie ein Reservoir zukunftsorientierter Denk-, Fühl- und Lebensweisen dar, das wir heute dringender denn je benötigen.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Die Literaturwissenschaftlerin Ivana Perica arbeit am ZfL in dem Projekt »Kartographie des politischen Romans in Europa«. Benjamin Kohlmann ist Heisenberg-Professor für Anglistik / British Studies an der Universität Regensburg.

[1] Bertolt Brecht: »Über Stoffe und Formen«, in: ders.: Schriften I (Werke, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1992, S. 302–304, hier S. 303f. – Dieser Beitrag ist die gekürzte und angepasste Übersetzung der Einleitung des von den Autoren herausgegebenen Bandes The Political Uses of Literature. Global Perspectives and Theoretical Approaches, 1920–2020 (New York: Bloomsbury Academic 2024). Der Abdruck der Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Bloomsbury Academic.

[2] Fredric Jameson: The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act, Ithaca 1981, S. 63.

[3] Zu Theorien über die »langen 1930er Jahre« und ihr Erbe politisierter Kunst vgl. Leo Mellor/Glyn Salton-Cox: »Introduction: The Long 1930s«, in: Critical Quarterly 57.3 (2015), S. 1–9; und Benjamin Kohlmann/Matthew Taunton: «Introduction«, in: dies. (Hg.): A History of 1930s British Literature, Cambridge 2019, S. 1–13.

[4] Raymond Williams: »When Was Modernism?«, in: The Politics of Modernism: Against the New Conformists, London 2006, S. 131–135, hier S. 135.

[5] Gregory Sholette: The Art of Activism and the Activism of Art, London 2022, S. 18.

[6] Ebd.

[7] Vgl. Jean-Paul Sartre: »What is Literature?«, in: ders.: What Is Literature? And Other Essays, Cambridge, MA 1988, S. 21–245.

[8] Eine einflussreiche Version hiervon liefert Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. von Maria Muhle, Sabet Buchmann und Jürgen Link, Berlin 2006.

[9] Rita Felski: The Uses of Literature, Oxford 2008, S. 9.

[10] Gabriel Rockhill: Radical History and the Politics of Art, New York 2014, S. 53f.

[11] Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: An Aesthetic Education in the Era of Globalization, Cambridge, MA 2013.

[12] Joe Cleary: »Realism after Modernism and the Literary World System«, in: Modern Language Quarterly 73.3 (2012), S. 255–268, hier S. 262f.

[13] Steven S. Lee: »Introduction: Comintern Aesthetics–Space, Form, History«, in: Amelia M. Glaser/Steven Lee (Hg.): Comintern Aesthetics, Toronto 2020, S. 3–29, hier S. 17.

[14] Zur verlorenen Welt der Komintern vgl. z.B. Michael Denning: Culture in the Age of Three Worlds, London 2004; Katerina Clark: Moscow, the Fourth Rome: Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931–1941, Cambridge, MA 2011; und Glaser/Lee: Comintern Aesthetics (Anm. 13). Zur komplexen Stellung antikolonialer Kämpfe innerhalb internationalistischer politischer Projekte siehe z.B. Sonali Perera: No Country: Working-Class Writing in the Age of Globalization, New York 2014; Rossen Djagalov: From Internationalism to Postcolonialism: Literature and Cinema between the Second and the Third World, Montreal 2020; und J. Daniel Elam: World Literature for the Wretched of the Earth: Anticolonial Aesthetics, Postcolonial Politics, New York 2020.

[15] Lee: »Introduction« (Anm. 13), S. 14.

[16] Elam: World Literature (Anm. 14), S. xiii.

[17] Perera: No Country (Anm. 14), S. 5.

[18] Vgl. zum lateinamerikanischen Kontext Sophie Esch: Modernity at Gunpoint: Firearms, Politics, and Culture in Mexico and Central America, Pittsburgh 2018; zum künstlerischen Aktivismus im Mittleren Osten Ryan Watson: Radical Documentary and Global Crises: Militant Evidence in the Digital Age, Bloomington 2021; und zum afrikanischen Kontext Alexander Fyfe/Madhu Krishnan (Hg.: African Literatures as World Literature, London 2022.

[19] Markers eindrucksvoller Film Le Fond de l’air est rouge (1977) verbindet Artikulationen des revolutionären Impulses im 20. Jahrhundert, indem er Szenen aus verschiedenen radikalen Momenten wie der Revolution von 1917 und den antikolonialen Protesten der 1960er und 70er Jahre miteinander zusammenschneidet.

[20] Der Begriff der linken Melancholie geht auf Walter Benjamin zurück. Vgl. Walter Benjamin: »Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch« (1931), in: ders: Gesammelte Schriften III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt 1972, S. 279–283. Eine neuere vergleichbare Darstellung liefert Enzo Traverso: Left-Wing Melancholia: Marxism, History, and Memory, New York 2016.

[21] Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung: zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972.

[22] Bertolt Brecht: »Eingreifendes Denken«, in: ders: Schriften I (Werke, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1992, S. 524f. Im Gegensatz dazu haben neuere Darstellungen des Aufstiegs der Literaturtheorie und der Institutionalisierung der Ideologiekritik betont, dass sich die Kritik als intellektueller Ersatz für ›echte‹ revolutionäre Aktivitäten entwickelte: Nach dieser Lesart stellte die Theorie eine kompensatorische Antwort auf das Scheitern der linken politischen Revolutionen im Westen in den 1920er und 30er Jahren dar, vgl. etwa Joseph North: Literary Criticism: A Concise Political History, Cambridge, MA 2017.

[23] Snehal Shingavi: »India–England–Russia: The Comintern Translated«, in: Glaser/Lee: Comintern Aesthetics (Anm. 13), S. 109–132, hier S. 109.

[24] Sholette: The Art of Activism (Anm. 5), S. 151.

[25] Zum Konzept der Affordanzen, das seine Wurzeln in der Designtheorie hat, vgl. Caroline Levine: Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton, NJ 2015.

[26] Audens Worte »To-day the expending of powers/ On the flat ephemeral pamphlet« stammen aus seinem Bürgerkriegsgedicht Spain 1937, in: The English Auden: Poems, Essays and Dramatic Writing, 1927–1939, hg. von Edward Mendelson, London 1986, S. 210–212, hier S. 212.

[27] Vgl. Stephen Wright: Toward a Lexicon of Usership, 2013.

[28] Zum kapitalistischen Realismus vgl. Mark Fisher: Capitalist Realism: Is There No Alternative?, London 2009.

[29] Endnotes Collective: »Onward Barbarians, in: Endnotes 2020.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: Der politische Gebrauch und Nutzen von Literatur, in: ZfL Blog, 21.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/21/benjamin-kohlmann-ivana-perica-der-politische-gebrauch-und-nutzen-von-literatur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240221-01

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Sandra Folie: ASPEKTE SCHWARZER GESCHICHTE(N) IN »BERLIN GLOBAL«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/15/sandra-folie-aspekte-schwarzer-geschichten-in-berlin-global-eine-fuehrungs-und-ausstellungsreflexion/ Thu, 15 Feb 2024 09:45:07 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3224 Februar ist Black History Month[1] und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir – Gianna Zocco und Sandra Folie – im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung« besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir Weiterlesen

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Februar ist Black History Month[1] und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir – Gianna Zocco und Sandra Folie – im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung« besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen.[2] Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, »wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind«[3]. Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen.

Unter dem Titel »Sichtbar werden« führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch – miteinander, aber auch mit der Gruppe – durch die Spuren Schwarzer[4] Geschichte(n) in der Ausstellung.[5] Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung »sichtbar werden«, fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des narrating back und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums[6] begreifen lassen?

Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.[7]

Prolog: Wer denkt hier die Welt?

Abb. 1: Ausstellung »Berlin Global«, Aufbauansicht Weltdenken, © How & Nosm / Kulturprojekte Berlin und Stiftung Stadtmuseum Berlin, Foto: Alexander Schippel

Im ersten Raum der Ausstellung ist ein 360-Grad-Wandbild des Künstlerduos How & Nosm zu sehen (Abb. 1).[8] Bei meinem ersten, schon länger zurückliegenden Ausstellungsbesuch hatte ich dieses Bild mit dem Titel Weltdenken nicht besonders eingehend betrachtet. Einzig an die Porträts von Alexander und Wilhelm von Humboldt darin konnte ich mich gut erinnern – zum einen aufgrund ihrer prominenten Positionierung, zum anderen auch, da sich ihre fotorealistischen Abbildungen vom restlichen Street-Art-Stil (schwarze Outlines, häufig ohne Füllung) absetzen. Doch was zeigt das raumgreifende Wandbild abseits der Namensgeber des umstrittenen Berliner Schlosses? Welche Geschichte wird erzählt? Die Führung beginnt mit Fragen und dem Auftrag, das Wandbild erst einmal zu betrachten.

Abb. 2: Edward Linley Sambourne: »The Colossus of Rhodes: Striding From Cape To Cairo«, Punch Magazine, 1892;  Wikimedia Commons

Die Gruppe trägt zusammen, dass eine Geschichte der Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt abgebildet ist, des Versklavungshandels und des deutschen Kolonialismus. Die Eingangswand zeigt den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688), einen der Bauherren des Berliner Schlosses und Gründer der ersten deutschen Kolonie in Afrika, »Groß-Friedrichsburg« im heutigen Ghana. Auf seine aktive Rolle im transatlantischen Versklavungshandel weisen das Dreieckssymbol, die in Ketten gelegten People of Color und das Schiff hin. Auf der gegenüberliegenden Wand sind die Benin-Bronzen, Bismarck und die Afrika-Konferenz 1884/85 zu erkennen. Nach einer Sammlung erster Eindrücke wird es still. Schmidt fragt nach dem Mann, der übergroß in einer breiten Grätsche dargestellt ist, in einer Hand die Welt, in der anderen eine Karte von Afrika. Die Abbildung beruht auf der populären Karikatur des von Kapstadt bis nach Kairo grätschenden Rhodes Colossus (Abb. 2). Doch was macht Cecil Rhodes im deutschen Kolonialismus? Die Zusatzmaterialien zum Wandbild beantworten die Frage damit, dass das Bild nicht einzig den deutschen, sondern den europäischen Kolonialismus zeige.[9] Das große Schiff neben Friedrich Wilhelm stehe für die Eroberung Amerikas und der britische Kolonialpolitiker Cecil Rhodes versinnbildliche den kolonialen Größenwahn. So betrachtet, wirkt der deutsche Kolonialismus be(un)ruhigend klein.

Abb. 3: Gedenkkopf einer Königinmutter (Iyoba), Ident Nr: III 12507; © Foto: Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin; Fotograf: Jürgen Liepe

Schmidt und Eliot machen auf eine markante Frauenfigur inmitten all der weißen Eroberer und namenlos bleibenden Schwarzen Eroberten aufmerksam. Es handelt sich um den Gedenkkopf einer Königinmutter (Iyoba) aus Benin – erkennbar an der Form ihrer Krone. Amt und Titel der Königinmutter, die eine wichtige politische Position einnahm, wurden im frühen 16. Jahrhundert eingeführt (Abb. 3). Das Ethnologische Museum besitzt eine ganze Reihe solcher Objekte, die im Zusammenhang mit der britischen Eroberung von Benin »vermutlich geplündert« und dem Museum irgendwann »geschenkt« oder »verkauft« wurden.[10] Die Abbildung eines Königinmutter-Gedenkkopfes in den Zusatzmaterialien illustriert zwar einen kurzen Informationstext über »geraubte Kunst«, dieser handelt allerdings nur von den Benin-Bronzen im Allgemeinen und enthält keinerlei Informationen über die Königinmutter oder die dahinterstehende Tradition.[11]

Die erste Station der Führung regt dazu an, über Sichtbarkeit, Kontextualisierung und Publikumsansprache nachzudenken. Der Einführungsraum ist zweifelsohne ein prominenter Ort, um den deutschen Kolonialismus zu thematisieren, aber wird das raumgreifende Wandbild ob seiner Unübersichtlichkeit nicht leicht übersehen bzw. als bloßes Ornament wahrgenommen? Und genügt es, diese Art von »Weltdenken« zu zeigen bzw. darauf zu vertrauen, dass Besucher:innen die digital bereitgestellten Zusatzmaterialien konsultieren? Was oder wen finden sie dort (nicht)? Das Wandbild soll »atmosphärisch« in der Ausstellung willkommen heißen,[12] doch wer heißt in dieser weiß und männlich perspektivierten Darbietung von Ausbeutung und Gewalt wen willkommen?

Begrenzt divers: Eine unvollendete Revolution

Ausstellung »Berlin Global«, Raum: Revolution, Humboldt Forum, Berlin © Clemens Porikys | Kulturprojekte Berlin und Stadtmuseum Berlin

Einer der nächsten Themenräume zur »Revolution« beleuchtet die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Forderung nach Bürgerrechten (Abb. 4). Es stehen die für Deutschland und Berlin zentralen Revolutionsjahre 1848, 1918 und 1989 im Fokus. Etwas abseits, an der Außenseite jener zwei raumgreifenden elliptischen Wände, innerhalb derer sich das »Rad der Geschichte« befindet,[13] ist ein großes Bild der in Berlin lebenden ägyptischen Künstlerin Hanaa El Degham zu sehen: Die Wiedergeburt des Osiris. Ich muss gestehen, dass ich dieses bei meinem ersten Ausstellungsbesuch nicht weiter beachtet hatte. Es sind darauf überwiegend People of Color zu sehen, die durch einschlägige Gesten – erhobene Fäuste, gekreuzte Arme, vier ausgestreckte Finger und eingeklappte Daumen –, ihren Protest ausdrücken. Teils übermalt, teils aber auch gut lesbar in Aussparungen platziert, sind kurze handschriftliche Texte in das Bild integriert. Schmidt und Eliot laden dazu ein, einen dieser Texte gemeinsam zu lesen:

Über die Abwesenheit der Diversität:
Haben Sie sich schon einmal gefragt,
wer alles NICHT ins Museum
geht. wer sich von den prunkvollen
Bauten, goldenen Kuppeln und glänzendem
Kreuz nicht eingeladen fühlt?
Museen sollten ein Ort der Vielen
sein, sowohl die ausgestellten Objekte
und Inhalte, aber auch die Menschen,
die sie besuchen.

In einem aufgezeichneten Gespräch mit Eliot gab El Degham preis, dass sie nicht einfach eingeladen wurde, etwas zur Ausstellung beizutragen. Vielmehr sollte sie bestimmte, vorgegebene Inhalte umsetzen. Erst als sie dies strikt ablehnte, wurden ihr mehr Freiheiten eingeräumt. Sie fasste den Entschluss, sich den Raum zu nehmen, um zu sagen, was sie sagen wollte, und vor allem auch, weiteren Aktivist:innen und Künstler:innen diese Möglichkeit zu geben. Deren Zitate, die sich wie das obige teils sehr kritisch auf das Humboldt Forum und sein Selbstverständnis »als ein Forum der Vielstimmigkeit« beziehen, bilden den Hintergrund des Wandbilds. Sie stellten nicht nur eine wichtige Inspiration für El Deghams Arbeit daran dar, sondern nennen auch das beim Namen, was im Zusammenhang mit dem behaupteten Kosmopolitismus, der Multikulturalität und Diversität des Humboldt Forums gewissermaßen den Elefanten im (Ausstellungs-)Raum darstellt. Im Pressedossier »Kolonialismus« findet sich dazu nur eine etwas verhalten klingende Anmerkung: »Auch werden in dem Wandbild Bezüge auf das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss hergestellt, dem einstigen Sitz der preußischen und deutschen Kolonialherren.«

Eine Künstlerin of Color einzuladen, zu einem zentralen Thema der Ausstellung beizutragen, das nicht unmittelbar mit ihren persönlichen Rassismuserfahrungen in Deutschland zu tun hat, ist ein wichtiger Schritt, aber auch einer, der inzwischen erwartet und eingefordert wird. Schon vor dreißig Jahren beschrieb die afrodeutsche Dichterin und Aktivistin May Ayim die Problematik einer Einladungspolitik, die auf der persönlichen Betroffenheit von Minderheiten basiert: »Die ›Betroffenen‹ waren nur geladen, um über ›ihre Probleme‹ zu sprechen. Sie wurden weder als GesprächspartnerInnen noch als Persönlichkeiten mit vielfältigen Interessen und Arbeitsschwerpunkten ernst genommen.«[14] Das traf auf El Degham, die eingeladen wurde, um zum Thema Revolution zu arbeiten, so nicht mehr zu. Die Versuche, ihren künstlerischen Output zu steuern, und die Platzierung ihres Kunstwerks an den äußersten Rändern des Raumes machen jedoch deutlich, dass eine diversere, von persönlicher Betroffenheit abrückende Einladungspolitik allein nicht garantiert, dass jemand als Gesprächspartner:in, Persönlichkeit und Künstler:in ernst genommen wird.

Grenzenlos unverschämt: Schwarze Deutsche als »Subkultur«

»Berlin bot schon immer Raum für Menschen, die anderswo nicht leben durften, wie sie wollten«, heißt es in einer Beschreibung des Themenbereichs »Freiraum«, der »von Projekten und Utopien« erzählt, »die in den Nischen der großen Stadt gediehen«. Es gibt verschiedene voneinander abgegrenzte Sektionen, etwa über Geschlecht, Kunst oder Subkulturen. In letzterer verweilen wir. Auf einer chronologisch arrangierten Schautafel werden unterschiedliche Beispiele zur Geschichte der Subkulturen in Berlin präsentiert: von der Wandervogelbewegung über die Hippies bis hin zur Vielfalt und Verdrängung der Alternativkulturen heute. Zwischen Hausbesetzungen und Punkfestivals findet sich die »Schwarz-Deutsche Bewegung«, die eigentlich Afrodeutsche oder Schwarze Deutsche Bewegung[15] heißt und seit Mitte der 1980er dafür kämpft, Schwarzes Deutschsein in der weißen Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen. Schmidt gibt zu bedenken, welch verletzende Setzung vorgenommen wird, wenn die Schwarze Deutsche Bewegung – und damit Schwarze Deutsche – als »Subkultur« ausgewiesen werden; wörtlich übersetzt eine Kultur ›unterhalb‹ der gegebenen Kultur, die laut Duden auch eigene Normen und Werte vertritt. Das gilt umso mehr, als die anderen Subkulturen, die auf der Schautafel abgebildet sind, Beispiele für Jugend-, Alternativ- und/oder Gegenkulturen darstellen.[16] Die Schwarze Deutsche Bewegung setzte sich jedoch weder überwiegend aus Jugendlichen zusammen noch ging es ihr in erster Linie darum, die Normen und Werte der Mehrheitsgesellschaft infrage zu stellen. Vielmehr handelte es sich um eine Gruppe von Deutschen, die sich zusammenfand, weil sie im Alltag rassistisch diskriminiert und ihr Deutschsein immer wieder angezweifelt wurde. Die Stadt Berlin war für diesen Prozess des Zusammenfindens zentral, da sich hier afroamerikanische und afrodeutsche Aktivist:innen kennenlernen und vernetzen konnten.

Auf der »Subkultur«-Schautafel ist Audre Lorde abgebildet, die 1984 eine Gastprofessur am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin innehatte und bei der Entstehung der Schwarzen Deutschen Bewegung eine wichtige Rolle spielte. Sie brachte die oft einzeln gegen Rassismus ankämpfenden Schwarzen deutschen Studierenden (vor allem Frauen) zusammen und entwickelte mit ihnen, analog zum Begriff ›African American‹ oder ›Afro-American‹, ›Afro-Deutsche‹ als Eigenbezeichnung. Eine ihrer Studentinnen, May Ayim, sollte das Gesicht und die Stimme der Afrodeutschen Bewegung werden. Bei dem Zitat, das ohne Quellenangabe neben ihrem Bild abgedruckt ist – »ich werde trotzdem / afrikanisch / sein / auch wenn ihr / mich gerne / deutsch / haben wollt / und werde trotzdem / deutsch sein / auch wenn euch / meine schwärze / nicht paßt« –, handelt es sich um den Anfang ihres erstmals 1995 erschienenen Gedichts »grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit«.[17] Der Titel liest sich an dieser Stelle fast wie ein Kommentar auf die Bezeichnung der Schwarzen Deutschen Bewegung als Subkultur bzw. darauf, dass Schwarze Deutsche, die eine Normalisierung Schwarzen Deutschseins einforderten und sich gegen den Schein eines inklusiven, wiedervereinigten Deutschlands wandten, schnell als partikularistisch wahrgenommen wurden.

Die Porträts der beiden Dichterinnen illustrieren die Bedeutung sowohl von Frauen wie auch von Literatur für die Schwarze Deutsche Bewegung.[18] Bereits das von Ayim 1986 mitherausgegebene Gründungsdokument der Bewegung, Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, enthielt neben historischen Abrissen und Interviews Gedichte und kurze Prosaskizzen. Zudem gaben die beiden aus der Bewegung hervorgehenden Vereine Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Afrodeutsche Frauen/Schwarze Frauen in Deutschland (ADEFRA) Literaturzeitschriften heraus. Passend zu ihren Ausführungen zum literarischen Schwerpunkt in der Schwarzen Deutschen Bewegung liest Schmidt abschließend May Ayims Gedicht afro-deutsch I vor. Darin eignet sich die Dichterin eine weiße deutsche Stimme an, die sich an ein Schwarzes ›stummes‹ bzw. für Leser:innen/Hörer:innen nicht vernehmliches Gegenüber richtet. Das weiße Textsubjekt monologisiert vor sich hin und entlarvt sich dabei als das rassistische Ich, das es zu sein verneint:

Sie sind afro-deutsch?
… ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch.
Ist ja ’ne interessante Mischung!
Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch,
     die Mulatten, die würden’s nicht
     so weit bringen
     wie die Weißen

     Ich glaube das nicht.
     Ich meine, bei entsprechender Erziehung …
     Sie haben ja echt Glück, daß Sie
     hier aufgewachsen sind
     Bei deutschen Eltern sogar. Schau an![19]

Epilog: Das andere ewige Dilemma

Ich gehe nach der Führung noch einmal durch die inzwischen fast menschenleere Ausstellung und merke, dass ich nun einiges anders sehe oder überhaupt anderes sehe. Bei meinem ersten Besuch war ich auf eine Art, so banal das klingt, froh, dass Schwarze Geschichten vorkommen und deutscher Kolonialismus und Rassismus ansatzweise kritisch thematisiert werden. Mir war vor allem der sehenswerte Interviewfilm Entertain Berlin von Jermain Raffington in Erinnerung geblieben und ich wundere mich, warum er in der Führung nicht vorkam. Der Film, in dem vier Schwarze Deutsche unterschiedlicher Generationen – Theodor Wonja Michael, Marie Nejar, Langston Uibel und Aminata Belli – von ihren Erfahrungen mit Rassismus in der Unterhaltungsindustrie berichten, wird im Themenraum »Vergnügen« gezeigt. Als ich nun noch einmal an dieser Station vorbeigehe, sticht mir die Triggerwarnung ins Auge, die angesichts des Materials (u.a. Ausschnitte aus NS-Kolonialfilmen) durchaus nachvollziehbar ist. Ich finde den Film immer noch gut, stelle mir aber nun auch die Frage, an wessen »Vergnügen« bei seiner Positionierung in diesem Themenraum gedacht wurde? Wäre es vorstellbar, einen Film über Sexismus in der Unterhaltungsindustrie unter dem Label »Vergnügen« auszustellen? Vielleicht ja, wenn die Kontextualisierung stimmt, wenn nicht der Eindruck entstünde, der ›Frauenbereich‹ im Themenraum »Vergnügen« wäre dem Sexismus gewidmet, und wenn in Begleittexten, die das Konzept des Raumes erläutern, nicht etwa »Spannungen« zwischen den Geschlechtern für die Abgründe der Vergnügungskultur verantwortlich gemacht würden. In der Kurzbeschreibung des Themenraums heißt es allerdings: »Die Vergnügungskultur lebt seit jeher vom internationalen Austausch. Auch in Berlin existiert in Musik und Tanz, Theater und Kino ein Nebeneinander und Miteinander unterschiedlicher kultureller Traditionen, aus dem auch ein Spannungsverhältnis und Abgrenzung entstehen kann.«

Vielleicht haben wir es hier und in der Ausstellung insgesamt mit dem zu tun, was Priya Basil in ihrem Kurzfilm-Essay zur Eröffnung des Humboldt Forums »das andere ewige Dilemma« nannte. Wie soll man sich mit den Fragen danach, wer gewürdigt und erinnert werden soll, »auseinandersetzen, ohne die vergangene Gewalt in anderer Weise zu wiederholen? Wie kann man versuchen, etwas nachzubessern, ohne ungewollt neues Leid zuzufügen?«[20] Diesem Dilemma müssen wir uns mit Sicherheit auch in unserem Projekt stellen, und das nicht einmalig, sondern kontinuierlich. Der Besuch von Orten, an denen Schwarze deutsche Geschichte und Geschichten erzählt werden, und das Gespräch mit Menschen, vor allem auch Schwarzen Deutschen, die sie erzählen, soll das präsent halten. Vielleicht können weiße Sehgewohnheiten mithilfe solcher Exkursionen, Dialoge und rassismuskritischer Vermittlungsangebote wie der Tandemführung von Tanja-Bianca Schmidt und Sophie Eliot ein Stück weit verlernt werden. Und vielleicht lässt sich dieses Verlernen auch in das unmittelbarere eigene Wirkungsfeld – z.B. vom Museum in die Literaturwissenschaft – transferieren. Die Führung »Sichtbar werden« hat jedenfalls fruchtbare Anregungen gegeben, die meinen Blick auf die Ausstellung und auf die darin (nicht) erzählte(n) Schwarze(n) Geschichte(n) nachhaltig verändert haben.

Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Folie arbeitet am ZfL im ERC-Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen«.

 

[1] Der Black History Month (BHM) wird in Deutschland, ebenso wie in den USA, in Kanada und zahlreichen europäischen Ländern, im Februar gefeiert. In Deutschland wurde diese Tradition schon vor über 30 Jahren eingeführt, um auch hierzulande Schwarze Geschichte(n) sichtbar(er) zu machen. Der BHM wurde erstmals von der Initiative Schwarze Menschen (ISD) in Berlin (mit)organisiert. Über das genaue Datum – Dank an Gianna Zocco für den Hinweis – herrscht in der Literatur Uneinigkeit: Ika Hügel-Marshall nennt das Jahr 1985, May Ayim einmal 1989 und ein anderes Mal 1990. Vgl. Ika Hügel-Marshall: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, Frankfurt am Main 2001, S. 94; May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, Münster 22022, S. 93 bzw. S. 153.

[2] Neben Gianna Zocco und mir werden voraussichtlich auch die zwei Doktorand:innen, die das Projektteam ab Herbst 2024 vervollständigen, zu dieser Blogserie beitragen. Orte in Berlin und damit in unserer unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumgebung sollen erst einmal den Ausgangspunkt der Exkursionen bilden – eine räumliche Erweiterung ist aber nicht ausgeschlossen und wird auch von den Lebensumständen und Interessen der zukünftigen Projektmitglieder abhängen.

[3] Ausstellung Berlin Global, »Was Sie erwartet«.

[4] Bei ›Schwarz‹ handelt es sich um eine Selbstbezeichnung von Black, Indigenous (and) People of Color (BIPoC), die über die Hautfarbe hinausgeht und auf einem Verständnis von race als sozialer Kategorie beruht. Die Großschreibung unterstreicht den soziopolitischen Akt des Widerstands gegen die weiße Vorherrschaft. Die Verwendung eines kleinen ›w‹ bei der Schreibweise von ›weiß‹ weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Selbstbezeichnung handelt, sondern um eine Analysekategorie, die von Schwarzen Wissenschaftler:innen geschaffen wurde, um die weiße europäische Norm sichtbar zu machen.

[5] Ich habe die Tandemführung am 20.1.2024 besucht.

[6] Als der Bundestag 2002 für den Wiederaufbau eines Schlosses aus der Zeit der Preußenkönige und des Kaiserreichs, des Militarismus und Kolonialismus, stimmte, formierte sich zivilgesellschaftlicher Widerstand. Kritik von aktivistischer wie auch wissenschaftlicher Seite regte eine längst überfällige öffentliche Debatte über die deutsche koloniale Vergangenheit und Erinnerungskultur an. Zum Humboldt Forum als weiß, kolonial und/oder feudal kodiertem Raum vgl. beispielsweise Nikita Dhawan in einem Radiointerview für Deutschlandfunk Kultur (27.6.2020); das Kurzfilm-Essay zur Eröffnung des Humboldt Forums 2021 von Priya Basil: Locked In and Out (2021); oder auch Fatima el-Tayeb: »The Universal Museum: How the New Germany Built its Future on Colonial Amnesia«, in: Nka 46 (2020), S. 72–82.

[7] Meine folgenden Reflexionen beziehen sich auf ausgewählte Stationen der Führung. Auch hat Tanja-Bianca Schmidt in einem Telefonat mit mir (geführt am 31.1.2024) erläutert, dass die Führung »Sichtbar werden«, die sie schon einige Male durchgeführt hat, nicht immer gleich abläuft. Die Schwerpunkte variieren und werden von ihr teilweise situativ angepasst.

[8] Es gibt die Möglichkeit, das Wandbild online zu besichtigen. Dies birgt den Vorteil, dass die zusätzlichen Informationsmaterialen – im Gegensatz zur Ausstellung vor Ort – gut sichtbar positioniert und leicht zugänglich sind. Weiß blinkende Punkte direkt bei den betreffenden Figuren und Szenen machen auf sie aufmerksam.

[9] Vor jeder Wand finden sich kurze Begleittexte. Für ausführlichere Informationen, etwa zu spezifischen Figuren oder Szenen des Wandbildes, können die Zusatzmaterialien im virtuellen Kiosk in einer Ecke des Raums oder online konsultiert werden.

[10] So die durchwegs ähnlich formulierten Informationen zum Erwerbungskontext der Königinmutter-Objekte, die online nachgelesen werden können, z.B. https://sammlungenonline.humboldtforum.org/en/object-catalogue/146613-gedenkkopf-einer-koeniginmutter.

[11] Zu diesem Text gelangt man in der 360-Grad-Ansicht des Wandbilds über den weißen Punkt über den fotorealistischen Abbildungen der Benin-Bronzen. Detaillierte Informationen über die Plastik der Königinmutter sind auf der Website der Staatlichen Museen Berlin nachzulesen.

[12] Bild 1/4 im Slider »Weltdenken«.

[13] Beim »Rad der Geschichte« handelt es sich um eine elliptische, zentral im Raum positionierte, interaktive Medieninstallation, die in den Pressematerialien als Highlight der Ausstellung vermarktet wird.

[14] May Ayim: »Die Wut der Schwarzen Frauen sollte auch die Empörung der weißen Frauen sein« [1993], in: Ayim: Grenzenlos (Anm. 1), S. 103–109, hier S. 103.

[15] In den 1980er Jahren und darüber hinaus war ›Afro-deutsche Bewegung‹ (auch noch in der heute weniger gebräuchlichen Schreibweise mit Bindestrich) die gängige Bezeichnung. Heute findet sich jedoch eher ›Schwarze Deutsche Bewegung‹, da der Begriff – analog zur Selbstbezeichnung ›Schwarze Deutsche‹ statt ›Afro-Deutsche‹ – inklusiver ist.

[16] Auf der Schautafel sind neben der Schwarzen Deutschen Bewegung folgende »Subkulturen« abgebildet: Wandervogel, Wilde Cliquen, Swing-Jugend, Halbstarke, Rock’n’Roll, Hippies, Student:innenbewegung, Lesben- und Schwulenbewegung, West-Berliner Punk, Tunix-Kongress, Instandbesetzung, Alösa Frühlingsfest, Hip-Hop-Aktivismus, Clubszene auf Leerflächen der wiedervereinigten Stadt.

[17] May Ayim: blues in schwarz weiss. nachtgesang. Gedichte, Münster 2021, S. 69.

[18] Vgl. dazu Tiffany N. Florvil: Black Germany. Schwarz, deutsch, feministisch – die Geschichte einer Bewegung, übers. von Stephan Pauli, Berlin 2023.

[19] May Ayim: blues (Anm. 18), S. 26–27. Auf der Website des Rundfunk Berlin-Brandenburg ist eine Lesung des Gedichts verfügbar.

[20] Basil: Eingeschlossen / Ausgeschlossen (2021), 20:06–20:37 min.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sandra Folie: Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in »Berlin Global«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion, in: ZfL Blog, 15.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/15/sandra-folie-aspekte-schwarzer-geschichten-in-berlin-global-eine-fuehrungs-und-ausstellungsreflexion/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240215-01

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Elke Schmitter: LET’S CALL IT NACHBARSCHAFT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/08/elke-schmitter-lets-call-it-nachbarschaft/ Thu, 08 Feb 2024 10:30:05 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3200 Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Weiterlesen

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Neujahrsempfang, Eberhard-Lämmert-Saal, Begrüßung durch Eva Geulen, Vorstandsvorsitzende der GWZ

Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Forschungsbibliotheken von ZfL und ZAS sowie der Eberhard-Lämmert-Saal. Während des Neujahrsempfangs, mit dem sich ZfL, ZAS und die GWZ am 11. Januar 2024 der unmittelbaren Nachbarschaft vorstellten, entstand die Idee zu dieser Glosse.

Die Redaktion

Der Zettel war klein, das Fenster war groß, dahinter der Bücher viele: So ein freundliches Rätsel am Rande der lauten Straße. Immer gerät man, war’s eben noch schön, an so eine Brache in dieser Stadt, die dem Fußgänger sagt: Hier bist du nicht bedacht. Hier waltet die Schneise, die dich vom anderen Ufer über sechs bis acht Spuren trennt, hier hat ein komatöser Nachkriegspolitiker mal auf den Planungstisch gehauen und einen Platz ausgerufen (der aus einer Kreuzung und einer Unbehaustheit besteht), und immer sind die Ampeln so geschaltet, dass die Kleinen und die Gebrechlichen auf dem Mittelstreifen noch mal daran erinnert werden, dass sie zu klein und zu gebrechlich sind für die Geschäftigen, die Motorisierten, die Durch- und Draufgänger des Verkehrs, die hier nichts suchen und erst recht nichts finden.

Neujahrsempfang, Blick von außen durch das Fenster in den Eberhard-Lämmert-Saal

Doch dann findet so ein Zettel dich und sagt: Wir ziehen hierher und freuen uns schon. Sind, leider schade, kein öffentlicher Ort, aber sprechen doch eine Art Willkommen aus; keine Aufenthaltsgarantie, doch eine Geste, die sagt: Es ist uns nicht egal, wo wir sind, und wir würden auch gerne bleiben.

Und drei Tage später klopfte ich an die Scheibe und ließ mir artig erklären, was für eine Bibliothek das ist (ohne schnippischen Verweis auf die Website, wo ja alles Nötige steht), und noch am Abend schrieb ich eine Mail, ob ich möglicherweise – als Autorin ohne wissenschaftlichen Auftrag – hin und wieder kommen könnte, um ein bisschen zu suchen, zu finden, zu lesen, für einen Roman mit Fußnoten, der gerade entsteht … Und bekam eine freundliche Antwort. Und wiederum zwei Tage später, im tristen Novembergrau, akkreditierte ich mich, ganz offiziell und zugleich angenehm formarm, und mein Blick schnürte einmal die kleinen und großen Gänge entlang, und ich dachte: Hier ist gut sein.

Und schon am übernächsten Tage war es so weit, ein kleiner, urbaner Schicksalsschlag: das Schlüsselmäppchen aus der Tasche gerutscht, darin frisches Geld, die EC-Karte; was einen so zur Bürgerin macht. Und wenn man zu denen gehört, die auf Handtaschen gern verzichten, auf Rucksäcke sowieso, und gern so durch die Straßen flanieren, als wären sie da zu Hause – dann ist das eben der triviale worst case. Dann läuft man noch ein bisschen die Wege ab, und bevor einem klar wird, dass man, natürlich, im Café Manzini oder im Café Piter auf das gewohnte Gesicht Kredit bekäme, um die Zeit zu überbrücken, bis die Mitbewohnerin kommt (und dem Novemberregen so zu entgehen): ist man schon so weit demoralisiert, dass man sich nicht mehr kreditwürdig fühlt.

Aaaber: Da gibt es ja diesen Ort … Und da durfte ich ja auch offiziell hin.

Und da war ich dann auch willkommen.

Legte den schnell dampfenden Mantel ab, ging ein paar Schritte hin und her, vor den Gängen und zwischen den Gängen, nahm die Ruhe auf, die aus den Gesichtern sprach und von den Buchrücken geradezu übersprang. Geriet durch glückliche Fügung in gerade jene Regalreihe, in der das Archiv für Begriffsgeschichte in allen Jahrgängen still und doch selbstbewusst prangt, und damit in aufs Angenehmste nerdig-konzentrierte Aufsätze des Bandes Trost (65,1; hrsg. von Carsten Dutt, Hubertus Busche und Michael Erler), in dem durch die Autoren Gerhard Schreiber und Martin Laube die Erwägungen von Kierkegaard und Blumenberg, von Rodin wie Koselleck miteinander zum Sprechen kamen. Interessant für mich als Ungläubige: Dass Kierkegaard den Trost des Christentums eben nicht als Wohltat versteht, die man spendet (für beispielsweise eine wie mich), dass er eben kein Ersatz sei »für den Verlust zeitlicher Freude, sondern selbst Freude ist, und zwar die der Ewigkeit«. Eine ultimative Hoffnung, für die es keine Begründung gibt, nur einen Entschluss, eine Art performative Selbstschleuderung ins Transzendente. Und dann, überraschend zornig oder auch bitter, vielleicht Adorno-geschult, ein Zitat des Theologen Henning Luther (sic!) von 1998: 

»Trost wird da zur Lüge, wo Sinn suggeriert wird und jeder Anflug eines Verdachts der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit unserer Lebensverhältnisse tabuisiert und verdrängt wird.«

Neujahrsempfang, Keynote Lecture Michael Mönninger, »Der Neubau ACHTUNDEINS und seine Nachbarschaft«

All das interessant für den Kopf, während der Körper, auch als atmosphärisches Wesen gedacht, den tatsächlichen Trost des Obdachs genoss, das ich hier gefunden hatte. Und der mich natürlich bindet, weshalb ich ein glücklicher Gast dieses Hauses zu nennen bin. Erst recht nach der splendiden nachbarschaftlichen Öffnung und Feier am 11. Januar 24, bei der Michael Mönninger historisch-kritischen Aufschluss gab über den Kontext dieser neuen Immobilie, ihre berlintypische Verwobenheit in architektonische wie menschliche Bill wie Unbill; Fuge, Fügung, alles dabei. Als würde die Stadt, dürstend nach Schönheit und städtebaulichem Verstand, abwechselnd aus Lethe und Mnemosyne trinken. Im Unterschied zu den Eröffnungspartygästen, die ganz anderes zu sich nahmen. Aber mit garantiertem Mnemosyne-Effekt!

Elke Schmitter ist Journalistin und Schriftstellerin und wohnt in der Nachbarschaft des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Elke Schmitter: Let’s Call It Nachbarschaft, in: ZfL Blog, 8.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240208-01

 

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Patrick Eiden-Offe: EDITIONSPHILOLOGIE ALS AKTIVISMUS: Der umkämpfte Hölderlin https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/ Tue, 05 Dec 2023 09:10:23 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3175 In Erinnerung an Marianne Schuller Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren Weiterlesen

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In Erinnerung an Marianne Schuller

Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren ab­geschlossen sein; tatsächlich erscheint der letzte Band 2008. Aufsehen­erregend war die neue Ausgabe vor allem wegen ihrer Editionsprinzipien: Alle Handschriften werden im Faksimile wiedergegeben, eine »typographische Umschrift« bildet die Schrift­bildlichkeit der Handschriftenblätter ab, eine »Phasenanalyse« macht den zeitlichen Charakter des Entwurfsprozesses nach­vollziehbar. Aufsehenerregend war aber auch, dass die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) von Anfang an unter einem politisch-aktivistischen Stern stand: »Roter Stern über Hölderlin« oder »Liest Marx jetzt Hölderlin?« lauteten einschlägige Überschriften in der Presse.

Vom Verlag hatte Sattler »einen allgemein zugaenglichen besseren text« gefordert, und eine Ausgabe, die die »trennung von wissenschaftlichen und populaeren ausgaben« aufhebt, um damit ein größeres Publikum zu erreichen. Die komplizierten Editionsprinzipien und die spektakuläre Druckgestaltung dienten dem aufklärerischen Ziel, den Leser:innen eine Ausgabe an die Hand zu geben, die es ihnen er­laubte, editorische Entscheidungen selbst zu überprüfen. Die FHA, so hieß es, »bleibt nicht bei der utopie des idealen lesers stehen, sondern unternimmt es, ihn zu bilden«.[1]

Dieser Anspruch schließt zwei Annahmen ein: Erstens Hölderlin geht alle an! und zweitens Es gibt Leute, die das verhindern wollen. Die erste Annahme speist sich aus den Debatten um einen »neuen Hölderlin«, die seit den 1960er Jahren geführt wurden. Gegen die restaurative Vereinnahmung des Autors etwa durch Martin Heidegger hatten schon Theodor W. Adorno und Peter Szondi Einspruch erhoben.[2] Pierre Bertaux hatte den »Jakobiner Hölderlin« entdeckt, der zugleich zur Ikone der Antipsychiatrie avancierte.[3] Dieser neue Hölderlin wurde nun von der FHA editorisch unterstützt.

Das führt zur zweiten Annahme: Die FHA wendet sich explizit gegen die große Stutt­garter Ausgabe (StA), die 1974 gerade ab­geschlossen worden war. Diese war 1943 von dem Tübinger Germanisten Friedrich Beißner begründet worden und galt im Fach als mustergültig. Die Herausgeber der FHA erhoben nun schwere Vorwürfe. In der StA fänden sich massenhaft »falsche[] Entzifferungen und Textzusammenstellungen«, die absichtlich vorgenommen und »ästhetisch motiviert« seien. Die ästhetische »Vorliebe fürs ›Vollendete‹« sei aber eigentlich politisch zu verstehen, als Votum für eine geschlossene Gemeinschaft, die sich im vollendeten Werk wiederfinden solle.[4] Hier schließt sich der Kreis: Denn Beißner war NSDAP- und SA-Mitglied und hatte 1943, parallel zum Start der StA, eine »Feldausgabe« Hölderlins besorgt. Der philologische Einsatz für den unverstellten Hölderlin wurde für die Frank­furter so zu einem buchstäblich antifaschistischen Kampf dafür,

»daß gepfleget werde /
Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet«.[5]

Das Hölderlin-Imperium schlägt umgehend zurück. Das ganze Unternehmen der FHA sei rein politisch motiviert und schon des­wegen wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, der Herausgeber Sattler ein fach­fremder Autodidakt. Die Auseinander­setzung zog sich lange hin und ist mittler­weile Gegenstand einer »historischen Kontroversenforschung« geworden.[6] Das Ergebnis der Auseinandersetzung lässt sich mit dem Titel eines Büchleins aus dem Merve Verlag, ebenfalls aus dem Jahr 1975, zusammenfassen: Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt. Die FHA löste eine editions­philologische Revolution aus, hinter die es kein Zurück gab. Sie etablierte einen neuen Standard, der nicht zuletzt in den großen Editionsprojekten zu Kleist und Kafka bekräftigt wurde, die in der Folge bei Roter Stern erscheinen sollten.

Wissenschaftshistorisch könnte man die Geschichte der FHA also als Lehrstück darüber lesen, wie ein wenigstens zum Teil von außerhalb der Wissenschaft kommender politisch-aktivistischer Impuls ein wissenschaftliches Feld aufmischt und neu sortiert, bis sich dort schließlich ein Paradigmenwechsel vollzieht. Eine solche Erfolgsgeschichte atmet indes wenig Hölderlin’schen Geist. Denn ihm waren immer auch die Verluste und die »Narben« wichtig, die der Gang der Geschichte schlägt.[7] Vielleicht müssen wir, gerade wenn es um den Zusammenhang von Aktivismus und Wissenschaft geht, auch danach fragen, was aus den initialen politischen Impulsen wird, wenn sich der »rationale Kern« der wissenschaftlichen Debatte herausschält und der Aktivismus überflüssig zu werden droht.

Zur politischen Dimension der FHA gehörte eine Provokation, die aufs eigene Lager zielte: Gekämpft wurde nicht nur gegen die Verfälschung Hölderlins, sondern auch gegen eine Linke, die diese nicht durchschaut und sich deshalb für Hölderlin gar nicht erst interessiert. Dieser Konflikt wird gleich im ersten Heft von Le pauvre Holterling offengelegt, einer Schriftenreihe, die die FHA als Organ einer wissenschaftlichen und politischen Selbstverständigung und Gegenöffentlichkeit von Anfang an begleitet hat. In einem »offenen Brief« mokieren sich hier »ehemalige Mitarbeiter« des Verlags über die FHA, die sie unter Verweis auf die portugiesische Revolution, die »Obdachlosen«, die »arbeitslosen Jugendlichen«, das »tapfer kämpfende Volk der Palästinenser« und schließlich »die Genossen im Knast« als politisch überflüssig verwerfen. Eigentlich gehe es wohl darum, als »linke[r] Verlag« in der Krise zu überleben, »indem man bürgerliche Dichter, die begriffs- und gefühlsduselig antikapitalistisch waren, verlegt und den Linken als links und revolutionär, den Bürgern als ›nichtradikale Neueinschätzung‹ (FAZ) verkauft«.[8]

Darauf antwortet im gleichen Heft der selbst »im Knast« einsitzende Schriftsteller Peter Paul Zahl. Der hält zunächst fest, dass er nicht »für revolutionäre Portugiesen, Obdachlose, Jugendliche und Palästinenser« sprechen könne, wohl aber vielleicht für die »Genossen im Knast« – und als ein solcher brauche er persönlich den unverfälschten Hölderlin unbedingt, um im Gefängnis zu überleben. Zahl mahnt einen kulturrevolutio­nären Kampf an, der sich nicht ausschließlich an »konkreten Tageszielen« orientieren dürfe, sondern auch eine »Rekonstruktion von Sinnlichkeit und Sprache, von Kommunikation« im Blick haben müsse – und dabei »kann Hölderlin uns helfen«.[9] Zahls Intervention verdeutlicht, dass die FHA auch zur kulturellen Aufklärung einer kulturbanau­sischen Linken beigetragen hat. Die ehemaligen Mitarbeiter aber haben vielleicht auch einen Punkt, wenn sie danach fragen, was von einer revolutionären Edition bleibt, wenn das übergreifende politische Projekt verloren geht.

In der politischen Ernüchterung und Depression, die nach 1975 bald eintrat, kehrte sich der polemisch-aktivistische Impuls der FHA gewissermaßen nach innen. Im Verbund von Verlag und Herausgebern kommt es nun zu Friktionen, die mitunter beklemmende Züge annehmen. Die Herausgeber etwa werfen dem Verlag vor, auf seinen Rechten zu beharren und so die Verbreitung des »echten« Hölderlin zu verhindern. Und Sattler, der als überzeugter Antiakademiker die FHA immer auch als Einspruch gegen eine »szientifisch verkürzte« Literaturwissenschaft verstanden hat, kann es nur als Verrat werten, wenn einzelne seiner Mitherausgeber mit ihrer editorischen Kompetenz bald akademische Karriere machen.[10] Vom einst kämpferischen Kollektiv bleiben schließlich nur verfeindete Einzelne übrig, die sich verraten fühlen.

Wenn wir heute über Wissenschaft und Aktivismus debattieren, dann geht es schnell um die Gefahren des Aktivismus für die Wissenschaft. Die Geschichte der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe lehrt hier Gelassen­heit: Mitunter speisen sich die großen wissen­schaftlichen Innovationen genau aus den aktivistischen Impulsen, die den Zeitgenoss:innen völlig überspannt oder sogar verrückt erscheinen. Die Geschichte der FHA lehrt aber auch, nach den Kosten solcher Erfolge für die Aktivist:innen und ihr politisches Anliegen zu fragen. Denn unter dem Zwang des wissenschaftlichen Fortschritts werden diejenigen, die sich nicht anpassen wollen oder können, schnell zu den »Untergetretenen« und »Irregeführten«, von denen die Geschichte voll ist und denen wir – den letzten Sätzen von Sattlers Nachwort zum letzten Band der FHA folgend – beizustehen haben:

»Zornlos, kraft tieferer Einsicht.«[11]

 

Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle der DFG mit dem Projekt Georg Lukács: eine intellektuelle Biographie. Außerdem leitet er das Projekt Kartographie des politischen Romans in Europa. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

 

[1] D. E. Sattler: »Persönlicher Bericht. VII« auf der persönlichen Homepage hoelderlin.de unter »d e sattler – entwuerfe editionen«.

[2] Vgl. Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins« [1963], in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 447–491; Peter Szondi: »Hölderlin-Studien« [1967], in: ders.: Schriften I, Berlin 2011, S. 261–366.

[3] Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, Frankfurt a.M. 1969, und ders.: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1978.

[4] Michel Leiner/D. E. Sattler/KD Wolff: »Vorwort«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 10–19, hier S. 17.

[5] So heißt es im Schluss von Hölderlins Patmos.

[6] Vgl. Gideon Stiening: »Editionsphilologie und ›Politik‹. Die Kontroverse um die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe«, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007, S. 265–298.

[7] »ein Ärgerniß aber ist Tempel und Bild, // Narben gleichbar zu Ephesus. Auch Geistiges leidet« – so die späte, selbst tief vernarbte Überarbeitung von Brod und Wein.

[8] Sechs Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter: »Liebe Mitarbeiter des Verlags Roter Stern! Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 1, 1976, S. 22.

[9] Peter Paul Zahl: »An ehemalige Mitarbeiter des Verlags Roter Stern. Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling (Anm. 8), S. 23–25, hier S. 23f.

[10] Leiner/Sattler/Wolff: »Vorwort« (Anm. 4), S. 17.

[11] D. E. Sattler: »Zur Edition«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 20, Frankfurt a.M. 2008, S. 8.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe: Editionsphilologie als Aktivismus: Der umkämpfte Hölderlin, in: ZfL Blog, 5.12.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231205-01

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