Jahresthema HISTORISIEREN HEUTE Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/category/jahresthema-historisieren-heute/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 24 Nov 2021 09:45:07 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Jahresthema HISTORISIEREN HEUTE Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/category/jahresthema-historisieren-heute/ 32 32 Clara Fischer: HEIMELIGES HELDINNENTUM. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/10/05/clara-fischer-heimeliges-heldinnentum-anne-webers-annette-ein-heldinnenepos/ Mon, 05 Oct 2020 08:44:09 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1565 Das Epos ist ein fruchtbares Klischee: irgendetwas mit Siegfried, Drachen, Odysseus oder Troja. Eine alte Heldengeschichte, die an sich womöglich sogar spannend ist, die man aber nicht gelesen hat und auch nicht lesen möchte. Denn das Epos ist dick und sperrig. Diese Vorannahmen sitzen tief. Mit Leichtigkeit lässt sich ein ganzes Germanistikstudium eposfrei absolvieren und Weiterlesen

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Das Epos ist ein fruchtbares Klischee: irgendetwas mit Siegfried, Drachen, Odysseus oder Troja. Eine alte Heldengeschichte, die an sich womöglich sogar spannend ist, die man aber nicht gelesen hat und auch nicht lesen möchte. Denn das Epos ist dick und sperrig. Diese Vorannahmen sitzen tief. Mit Leichtigkeit lässt sich ein ganzes Germanistikstudium eposfrei absolvieren und selbst unter den wenigen Gattungsfreundinnen und -freunden beschränkt sich das Interesse meist auf die kanonischen Werke der Antike und des Mittelalters. Man mag die Versepik daher für tot erklären; das Klischee hat aber an Lebendigkeit nicht eingebüßt und ist heute, da Namen und Taten der Besungenen zwar zitiert, sogar verfilmt, aber jenseits der Fachgelehrtenstube nicht mehr gelesen werden, vielleicht munterer denn je. Ein Versepos zu schreiben und zu veröffentlichen scheint allerdings regelrecht töricht.

Wenn man Anne Weber nun Mut bescheinigen möchte dafür, mit Annette, ein Heldinnenepos die Form des Versepos gewählt zu haben, so bedient man sich damit einer weiteren gängigen Floskel, die im Fahrwasser dieser gleichermaßen verehrten wie gefürchteten Gattung schwimmt (Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz, Berlin 2020). Mut brauchen Versepiker und Versepikerinnen (und besonders ihre Verlage) tatsächlich seit jeher, denn jenseits der Aufmerksamkeit gewählter Kreise ist mit Versepik für gewöhnlich keine breitere Leserschaft zu erreichen. Bereits im frühen 19. Jahrhundert, das dieser Form noch äußerst aufgeschlossen gegenüberstand, ertönte die Warnung:

»Wer sicher vor Gelesenwerden seyn will, schreibe jetzt ein Heldengedicht.«[1]

Der Mut, den Wortschaffende damals aufbringen mussten, war allerdings von besonderer Art, denn Homers Ilias und Odyssee, Dantes Göttliche Komödie oder, als große Entdeckung des späten 18. Jahrhunderts, das Nibelungenlied gehörten zum bildungsbürgerlichen Kanon. Sie wurden an den höheren Schulen gelesen, aus ihnen wurden Definitionskriterien destilliert und neuzeitliche Rhapsoden mussten sich einen direkten Vergleich mit Homer gefallen lassen, an dem sie fast zwangsläufig scheiterten. Den Nimbus höchster Dichtkunst hat das Epos sich zwar bewahrt, wirklich ernst nimmt ihn allerdings niemand mehr. Auch die Jurys von Deutschem Buchpreis und Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, auf deren Shortlists Annette es in diesem Herbst geschafft hat, werden kaum mit überzogenen Erwartungen an das Werk herangetreten sein, denn die Heldenepik, auf die der Titel anspielt, ist eben nur noch als Klischee kanonisch.

Dieses Klischee hat auch seine finsteren Ecken, die sich trefflich ausleuchten lassen. In der Tat erfindet Anne Weber mit ihrem »Heldinnenepos« quasi eine neue Gattung, denn die Heldendichtung rühmt klassischerweise den Mann und nicht das Weib. Doch selbst die Zeit des Mannes scheint abgelaufen zu sein. Der ›echte‹, schwertschwingende Held ist, wie verschiedentlich festgestellt wurde, als Spezies so tot wie die Gattung, die ihn besingt.[2] Der Klischeebruch ist es also, dem Anne Weber sich vom Titel an verschreibt. Entgegen dem Klischee legt sie keinen Wälzer, sondern ein recht schmales Bändchen vor, entgegen dem Klischee bedient sie sich keines komplizierten Metrums wie des Hexameters, sondern schreibt in freien Versen, die sich über weite Strecken wie Prosa lesen. Und entgegen dem Klischee hebt Weber eine Frau in den Stand der Heldin.

»Es gibt also noch wirkliche Heldinnen«, fragt der Buchumschlag, »ganz ohne Anführungszeichen, denen man auf der Straße begegnen, mit denen man reden, die man kennenlernen kann?« Die Heldin, die Anne Weber besingt, ist – auch dies recht ungewöhnlich für ein Epos – die höchst lebendige Anne Beaumanoir, genannt Annette. Erzählt wird von ihrer glücklichen Kindheit als Tochter armer, aber aufrechter Leute, vom Engagement der Siebzehnjährigen in der Résistance und der späteren Ärztin und Mutter dreier Kinder im Algerienkrieg, von ihrer Verurteilung zu Gefängnishaft, der Flucht aus Frankreich und ihrer Trennung von der Familie.

Die erste Heldentat Annettes ist ihre einzige. Im Alleingang entschließt sich die junge Frau, eine versteckte jüdische Familie vor einer bevorstehenden Razzia zu warnen. In einer Dachkammer findet sie fünf Personen vor. Wenn der Vater nach einigem Zweifeln seine beiden Kinder mit Annette, »selbst noch halb Kind«, fortschickt und die drei Halbwüchsigen einen beschwerlichen Weg durch die Nacht antreten, so gelingt Weber damit eine sehr innige und beklemmende Szene, die sich durch ihre Länge und den Verzicht auf jegliche Ironie auszeichnet. Es wird hier mit einem leisen Pathos gesprochen, vielleicht, weil die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer der NS-Zeit die letzten Heldenfiguren sind, die die Geschichte zu bieten hat und deren Taten in unserer Kultur ohne Augenzwinkern gerühmt werden dürfen.

In den vorhergehenden und in den folgenden äußerst kurzen Episoden – vornehmlich über Annettes Engagement für die Unabhängigkeit Algeriens – wird dieser für die Heldenepik typische ›hohe Stil‹ allerdings weitgehend gemieden. Weber bedient sich zumeist einer dezidiert unpoetischen, mündlich-saloppen Sprache. Bereits in der Schilderung von Annettes Kindheit erfahren wir beispielsweise, dass sie »Tochter eines Fahrradchampions, / also gut, Champions ist zu viel gesagt, / aber doch eines Sportlers, der bei der / Tour de France teilgenommen hat«, ist. Mit diesem ironischen und bisweilen etwas spöttischen Ton entkommt die Autorin dem legendären epischen Leiergesang. Ihrer Heldin wird er allerdings zum Verhängnis. Denn was man in der Erzählung einer idyllischen Kindheit noch nett finden mag, durchzieht als Grundton das gesamte Epos.

Weber übt sich wiederholt in einer Kontrastierung des Großen mit dem Kleinen, der Weltpolitik mit privaten Ängsten und Nöten. Während der Weltwirtschaftskrise haben die Eltern »ihre eigne Große Depression«, denn Annette leidet unter einer Hirnhautentzündung. Während »die Alliierten in die Normandie einfallen […] / pflückt sie Aprikosen.« Und wenn sie als angeklagte Terroristin in Frankreich den Gerichtssaal betritt, in dem sie wegen Staatsgefährdung zu zehnjähriger Haftstrafe verurteilt werden wird, begrüßt ihr Mitangeklagter sie mit Handkuss. »(Für eine Verfilmung ihres Lebens raten wir sehr / zu dieser Szene.)«

Die beklemmendsten Situationen werden dergestalt, durch latente Ironie und launige Erzählerinnenkommentare, einer unterschwelligen Verniedlichung unterzogen. Niedlich sind häufig auch die Heldinnen, die an Annettes Seite kämpfen, so eine Mitstreiterin in der Résistance, die zwar »nicht besonders helle« ist, aber »wer das Herz / auf dem rechten Fleck, also zum Beispiel nicht in / der Hose hat, dem gerät auch der Kopf, so leer er / sein mag, nicht so schnell aus der rechten Bahn«. Wenn sich eine algerische Widerstandskämpferin wirklich einmal selbst zur Heldin erklärt, honoriert die Erzählung dies mit ein paar spöttischen Kommentaren, um versöhnlich zu schließen, die Hoffärtige sei immerhin »gescheit und eine gute Gefängniskameradin«.

Es wäre diese Verniedlichung ein erträgliches Stilmittel, wenn es etwas sparsamer eingesetzt würde und wenn es nicht so typisch gerade für das weibliche Sprechen wäre. Die Extreme, sei es das der Hinterhältigkeit oder das des Leidens, bleiben in diesem Epos seltsamerweise vornehmlich wieder den Männern vorbehalten. Die Frauen versuchen ihr Bestes und nehmen sich selbst und ihre Taten nicht allzu ernst. Zum Heldinnentum gehört anscheinend die Verschleierung desselbigen.

So ungewöhnlich dieses ironisch-putzige Sprechen für ein Epos zunächst wirken mag – es gibt durchaus eine Tradition, in der sich Weber damit bewegt: die der Biedermeierepik. Diese Spielart, die auf geringen Umfang, freiere Verse, idyllische Szenerien und das Heldentum des Heimeligen setzt, feierte zeitweise große Erfolge. Auch Weber übt sich in einer wiederholten Verkleinerung und Verhäuslichung der Geschehnisse und Empfindungen. Da wird der Inhaftierten von einer muslimischen Gefängnisinsassin das Verspeisen einer Weihnachtsgans verboten, Konsequenz: »Alles schläft, einsam wacht und heult Annette.«

Für die Heldin geht es natürlich nicht so lustig zu wie für die Erzählerin. Von deren Ängsten, Zweifeln und Nöten erfahren wir immer wieder, allerdings in einem reportagehaften Stil, der selbst existentielle Sorgen zum kleinen Intermezzo macht. Obgleich uns versichert wird, das Epos schildere nur eine Auswahl von Annettes spektakulärsten »Weltverbesserungsversuchen«, hätte ein noch größerer Mut zur Lücke vermutlich nicht geschadet, denn im Bestreben, möglichst umfassend von ihren Taten zu erzählen, reiht die Autorin stakkatoartig kurze Szenen aneinander, von denen nur wenige eine Intensität erreichen wie die der Judenrettung. Weber beschränkt sich meist auf ein abstraktes Berichten, das von Respekt und zugleich einer Ironisierung alles Respektheischenden getragen ist. Durch diesen Stil erfahren wir zwar, was Annette erlebt und fühlt. Nachvollziehen, mitempfinden können wir es aber nicht.

Wichtiger als Nachvollziehbarkeit scheint der Erzählerin die Rechtfertigung ihrer Heldin zu sein. Das Engagement Annettes im Algerienkrieg erschöpft sich eben nicht in einer Heldentat, mit der ganz konkret zwei Menschenleben gerettet werden, sondern in der Unterstützung der Widerstandskämpfer als »Kofferträgerin« in Frankreich, später als Mitarbeiterin des algerischen Gesundheitsministeriums. Ihre Aktionen dienen höheren politischen Zielen und entbehren damit einer unmittelbaren Wirksamkeit. Ein solches Handeln als Heldentum zu verkaufen, ist um einiges komplizierter, denn ob und wie Menschen davon zukünftig profitieren und wieviel Schaden Annette, wenn auch unwissentlich, mit ihrem Engagement anrichten mag, bleibt im Moment des Handelns ungewiss und wird im historischen Rückblick hier und da fragwürdig. So ergeht sich das Epos über weite Strecken nicht allein darin, von Annettes Erlebnissen zu berichten, sondern vor allem, sie zu rechtfertigen.

Eine Heldin braucht eine Sache, für die sie streitet. Wofür kämpft die moderne Heldin? Eine Nation ist es natürlich nicht, auch kein König, keine Partei, es sind »Prinzipien« und »Ideale«, von denen im Text schon früh die Rede ist, die aber bis zuletzt merkwürdig hohl und schwammig bleiben: Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung. Von diesen Wörtern, einem Minimalkonsens dessen, was derzeit als heldentatenwürdig gelten könnte, wird der allzu hartnäckige und nicht selten in offensichtliche Naivität abdriftende sozialistische Traum der Heldin beschirmt. Falsch scheinen nicht die Ideale Annettes zu sein, sondern die Realität:

»Annette träumt noch den
Traum eines sozialistischen, gerechten Landes und
ahnt nicht – will vielleicht nicht ahnen,
sondern hoffen –, was diese Männer später mal
draus machen.«

Der Held der Heldenepik bekümmert sich nicht darum, ob eine weltliche Moralinstanz seine Taten gutheißt. Die Figur Annette hingegen leidet unter einem latenten Rechtfertigungsdruck, den die Erzählerin selbst heraufbeschwört. Dass alle Einwände, die man gegen bestimmte politische Aktionen einbringen könnte, artig ausformuliert und unentwegt die Dilemmata der Annette geschildert werden, schadet der Heldin mehr, als es ihr nützt. Es geht viel Raum darauf, uns Annettes guten Willen glaubhaft zu machen, statt die Sinnhaftigkeit ihres Tuns im Handeln selbst zu zeigen. Reflexion folgt auf Reflexion, die Leserin gerät unter den Dauerbeschuss einer expliziten Fragerei danach, was zum Engagement treibt, ob es richtig oder falsch ist, ob man anders handeln könnte. In summa laufen diese Bemühungen auf eine ausgedehnte Apologie hinaus: Diese Heldin soll allen gefallen. Uns wird erzählt von einer Frau, die »alles richtig machen [will]« und »vielleicht nicht jedem, aber vielen ein / Bett anbietet und ein Essen reicht«. Wenn eines ihrer Kinder unter den Umständen leidet, beruhigt uns die Erzählerin: »Schlimmere Vorwürfe als sie, / Annette, sich selber macht, kann keiner leicht erheben.« Und wenn es noch etwas heikler wird, wenn Annette nach der Befreiung Algeriens sich unguten Entwicklungen nicht entgegenstellt, dann

»vielleicht, weil sie es gar nicht merken will, es wär ja
nicht das erste Mal, dass jemand das nicht sieht, was er
nicht sehen will, weil es nicht passt in das Tableau,
das ging doch jedem schon mal so.«

Ja, das ging jeder schon mal so, und deswegen sind Heldinnen so selten.

***

Das Klischee des Heldenepos hat Weber erfolgreich unterlaufen. Allerdings um den Preis, ein anderes Klischee zu bedienen: das der selbst in ihren großen Taten durch ihr schieres Weiblichsein irgendwie putzigen Frau. Durch einen doppelten Klischeebruch – Weber verweiblicht den Helden, um sogleich den Heldengesang zu verabschieden – gerät die Heldin zur Totgeburt. Was bleibt, ist ein Epos über eine Frau, die das Herz am rechten Fleck hat. Die Biedermeierepik hat damit gut anderthalb Jahrhunderte nach ihrem Niedergang eine würdige Nachfolge gefunden.

Gibt es wirkliche Heldinnen, ganz ohne Anführungszeichen? Nach Lektüre von Annette muss man sagen: Offenbar nicht. Es mag von der Autorin (und vor allem von ihrem Verlag) mutig sein, sich an ein Versepos zu wagen. Der Mut beschränkt sich in diesem Falle allerdings auf ein etwas kokettes Spiel mit einschlägigen Gattungsklischees. Man hätte sich noch mehr Mut gewünscht, nämlich den, uns eine Heldin zu präsentieren, ohne Rücksicht darauf, ob deren Heldentaten allen Moralaposteln gefallen. Ein wenig mehr Mut zum Gestalten – ein Text muss Fragen nicht stellen, um sie aufzuwerfen – und zum Vertrauen in die Leserin, der durch die vorgefertigten Dauerreflexionen wenig Möglichkeiten bleiben, eigene Gedanken aus Annettes Lebensgeschichte zu entspinnen.

Man hätte sich auch Mut gewünscht zu dem, was in Epostheorien ›Anschaulichkeit‹ und ›Pathos‹ heißt. Der Verzicht auf Letzteres gilt in der Gegenwartsliteratur gemeinhin als rühmlich, was auch daran liegen dürfte, dass es sich um eine komplizierte Tonart handelt, in der man intonatorisch schlimm danebenliegen kann. Doch auch die Ironie will wohldosiert sein. Es ist gewiss riskant, in einem hohen Stil zu singen. Aber einen Versuch wäre es wert und einer Heldin würdig.

 

Die Germanistin Clara Fischer war bis 2019 Mitarbeiterin am ZfL. Ihr Dissertationsprojekt »Experimentierfeld Versepos (1918–1933)« wird seit August 2019 vom Cusanuswerk gefördert.

 

[1] Ignaz Jeitteles: »Roman«, in: ders.: Aesthetisches Lexikon. Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der schönen Künste. Nebst Erklärung der Kunstausdrücke aller ästhetischen Zweige, als: Poesie, Poetik, Rhetorik, Musik, Plastik, Graphik, Architektur, Malerei, Theater etc., Bd. 2, Wien 1837, S. 263–269, hier S. 264.

[2] Vgl. dazu auf dem ZfL BLOG Claude Haas: »Heldenpandemie oder Pandemiehelden? Bemerkungen zur neuesten Heroismusforschung«, 14.4.2020.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Clara Fischer: Heimeliges Heldinnentum. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos«, in: ZfL BLOG, 5.10.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/10/05/clara-fischer-heimeliges-heldinnentum-anne-webers-annette-ein-heldinnenepos/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201005-01

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Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/09/07/eva-geulen-altes-und-neues-aus-den-literaturwissenschaften/ Mon, 07 Sep 2020 07:00:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1538 Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Weiterlesen

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Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Geschichtslektion: Die große Zeit der Geisteswissenschaften lag in dem Jahrhundert zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg. Danach ging es etappenweise bergab, mit verzweifelter, auch vor schlimmsten Ideologien nicht Halt machender Anbiederung an die sogenannte Öffentlichkeit; aber auch Rückzug in den Elfenbeinturm und zunehmende Verwissenschaftlichung trugen zur Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften bei.

Schließlich der Silberstreif einer neuen Aufgabe der Geisteswissenschaften heute, in außerakademischen Kontexten, wo man Leute mit Erfahrung in ästhetischer Erfahrung offenbar gut gebrauchen kann, weil sie die Fähigkeit besäßen, »die Welt komplexer aussehen zu lassen«. Eine entsprechende Praxis könne jedenfalls »zurückführen zu einem säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation« – im Unterschied zur abgehobenen Kunstreligion der vorigen Jahrhundertwende –, »in dem schon immer die eigentliche Stärke, ja der spezifische gesellschaftliche Beitrag der sogenannten Geistes-›Wissenschaften‹ gelegen hatte«. Da ist was dran.

Andreas Kablitz mochte dazu aber nicht schweigen, gab den Gegenspieler und korrigierte am 4. November 2019 in der FAZ erst einmal Gumbrechts Festlegung der Geisteswissenschaften auf Expertise in ästhetischer Erfahrung. Geisteswissenschaftliches Kerngeschäft sei vielmehr »die Rationalisierung einer schon vorausgesetzten ästhetischen Wirkung«. (»Begreifen, was uns ergreift«, hieß das bei Emil Staiger.) Und ihre vornehmste wie wichtigste Aufgabe fänden die Geisteswissenschaften immer noch in der Lehre. Die heute sträflich vernachlässigte Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sorge automatisch und hinreichend für die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften. Da ist auch was dran.[1]

Dass beide Positionen dennoch harmonisch zusammenstimmen, liegt auch an ihren geteilten Prämissen. Es hat nämlich seit dem 18. Jahrhundert keinen Bildungsbegriff gegeben, der ohne ästhetische Erfahrung gedacht werden könnte, wie es umgekehrt seither auch kein von (Aus-)Bildung ganz entkoppeltes Konzept ästhetischer Erfahrung gegeben hat. Beider Widerstreit gehört konstitutiv zur deutschen Bildungstradition Humboldt’scher Prägung und bestimmt die Diskussion von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794) bis zu Adorno, der in der »Frühen Einleitung« zu seiner Ästhetischen Theorie (1970) bemerkt: »Wer nicht weiß, was er sieht oder hört, genießt nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondern ist unfähig, sie wahrzunehmen«. Auch und gerade wo versucht wird, das eine gegen das andere auszuspielen, erweisen sich ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung als aufeinander bezogen. Deshalb konnte aus dem Schlagabtausch der beiden Romanisten kein Streit werden.

Aber wie steht es mit Kablitzens Tadel von Gumbrechts Geschichtsvergessenheit? Habe der doch verschwiegen, dass die Geisteswissenschaften deshalb und nur dann entstanden, als sich »in der Folge der Aufklärung« die Beschäftigung mit menschlichen Belangen »nicht mehr auf eine für alle Menschen gleiche natura hominis […] zurückführen ließ«. Der Erfinder der Formel von der ›breiten Gegenwart‹ braucht sich da nicht belehren zu lassen, denn er verfährt ja seinerseits gut historisch, was Kablitz auch nicht unerwähnt lässt, der dieselbe Geschichte mit etwas anderen Akzenten erzählt. Vor allem in Deutschland ist die historische Perspektive spätestens seit Dilthey erste (akademische) Bürgerpflicht und Inbegriff von Geisteswissenschaftlichkeit überhaupt.

Strategische Historisierung

Erfrischend und gründlicher provozierend ist deshalb der Blick in das Buch eines jungen Anglisten der Yale University, das auch in den USA, wo die Humanities von jeher nicht so eng an den Primat der Geschichte gekoppelt waren, für einige Aufregung gesorgt hat. Im Alleingang, abseits geläufiger Periodisierungen und Selbstbeschreibungen, hat Joseph North eine – eingestandenermaßen tendenziöse – Geschichte seines Fachs vorgelegt.[2]

Das Ganze ist in der Tat sehr lokal auf die Anglistik in den USA (und Großbritannien) bezogen. Unbekümmert äußert der Autor überdies seine politischen Überzeugungen. Den Ansprüchen der Fachgeschichte, wie sie etwa in Deutschland vielbändig und in eigens dafür reservierten Zeitschriften gepflegt wird,[3] entspricht er gewiss nicht, will es aber auch gar nicht. Die praktische Indienstnahme von Fachgeschichtsschreibung als Gegenwartsintervention ist die Pointe seiner ›strategischen Historisierung‹.[4] Die Provokation: Frontal greift der sich als links identifizierende Autor den berühmten Imperativ des Übervaters der US-amerikanischen akademischen Linken, Fredric Jameson, an: »Always historicize!« Daran zweifeln zu wollen, kommt schon einem Affront gleich, besonders im linken Spektrum. Rechts steht, wer überzeitliche Ideale beschwört und an ewige Klassiker glaubt.

Uns allen ist der Imperativ »Always historicize!« so in Fleisch und Blut übergegangen, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, noch mal extra zu fragen, worin denn eigentlich genau der beschworene Nexus zwischen Historisierung und (linker) Politik besteht. Erlaubt es historisches Wissen um die Kontexte von Literatur schon, über vergangene oder gegenwärtige Phänomene und Fragen politisch verlässliche oder gar Wege weisende Auskunft zu erhalten? Oder muss man dazu, mit Franco Moretti zu reden, ›die Kräfte‹ und Gesetze der Geschichte unter dem Kapitalismus schon kennen? Wozu bedarf es dann aber der Historisierung? Oder ist der Begriff, sofern er streng genommen den Vorgang bezeichnet, mit dem ein vordem historischen Prozessen als entzogen wahrgenommenes Phänomen zu einem geschichtlichen wird,[5] ein weniger belastetes Wort für ›Ideologiekritik‹, die ja auch die Geschichtlichkeit des scheinbar Naturwüchsigen herausarbeitet?[6] Das ist ein weites und in den Geisteswissenschaften auch hierzulande weitgehend unbefragtes Feld, eben weil das historistische Paradigma, wie man an Gumbrecht und Kablitz sieht, zu den Hintergrundannahmen unseres geisteswissenschaftlichen Tuns und Lassens zählt.

Genau in dieser unbefragten Selbstverständlichkeit liege ein Problem, meint Joseph North. Seit den 70er Jahren habe sich das im Jameson’schen Imperativ geronnene »historicist/contextualist paradigm« in seinem Fach flächendeckend durchgesetzt, ohne als herrschendes Paradigma durchschaut worden zu sein. Was viele politisch engagierte Kolleginnen und Kollegen in den USA, von Konservativen in den 80er Jahren als »tenured radicals«[7] denunziert, als erfolgreiche Überwindung verkrusteter akademischer Strukturen und konservativer Wissenschaftstraditionen feiern, sei ein Pyrrhussieg gewesen und laufe spätestens unter den seit 2008 drastisch veränderten sozio-ökonomischen Verhältnissen auf den Ausverkauf des Fachs an den herrschenden Neoliberalismus hinaus: »a local break on the left then dragged to the right«. Die historische Lektion lautet hier, dass auch linke Positionen historischen Prozessen ausgesetzt sind, die ihrem Wert und ihrer Wahrheit zusetzen können. Hier mangelt es offenbar an genau der Historisierung, die man mit Jamesons Parole so gern im Munde führt.

In Parenthese kann man sich fragen, ob denn der Historisierungsschub dergleichen leistet, der gegenwärtig die ab den späten 1970er Jahren als Avantgarde und Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaften begriffene Theoriebildung im Zeichen ihres allerorten ausgerufenen Endes ereilt.[8] Überlegungen jedenfalls, die beispielsweise Michel Foucault oder Bruno Latour geradewegs verantwortlich machen für die Nöte unseres post-faktischen Zeitalters,[9] verzeichnen die Interaktionen zwischen innerakademischen und außerakademischen Entwicklungen zugunsten ersterer. Die Vorstellung, dass ein paar Bücher die weltpolitische Lage verändert haben, ist eine abwegige Selbstüberschätzung von Elfenbeinturmbewohnern. Selbstkritik dient hier dem Zweck der Selbstbehauptung einst mächtiger Fächer, die sich nicht abfinden können mit ihrer Zukunft als Orchideenfächer, in die manch einer die Germanistik ganz unpolemisch (und entlastend) entlassen wollte.[10]

North, der an die politische Wirksamkeit seines Fachs weiterhin enthusiastisch glaubt, macht es umgekehrt. Er lässt die Puppen der ›Verhältnisse‹ in Gestalt des außerakademischen Neoliberalismus tanzen und verlangt von seinen Kolleginnen und Kollegen bloß, ihre vermeintlichen Errungenschaften und Widerstände als Effekte dieser Umstände zu begreifen und daraus, wenn möglich, Konsequenzen zu ziehen. North behauptet also, dass von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, über Terry Eagleton und Fredric Jameson bis Gayatri Spivak und darüber hinaus alle jüngere Theorie und Praxis in den Literatur- und Geisteswissenschaften unter den Bedingungen einer, wenn nicht geradewegs einverstandenen, so doch letztlich passiven historistischen Gelehrsamkeit operieren.

Man müsse sich eben fragen, ob beispielsweise die den doppelten Standard des Westens unermüdlich thematisierenden Postcolonial Studies die herrschende Ordnung tatsächlich aktiv herausgefordert hätten und nicht vielmehr Ausdruck und Ausfluss der herrschenden Ordnung »in its new diverse and multicultural, US-expansionist forms« seien. Auch jüngere Kurskorrekturen nach 2000, die ihrer Verwechselbarkeit mit älteren und als konservativ begriffenen geisteswissenschaftlichen Traditionen und Begriffen durch das vorangestellte Adjektiv ›neu‹ zuvorkommen möchten, wie New Aesthetics und New Formalism,[11] partizipierten an dieser praxisfernen, historistischen Grundhaltung.

Eine Blütenlese des Anliegens wichtiger Bücher seines Fachs der letzten zwei Jahrzehnte wird bei North zum Symptomkatalog dafür, dass sich die Hegemonie des historistischen Paradigmas von den späten 70ern bis heute wölbt. Dabei waren der Literaturwissenschaft eigentlich – und das heißt auch bei North: historisch betrachtet – Alternativen schon an der Wiege gesungen worden. Seit den 70er Jahren ganz vergessen wurde der alte Widersacher der Gelehrsamkeit: der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von britischen Amateuren und Ästheten gegen die Philologenzunft in Stellung gebrachte und von den seit Langem nur noch als Feindbilder (eigentlich: Pappkameraden) überhaupt zur Kenntnis genommenen Altvorderen I. A. Richards und F. R. Leavis systematisch entwickelte Practical Criticism.

Das historistische/kontextualisierende Paradigma, das bei North auch »scholarly« heißt, beschränkt sich auf die Analyse von Kultur. Dem Practical Criticism sei es dagegen darum gegangen, »to intervene in culture«. Und solche Intervention, die Widerstand gegen ökonomische und politische Zwänge nicht bloß predigt (oder sie facettenreich analysiert und diagnostiziert), sondern tatsächlich praktiziert und therapeutisch dagegen vorgeht, sei vor allem durch die Ausbildung von Leserinnen und Lesern (wie bei Kablitz) zu erzielen und über den Weg einer »cultivation of aesthetic sensibilities« (wie bei Gumbrecht).

Im ersten Kapitel seines Buchs zeichnet North den Streit der jungen Amateur-Ästheten mit den professionellen Philologen zu Beginn des Jahrhunderts in England nach. Die antiakademischen underdogs setzten sich schließlich mithilfe einer methodischen Revolution durch: dem sogenannten close reading. Von linksliberalen Autoren wie I. A. Richards und William Empson – dessen 1930 erschienenes Buch Seven Types of Ambiguity eine Ikone des close reading ist – für radikalpädagogische Zwecke entwickelt, wurde die neue Methode beim Übersetzen in die USA von den reaktionären evangelikalen Südstaatlern der New Critics (allen voran T. S. Eliot) für ihre christlichen Zwecke gekapert und dabei so verfälscht, dass sich die Ansicht durchsetzen konnte, close reading sei eine christliche hermeneutische Praxis, mit der man als Linker lieber nichts zu tun haben möchte.

Mit den Worten von Jane Gallop, die schon 2007 zaghaft die Kerbe andeutete, in die North nun mächtig schlägt: close reading »is being thrown out with the dirty bathwater of timeless universals«. Und damit, so North, wurden auch die Ideale, die diese Methode überhaupt erst gezeitigt hatten, einer radikalen, von einer utilitaristischen und pragmatischen Ästhetik inspirierten Pädagogik preisgegeben. Nur einer trotz und wegen ihres historistischen Paradigmas geschichtsvergessenen Literaturwissenschaft konnte close reading zum Zerrbild Geschichte ignorierender Lektürepraktiken von Klassikern werden. North ist nicht so naiv, dass er das Paradigma der Gelehrsamkeit durch den ja auch in die Jahre gekommenen Practical Criticsm handstreichartig ersetzen möchte. Aber er glaubt, dass der alte Widerstreit zwischen beiden Modellen den amerikanischen und britischen Literaturwissenschaften besser bekommen sei als die alternativlose Alleinherrschaft des seit etwa 1970 fragwürdigen Konsens stiftenden Historismus.

Norths Kronzeuge für das Potential der über dem Feindbild des New Criticism vergessenen Vorgeschichte ist der marxistische Begründer der Cultural Studies, Raymond Williams, Autor der berühmten Keywords: A Vocabulary of Culture and Society (1976), ausgebildet in Cambridge, Schüler von Richards und Nachfolger von Leavis. Als Williams 1977 schrieb, ästhetische Theorie sei »the main instrument of evasion« der sozialen Prozesse, in die alle Kunst verstrickt sei, habe er sich nicht gegen Ästhetik oder deren Theoretisierung überhaupt gewandt, sondern bloß gegen die auch schon von Richards und Leavis kritisierte ›kontinentale‹ Ästhetiktradition mit ihrem seit Kant dominanten Motiv desinteressierter Kontemplation, das im Desinteresse historistischer Betrachtung fortlebe.

Dagegen hatten Richards, Empson und in der Folge eben auch Williams im Namen einer utilitaristischen und materialistischen Ästhetik polemisiert. (Für Spezialisten der ziemlich komplizierten Diskussion über die ›kontinentale‹ Ästhetik im Allgemeinen und Adorno-Leser im Besonderen ist so etwas natürlich schwere Kost! Und es ist auch keinesfalls ausgemacht, ob Williams bei North wirklich adäquat rekonstruiert wurde. Aber man muss seiner Erzählung nicht in allen Details folgen, um die Stoßrichtung seines Affronts zu würdigen.)

Wo es um die Gründe für die heutige Alleinherrschaft des historistischen Paradigmas geht, wird es allerdings ziemlich unerträglich holzschnittartig. Den Ton gibt die jüngere Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts an: Schuld am ungewollten Ausverkauf der Literaturwissenschaft trägt der auf die Krise des Keynesianismus Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre folgende Neoliberalismus. Dass damals eine neue neoliberale Ära anbrach, hätten die Geisteswissenschaften nicht wahrgenommen und sich stattdessen in ihrem allmählich anachronistisch werdenden Paradigma häuslich eingerichtet. Das ist freilich sehr allgemein und schwammig obendrein. (Ist Neoliberalismus dasselbe wie Globalisierung?) Auch der offenbar auf maximale Reichweite setzenden Zusammenziehung von ›historistisch‹ und ›kontextualisierend‹ im »historicist/contextualist paradigm« mangelt es an Trennschärfe. Diese und andere Einwände sind inzwischen vielfach erhoben worden, denn das Buch wurde im englischsprachigen Kontext dutzendfach rezensiert.[12]

Wichtiger als eine Analyse seiner Schwächen ist die Frage nach den Alternativen, die North durchaus beantwortet, auch wenn er auf Prognosen über ihre Durchsetzbarkeit verzichtet. Diese Alternativen haben mit Gumbrechts Ehrenrettung der Geisteswissenschaften als Kompetenzzentrum für ästhetische Erfahrung manches gemein, allerdings nicht den gelassenen Ton. Mit wuchtigem Pathos wendet sich North am Ende seiner Einleitung an seine »friends on the left«: »the struggle is being fought, must be fought, on the terrain of sensibility.«

Und nicht weniger emphatisch wird am Schluss das kritische Geschäft der Literaturwissenschaften in der Ausbildung von »new methods for cultivating subjectivities and collectivities« gesehen. Im Kapitel »The Critical Unconscious« – Kontrafaktur von Fredric Jamesons berühmtem Buch The Political Unconscious (1981) – prüft North jüngere ästhetikfreundliche Ansätze aus dem Bereich des New Formalism, der New Aesthetics und der Affekttheorie. Eve Sedgwick, D. A. Miller und Lauren Berlant figurieren als Hoffnungsträger, die das verschüttete revolutionäre (muss man schon so sagen!) Potential praktischer Kritik tendenziell wiederentdecken.

North zufolge soll Literaturwissenschaft (wieder) bereit sein, »to use the literary as a means of ethical (or political?) education; have its emphasis on therapeutic rather than mere diagnostic uses of the literary«, und natürlich hat sie künftig auch »committed […] to a public role« zu sein. Ähnliche humanistisch-ästhetische Selbstbesinnungen verfolgen Martha Nussbaum in Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities (2010, ausführlich kommentiert bei North) und Gayatri Spivak in An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012).

Aber ist es für eine Wiederbelebung der von North ausgegrabenen materialistischen Ästhetik der britischen Altvorderen nicht längst zu spät? Und zwar nicht aufgrund uneinsichtiger Historisten, sondern gerade aufgrund der mit Neoliberalismus nur verkürzt wiedergegebenen ›Verhältnisse‹? Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Norths Lokalgeschichte nicht vorkommen, haben gegenläufig zu Norths (und Gumbrechts) Aktualisierungsversuchen den Sieg der Ästhetik unter der Ägide des Neoliberalismus dokumentiert, indem sie ihren triumphalen Einzug in die Managementliteratur seit den 90ern aufgezeigt haben.[13] Der Soziologe Andreas Reckwitz hat das in seinen Studien zum kreativen Selbst und der Kultur der Singularitäten vertieft.[14] Vielleicht speist sich das überzeugte Pathos von North, Nussbaum und anderen aus Quellen, die längst nicht mehr so frisch sprudeln, wie Norths tapfere Aktualisierung von Richards, Leavis und Empson glauben machen will. Ist das alles doch nur die Nachhut einer Welt, die sich so uneinholbar und unwiderruflich gewandelt hat wie das Klima?

Die deutsche Tradition

Bevor man in gegenwärtig besonders wohlfeile Melancholie versinkt, sollte man sich vorläufig, wie North selbst, auf lokale Kontexte konzentrieren.[15] Was wäre denn von seiner »Concise Political History« der US-amerikanischen Anglistik hierzulande zu lernen? In der deutschen Wissenschaftstradition ist Norths Entgegensetzung von kontemplativ-distanzierter und materialistisch-utilitaristischer Ästhetik tendenziell so wenig anschlussfähig wie die von Gelehrsamkeit und Praxis (sei es als Bildung, sei es als ästhetische Erfahrung).[16]

Folglich führt Peter Szondi Richards und Empson in seinem kanonischen Essay »Über philologische Erkenntnis« (1962) nicht als materialistische Ästhetiker, sondern als mit Grundsatzfragen der Hermeneutik beschäftigte Text-Theoretiker an. Für das, was im Englischen close reading heißt und von Peter Szondi vorbildlich gelehrt wie praktiziert wurde, ist Ästhetik keine Referenz. Gleichwohl ist sein Versuch, die Methodik der Literaturwissenschaft »aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs« der Werke zu gewinnen, aus dem also, was Adorno die »Logik ihres Produziertseins« nannte, Norths Überlegungen in mindestens einer Hinsicht affin.

Dessen bemerkenswerteste und für hiesige Diskussionszusammenhänge interessanteste Leistung besteht in der Tat im geschärften Blick für close reading als Methode eigenen Rechts. In den Literaturwissenschaften ist Lesen eben nicht bloß soft skill oder Kulturtechnik, sondern eine Kunst, wie Nabokov seine 1982 erschienenen Überlegungen zur europäischen Literatur seit Cervantes überschrieben hat. Dabei geht es nicht um Mimikry ans Objekt – obwohl zum Sonderfall der Literatur- im Unterschied zur Kunst- und Musikwissenschaft als besondere Herausforderung die Überschneidungen von Objekt- und Metasprache gehören –, sondern um kontrollierbare Verfahren. Szondi schrieb: »es gibt keine ›Überinterpretation‹, die nicht auch schon falsch wäre«.

Einen solchen sowohl emphatischen wie methodisch gehegten Lektürebegriff findet man nach Szondi eigentlich nur noch bei Paul de Man. Seine radikal anti-hermeneutischen Allegorien des Lesens (1979) trieben das Lesen allerdings nüchtern und kontrolliert in die Aporie der Unlesbarkeit und damit in seine eigene Unmöglichkeit. Angeschlossen hat daran, ebenfalls aporetisch, in Deutschland wohl nur Werner Hamacher, in erbitterter Auseinandersetzung mit dem hermeneutischen Sinn- und Verstehensbegriff in den Aufsätzen seiner Sammlung Entferntes Verstehen (1998) und etwa zehn Jahre später im Zeichen einer eigenwilligen Inanspruchnahme der Philologie in Für – die Philologie (2009).

Obwohl North sich unter ganz anderen fachgeschichtlichen Prämissen für die Lektüre als Praxis einsetzt, klingt es wie ein Echo auf Norths Abrechnung mit seinem Fach, wenn man bei Hamacher über die Philologie liest, sie sei »zu einer Hilfsbranche der Historiographie, der Soziologie, der Psychologie, der Kulturanthropologie und der Technikgeschichte geworden« und habe »sich den von ihnen diktierten Aufmerksamkeiten, Perspektiven und methodologischen Imperativen gefügt«. Mit für diesen Autor eigentlich nicht typischer Großzügigkeit fügte Hamacher hinzu, solches sei »nicht immer zu ihrem Schaden, aber selten zugunsten ihrer kritischen Kraft« geschehen.

Diese Haltung wurde jüngst gestärkt. Die Berliner Altphilologin Melanie Möller nahm das Erscheinen des von Luisa Banki und Michael Scheffel herausgegebenen Bands Lektüren: Positionen zeitgenössischer Philologie (2017) in der FAZ vom 28. Mai 2018 zum Anlass, eine »Renaissance der Philologie« teils zu verkünden, teils zu fordern. Vehement plädierte sie dafür, »die Texte wieder zu ihrem Recht kommen« zu lassen, »während die Literaturwissenschaft prekäre Verhältnisse mit Kultur- und Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Philosophie eingeht«. Und darüber entbrannte sogleich ein Streit, den dieses Mal erfreulicherweise keine Herren, sondern Damen bestritten. Im Namen des Methodenpluralismus und seiner Errungenschaften widersprachen Claudia Dürr, Andrea Geier und Berit Glanz am 6. August 2018 ebenfalls in der FAZ. Der in Kopenhagen lehrende Literaturwissenschaftler Christian Benne sprang Melanie Möller bei und trat seinerseits für close reading ein: »Arbeit am Text« erschöpfe sich eben nicht in »textimmanenter Versenkung«, wie die Autorinnen unterstellt hatten.

Was diese eigentlich begrüßenswerte Wiederentdeckung der genauen Lektüre problematisch macht und von Autoren wie Szondi oder Hamacher unterscheidet, ist ihr immer wieder neu umschriebenes Telos. Der Nachvollzug der Eigenbewegung des Texts, den der Heidelberger Philologe Jürgen Paul Schwindt etwas irreführend auf den Namen einer »athematischen Lektüre« getauft hat[17] – irreführend, weil, um es mit einem Satz Adornos zu sagen, »Sprache […] ihr semantisches Element nicht abschütteln, nicht rein mimetisch oder gestisch werden kann« –, mündet nämlich stets verlässlich in der »Reflexivität des Textes« (Möller): Der »sich selbst kommentierende« (Benne) und »die eigene Gemachtheit« (Möller) mitreflektierende Text, das sind alles Relikte einer subjektphilosophischen Gedankenfigur, die gerade Hamacher zeitlebens bekämpft hat.

Traut man dem Verfahren des close reading als auf die Eigenlogik der Texte bezogener Erkenntnisleistung so wenig zu, dass dabei immer nur eine modernistisch prämierte Selbstreferenzialität herauskommt, die stets Gefahr läuft, den Hermeneuten nur ihre eigene Reflexivität widerzuspiegeln? Freilich hat Benne recht, dass es »ohne Anerkennung von Subjektivität […] in den Geisteswissenschaften keine Objektivität« gibt. Szondi sah das auch so, aber von Selbstreflexion des Texts oder der mit ihm beschäftigten Subjekte ist auch bei ihm die Rede nicht.

Close reading kann doch viel mehr! Wo die Lektüren gelungen sind (und nur diese Fälle zählen), treten Theoreme (Ästhetik, Affekt, Hermeneutik und Philologie) in den Hintergrund und die vexatorischen Fragen nach Text vs. Kontext, thematischer vs. athematischer Lektüre, Literatur vs. Kultur etc. stellen sich in dieser Form nicht mehr. Vorgemacht hat das der New Historicism, dem es auch programmatisch um die Überwindung solcher Gegensätze ging: Stephen Greenblatts Shakespeare-Bücher in den USA oder Moritz Baßlers Verfahrensstudien zur Popliteratur und zum Realismus hierzulande.

Das Schöne an gelungenen Lektüren ist ihre überragende Evidenz. Man weiß sofort, ob gelesen wurde – oder eben nicht. Und dass das nicht bloß einmal und endgültig geschieht, sondern immer wieder neu und anders möglich ist, dafür sorgt der Unterschied zwischen der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft als Kunstwissenschaft:

»Während die Geschichtswissenschaft ihren Gegenstand, das vergangene Geschehen, aus der Ferne der Zeiten in die Gegenwart des Wissens, außerhalb dessen es nicht gegenwärtig ist, hereinholen muß und kann, ist dem philologischen Wissen immer schon die Gegenwart des Kunstwerks vorgegeben, an dem es sich stets von neuem zu bewähren hat. […] Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen, nicht bloß weil es sich, wie jedes andere Wissen, durch neue Gesichtspunkte und neue Erkenntnisse ständig verändert, sondern weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann« (Szondi)

Das bedarf des immer strittigen und streitbaren Vollzugs der Lektüre. Auf die Herausforderung durch andere Disziplinen, Verfahren und Gesichtspunkte, einschließlich der Geschichtswissenschaft, wollen wir dabei ebenso wenig verzichten wie auf die Erweiterung der Gegenstandsfelder.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. Ihr Beitrag erschien erstmals in »Merkur«, Nr. 855, August 2020, S. 55-65.

[1] Gumbrecht hat inzwischen nachgelegt und sich unter dem Titel »Gelenke des Lichts« in der FAZ vom 22. April 2020 genauer erklärt.

[2] Joseph North, Literary Criticism. A Concise Political History. Cambridge, MA: Harvard University Press 2017.

[3] Vgl. etwa Christoph König et al. (Hrsg.), Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien.

[4] Eine andere Art der ›strategischen Historisierung‹ hat jüngst Patrick Eiden-Offe im Anschluss an Jacques Rancière erörtert: »Verrufenes Historisieren«, ZfL BLOG, 29. April 2019.

[5] Vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, »Um die ›Historisierung des Nationalsozialismus‹. Ein Briefwechsel«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36, 1988, S. 339–372.

[6] Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964.

[7] Vgl. Roger Kimball, Tenured Radicals. New York: Harper & Row 1990.

[8] Vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. München: Beck 2015; Achim Geisenhanslüke, Textkulturen. Literaturtheorie nach dem Ende der Theorie. Paderborn: Fink 2015.

[9] Vgl. Albrecht Koschorke, »Die akademische Linke hat sich selbst dekonstruiert. Es ist Zeit, die Begriffe neu zu justieren«, in: NZZ, 18. April 2018 sowie die als Kooperationsveranstaltung des Konstanzer Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne« mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt veranstaltete Konferenz »Concerning Matters and Truth. Postmodernism’s Shift and the Left-Right-Divide«, 4. bis 6. Oktober 2018.

[10] Vgl. Christoph Möllers, »Disziplinbegrenzung zwischen Historismus und Relevanzbedürfnis«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (4), 2015, S. 485–493.

[11] Hinzufügen könnte man noch den New Historicism und den New Materialism. Über Ersteren informiert luzide Moritz Baßlers Einleitung in dem von ihm herausgegebenen Band New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen: Francke 2001; Letzteren kennt man auch unter dem Begriff Spekulativer Realismus. Vgl. Armen Avanessian (Hrsg.), Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert. Berlin: Merve 2013.

[12] Dermot Ryan, Autor einer Rezension in boundary 2 von 29. Januar 2018, begnügte sich damit, Norths wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Argumente als ›romantische Antikapitalismuskritik‹ abzutun. Zu den lesenswerteren, weil gelasseneren, Besprechungen gehört die von Bruce Robbins in Los Angeles Review of Books, 14. Mai 2017.

[13] Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2003.

[14] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 2012, und Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017.

[15] Und sich überdies an den Artikel von Justin Stover (»Warum es keine guten Gründe zur Verteidigung der Geisteswissenschaften gibt«, in: Merkur 72, Heft 828, Mai 2018, S. 25–39) erinnern, mit dem auch Gumbrecht schließt, um zu versichern: »Sollten Universitäten und Bildungspolitik ihnen [den Geisteswissenschaften] die finanzielle Unterstützung entziehen, wird ihr Leben außerhalb dieses Rahmens weitergehen, der ihnen in der Vergangenheit eine Form gegeben hat, aber keinesfalls ihr Ursprung war.«

[16] Etwas anders sieht es wohl in der Fachgeschichte der DDR auch über den Mauerfall hinaus aus. Vgl. Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990.

[17] Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Heidelberg: Winter 2016.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Altes und Neues aus den Literaturwissenschaften, in: ZfL BLOG, 7.9.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/09/07/eva-geulen-altes-und-neues-aus-den-literaturwissenschaften/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200907-01

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Ross Shields: READING THE AESTHETICS OF RESISTANCE https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/06/29/ross-shields-reading-the-aesthetics-of-resistance/ Mon, 29 Jun 2020 07:53:15 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1493 The Aesthetics of Resistance. Already the title demands interpretation. Depending on whether the preposition ‘of’ is interpreted as a subjective or as an objective genitive, it could refer either to ‘the aesthetic position upheld by those fighting for the resistance’ or to ‘the aesthetic aspect of resistance as such.’ As one might expect, Peter Weiss’s Weiterlesen

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The Aesthetics of Resistance. Already the title demands interpretation. Depending on whether the preposition ‘of’ is interpreted as a subjective or as an objective genitive, it could refer either to ‘the aesthetic position upheld by those fighting for the resistance’ or to ‘the aesthetic aspect of resistance as such.’ As one might expect, Peter Weiss’s novel supports both readings, insofar as it concerns a group of resistance fighters who conceive of art—whether ancient, aristocratic, bourgeois, or proletarian—as closely related to their own political activity: “If we want to take on art, literature, we have to treat them against the grain, that is, we have to eliminate all the concomitant privileges and project our own demands into them.”[1] The aesthetic position of those fighting in the resistance is that art is eminently political. But the first person plural is misleading, and introduces an additional ambiguity concerning the novel’s message: does “we” stand for the unnamed narrator and his comrades in the 1930’s, for Weiss’s milieu in the 1970s, or for the international readership of the perpetually advancing present?

A complete answer to this question would have to embrace all three options: Weiss certainly projected his own interests and concerns onto his protagonists, and it is impossible for contemporary readers to avoid projecting their own interests and concerns onto his/their reflections. In my case, ‘we’ stands for the researchers and staff of the Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, who selected the novel for our 2019 Klausurtagung—a two day affair devoted to intensive discussions of a single text. For us to take on Weiss’s novel means to treat it against the grain, to project onto it the demands of the contemporary political juncture.

Since the dissolution of the Soviet Union, Margaret Thatcher’s dictum that “there is no alternative” has been transformed from a political slogan into a metaphysical principle. One of its chief contemporary intellectual proponents is Yuval Noah Harari, whose three most recent books are not only global best sellers, but have garnered public endorsements from the likes of Bill Gates and Mark Zuckerberg. In 2018’s 21 Lessons for the 21st Century, Harari is blunt in his support of Thatcher’s neoliberal ideology: “At the end of the day, humankind won’t abandon the liberal story, because it doesn’t have any alternative. People may give the system an angry kick in the stomach but, having nowhere else to go, they will eventually come back.”[2] The grounds for this claim are laid out in Harari’s previous book, which articulates a philosophy of Dataism or the supposedly scientific consensus that everything from great works of art to metabolic processes to economic exchanges can be understood in terms of data processing and decision making. According to Harari, “free-market capitalism and state-controlled communism aren’t competing ideologies, ethical creeds or political institutions. They are, in essence, competing data-processing systems.”[3]

To illustrate the different modes of data processing at stake in capitalism and communism, Harari considers how the price of a loaf of bread is determined within either system. Under communism, a central agency determines the amount of bread that is produced every day, how it is distributed, and how much it costs; under capitalism, the price of bread is decided by the individual bakers, and individual people are allowed to choose whether they will purchase it or not, and from whom. Under communism, decisions are made from the top down, and are unable to keep pace with the rapid flows of information that characterize the contemporary world; under capitalism, decisions are made from the bottom up, and therefore identical to the information they process. The neoliberal economic theory of Friedrich A. Hayek looms large over Harari’s argument, according to which bottom-up data processing is simply more effective than the top-down sort:

“Capitalism did not defeat communism because capitalism was more ethical, because individual liberties are sacred or because God was angry with the heathen communists. Rather, capitalism won the Cold War because distributed data processing works better than centralized data processing, at least in periods of accelerating technological change.”[4]

To rub in the point, he makes a collage of two pictures: on the left, the aging leadership of the Soviet Union, sitting in wicker chairs with arms outstretched in a feeble salute. The sky above Moscow is faded, lending the whole composition an air of nostalgia—as if the chairman and his council were waving goodbye to a futureless past. On the right, a pair of young stockbrokers on the floor of the Chicago Board of Trade, with arms upraised in the energetic gesture of a sporting event. The camera’s shallow depth of field blurs the electronic tickers in the background, which seem to display the streaming symbols of The Matrix.

Whether or not Harari’s brand of pop-cybernetics is useful to describe socioeconomic structures, his insistence that there are only two kinds of data-processing systems—centralized or distributed—is symptomatic of the widespread ideology that presents neoliberalism as the only option, for both present and future. Equally problematic is how he tacitly correlates these economic structures to particular modes of political organization:

“Like capitalism and communism, so democracies and dictatorships are in essence competing mechanisms for gathering and analyzing information. Dictatorships use centralized processing methods, whereas democracies prefer distributed processing.”[5]

Of course, the terms of his analogy might as well be inverted. Capitalism could be said to display an tendency toward centralization, insofar as the accumulation of wealth in a handful of banks and corporations transfers decision-making power from democratically elected governments to CEO’s and boards of directors, and often to disastrous political consequences. Nor is it certain that communism necessarily involves the centralization of decision-making power in a totalitarian government, even if this was the tragic outcome of the Soviet experiment. One could object that capitalism requires extensive international regulation to open up the space for its ‘free’ market, or insist that the unrealized dream of communism is not to control value but to abolish it. But an immanent critique of Harari’s neoliberal apology would accept the terms of his informatic metaphor while addressing its problematic dualism: the notion that there are only two possible forms of data processing: inefficient centralized processing and efficient distributed processing. Aesthetics—which has always concerned the processing of data, or that which is given to the senses—rejects this binary opposition, and so gives the lie to Harari’s argument.

Aesthetics would seem to be the last place to turn for an alternative. The harmonious relation of part to whole conceived by classical aesthetics has been criticized for projecting the ideal of a nonviolent (and apolitical) integration of individual and collective. At best, the theory of aesthetic autonomy, according to which the work of art is a self-contained whole, offers an ideological retreat from the dominant logic of capitalist rationalization: what Adorno has called a “nature reserve for irrationality.”[6] At worse, it advances a model for what Benjamin has criticized as the fascist “aestheticization of politics.”[7] As politics is converted into a spectacle, art is repurposed as propaganda. Prompted by these misgivings, theorists in the wake of Benjamin and Adorno have developed a critical aesthetic theory that rejects the totality of classical aesthetics in favor of openness and fragmentation, with the aim of reintegrating art into daily life.[8]

Instead of aestheticizing politics, the critical work politicizes aesthetics by transforming art into protest: against the art institution, against the art market, against the very ideal of aesthetic autonomy. And yet, following Harari’s line of argumentation, one could object that the position of critical aesthetics unwittingly reflects and even celebrates the capitalist structure of commodity exchange, along with the network of atomized individuals supporting it. There is no better emblem of decentralization than a Dadaist collage, where an inscrutable logic circulates among images and text torn from disparate spheres of social reality. That this is more than a facile analogy is indicated by the extent to which the avant-gardist aesthetic has been absorbed into the culture and advertising industries, which routinely borrow from the repertoire of its various -isms. Nor has the movement been able to maintain the critical attitude that necessitated its emergence: what Bürger has described as the “failure of the avant-garde”—the fact that the avant-gardist protests against the art institution are now accepted as works of art by that institution—is a marvelous success from the point of view of investors, who tend to be more interested in the activity of other collectors than in the form or content of the art collected.[9] Despite its intentions, the avant-gardist negation of aesthetic value has paved the way for the unprecedented valorization of art as capital.

Once again, aesthetics seems to be the last place to turn for an alternative to neoliberal ideology. The classical work of art may resist commercialization, but can be criticized for its totalitarian character; the critical work may reject the latter, but bears a formal and material affinity with capitalist structures of commodity exchange. If, on the other hand, one were to insist on the irreducibility of art to either of these paradigms—if aesthetic experience can be reduced to neither centralized nor distributed data processing—then the work of art might be seen to reflect, in its formal structure, an alternative to both dictatorial communism and neoliberal capitalism. One of the strengths of The Aesthetics of Resistance lies in how it refutes the simple opposition assumed by Harari’s informatic dualism. Although Weiss—who alludes to both Benjamin and Adorno—condemns the doctrine of aesthetic autonomy for being apolitical, he is equally critical of the avant-gardist “total annihilation of art” as something that could only appeal to those who were already “sated with cultivation [Bildung].”[10] Refusing both extremes, Weiss develops an interpretation of aesthetic modernism that emphasizes the formal ambiguity of complex compositions in which neither the whole nor its parts predominate: “Such surprising depictions, based not on a closed aspect but on a multivalence, supplied more details than static arrangement could about the mechanisms we lived among. Characteristic of that ambiguity was its ability to get the imagination to search for relations and analogies, thereby expanding the realm of receptivity.”[11] For Weiss, the aim of aesthetic cultivation is not—as it was for Schiller—the construction of an ideal “realm of beautiful semblance,” but the comprehension of the complex material relations that constitute the political and economic world.[12]

Weiss develops his concept of aesthetic cultivation through an interpretation of Picasso’s Guernica, which locates the painting’s relation to politics in the formal demands it makes on the viewer: “The picture challenged us to use the first impression merely as an impetus to take the givens apart and examine them from different directions, then to fit them back together, thereby making them our own. This confirmed the rule I was familiar with from my earliest artistic investigations.”[13] This rule is, of course, the conviction of the unnamed narrator and philosophical leitmotiv of The Aesthetics of Resistance:

“that there [is] no distinction between social and political materializations and the essence of art.”[14]

How are we to understand this statement? Evidently, it does not imply that we should all become artists in order to change the world (Hugo Ball, Joseph Beuys). Nor is it Weiss’s contention that art has the power to defamiliarize experience and transform everyday life (Viktor Shklovsky, Jacques Rancière). In fact, the philosopher who comes closest to articulating Weiss’s position may be John Dewey, who, though hardly an orthodox Marxist, was denounced by Hayek as “the leading philosopher of American left-wingism.”[15] In Art as Experience, Dewey relates aesthetics and politics as two modes of experience:

“The enemies of the esthetic are neither the practical nor the intellectual. They are the humdrum; slackness of loose ends; submission in practice and intellectual procedure. Rigid abstinence, coerced submission, tightness on one side and dissipation, incoherence and aimless indulgence on the other, are deviations in opposite directions from the unity of an experience.[16]

With Dewey, one can argue that Weiss’s identification of sociopolitical manifestations with the essence of art is predicated on the affinity of political and aesthetic experience: both involve the critical examination of what is given, the recognition of latent structures, and the rearrangement of existing forms into novel constructions. On this view, art does not prescribe new political structures, but reflects the process through which they are created.

The analogy between art and politics should not be construed as ahistorical. Weiss’s analysis of Picasso’s Guernica is set against the backdrop of the Spanish Civil War, where communists, socialists, liberals, and anarchists were challenged to stake out common ground against Franco’s military dictatorship: “The whole of Europe was a field of antagonisms, different kinds of independent energies had to flow together in Spain and look for a synthesis. Each of us had the task of fusing divergences into a unity.”[17] This message took on a new significance in 1970’s West Germany, where The Aesthetics of Resistance provoked reflection on the failure of the left and how communism could have been different.[18]

In the contemporary political juncture, where the effects of capitalist expansion have not only led to a resurgence of right-wing nationalism, but are threatening to destroy the climate on which we all depend, this book will inevitably be received in a different light, according to the changing meaning of resistance. Today, the immediate task is not to fuse divergent political ideologies into a pragmatic coalition, but to direct international cooperation toward a well-defined global aim. Since the achievement of this aim will necessarily entail the limitation of individual, corporate, and national interests, it is foreclosed by the false choice between centralized and decentralized data processing, which identifies any checks against the supposedly free market with totalitarian rule. Weiss’s reflections on the complex nature of aesthetic and political organization remind us that there is always an alternative.

The concept of the political efficacy of art that I have won from The Aesthetics of Resistance is modest. I am not suggesting that art can overcome the impasse of neoliberalism, defeat the radical right, or fix global warming. As Sartre famously remarked, it is unlikely that Guernica won “one single soul for the Spanish cause.”[19] The resistance of aesthetics instead consists in the mode of experience that art affords, which promotes individual consciousness and political awareness by exploding the dualisms with which we tend to simplify things: centralization and decentralization, totality and fragmentation, communism and neoliberal capitalism, dictatorship and democracy. Although the formal complexity and ambiguous compositions met in works by the likes of Picasso, Woolf, and Schönberg most obviously support this sort of experience, it can be drawn out of all art to various degrees. Indeed, what distinguishes these modernists from the artists who came before and after them is how they set aesthetic experience (in the sense defined by Dewey) as the aim of artistic production.[20] But no work of art can be reduced either to the whole or to the sum of its parts; either to systematicity or to formlessness. Strictly speaking, the opposing ideals of classical and critical aesthetics are not two distinct aesthetic positions, but the theoretical limits between which art unfolds. By analogy, totalitarian governance and social atomism are not oppositional political materializations, but the two extremes at which politics ends.

Ross Shields is a research associate at the ZfL, currently working on his project “Formation is Life”. Organicism and Aesthetic Modernism.

[1] Peter Weiss, The Aesthetics of Resistance, transl. Joachim Neugroschel (Durham: Duke UP, 2005), 33; “Wollen wir uns der Kunst, der Literatur annehmen, so müssen wir sie gegen den Strich behandeln, das heißt, wir müssen alle Vorrechte, die damit verbunden sind, ausschalten und unsre eignen Ansprüche in sie hineinlegen.” Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005), 51.

[2] Yuval Noah Harari, 21 Lessons for the 21st Century (London: Vintage, 2018), 24.

[3] Yuval Noah Harari, Homo Deus: A Brief History of Tomorrow (London: Vintage, 2016), 430.

[4] Ibid. 434.

[5] Ibid. 435.

[6] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014), 499. My translation.

[7] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung); in: Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980). My translation.

[8] Cf. Rüdiger Bubner, “Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik,” in: Neue Hefte für Philosophie, Nr. 5 (1973), 38-73.

[9] Peter Bürger, Theorie der Avantgarde (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2013), 53. My translation.

[10] Aesthetics 47; translation modified; “doch für den Ruf nach totaler Zertrümmrung der Kunst hatten wir nichts übrig, solche Parolen konnten sich diejenigen leisten, die übersättigt waren von Bildung, wir wollten die Institutionen der Kultur erst einmal heil übernehmen, sehn, was dort vorhanden war und unserer Lernbegier dienstbar gemacht werden konnte.” Ästhetik 71. For Weiss’s critique of the “Eigenwert eines Kunstwerks,” see 228. Cf. Peter Bürger, “Exkurs zu Peter Weiss’ ‘Die Ästhetik des Widerstands,’” in: Aktualität und Geschichtlichkeit. Studien zum gesellschaftlichen Funktionswandel der Literatur (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977), 18.

[11] Aesthetics 295, translation modified; “Solch überraschende Darstellungen, die nicht von einem geschloßnen Aspekt, sondern von einer Vieldeutigkeit ausgingen, gaben tieferen Aufschluß über die Mechanismen, zwischen denen wir lebten, als die statische Anordnung es vermochte. Bezeichnend für sie war, daß sie die Phantasie dazu anleiteten, nach Beziehungen, nach Gleichnissen zu suchen und damit den Bereich der Aufnahmefähigkeit zu erweitern.” Ästhetik 416.

[12] Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Stuttgart: Reclam, 2000), 122. My translation.

[13]  Aesthetics 295; “Indem das Bild uns aufforderte, den ersten Eindruck nur als Anlaß zu benutzen, das Gegebne auseinanderzunehmen und von verschiednen Richtungen her zu überprüfen, es dann aufs neue zusammenzusetzen und es sich somit anzueignen, bestätigte sich die Regel, die ich von frühsten künstlerischen Untersuchungen kannte.” Ästhetik 416.

[14] Aesthetics 296; “daß es keine Trennung gab zwischen den sozialen und politischen Materialisationen und dem Wesen der Kunst.” Ästhetik 417.

[15] Friedrich A. Hayek, The Road to Serfdom (London: Routledge, 2006), 26.

[16] John Dewey, Art as Experience (New York: Perigee, 2005), 42.

[17] Aesthetics 179; “Ganz Europa war ein Feld von Antagonismen, verschiedenartige, eigenwillige Energien mußten in Spanien zusammenströmen und nach einer Synthese suchen. Es war Sache eines jeden von uns, das Divergierende zu einer Einheit zu bringen.” Ästhetik 253.

[18] For the reception of Weiss’s novel, see Karen Hvidtfeldt Madsen, Peter Weiss und Die Ästhetik des Widerstands (Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 2003), 3f.

[19] Jean Paul Sartre, What is Literature?, trans. Bernard Frechtman (New York: Philosophical Library, 1949), 11.

[20] I have argued this point in my dissertation Hanging-Together: Kant, Goethe, and the Theory of Aesthetic Modernism (Columbia University, 2019).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Ross Shields: Reading the Aesthetics of Resistance, in: ZfL BLOG, 29.6.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/06/29/ross-shields-reading-the-aesthetics-of-resistance/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200629-01

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Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/ Fri, 06 Mar 2020 08:54:56 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1362 Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen Weiterlesen

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Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen mit den Veränderungen unserer städtischen Umgebung. Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts (2018), ein Buch der Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner, widmet sich auf originelle Weise speziell der Berliner Stadtlandschaft: »Gegenüber der Formgeschichte und dem Interesse an Strukturmerkmalen«, so Wagner über ihren Ansatz, »stehen vielmehr Beobachtungen alltäglicher Symptome im öffentlichen Raum der Stadt zur Debatte« (S. 11).

Komplementär dazu lässt sich das Buch des Architekten und Städtebauhistorikers Vittorio Magnago Lampugnani lesen, Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum (2019). Am Beispiel von – wie er es nennt – »Mikroarchitekturen« (etwa der Telefonzelle), »Objekten« (darunter der Abfallkorb und das Straßenschild) und »Elementen« (z. B. Schaufenstern) schärft er das Bewusstsein für die Vielfältigkeit unserer urbanen Umwelt. Sein Buch ist als ein Glossar angelegt, dessen Geschichten hinter den »kleinen Dingen« einander ähneln: Aus einer praktischen Notwendigkeit, die sich aus einer veränderten sozialen oder technologischen Situation ergibt (Industrialisierung, Aufschwung von Handel und Kommerz, Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel), entsteht etwas Neues, dessen Verbreitung in der Stadt – in der Regel – von den Kommunen finanziell zu stemmen ist:

»Jedes kleine Objekt des Stadtraums ist ein Ort, wo konkrete Bedürfnisse zu einer materialisierten Form finden.« (S. 11)

Während Wagner sich ganz auf Berlin konzentriert, beginnt Lampugnani viele seiner lehrreichen Einträge mit einer Rückschau auf die urbanen Zentren der Antike, um dann die Geschichten seiner Gegenstände durch Ausflüge in die europäischen Metropolen zu verfolgen – bevorzugt London, Paris oder eben auch Berlin. Architektur, Ästhetik und Kritik lassen sich bei dieser Form der Stadterkundung nicht trennen, denn »[d]ie kleinen Dinge im Stadtraum sind […] funktional, technisch und ökonomisch bestimmt und haben dabei oft einen hohen gestalterischen Anspruch« (S. 8). Da Lampugnani diesen Anspruch aber mehr und mehr schwinden sieht, verschafft sich in nicht wenigen seiner Einträge am Ende die mahnende Stimme des Kulturkritikers Gehör. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht das Fazit seiner Ausführungen zum Kiosk:

»Heute, da es kaum mehr Stadtarchitekten gibt, weil diese Position in der Verwaltung faktisch abgeschafft wird, um der Politik mehr Spielraum zu gewähren, werden Gestaltung und Unterhalt der modernen Kioske privaten Firmen überlassen. Sie achten Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und eine gewisse modische Eleganz; Verantwortung für die Stadt und ihre Identität übernehmen sie nicht.« (S. 23)

So mancher Neuerung steht er deshalb skeptisch gegenüber. Kritik erntet beispielsweise die »Gedankenlosigkeit, mit der heute Bänke im städtischen Raum aufgestellt werden«, was aus seiner Sicht zur Verbreitung von »urbanem Kitsch« (S. 80) beitrage. Bei jeglicher Stadtmöblierung, da ist Lampugnani zuzustimmen, geht es eben nicht nur um Funktionalität und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch um ästhetische Fragen, die Auswirkungen auf die spezifische Kultur und Identität konkreter soziale Räume haben. Jedes dieser Dinge, etwa die Straßenlaterne, trägt »städtebauliche Verantwortung« (S. 89). Die Identität einer Stadt wird demnach von langlebigen Objekten (dem Brunnen, dem Straßenschild) ebenso geprägt wie von vergleichsweise kurzlebigen; man denke nur an die grellorangen Straßenmülleimer der Berliner Stadtreinigung mit ihren witzigen Sprüchen, die über die Grenzen der Stadt zu deren frischen Image beigetragen haben. Lampugnanis Ausführungen sind somit nicht frei von normativen Vorstellungen, im Gegenteil. Stadtplaner*innen, Architekt*innen und Kommunalpolitiker*innen täten gut daran, sich eingehender mit ihnen auseinanderzusetzen.

Um Kultur und Identität des städtischen Raums geht es auch bei Monika Wagner. Entlang einiger Beispiele, die ausschließlich dem Berliner Stadtraum entstammen, unternimmt sie »eine historische Rekonstruktion der Produktion, Funktion und Bewertung von Oberflächen sowie der durch sie erzeugten Atmosphären« (S. 11). Die Oberflächen, die sie in den Blick nimmt (Asphalt, Glas, Beton, Naturstein, Keramik usw.), markieren dabei eine Grenze zwischen dem Innenraum der Häuser und ihrem Außen, eine Grenze, mit der die Menschen in der Stadt fortwährend in Berührung geraten. Was eingangs noch ein wenig nüchtern klingt, wird zu einem faszinierenden Parcours durch die jüngere Architekturgeschichte Berlins. Mit dem Aufstieg zu einer Metropole der Moderne in den 1920er Jahren beginnend, widmet sich Wagner im Hauptteil ihres Buches vergleichend der Ausgestaltung von Stalinallee und Hansaviertel, bevor sie abschließend die Friedrichstraße nach dem Fall der Mauer erreicht.

Anhand der nach dem Ersten Weltkrieg vorangetriebenen Asphaltierung der Straßen beschreibt sie die grundsätzliche Ausdifferenzierung der großstädtischen Bevölkerung in Autofahrer und Fußgänger, denen sich die Oberflächen unterschiedlich darstellen. Während die Fußgänger auch weiterhin mit den Oberflächen der Häuser und Straßen in engeren Kontakt kamen (auf dem Gehweg, beim Blick ins Schaufenster), nahmen die Menschen in den Autos Straßenbeläge nur noch vermittelt und die Fassaden der Häuser als rhythmisierte Bewegtbilder wahr. Diese wurden zusätzlich akzentuiert durch Glas und Licht als Elementen einer modernen Architektur, die ihre materiellen Grundlagen zum Verschwinden bringen wollte. Ausführlich bespricht Wagner die Wirkung von Fassadengestaltungen unter den Aspekten Horizontalität und Vertikalität. Sie beruft sich dafür u. a. auf Erich Mendelsohn, verantwortlich für den Umbau des Mossehauses, der die Horizontale mit Demokratie und Freiheit assoziiert, und auf Siegfried Kracauer, der die Vertikale als Ausdruck staatlicher Gewalt interpretiert. Doch erst im komplexen Zusammenspiel der Linien entstehen in der realen Stadt Effekte, die von Bewohner*innen und Besucher*innen abhängig von der jeweiligen historischen Perspektive wahrgenommen werden und differenzierter Interpretationen bedürfen.

Nach dem Krieg und der Teilung Berlins herrschten in Ost und West unterschiedliche Vorstellungen vom öffentlichen Raum, und dabei gerieten auch die Oberflächen zu einem »Schauplatz der Systemkonkurrenz« (S. 12). »Dem öffentlichen Raum der Stadt als Ort staatlicher Repräsentation, sozialer Gemeinschaftsbildung und wechselseitiger Kontrolle kam in der DDR höchste Aufmerksamkeit zu«, schreibt Wagner (S. 70). Sie zeigt dies an der heutigen Karl-Marx-Allee, die im Krieg zerstört und ab 1951 als Stalinallee neu bebaut wurde. Die mehrspurige Fahrbahn, die auch für Aufmärsche herzuhalten hatte, wurde dabei durch monumentale Fassaden gesäumt. Zwar kamen hier überwiegend die gleichen Materialien zum Einsatz, doch die einzelnen Fassaden wurden im Detail unterschiedlich ausgestaltet; dies erschließt sich dem Fußgänger in der Nahsicht aber tatsächlich sehr viel eindrücklicher als dem Autofahrer. Lange Zeit für ihren ›Zuckerbäckerstil‹ verachtet, sind die Wohnhäuser heute wieder extrem angesagt. Im Westteil wurde demgegenüber 1957 das – heute ebenfalls ausgesprochen populäre – Hansaviertel mit seinen freistehenden Hochhäusern inmitten eines durchgrünten Stadtraums präsentiert.[1] So unterschiedlich die beiden städtebaulichen Ansätze auch in politisch-ideologischer Hinsicht waren, sieht Wagner doch Gemeinsamkeiten, was die »erstaunliche Materialvielfalt und die taktilen Angebote« betrifft (S. 95), zumal im Vergleich zum Neuen Bauen der 1920er Jahre mit seinen glatten Oberflächen. In »Einsatz und Gestaltung der Materialien« (ebd.) unterscheiden sich die beiden Vorzeigeprojekte gleichwohl. Überzeugend vertritt Wagner die These, dass in beiden Fällen »Oberflächen aus Naturstoffen und handwerklich verarbeiteten Materialien« geschaffen worden seien, deren Verwendung in Westberlin aber auf eine Integration von modernem Wohnen inmitten gestalteter Natur abgezielt habe, während »die Handwerklichkeit der Oberflächen der Stalinallee […] die Integration in eine Gemeinschaft der Werktätigen« verfolgt habe (S. 110).

Wagner widmet sich überaus anschaulich den Materialien, die den Gebäuden der Stalinallee im Zusammenspiel mit vielfältigen architektonischen Elementen (Balkone, Balustraden, Kolonnaden usw.) abwechslungsreiche Reliefstrukturen verleihen. Anfänglich ließ sich die Opulenz dieser Fassadengestaltung noch als Ausdruck des Reichtums der neuen sozialistischen Gesellschaft deuten, zeugte diese doch nicht zuletzt von großer handwerklicher Kunst. Doch schon bald wollte dieser Stil nicht mehr so recht zur Politik der DDR passen, die an einer stärkeren Industrialisierung des Bauens interessiert war – und deren Verwirklichung dann später in den monotonen Plattenbauten der 1970er Jahre ihren prägnantesten Ausdruck fand. Noch heute bemerkenswert sind die unterschiedlichen Kacheln, die symbolisch »zwischen Tradition und Innovation, zwischen Handwerk und Industrie« (S. 81) stehen. Ihr Ausgangsmaterial Ton, »der ideale Alleskönner«, wird von Wagner als »Scharnier zwischen den materiellen Produktionsbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der staatlichen Gemeinschaftsideologie und der Ästhetik des ›kleinen Mannes‹« interpretiert (S. 84). Dies zeigt sich besonders schön auch an den Bildprogrammen, die sowohl auf den Kacheln als auch an skulpturalen Elementen zum Einsatz kommen (etwa den Keramikreliefs am von Richard Paulick gestalteten Block C der Stalinallee, die deren Aufbau illustrieren).

Zur Stützung ihrer übergeordneten These legt Wagner in ihrer Interpretation des Hansaviertels ein besonderes Augenmerk auf die Gestaltung der Fußgängerwege, deren unregelmäßige Ränder Weg und Grünfläche ineinander übergehen lassen. Ausführlicher betrachtet sie auch den Bau der Akademie der Künste von Werner Düttmann, bei dem u. a. Backstein, Marmorkiesel und Kupfer verwendet wurden:

»Die Materialien betonen ihre Herkunft aus der Natur und evozieren eine scheinbar einfache, handwerkliche Bearbeitung. Damit verstärken sie das Konzept der Stadtlandschaft als Versöhnung von Natur und Moderne.« (S. 109)

Wagners Buch eignet sich hervorragend als Vademecum für ausgedehnte Spaziergänge, sei es durch das Hansaviertel, sei es entlang der Karl-Marx-Allee – oder auch in der neuen Mitte Berlins, wo heute die unterschiedlichsten Architekturstile aufeinandertreffen, in denen das Glatte (Glas, Marmor etc.) und das Raue (etwa Schrottskulpturen, Spolien u. a.) neben- und miteinander angeordnet sind. Hier finden sich städtische Räume – wie etwa die Friedrichstadt-Passagen –, deren Schaffung sich offensichtlich in erster Linie der Logik von Investoren verdankt und weniger urbanistischer Einsicht und Erkenntnis. Beide Bücher tragen dazu bei, derartige Eindrücke zu erklären.

[1] Es ist beispielsweise Schauplatz eines Romans von Helene Hegemann, Bungalow (2018).

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Dirk Naguschewski ist am ZfL zuständig für Wissenstransfer und Kommunikation.

Dieser Text steht unter der Lizenz CC BY‑NC‑ND 3.0 Germany.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Dirk Naguschewski: Auf Tuchfühlung mit deiner Stadt. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani, in: ZfL BLOG, 6.3.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200306-01

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Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/02/25/carlo-ginzburg-gertrud-bing-ueber-aby-warburg-und-eine-philologie-der-ueberlieferung/ Tue, 25 Feb 2020 13:26:37 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1348 1. Habent sua fata libelli, »Bücher haben ihre Schicksale.« – Diese oft zitierten Worte des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus lassen sich auch auf ein ungeschriebenes Buch beziehen: die Biographie Aby Warburgs, an der seine Assistentin Gertrud Bing bis an ihr Lebensende gearbeitet hat. Ihr unvollendetes Projekt wurde später von Ernst Gombrich wieder aufgegriffen, der damit Weiterlesen

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1.

Habent sua fata libelli, »Bücher haben ihre Schicksale.« – Diese oft zitierten Worte des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus lassen sich auch auf ein ungeschriebenes Buch beziehen: die Biographie Aby Warburgs, an der seine Assistentin Gertrud Bing bis an ihr Lebensende gearbeitet hat. Ihr unvollendetes Projekt wurde später von Ernst Gombrich wieder aufgegriffen, der damit seine Dankbarkeit gegenüber Bing zum Ausdruck brachte. Der große Wiener Kunsthistoriker hat es dann zu Ende geführt, mit stupender Gelehrsamkeit, aber nur begrenzter intellektueller Sympathie für den, der Objekt dieser Biographie war.[1] Ganz entgegen Gombrichs Absicht hat das Buch eine wahre Warburg-Renaissance ausgelöst, die bis heute andauert. Man könnte also sagen, dass Bings Projekt Erfolg beschieden war, wenn auch auf verschlungenen und unvorhersehbaren Wegen.

Ein Vergleich der beiden Biographien Warburgs, der vollendeten von Gombrich und der unvollendeten von Bing, dürfte angesichts der offensichtlichen Differenzen ihrer beider Sichtweisen wenig ertragreich sein. Allerdings ist Bing, die eine enge Vertraute Warburgs war, etwas Wichtiges aufgefallen, das Gombrich entgangen ist und auch von weiten Teilen der darauffolgenden Literatur nicht zur Kenntnis genommen wurde:[2] Warburg hatte Ludwig Traube, den Begründer der modernen Paläographie, als »Großmeister unseres Ordens« bezeichnet.[3] Diese amüsante Ehrerbietung mit ihren freimaurerischen Untertönen hat weitreichende hermeneutische Implikationen, die von Bing mit großem Scharfsinn entwickelt wurden. Hierzu stellen meine folgenden Überlegungen eine Ergänzung dar.

2.

Traube »hatte Abschreibefehler als Hinweise auf Entstehungszeit und -ort innerhalb der Überlieferung antiker Texte erkannt«, schreibt Bing.[4] Ihm darin folgend analysierte Warburg in seinem Aufsatz »Flandrische und florentinische Kunst im Kreise des Lorenzo Medici um 1480« aus dem Jahr 1901 die »antichità alla franzese«. Mit dieser von ihm selbst andernorts geprägten paradoxen Formulierung fasst er die Tradierung antiker Formen im vormodernen französischen Kulturraum (hier vor allem Flandern und Burgund). Denn die Antike lebte ihm zufolge zweimal nach: einmal im Süden, in der italienischen Renaissance durch »Verkörperung des bewegten Lebens«, und einmal im Norden, in verpuppter Form in der französischen Gotik. Warburg verstand auch Letztere als eine spezifische Schicht der Überlieferung der Antike, die als solche untersucht zu werden verdiente, und nicht nur als ein Hindernis bei der Wiederentdeckung der Antike durch die florentinischen Künstler und Humanisten des Quattrocento. Um aber die von Bing ins Spiel gebrachte Analogie zwischen Abschreibefehlern und Überlieferungsvarianten zur Gänze zu verstehen, sollte daran erinnert werden, dass Traube zu Beginn seiner 1909, zwei Jahre nach seinem Tod erschienenen Vorlesungen zur Handschriftenkunde einen Vergleich zwischen Handschriften und Gemälden unternommen hatte, und zwar im Rahmen einer Würdigung der Untersuchungen von Giovanni Morelli. Dieser 1891 verstorbene Kunstkenner hatte unter Beweis gestellt, dass er den Urheber eines Gemäldes anhand eines marginalen Details, beispielsweise der Darstellung eines Ohrs, erkennen konnte: nicht »ex ungue leonem«, sondern mit weit gewichtigeren Argumenten »ex aure Raphaelum Urbinatem«[5], »an der Tatze erkennt man den Löwen, am Ohr Raffael aus Urbino«.

Die Bedeutung dieses Hinweises auf Morelli wurde von Augusto Campana erkannt, den Warburg 1928 auf seiner letzten Reise nach Italien mit Bing in Rimini getroffen hatte. Warburg erkannte beim jungen Campana (er war damals 22 Jahre alt) nicht nur die Veranlagung zum Historiker, sondern stellte voller Verblüffung auch dessen eingeschränktes Gespür für Bilder fest.[6] Letztere Einschätzung sollte dreißig Jahre später korrigiert werden, als Campana die Lehre der Handschriftenkunde an der Universität von Urbino übernahm. Seine Antrittsvorlesung erwies sich schon im Titel als eine Würdigung Traubes, und Campana hob dessen »ungemein bedeutsame« Anspielung auf Morellis Methoden hervor, indem er auf der Wichtigkeit der Beziehung von Paläographie und Kunstgeschichte bestand.[7]

Diese Anspielung trägt nicht nur zum Verständnis Traubes bei, sondern hilft uns auch zu verstehen, wie Warburg Traube las. Fangen wir mit Ersterem an. Die unter dem Pseudonym Iwan Lermolieff veröffentlichten Schriften Morellis[8] lösten nicht nur lebhafte Polemiken aus, sondern fanden auch Zustimmung, etwa von dem Kunsthistoriker Anton Springer. Unter Berufung auf Morellis Methoden schlug dieser in seinem Aufsatz »Kunstkenner und Kunsthistoriker« (1881) eine Parallele zwischen dem Paläographen und dem Kunstkenner vor. Um die Echtheit eines Dokuments zu beweisen, habe sich der Spezialist mittelalterlicher Handschriften weniger auf den Titel oder die Initialen zu stützen, sondern vielmehr auf marginale Details wie gedankenlos gezogene Schnörkel. Auf gleiche Weise hat Morelli gezeigt, dass sich die Arbeit des Kunstkenners auf die Schnörkel der Künstler[9] zu konzentrieren hat. Der junge und frühreife Traube (er war 1861 geboren) wird über Morellis Ausführungen wahrscheinlich ebenso nachgedacht haben wie über Springers Aufsatz zum Utrecht-Psalter, in dem ein Echo Morellis zu vernehmen ist.[10] Auf den Utrecht-Psalter kommt auch Adolph Goldschmidt zurück, ein Schüler Springers und enger Freund Warburgs, der aus dem gleichen Hamburger Bildungsmilieu kam (beide entstammten jüdischen Bankiersfamilien).[11] Vermittelt über seinen Lehrer begann Goldschmidt sich für Morelli zu interessieren, dem er 1887 in Mailand einen Besuch abstattete.[12]

3.

All dies scheint uns von Warburg zu entfernen, der im August 1903 in einem langen Brief an Goldschmidt (den er liebevoll »Adölphle« nennt) seine Distanz zu Morelli und Kunstkennern ganz allgemein hervorhebt, die er mit einer gewissen Verachtung als »enthusiastische Kunstgeschichtler«[13] beschreibt. Es ist bekannt, dass Warburg für Kennerschaft nur wenig übrig hatte.[14]

Dennoch könnte Springers Parallelisierung von Paläographie und Kennerschaft, die von Warburgs Lehrer Hubert Janitschek aufgegriffen wurde, Warburg nicht nur auf Springer, sondern auch auf Traube gebracht haben.[15] Und Traubes Blick für die Fehler der Kopisten, den Bing betont hatte, impliziert – wie wir gesehen haben – eine Weiterentwicklung von Morellis Methode, die just dazu gedacht war, zwischen Original und Kopie zu unterscheiden. So bleiben Morellis Ideen bei Warburg durch den Filter von Traube und unter anderem Namen am Leben.

Damit sind wir bei der entscheidenden Methodenfrage, auf die Bing im Zuge ihrer Überlegungen zur Bedeutung Traubes für Warburg zu sprechen kommt:

»Nun ließ sich auch die klassische Bilderwelt mit ihrem burgundischen Zwischenspiel auf derselben Ebene einordnen. Das bewies auch den großen Wert der antiken Tradition als Untersuchungsgegenstand. Der historische Augenblick kann sozusagen mit einer Zwei-Stärken-Brille betrachtet werden: Ein Linsenpaar ist auf die äußere Erscheinung eingestellt, auf die Frage, was sie realiter darstellt, das andere auf die Wege, auf denen die Kenntnis der Vergangenheit gewonnen worden ist. Die Geschichte, die jedes Zeitalter absichtlich oder stillschweigend von seiner eigenen ferneren Vergangenheit erzählt, reflektiert Licht in beide Richtungen.«[16]

Quelle dieser nicht belegten Passage ist einmal mehr Traube, genauer seine Einleitung zu den Karolingischen Dichtungen:

»Der Aufstieg vom geschichtlichen Material zur Begreifung einer geschichtlichen Tatsache ist ein dreigeteilter: von der Beurteilung (Kritik mit Interpretation) der Überlieferung über die Beurteilung des Überlieferers zur Beurteilung des Überlieferten. D. h. angewandt z. B. auf die Begreifung einer in einem Schriftstellertexte überlieferten Tatsache: von den Hss. über den Schriftsteller zum Dargestellten (Hss.-, Quellen-, Tatsachenbeurteilung).«[17]

Traube schreibt, er habe diese Themen »nach dem glänzenden Vorgang« Hermann Useners in Philologie und Geschichtswissenschaft (1882) »noch einmal zu entwickeln nicht gewagt«.[18] In Wirklichkeit aber geht Traube sehr viel weiter als Usener (ein anderer wegweisender Autor für Warburg). Die oben zitierte Passage enthält im Kern ein bislang nicht übersetztes Hauptwerk der Philologie des 20. Jahrhunderts, die Storia della tradizione e critica del testo von Giorgio Pasquali (1934).[19] So nimmt es auch nicht wunder, dass Bing ihren am weitesten ausgearbeiteten Text über Warburg mit einem Zitat aus einem Artikel Pasqualis beginnen lässt, den dieser 1930 dem ein Jahr zuvor verstorbenen Warburg gewidmet hatte.[20] Im Jahr darauf veröffentlichte Pasquali noch einen weiteren Aufsatz, »Paleografia quale scienza dello spirito«, der im Kern eine Würdigung Traubes und seines außergewöhnlich reichhaltigen Werks war.[21] Pasquali erkannte ebenso wie Bing, dass sich Warburg und Traube aufeinander beziehen ließen.

Die Implikationen dieser Verflechtungen sind vielfältig. Die rätselhafte Konvergenz von Warburg und Freud, die sich niemals begegnet sind, sollte ebenfalls von Morelli aus begriffen werden, dessen Arbeiten auf je eigene Weise sowohl von Freud als auch von Traube weiterentwickelt wurden. Und der strahlenden Intuition Bings folgend, sollte man von Traube ausgehen, um Warburg in einem neuen Licht zu lesen.

4.

Bei alldem riskieren diese, wenn auch provisorischen, Schlussfolgerungen, Traube und Warburg ihrer eigenen Zeit zu entheben. Man könnte also mit gutem Grund den Schluss von Traubes Vorwort zu den Karolingischen Dichtungen zitieren,

»dass die Philologie, gerade weil sie Geschichtswissenschaft ist, prinzipiell kein Ende hat. Als Hüterin des Kunstwerkes aber wird sie sich von der Poetik im Sinne W. Scherers ablösen lassen müssen, einer Ästhetik, die im Verzicht auf dogmatische Gewalt eine Welt von neuer Kunst uns zu erschließen im Begriffe steht, die neben Goethe und Homer auch die Gebrüder Goncourt und Dostojewski zu Worte kommen lässt, und die sich auf die bildende Kunst übertragen muss, damit wir neben Pheidias und Michelangelo nicht Böcklin und Bastien-Lepage übersehen.«[22]

Ein heute mehr noch als damals provozierender Schluss – aus Gründen, die Traube nicht hat vorhersehen können. Und wieder sind wir nicht weit entfernt von Warburg: Sein Enthusiasmus für Böcklin, den Gombrich – womöglich mit einem Hauch Schadenfreude – registriert hatte, scheint uns hoffnungslos veraltet.[23] Botticelli durch Böcklin oder gar Michelangelo durch Bastien-Lepage zu begreifen: Haben wir es hier, könnte man süffisant fragen, mit einer neuen Art von antichità alla todesca oder alla franzese zu tun? Gleichwohl birgt dieser imaginäre Dialog ein reales Problem. So wie von Traube dargelegt und von Warburg vorgeführt, erreicht uns die Vergangenheit über Vermittlungen, die ein jedes Mal kritisch analysiert werden müssen, über Filter, die uns etwas über die Vergangenheit und sich selbst mitteilen.

 

[1] Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie (1970), aus d. Engl. von Matthias Fienbork, Frankfurt a.M. 1981. Gertrud Bing und Fritz Saxl hatten Gombrich 1946/47 mit der Aufgabe betraut, eine kommentierte Edition der theoretischen Schriften Warburgs herauszugeben. Zwischen ihm und Bing kam es später zu Meinungsverschiedenheiten, wovon Gombrich im ersten Kapitel seines Buches berichtet (S. 16): »als ich ihr meine Entwürfe vorlegte, war sie über die kritische Distanz meiner Darstellung nicht immer glücklich«.

[2] Agamben hat die Bedeutung dieses Details durchaus registriert, vgl. Giorgio Agamben: »Aby Warburg oder die namenlose Wissenschaft« [1975], in: ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. von Francesca Raimondi, Frankfurt a. M. 2013, S. 139–166.

[3] Gertrud Bing: »A. M. Warburg«, in: Aby M. Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Dieter Wuttke, 3., durchges. u. erg. Auflage, Baden-Baden 1992, S. 437–454, hier S. 447; im englischen Original in: Gertrud Bing: Fragments sur Aby Warburg. Documents originaux et leur traduction française, hg. von Philippe Despoix/Martin Treml, Paris 2020, S. 132–182, hier S. 164.

[4] Ebd.

[5] Ludwig Traube: »Geschichte der Paläographie« [1909], in: ders.: Vorlesungen und Abhandlungen, hg. von Franz Boll, München 1965, S. 7: »Aus dem Ohr z. B. und seinen bei verschiedenen Malern so verschiedenen Bildungen hat der Italiener Morelli (Iwan Lermolieff), der vor einiger Zeit gestorben ist, erst stark verspöttelte, dann immer mehr anerkannte Schlüsse gezogen, und mit weit größerem Rechte als ›ex ungue leonem‹ konnte man von diesen stets exakter werdenden Forschungen sagen: ›ex aure Raphaelum Urbinatem‹.«

[6] »Der sich als ganz feiner Historiker herausstellt« und »[m]erkwürdig wenig Sinn für das Bild« zeigt, schreibt Warburg am 30. Oktober 1928 über Campana, in: Tagebuch der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, hg. von Karen Michels/Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001, S. 358.

[7] Augusto Campana: »Paleografia oggi. Rapporti, problemi e prospettive di una ›coraggiosa disciplina‹«, in: Studi urbinati XLI.1–2 (1967), Bd. II: Studi in onore di Arturo Massolo, S. 1013–1030, insb. S. 1208. Der Ausdruck coraggiosa disciplina ist eine Anspielung auf Traube: »Geschichte der Paläographie« (Anm. 5), S. 3: »Die Paläographie ist eine mutige Disziplin.« Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Vorlesung von Campana (dessen Schüler ich das Glück zu sein hatte) in seinem Seminar an der Scuola Normale Superiore in Pisa.

[8] Iwan Lermolieff: Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch, aus dem Russ. übers. von Johannes Schwarze, Leipzig 1880. Teile dieser Textsammlung waren zuvor in der Zeitschrift für bildende Kunst erschienen.

[9] Anton Springer: »Kunstkenner und Kunsthistoriker. Ein Nachwort«, in: ders.: Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, Bonn 1886, Bd. II, S. 379–404, insb. S. 385 f. Vgl. auch Kathryn Brush: The Shaping of Art History. Wilhelm Vöge, Adolph Goldschmidt and the Study of Medieval Art, Cambridge 1996, S. 169 f., Fn. 63 (über Springer und Morelli).

[10] Anton Springer: »Die Psalter-Illustrationen im frühen Mittelalter. Mit besonderer Rücksicht auf den Utrechtpsalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Miniaturmalerei«, in: Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. VIII, Leipzig 1880, S. 187–256, insb. S. 197–199.

[11] Christine Kreft: Adolph Goldschmidt und Aby M. Warburg. Freundschaft und kunstwissenschaftliches Engagement, Weimar 2010. Vgl. auch Adolph Goldschmidt: »Der Utrechtpsalter«, in: Repertorium für Kunstwissenschaft XV (1892), S. 159–169, und dessen Besprechung von Ludwig Traube, »Paläographische Anzeigen III« [1901], in: Kleine Schriften [1920], hg. von Samuel Brandt, München 1965, S. 229–246, insb. S. 237 f. In seinen Memoiren, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren und erst posthum bekannt geworden sind, schreibt Goldschmidt rückblickend kritisch über Springers Seminare, vgl. Adolph Goldschmidt: Lebenserinnerungen 18631944, hg. von Marie Roosen-Runge, Berlin 1989, S. 69–71. Überaus positiv hingegen fällt sein Urteil in einem Jugendbrief aus (ebd., S. 70, Fn. 58). Vgl. Henrik Karge: »Anton Springer und Adolph Goldschmidt: Kunstgeschichte als exakte Wissenschaft?«, in: Gunnar Brands/Heinrich Dilly (Hg.): Adolph Goldschmidt (18631944). Normal Art History im 20. Jahrhundert, Weimar 2007, S. 131–145, insb. S. 135.

[12] Vgl. Brush: The Shaping of Art History (Anm. 9), S. 167, Fn. 46.

[13] Vgl. die Klassifikation von Kunsthistorikern, die sich in dem langen, von Gombrich veröffentlichten Brief befindet; Gombrich: Aby Warburg (Anm. 1), S. 182.

[14] Ebd., S. 411.

[15] Hubert Janitschek: »Anton Springer als Kunsthistoriker«, in: Anton Springer: Aus meinem Leben, Berlin 1892, S. 358–382 (wo Morelli allerdings nicht genannt wird).

[16] Bing: »A. M. Warburg« (Anm. 3), S. 447 f.; im englischen Original in: Bing: Fragments sur Aby Warburg (Anm. 3), S. 165.

[17] Ludwig Traube: Karolingische Dichtungen, Berlin 1888, »Vorwort«, S. 3. Traubes Orthographie ist hier zur besseren Lesbarkeit modernisiert worden.

[18] Ebd., S. 4.

[19] In diesem Werk finden sich unzählige Verweise auf die Forschungen Traubes.

[20] Giorgio Pasquali: »Aby Warburg« [1930], in: ders.: Pagine stravaganti di un filologo, Florenz 1968, S. 40–54.

[21] Giorgio Pasquali: »Paleografia quale scienza dello spirito« [1931], in: ebd., S. 103–117.

[22] Traube: Karolingische Dichtungen (Anm. 17), »Vorwort«, S. 5. Scherers Poetik war posthum ebenfalls im Jahr 1888 erschienen.

[23] Gombrich: Aby Warburg (Anm. 1), S. 194.

Übersetzung von Dirk Naguschewski

Carlo Ginzburg ist Historiker und bekannt für seine Forschungen zum Nachleben der Antike in der europäischen Tradition. Der vorliegende Text wurde ursprünglich als Vorwort zu einer Edition von Gertrud Bings Arbeiten über Warburg verfasst: Gertrud Bing: »Fragments sur Aby Warburg.« Documents originaux et leur traduction française, hg. von Philippe Despoix und Martin Treml, Paris: Éditions de l’Institut national d’histoire de l’art (INHA) 2020, S. 11–17.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Carlo Ginzburg: Gertrud Bing über Aby Warburg und eine Philologie der Überlieferung, in: ZfL BLOG, 25.2.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/02/25/carlo-ginzburg-gertrud-bing-ueber-aby-warburg-und-eine-philologie-der-ueberlieferung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200225-01

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Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/01/27/pola-gross-stilisierung-zum-kuschel-philosophen-zur-rezeption-von-adornos-aspekte-des-neuen-rechtsradikalismus/ Mon, 27 Jan 2020 14:14:23 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1336 Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf Weiterlesen

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Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf »erstaunliche Parallelen« zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den »gegenwärtigen Entwicklungen«.[2] Die meisten Rezensionen, von der Süddeutschen Zeitung über die Welt bis zur ZEIT, konstatieren in eben diesem Sinne eine verblüffende Aktualität von Adornos Vortrag, die Redaktion von Spiegel Online attestiert Adorno gar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie titelt: »Was Adorno 1967 schon über die Neue Rechte wusste

Angeregt wurde diese Rezeption durch das clevere Marketing des Suhrkamp-Verlags, der den Vortrag im Klappentext der handlichen Ausgabe als »Flaschenpost an die Zukunft« bewirbt. Bekräftigt wird diese Analogie zwischen heute und den 1960er Jahren durch den Hinweis auf das Nachwort des Historikers und Publizisten Volker Weiß, der den »Wert« von Adornos Überlegungen »für unsere Gegenwart« herausarbeite.[3] Dieses Nachwort beginnt tatsächlich mit der Feststellung, dass sich Adornos Vortrag »passagenweise wie ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen« lesen lasse.[4] Damit ist es dem Verlag geschickt gelungen, die Dringlichkeit des schmalen Bändchens zu behaupten – in kaum einer Buchhandlung, die etwas auf sich hielt, stand es letzten Sommer nicht an verkaufsstrategisch prominenter Stelle.

Magnus Klaue ist einer der wenigen Rezensenten, der in die Jubelrufe nicht einstimmt. In seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisiert er nicht Adornos Vortrag selbst, sondern die aus seiner Sicht »um den Preis der Enthistorisierung« allzu munter betriebene Parallelisierung der damaligen mit aktuellen politischen Entwicklungen. Klaue plädiert für die Einordnung von Adornos Vortrag in seinen zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, da sich die Situation Ende der 1960er Jahre von der heutigen deutlich unterscheide. Insbesondere kritisiert er eine tatsächlich recht lapidar anmutende Formulierung aus dem Nachwort:

»Zu einer Historisierung Kritischer Theorie besteht also kein Anlass« (S. 86).[5]

Ausgehend von dieser Formulierung weist Klaue Weiß in durchaus polemischem Ton eine enthistorisierende Lektüre und falsche historische Gleichsetzungen wie beispielsweise die zwischen Rechtsradikalismus und Nationalsozialismus nach. In weitaus weniger polemischer Manier verdeutlicht er jedoch den Punkt, um den es ihm dabei geht: Gerade wenn Adornos kritische Theorie und Thesen heute noch etwas ausrichten sollen, müssten sie historisiert werden. Es gelte »ihren Zeitkern zu entfalten, um im Licht der Differenz zur Gegenwart die Frage aufzuwerfen, was sie heute erhellen können.« Eine »forcierte Aktualisierung« dagegen, wie Weiß und der Großteil des Feuilletons sie betrieben, hebt nach Klaue »wider Willen jene Momente hervor, in denen ein Denken wirklich historisch geworden ist«, und verfehlt damit das eigentliche Anliegen, nämlich Antworten auf die drängenden Fragen nach dem Umgang mit und der Bekämpfung von rechten Bewegungen und Parteien zu finden.

Wie berechtigt ist die Kritik an Weiß? Zunächst möchte man ihr vorbehaltlos zustimmen, denn tatsächlich kommt sein Nachwort ein wenig zu leichtfüßig daher, wenn er gegen Adornos Kritik an der Reproduktion mündlicher Vorträge, in denen dieser »ein Symptom jener Verhaltensweise der verwalteten Welt« sieht, »welche noch das ephemere Wort, das seine Wahrheit an der eigenen Vergänglichkeit hat, festnagelt, um den Redenden darauf zu vereidigen«,[6] lediglich einwendet, dass der Inhalt von Adornos Rede eben nicht von flüchtigem Charakter sei (S. 60). Stattdessen hätte Weiß auf die sorgfältig edierte, zwei Monate später erscheinende Gesamtausgabe von Adornos Vorträgen 1949–1968 verweisen können, die der von Adorno benannten Gefahr durch eine ausführliche Kontextualisierung zu begegnen versucht. Auch scheint Klaues Kritik an einer Einebnung der historischen Differenzen berechtigt, wenn man Stellen wie die folgende bei Weiß betrachtet: »Zu seinem [Adornos, PG] historischen Fluchtpunkt, dem Nationalsozialismus, und dem unmittelbaren Redekontext, den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, tritt nun eine Gegenwart, in der sich eine äußerste Rechte erneut zur einflussreichen politischen Kraft entwickelt. Das verleiht Adornos Worten ihre Aktualität.« (S. 61) Kurz darauf betont allerdings auch Weiß, dass Adornos Überlegungen nicht unumwunden auf heute zu übertragen und die »Unterschiede zu beachten« seien (S. 74). Unter Rückgriff auf Adornos berühmte Formulierung vom Zeitkern der Wahrheit [7] fordert Weiß in durchaus ähnlicher Formulierung wie Klaue: »Die hellsichtig wirkende Aktualität ist mit dem historischen Zeitkern ihrer Wahrheit ins Verhältnis zu setzen.« (S. 62) Solche Formulierungen deuten darauf hin, dass die wie in obigem Zitat mitunter etwas vorschnell gezogenen Parallelen zwischen den 1930ern, 1960ern und 2010ern wohl vor allem dem Zweck geschuldet sind, das Nachwort für die sommerliche Ausgabe schnell fertigzustellen. Denn bei allen tatsächlich zu leichtfertigen Vergleichen (wie zum Beispiel von Adornos Erörterungen der Propagandatechnik der NPD mit heutigen medialen Erscheinungsformen wie Bots, Trollen und Fake News), die einer differenzierteren Analyse bedurft hätten, geht es Weiß vor allem darum zu zeigen, dass in einer Gegenwart, in der Politiker*innen, Intellektuelle, Journalist*innen und große Teile der Öffentlichkeit gleichermaßen mit Rat- und Hilflosigkeit auf den Erfolg rechter Parteien blicken, die Texte der Kritischen Theorie wertvolle Einsichten und Analyseinstrumente bereithalten könnten, um der zunehmenden Gefahr von rechts zu begegnen.

Unter diesem Blickwinkel betrachtet scheint es so, als ob Klaue und Weiß grundsätzlich gar nicht so weit voneinander entfernt sind, jedoch gänzlich Unterschiedliches unter Historisierung verstehen: Was Weiß als Historisierung der Kritischen Theorie ablehnt, ist vor allem eine Relativierung ihrer Einsichten und Positionen. Gegen den relativistischen Vorwurf des Veraltetseins hebt er daher bewusst hervor, dass die Arbeiten der Kritischen Theorie für aktuelle gesellschaftstheoretische und -politische Analysen »unverzichtbar« seien (S. 87). Klaue dagegen versteht unter Historisierung die Einbettung von Adornos Überlegungen in ihre jeweiligen historischen und theoretischen Kontexte. Nur aus diesen heraus und mitunter im Widerspruch zur heutigen Situation können sie ihre Sprengkraft entfalten: »Nur ein Denken, das nicht zu jeder Zeit zu allem passt, ist lebendig.« Wollen Klaue und Weiß also letztlich dasselbe, haben aber unterschiedliche Begriffe von Historisierung?

Wie auch immer man diese Frage beantwortet, festzuhalten bleibt, dass Klaue kritischer und deutlicher als die meisten Rezensent*innen darauf hingewiesen hat, dass Adornos Thesen nicht umstandslos auf die Gegenwart zu übertragen sind, wenn sie wirksam sein sollen. Die Einbettung seiner Argumentation in ihren ursprünglichen Kontext ist wichtig, um die heutige Situation nicht herunterzuspielen. Adorno attestiert der NPD beispielsweise Diskursfeindlichkeit und »Theorielosigkeit« (S. 448); beides kann von der Neuen Rechten heute (leider) nicht mehr behauptet werden. Auch Weiß’ Feststellung, dass im Nationalsozialismus »der Rechtsradikalismus […] Staatsraison gewesen« sei (S. 67f.), setzt nicht nur beide Phänomene fälschlich in eins, sondern macht es sich – und vor allem der Neuen Rechten – entschieden zu einfach. Denn genau diese Argumente kennt Letztere mittlerweile nur zu gut und hat gelernt, sie etwa durch den knappen Hinweis, eine demokratische Bewegung zu sein, abzutun. Erst das genaue Auseinanderhalten der historisch unterschiedlichen Zeiten und Sachverhalte ermöglicht eine treffende Analyse der jeweiligen Phänomene. Ansonsten verkennt man, was sich geschichtlich geändert hat: Die Kritik sitzt besser, wenn man unterscheidet.[9]

Eine Enthistorisierung von Adornos Vortrag im Sinne einer vorschnellen Aktualisierung dagegen trägt dazu bei, seine Thesen zu entschärfen und Adorno selbst zu einer Art Kuschel-Philosophen zu degradieren. Auf einmal macht man es sich mit dem guten alten Adorno (wer hätte das gedacht?) auf dem Sofa gemütlich, nickt zustimmend zu den so aktuell anmutenden Thesen, legt das Bändchen weg und wähnt sich selbst schon recht widerständig. Einer solchen Rezeption leistet auch die handliche Ausgabe Vorschub, die vor allem die Aktualität des Vortrags betont und dadurch verpasst, die historischen und theoretischen Voraussetzungen und Anlässe von Adornos Denken zu klären.

Kurzum: Trägt nicht gerade die Herauslösung von Adornos Vortrag aus seinem historisch-theoretischen Kontext dazu bei, sich mit der scheinbar so gut aufgehenden Analogie zu begnügen und dabei das (Weiter-)Denken einzustellen? Damit gerät man dann allerdings erst recht in jenes »schlecht zuschauerhafte[] Verhältnis zur Wirklichkeit« (S. 467), vor dem Adorno am Ende von Aspekte des neuen Rechtsradikalismus warnt. Eine Lektüre, die die historischen Differenzen allzu schnell beiseite wischt, stilisiert Adorno zu einem Klassiker (der er nie gewesen ist), dessen einzig kritisches Potential darin besteht, der Gegenwart nahezu prophetisch die politische Analyse abzunehmen. Dass dies genau nicht sein Anliegen war, stellt Adorno selbst am Ende seines Vortrags durch die Weigerung klar, Prognosen über die Zukunft des Rechtsradikalismus zu geben:

»Ich halte diese Frage für falsch, denn sie ist viel zu kontemplativ. In dieser Art des Denkens, die solche Dinge von vornherein ansieht wie Naturkatastrophen, über die man Voraussagen macht wie über Wirbelwinde oder über Wetterkatastrophen, da steckt bereits eine Art von Resignation drin, durch die man sich selbst als politisches Subjekt eigentlich ausschaltet […].« (S. 466f.)

Mit Adorno selbst muss man daher Einspruch erheben gegen die Verklärung seines Vortrags als »Flaschenpost an die Zukunft«.

 

[1] Der Vorabdruck ging dem von Michael Schwarz edierten Band Theodor W. Adorno. Vorträge 1949–1968 voraus, der innerhalb der vom Theodor W. Adorno Archiv herausgegebenen Nachgelassenen Schriften im September 2019 erschien und insgesamt zwanzig bisher unveröffentlichte Vorträge versammelt. Umfassend und ausführlich werden die Vorträge in ihren theoretischen wie zeithistorischen Kontext eingeordnet. Im Folgenden zitiere ich Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus aus diesem Band unter Angabe der Seitenzahl im Text.

[2] Raphael Schmaroch: »Theodor W. Adorno. ›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‹«, Deutschlandfunk, 2.9.2019 (zuletzt abgerufen am 16.1.2020).

[3] Klappentext zu: Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag, Berlin 2019.

[4] Volker Weiß: »Nachwort«, in: ebd., S. 59–87, hier S. 59. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl im Text.

[5] Diese Aussage zweifelt auch Rudolf Walther in der taz an, allerdings weniger aufgrund einer problematischen Enthistorisierung von Adornos Thesen, sondern weil ihn diese in ihrer Skizzenhaftigkeit enttäuschten; vgl. Rudolf Walther: »Drastische Namen für Propaganda«, in: Die Tageszeitung, 15.7.2019 (zuletzt abgerufen am 16.1.2020).

[6] Theodor W. Adorno: »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«, in: ders.: Gesammelte Schriften 20.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 360, Fußnote.

[7] Adorno spricht an vielen Stellen in seinem Werk vom Zeitkern der Wahrheit; vgl. exemplarisch Adorno: Der Essay als Form, GS 11, S. 18.

[8] Vgl. hierzu auch die bisherigen Beiträge des ZfL zum Jahresthema »Historisieren heute«.

[9] Diese Formulierung verdanke ich Hendrik Gehlmann.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL. In diesem Jahr erscheint bei De Gruyter ihre Dissertation unter dem Titel »Adornos Lächeln: Das ›Glück am Ästhetischen‹ in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Pola Groß: Stilisierung zum Kuschel-Philosophen. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, in: ZfL BLOG, 27.1.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/01/27/pola-gross-stilisierung-zum-kuschel-philosophen-zur-rezeption-von-adornos-aspekte-des-neuen-rechtsradikalismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200127-01

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Daniel Weidner: TRANSITIONS, THRESHOLDS, TRADITIONS. Hans Blumenberg and Historical Thought https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/10/09/daniel-weidner-transitions-thresholds-traditions-hans-blumenberg-and-historical-thought/ Wed, 09 Oct 2019 07:33:29 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1212 Like identical twins, philosophy and history seem to be tied together in an uneasy way. On the one hand, philosophy is very concerned to engage with the history of philosophy. There are not many other branches of knowledge so preoccupied with continually referring back to their own ‘classics’. On the other hand, quite a few Weiterlesen

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Like identical twins, philosophy and history seem to be tied together in an uneasy way. On the one hand, philosophy is very concerned to engage with the history of philosophy. There are not many other branches of knowledge so preoccupied with continually referring back to their own ‘classics’. On the other hand, quite a few of these classical authors did not hold history in high esteem. Aristotle, as is well known, even preferred drama to history, arguing that the latter merely concerned contingent issues. The marriage between history and philosophy quite often results in monsters like Hegelian philosophy of history: grand narratives that are all too easy to criticize and to debunk.

If we want to better understand this complex relationship between philosophy and history, it might be worth turning to the German philosopher Hans Blumenberg. In many of his voluminous books he traces, with utmost erudition, a certain philosophical idea or motif from antiquity to the present – the idea of ‘myth’, the metaphor of ‘reading’ the world, the motif of the cave. Upon being accused of being a historicist, Blumenberg replied once that he would carry such a title with pride.[1] Occasionally, he described his approach as a “phenomenology of history” – not an unproblematic self-characterization since phenomenology, here understood in the Husserlian sense, belongs to those philosophical disciplines that are not particularly friendly with history. Precisely these frictions, however, made Blumenberg particularly conscious of the difficulties inherent in conceiving a history of philosophy as distinct from a philosophy of history.

One of his seemingly very simple approaches proved to be remarkably efficient. What if we no longer try to answer the question of what history is as a whole, or what the ‘essence’ of history’s major epochs is. What if we instead focus, more modestly, on minor changes and transitions? Even though we might not be able to fathom the entirety of what antiquity was, we may well be able to describe what happened when it came to an end. As Blumenberg argued in a review article from 1958, such historical thresholds provide the most intriguing areas for research:

“If Hellenism and Late Antiquity, ‘the autumn of the Middle Ages’ and the dawn of the Modern Age have become attractive recently, the big question of what ‘history’ is always lingers silently in the background. What is an ‘epoch’? What is the structure of ‘epochal change’? How should we understand and objectively handle the incongruence of testimonies and events? These are the intricate questions necessary to release the problem of history from its daunting massiveness and transform it into something graspable.”[2]

What we observe in these transitions is neither plain continuity nor clear-cut rupture, rather something in between, a certain overlapping where issues, questions, and concepts are still in place but have begun to change their meaning. As Blumenberg puts it – where answers may be found whose questions have become irrelevant. Such is not an univocal change but rather a threshold situation in which it is possible to look in both directions, to understand the new from the perspective of the old and vice versa. Later, in his magisterial book on The Legitimacy of the Modern Age, Blumenberg set up a sort of differential test comparing the metaphysical conceptions of Nicolas Cusanus and Giordano Bruno. Despite the fact that their ideas are quite similar and the authors, at times, even make near identical statements, Blumenberg argues that on closer inspection they point in different directions: one to a medieval horizon of thought and the other towards a modern understanding of the world.

It is not by chance that this epochal threshold concerns the emergence of what Blumenberg calls “the Modern Age” (“die Neuzeit”, literally “the New Age”). Another fruitful approach ventured by Blumenberg is to ask more specifically about the history of this Modern Age. This history must be different from all previous ones for modernity understands itself as a new beginning that breaks with its past. Does not this claim contradict the very project of a history of the modern? This, at least, is the suspicion voiced in The Legitimacy of the Modern Age where Blumenberg vigorously criticizes the so called theories of ‘secularization,’ arguing that essential modern ideas and attitudes were nothing but transformed Christian heritage. E.g. when Max Weber claimed that the capitalist work ethos emerged out of the Puritan search of salvation, or when Karl Löwith described the modern philosophies of history as a mere continuation of Christian theologies of salvation. If this were true, Blumenberg argues, modernity’s self-declared claim to be autonomous or to be the beginning of something truly new would have been an illusion.

Both approaches – questioning epochal thresholds and the genealogy of modernity – not only put forward interesting perspectives on the problem of history. They also relate to areas of knowledge other than those usually discussed in relation to history and theory. For instance, when discussing Late Antiquity, Blumenberg refers to Hans Jonas and Rudolf Bultmann, among others, who developed complex models for how paganism, Judaism, Christianity, and Gnosticism interacted with each other. These scholars were anything but positivists, rather they were major contributors to the hermeneutic debates of the 1950s and beyond. As such, their historiography was one of ideas more than of facts and belonged to the history of dogma and the history of religion. Though this is a very important field, historical theology having been ranked among the most admired disciplines of the German university, it has since been oddly overlooked in more general discussions of the history of knowledge. In Work on Myth, Blumenberg describes dogma as a form of knowledge that aims less at answering questions than excluding and eliminating them. A more comprehensive approach to history, thus, would be aware of the divergent historicities of different forms of knowledge, such as myth, metaphor, concept, or dogma. Arguably, no tradition would be complete without recourse to the complex interplay and overlap of these different forms of knowledge and expression.

In the Legitimacy, Blumenberg refers to the history of dogma to develop not only his own notion of historical change but also his own account of early Christianity. This also allowed him to re-narrate the history of the Modern Age. Ironically, this work not only refutes the erroneous genealogies that claim modernity to be the secularization of Christianity but replaces it by a – no less complex, nor less far-reaching – story about modernity being the second overcoming of Gnosticism. It was, according to Blumenberg, not Christian eschatology that brought about modern philosophy of history, as Löwith had argued. Rather, Christian eschatology collapsed in the early phase of Christianity when the expected second coming of Christ was delayed, a breakdown that contributed to the formation of Christian dogma. The solidification of this dogma entailed the Gnostic assault on it that, in turn, was only overcome by a reevaluation of the world, worldly knowledge, and curiosity, which Blumenberg marked as characteristic of the Modern Age. As Löwith himself remarked in his review of the Legitimacy, readers might eventually wonder: “[W]hy all this effort of precise distinction, broad historical erudition, and polemical invective against the scheme of secularization if such criticism, in the end, is so close to what it criticizes?”[3]

The debate about secularization was a very German one, thus Blumenberg’s work, though translated early, was not broadly received internationally. Nor did his defence of modernity fit well into the discussion on postmodernism. Even today, the growing interest in secularism and secularization seems to rest on premises so different from Blumenberg’s that it is difficult to connect him to it. Even so, his thinking allows us to criticize and differentiate the genealogies of modernity currently under scrutiny – from Jean Luc Nancy’s “deconstruction of Christianity” via Charles Taylor’s story of the emergence of a secular age to Jan Assman’s recent engagement with the “Axial Age”. Moreover, Blumenberg’s meticulous histories of problems show that we must reflect on what we actually do when we historicize and try to represent the subtleties of historical change. The history of philosophy – and maybe also the philosophy of history – may indeed be richer if we were less concerned with the concluding answers or grand narratives than with formulating questions that allow us to work out the transitions, thresholds, and traditions of history.

Daniel Weidner is vice director of the ZfL. He is co-editor of Blumenberg lesen. Ein Glossar (Berlin: Suhrkamp 2014) and co-host of the international symposion “New Approaches to Hans Blumenberg” (10–12 Oct. 2019).

His text was originally published on the blog of the Journal for the History of Ideas.

 

[1] Hannes Bajohr has recently dealt with Blumenberg’s remark on the ZfL Blog.

[2] Hans Blumenberg: Epochenschwelle und Rezeption, in: Philosophische Rundschau 6 (1958), p. 94–120, here p. 94–95.

[3] Karl Löwith: Review of Hans Blumenberg, The Legitimacy of the Modern Age, in: Philosophische Rundschau 15/3 (1968), p. 195–201, here p. 200.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Daniel Weidner: Transitions, Thresholds, Traditions. Hans Blumenberg and Historical Thought, in: ZfL BLOG, 9.10.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/10/09/daniel-weidner-transitions-thresholds-traditions-hans-blumenberg-and-historical-thought/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20191009-01

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Matthias Schwartz: GESCHICHTE ALS UNUNTERBROCHENE PERFORMANCE: Das Queer Archives Institute https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/09/03/matthias-schwartz-geschichte-als-ununterbrochene-performance-das-queer-archives-institute/ Tue, 03 Sep 2019 07:41:35 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1199 Zum 50. Jahrestag des Stonewall-Aufstands berichteten die Medien einmal mehr über die angespannten und vielerorts sich sogar verschlechternden rechtlichen und sozialen Lebensumstände queerer Menschen in Osteuropa. Regelmäßig gibt es Meldungen von LGBTIQ*-Demonstrationen in den Hauptstädten der Ukraine, Russlands, Polens oder Georgiens, die von nationalistischen und religiösen Gruppierungen attackiert werden oder nur mithilfe von massivem Polizeieinsatz Weiterlesen

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Zum 50. Jahrestag des Stonewall-Aufstands berichteten die Medien einmal mehr über die angespannten und vielerorts sich sogar verschlechternden rechtlichen und sozialen Lebensumstände queerer Menschen in Osteuropa. Regelmäßig gibt es Meldungen von LGBTIQ*-Demonstrationen in den Hauptstädten der Ukraine, Russlands, Polens oder Georgiens, die von nationalistischen und religiösen Gruppierungen attackiert werden oder nur mithilfe von massivem Polizeieinsatz durchgeführt werden können – wenn sie nicht gleich ganz verboten werden. Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und autoritärer Staatsführer, die ihre gottgewollte Ordnung und nationale Tradition durch ein aus dem Westen eindringendes Sodom und Gomorrha bedroht sehen, verschärft diese Lage noch.

Aus diesem Anlass veranstaltete das Theater HAU-Hebbel am Ufer in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum Berlin in der letzten Juniwoche das kleine Festival »The Present ist Not Enough. Performing Queer Histories and Futures«, das sich in Theatervorstellungen, Performances, Lesungen, Gesprächen, Filmvorführungen, Konzerten, Ausstellungen und Installationen vornehmlich Projekten aus Osteuropa widmete. Aus den dortigen Entwicklungen, so der ukrainische Journalist Maxim Eristavi, lasse sich generell etwas »über tektonische Veränderungen an der globalen LGBTIQ*-Front« lernen. Die Globalisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche habe nämlich keineswegs zu einer Verbesserung der Situation geführt. Ganz im Gegenteil sei ein Erstarken »international agierender homophober Gruppierungen« zu beobachten und steige die Anzahl queerer Geflüchteter, die immer seltener Asyl im Westen bekommen. Zudem hätten die globalen Veränderungen zu einer immer effektiveren Unterdrückung durch die international vernetzten Polizeiregime und dem Siegeszug der Identitätspolitik geführt, deren Anhänger im Namen der Verteidigung konservativer Werte‹ immer erfolgreicher Falschinformationen verbreiteten. Solchen Tendenzen entgegenzuwirken, war ein zentrales Anliegen des Festivals, das mit seinem Programm Visionen – »Manifestos« – für eine queere Geschichte und Zukunft präsentierte.

Eine dieser Geschichtsvisionen liefert das Queer Archives Institute (QAI), das der Warschauer Künstler Karol Radziszewski seit 2015 gestaltet. Es ist noch bis Ende September 2019 im Schwulen Museum Berlin zu sehen und präsentiert Dokumente queeren, vor allem schwulen Lebens aus verschiedenen Ländern Osteuropas in der Spätzeit des Staatssozialismus und während der ersten Jahre nach dessen Untergang. Die Schau ist nicht groß; ein einziger Raum bietet den Ausstellungswänden, Bildschirmen, Schaukästen, Vitrinen und einem Sofa Platz, auf dem man in dem von Radziszewski herausgegebenen ersten und einzigen Hochglanzkunstmagazin aus Osteuropa schmökern kann, das sich Homosexualität und Maskulinität widmet: dem DIK Fagazine. Und doch bekommt man einiges zu sehen, vor allem Zeugnisse von weitgehend unbekannten oder längst vergessenen Lebenswelten, die mehr oder weniger geschützt vor Repression und Diskriminierung existieren konnten und können. So kann man beispielsweise Ryszard Kisiels »POLISH GAY GUIDE on the europeans socialists countries« [sic] bestaunen, den er auf seinen zahlreichen Reisen in den 1970er und 1980er Jahren durch Polen, in die DDR, nach Bulgarien, Ungarn, Rumänien und in die Tschechoslowakei angelegt hat. In dem selbstgebastelten Heft erstellt er handschriftlich und durch Schwarzweißfotos ergänzt ein ausführliches Verzeichnis schwuler Bars, Badehäuser, Parks und anderer Cruising-Orte jener Zeit. Es enthält den Namen des Establishments, Adresse, Öffnungszeiten, die sexuelle Orientierung der Besucher*innen und manchmal vergibt Kisiel auch Sterne. In Ostberlin scheint ihm demnach am besten das »Café Schönhauser Allee« in der Kastanienallee 2 am U-Bahnhof Dimitroffstraße gefallen zu haben, für das er gleich fünf ***** notierte.

Andere Vitrinen zeigen Hefte, aufgeschlagene Seiten oder auch nur Ausrisse aus Zeitschriften wie dem polnischen »Monatsmagazin für Männer« okay, dem »Monatsmagazin für anders Liebende« filo oder der »ersten weißrussischen Publikation für Schwule und Lesben« forum Lambda. Manche Ausgaben wurden im Selbstverlag, mit Schreibmaschine und Filzstift hergestellt und hektographiert, andere scheinen schon professionell gedruckt worden zu sein. Sie alle zeugen in den Texten, Fotos und Zeichnungen von einer lustvollen Zurschaustellung des eigenen queeren Körpers, der selbstbewusst und oft mit Selbstironie präsentiert wird. 2012 hat Radziszewski in einem Interview gesagt, dass es ihm bei dieser Beschäftigung mit der Vergangenheit um eine Suche nach der eigenen Herkunft gehe, nach einer »anderen Geschichte der Gründungsmythen der Identität«. Ihn interessiere die Spezifik des Homosexuellseins in Osteuropa, das sich von der »westlichen Gay-Kultur und Popkultur« und den dazugehörigen Bewegungen unterscheide. Zu dieser spezifischen eigenen Geschichte gehört für ihn die Zeitschrift filo, da sie keine dieser typischen »emanzipatorischen Zeitschriften« sei, wie sie nach 1989 überall erschienen. In einem Gespräch, das er mit Vojin Saša Vukadinović für Texte zur Kunst aus Anlass der Ausstellung geführt hat, hebt Radziszewski die »verrückte« Do-it-yourself-Kreativität von filo hervor, die so »campy and queer« sei, wie es das heute in der polnischen Kunst nicht mehr gebe.

Als paradigmatisch für diesen anderen Umgang mit westlicher Popkultur und Queerness in Osteuropa gilt ihm vor allem ein Werk von Ryszard Kisiel, das in einer kleinen Collage aus Donald-Duck-Aufklebern und den Buchstaben A, I, D, S besteht. 1989 hat Kisiel diese Arbeit für filo erstellt, eine Nachbildung der Zeitschriftenseite ist in der Ausstellung in einer Vitrine zu sehen. Auf ihr sieht man Donald redend, zwinkernd, verlegen lächelnd und verwundert die vier Buchstaben halten. Darüber steht in großen Filzbuchstaben auf Polnisch (und ohne Übersetzung) geschrieben: »ACHTUNG! VIEL SPASS UNGEFÄHRLICH!« Radziszewski hat aus ihr eine riesengroße farbige Tapete im Stil der Pop-Art gemacht, die eine ganze Wand bedeckt. Wie dieses Motiv zu deuten ist, erfährt man nirgends, doch Radziszewski hat es schon mehrfach in früheren Ausstellungen verwendet und auch ein Cover des DIK Fagazines (Nr. 8, 2011) damit gestaltet. In einem Interview hat er einmal erläutert, er sehe in dem Motiv eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Wort AIDS und vergleicht es mit dem eineinhalb Jahre zuvor entstandenen viereckigen Buchstabenbild AIDS des kanadischen Künstlerkollektivs General Idea. Dieses spielte wiederum auf das berühmte LOVE-Motiv des Pop-Art-Künstlers Robert Indiana aus den 1960er Jahren an. Während die Künstleraktivisten von General Idea mit der direkten Identifizierung von LOVE mit AIDS Ende der 1980er Jahre im Medium der Kunst erstmals plakativ darauf hinwiesen, dass die HIV-Infektion nicht nur eine Gefahr für Minderheiten und Randgruppen darstelle, sondern die Krankheit alle betreffe, sieht Radziszewski in Kisiels Bild vor allem die »sehr ironische Geste«. Statt zu skandalisieren, entblößt es an versteckter Stelle und von kaum jemandem beachtet in einer Undergroundpublikation für anders Liebende zwinkernd die Scheinheiligkeit westlicher Popkultur und ihrer Donald Ducks.[1] Direkt darunter findet sich in der Zeitschrift ein knapper, ebenfalls unübersetzter Dialog auf Polnisch, der diese morbid-spöttische Mischung aus Faszination und Furcht vor ›westlichem‹ Genuss noch im verstotterten Akronym aufnimmt: »– Hallo ich habe echte Adidase! / – Oh Gott! Das bringt dich um! / – Dummkopf, das sind nur Schuhe!«

In der Ausstellung wird außerdem ein Film mit Ryszard Kisiel präsentiert, in dem eine Serie von Fotografien zu sehen ist, für die er Cruisingorte an einer polnischen Küstenstadt aufgenommen hat. Versehentlich wurde der Film ein zweites Mal belichtet, so dass nun Straßenansichten spätsozialistischer Tristesse und erotische Aufnahmen nackter Männerkörper einander überlagern. Im Off erläutert Kisiel im Gespräch mit Radziszewski, wie es zu den Bildern gekommen ist. Diesen Film mag man sinnbildlich für eine weitere Intention des QAI nehmen: hinter den überlieferten Bildern vom grauen Alltag der sozialistischen Wirklichkeit das erotische Vergnügen, die Exzesse des Alltags dem Vergessen zu entreißen und so die kurzen Momente des Glücks wieder sichtbar und fühlbar zu machen.

Dabei weigert sich die Ausstellung nicht nur bei der AIDS-Collage konsequent, den Besucher*innen irgendeine Hilfestellung zu geben. Kein Katalog, kein Audioguide, keine genauen Quellenangaben werden geboten. Spärliche Annotationen deuten mehr an, als dass sie informieren, statt zu erklären, verwirren sie eher: Ein Schwarzweiß-Foto zeigt eine elegant gekleidete Frau wohl in ihren Zwanzigern, womöglich aus den 1950er, vielleicht aber auch aus den 1980er Jahren, und die Bildunterschrift lautet: »Jana Kocianová war Sportlerin. Sie spielte Volley- und Basketball und war Mitglied der tschechoslowakischen Nationalmannschaft im Tischtennis. Sie arbeitete als Sekretärin des Prager Bürgermeisters und war die Managerin von Hana Hegerová – die ›Piaf aus Prag‹. Heute lebt sie in Prag.« Wann ist sie geboren, wie lebte sie ihr Leben, warum Sport, wer ist Hana Hegerová, was ist mit dem Prager Frühling, worin besteht die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, warum landete ihr Bild in den Queer Archives? All das erfahren wir nicht, noch nicht einmal, dass in der der Tschechoslowakei gewidmeten Ausgabe des DIK Fagazine (Nr. 9, 2014) ein langes Interview mit Kocianová erschienen ist.

Am Ende der Ausstellung findet man in einer großen Glaskiste einen Haufen scheinbar achtlos aufeinander geworfener, schon etwas ausgeblichener altmodischer Gewänder, prächtiger Kostüme und ausgefallener Verkleidungsartikel: Sich vorzustellen, welche opulenten Feste, exzessiven Orgien oder auch nur einsamen Selbstinszenierungen vorm Spiegel in ihnen möglicherweise einst stattgefunden haben, bleibt der Fantasie der Besucher*innen überlassen. Denn genau darum geht es Karol Radziszewski: die eigene Einbildungskraft, wie und wo ein queeres Leben im sozialistischen und postsozialistischen Osten Europas existiert haben könnte, in Bewegung zu setzen:

»Für mich ist bei der Arbeit mit den Archiven der Einfluss auf die Zukunft durch meine Arbeit mit der Vergangenheit wesentlich, in dem Sinn hat das auch ein politisches Potenzial. Mich interessiert die Suche nach alternativen Versionen bekannter Erzählungen, das Fantasieren über mögliche Wahrscheinlichkeiten. Geschichte ist eine ununterbrochene Performance.«

Insofern sind die Queer Archives auch kein Archiv im gewöhnlichen Sinne, kein gesicherter Ort des Aufbewahrens, Ordnens und Präparierens von Wissensbeständen, Fakten und Dingen, aber auch keine diskursive Institution, kein »Gesetz dessen, was gesagt werden kann« im Sinne von Michel Foucault, für den das Archiv genau jenes System darstellt, das bewirkt, dass alle Dinge sich »in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden, gemäß spezifischer Regelmäßigkeiten sich behaupten oder verfließen«:[2] Diese Archive par excellence sind im heutigem Osteuropa vor allem diejenigen der ehemaligen Geheimdienste, der Polizeidienststellen, der staatlichen Machtapparate, die jegliches Aufkommen von abweichendem Verhalten, dissidenten Einstellungen, nonkonformen Künsten und Lebensformen akribisch beobachtet, dokumentiert, angeordnet, bewertet, infiltriert und gegebenenfalls zerstört haben. Radziszewskis Archiv liefert den Gegenentwurf zu dieser Theorie und Praxis. Bei ihm gibt es keine Gesetze, kein System, keine Regelmäßigkeiten, sondern nur Wunscherfüllung:

»Die Arbeit mit der Geschichte, mit Archiven ist in mehrerlei Hinsicht interessant. Insbesondere, glaube ich, in den postkommunistischen Ländern, wo einige Verbindungen zerrissen sind oder niemals existierten, wo versucht wird, eine neue nationale Idee zu konstruieren, eine neue Narration zu schaffen. Mich interessiert genau dieses Konstruieren, Hinzufügen, Revidieren, jedoch aus einer ganz spezifischen Perspektive. Es gibt hierbei viel Platz für Interpretation. Ich bin kein Historiker, selbst wenn ich mich auf verschiedene Personen beziehe, rede ich im Grunde genommen von mir selber.«

Und in diesem Selbstgespräch mit anderen wird alles möglich:

»Ich suche tastend in der Vergangenheit die Elemente, die ich gerne in ihr finden würde. Und immer stellt sich heraus, dass es sie dort gibt

Das Queer Archives Institute ist so wenig Archiv wie Institut, sondern steht im besten Sinne quer zu allen Institutionalisierungen und Einordnungen. In der Berliner Ausstellung geht es höchstens indirekt um die realen Repressionen und Verfolgungen queerer Menschen im sozialistischen und postsozialistischen Europa, unter deren Bedingungen die hier präsentierten Objekte entstanden sind; die konkreten Umstände werden bis auf wenige Ausnahmen ausgeblendet. Das QAI muss von den Besucher*innen nicht verstanden, durchschaut, kategorisiert werden. Es bietet einen Kunstraum, in dem die Dinge ertastet werden wollen, die man gerne finden würde. Und insofern ist seine Geschichtsvision auch genau das Gegenteil von Historisierung: Aktualisierung einer möglichen Vergangenheit, die es so nie gegeben hat, aber in einer besseren Welt hätte geben sollen.

 

Der Slawist Matthias Schwartz bearbeitet am ZfL das Forschungsprojekt »Affektiver Realismus. Osteuropäische Literaturen der Gegenwart«. Gemeinsam mit Dirk Uffelmann (Gießen) organisiert er die Internationale Konferenz »Socialism’s Divergent Masculinities. Representations of Male Subjectivities in Soviet Constellations and Beyond«, die im Juni 2020 am ZfL stattfindet.

 

[1] Michał Witkowski hat diesen Lebensformen und abweichenden Körperinszenierungen queerer Selbstentwürfe im Spätsozialismus und den ersten Jahren danach seinen Roman Lubiewo (2004) gewidmet, der als erster »polnischer Tuntenroman« 2007 ins Deutsche übersetzt worden ist. Auch in ihm wird von den Protagonist*innen wiederholt diese Abgrenzung von der aus dem Westen kommenden Gay-Kultur vollzogen, die statt Genuss, Nachlässigkeit und Zeitverschwendung nur noch den disziplinierten Körpertechniken neoliberaler Karrierewege und kommerzieller Massenkultur folge. Für eine polnische Neuauflage des Buchs hat Karol Radziszewski 2006 eigene Fotos als Illustrationen beigesteuert.

[2] Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt am Main 1981, S. 187.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: Geschichte als ununterbrochene Performance: Das Queer Archives Institute, in: ZfL BLOG, 3.9.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/09/03/matthias-schwartz-geschichte-als-ununterbrochene-performance-das-queer-archives-institute/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190903-01

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Maria Kuberg: DRAMA, NACH DER HISTORISIERUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/06/11/maria-kuberg-drama-nach-der-historisierung/ Tue, 11 Jun 2019 08:47:50 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1077 Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht – bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik – Lyrik – Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Weiterlesen

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Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht – bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik – Lyrik – Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Konstrukte zu beschreiben, haben nicht selten zum Verschwinden der Gegenstände geführt. So ist etwa das Epos, das freilich ohnehin bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht recht floriert hatte, mit F. A. Wolffs Annahmen über die historischen Entstehungsbedingungen der antiken Epen und endgültig mit Hegels Bemerkungen über die Archaik und Ursprünglichkeit der epischen Dichtung zu einer Gattung der fernen Vergangenheit degradiert und das Verfassen von modernen Epen zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt worden.[1] Ähnlich ist es, wenn auch wesentlich später, dem modernen Drama ergangen. Das Drama ist besonders schwer zu historisieren, weil es einerseits eine Gattungstradition hat, die bis zu den Tragödien der griechischen Antike zurückreicht, es aber andererseits stärker als andere Gattungen permanent aktualisiert werden muss, nämlich auf der Bühne. Damit pendelt die Gattung zwischen dem Anspruch überzeitlicher Gültigkeit und einer Wandelbarkeit, die gleichermaßen die Möglichkeit der Historisierung infrage zu stellen scheinen.

Diese Herausforderung nimmt Peter Szondi mit seiner Dissertation Theorie des modernen Dramas (1880–1950) an, die er 1954 bei Emil Staiger in Zürich einreicht. Anstatt das ontologische Gattungsverständnis seines Lehrers zu übernehmen, geht Szondi, wie seine Vorbilder Benjamin, Lukács und Adorno, von der Annahme eines dialektischen Form-Inhalt-Verhältnisses aus. »Wahrhafte Kunstwerke«, zitiert Szondi Hegel, »sind eben nur solche, deren Inhalt und Form sich als durchaus identisch erweisen.«[2] Wenn nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass in der Literatur geschichtliche Inhalte in zeitlose Formen gegossen werden, sondern der Inhalt in die Form und diese umgekehrt in den Inhalt umschlägt, habe das »die Historisierung des Formbegriffs zur Folge, letztlich die Historisierung der Gattungspoetik selbst« (S. 12). Aus diesem Paradigmenwechsel zieht Szondi Konsequenzen für sein Verständnis literarischer Gattungen. Anders als für Benedetto Croce, der die Konstruktion der Gattungstrias grundsätzlich ablehne, oder für Staiger, der die Gattungsbegriffe als zeitlose Seinsweisen auffasse, bleibt für Szondi nur das »Ausharren auf historisiertem Boden« (S. 13): Wenn Inhalt und Form in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, dann, so der Schluss, hat die Form selbst ihre eigene, vom Inhalt zunächst unabhängige »Aussagefähigkeit« (ebd.), die mitunter auch zur inhaltlichen Aussage in Widerspruch geraten kann. Von dieser hegelianischen Grundannahme ausgehend leistet nun Szondi für das Drama, was Lukács 1916 für den Roman unternommen hatte: die Historisierung der Gattung vor dem Hintergrund der Modernekrise.

Für Szondi entsteht das Drama der Neuzeit in der Renaissance und ist Ausdruck des neuen Welt- und Menschenbildes. In Szene gesetzt wird das Individuum als handelndes Subjekt, das sich »im zwischenmenschlichen Bezug[ ] allein« (S. 16) konstituiert. Dazu muss das Drama Szondi zufolge »absolut« sein, und zwar in dreifacher Weise, nämlich erstens als Absolutheit der Gegenwart, indem es auf die Montage von Vorgriffen auf Zukünftiges oder Erinnerungen an Vergangenes verzichtet und stattdessen seine Handlung als reine »Gegenwartsfolge« (S. 19) vorführt; zweitens als Absolutheit des Zwischenmenschlichen, indem es seine Handlung aus dem Dialog und der Interaktion der Figuren entwickelt; und drittens als Absolutheit des Geschehens, indem es nicht erzählend, erläuternd oder beschreibend verfährt, sondern in der direkten Darstellung seiner Handlung besteht (18, 70). Diese dreifach absolute Form sieht Szondi bereits für das Theater der 1880er Jahre in einer Krise, weil sie sich immer weniger mit der Welterfahrung der Moderne deckt. Nicht mehr als autonomes Subjekt, sondern als durch seine Vergangenheit und Zukunft, durch seine Umwelt, seine Kontexte und vor allem durch den Zufall bestimmte Entität erlebt sich der Mensch der Moderne – die auf das handelnde Subjekt abstellende Form des Dramas wird problematisch. Die Dramen der Moderne reagieren auf diese Krise mit Versuchen, die alte Form zu retten (dafür stehen bei Szondi der Naturalismus, das Konversationsstück, der Einakter oder das existentialistische Drama), oder aber mit dem Versuch, die Formkrise durch Anpassung der dramatischen Gattung, genauer: durch ihre Episierung, zu lösen. Die Episierung, deren prominentester Vertreter natürlich Brecht ist, bedeutet dabei übrigens auch eine Historisierung der Form in einem ganz anderen Sinne: Sie markiert den Einbruch von Vergangenheit und Zukunft in die reine Gegenwart des Dramas, insofern nun, wie bei Ibsen, vergangenes Geschehen von den Figuren erinnernd vergegenwärtigt (S. 30), oder zukünftige Ereignisse, wie bei Tschechow, sehnsüchtig antizipiert werden können (S. 34).

Szondis Historisierungsprojekt hat aus heutiger Perspektive einen Haken. Die ihm zugrunde liegende quasihegelianische Geschichtsauffassung, nach der verschiedene Zeiten verschiedene Kunstformen hervorbringen, welche mit dem Ende ihrer Epochen obsolet werden, setzt letztlich dazu an, das Drama wegzuhistorisieren. Was bei Szondi aber allenfalls den Horizont bildet, entfaltet seine fatalen Konsequenzen erst in der Rezeptionsgeschichte der Theorie des modernen Dramas. Während Szondi zur Lösung der Krise des Dramas den Schwerpunkt vom Dramatischen hin zum Epischen verlagerte, lässt sein Schüler Hans-Thies Lehmann auch noch die Episierung des Dramas hinter sich, die, so Lehmann, mit Figuration und Narration selbst noch gewissen zu überwindenden Kategorien verhaftet bleibe.[3] Lehmann kehrt sich von der literarischen Gattungstrias vollständig ab und versteht das postdramatische Theater als überhaupt nicht mehr literarische, sondern rein theatrale Gattung, deren Charakteristika in der Performanz der Aufführung auszumachen sind. Mit der »Aufhebung« noch der Gegenbegriffe des Dramatischen vollzieht Lehmann, so Peter Boenisch, eine »Aufhebung der Aufhebung«: »Das postdramatische Theater (Lehmanns Studie wie auch die darin untersuchte Theaterästhetik) hebt somit Szondi mit Szondi selbst auf.«[4]

So wird in der von Szondi inspirierten Forschung der 1990er Jahre das Drama als literarische Gattung ausgeixt. Mit der Ablehnung des literarischen Gattungsparadigmas, das nicht nur für historisch bedingt und wandelbar, sondern als für das Theater der Gegenwart ungültig erklärt wird, scheinen die Literaturwissenschaften die Zugriffsmöglichkeit auf diese Texte zu verlieren. Jedenfalls werden aktuelle, für das Theater geschriebene Texte kaum noch literaturwissenschaftlich rezipiert. Das macht die Disziplin blind für eine gesellschaftlich noch lange nicht irrelevante Form der Produktion, Rezeption und mitunter lebhaften Diskussion von Literatur, die umgekehrt weder die Kritik noch die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient und die sie braucht.

Von literaturwissenschaftlicher Seite ist dieses Problem indes bislang so wenig zur Kenntnis genommen worden, dass selbst noch die daraus resultierenden begrifflichen Schwierigkeiten einer Lösung harren. Kann man etwa Texte wie Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen oder Izutsu, ein Nō-Stück von Zeami Motokiyo aus dem Japan des 15. Jahrhunderts, als Drama bezeichnen? Wenn ›Drama‹ schlechthin alle Texte meint, die auf eine mögliche Aufführung hin geschrieben wurden,[5] erweitert das den Begriff bis zur Aussagelosigkeit und verkennt den Einschnitt, den die von Szondi zuerst diagnostizierte Krise des Dramas markiert. ›Drama‹, so heißt seit Szondi eine historisch gewordene Form abendländischen Theaters, das mit der Moderne in eine Krise geraten und aus ihr verändert herausgegangen ist. Hingegen von »nicht mehr dramatischen Theatertexten«[6] zu sprechen, berücksichtigt diesen Einschnitt, reduziert aber die durch diesen Begriff bezeichnete Literatur auf ein epigonales Verhältnis zum Drama, das so als historisch überholte, aber nach wie vor paradigmatische Gattung im Hintergrund bleibt.

Die von Szondi gestellte Diagnose der Krise des Dramas bleibt unhintergehbar. Die geschichtsteleologischen Prämissen seiner Theorie sind aber zu hinterfragen.[7] Eine Historisierung der dramatischen Gattungen müsste in der Lage sein, »die kontinuierliche Weiterentwicklung theatraler Formen auch jenseits der dramatischen Dominanten nicht als linear verlaufende historische Progression zu lesen (nun etwa als ›Überwindung‹ des Dramas im Postdramatischen Theater), sondern besonders auf jene Manifestationen zu achten, die sich solcher Geradlinigkeit widersetzen.«[8] Das erfordert letztlich, Gattungen nicht als statische Formen, sondern als performativ laufend neu hervorgebrachte Konstrukte aufzufassen, oder als habitualisierte Klassifikationshandlungen.[9] Ein solches Gattungsverständnis könnte der spezifischen Medialität von Theatertexten gerecht werden und zugleich der Literaturwissenschaft, die das Feld zeitgenössischer Theatertexte beinahe vollständig den Theaterwissenschaften geräumt hat, einen neuen Zugang zu diesen Texten ermöglichen. Und es böte schließlich eine Grundlage, um über die Bedeutung der Gattungstrias für die literaturwissenschaftliche Arbeit zu diskutieren, die allem Anschein nach so machtvoll unsere Wahrnehmung beherrscht, dass in den Schatten tritt, was sich aus dieser Trias herausbegibt.

[1] Auch in der Moderne wurden allerdings weiterhin Epen geschrieben, hierzu arbeitet derzeit am ZfL Clara Fischer in ihrem Dissertationsprojekt »Experimentierfeld Versepos (1918–1933)«.

[2] Peter Szondi: »Theorie des modernen Dramas, 1880–1950«, in: ders.: Schriften, hg. v. Jean Bollack, Bd. I, Frankfurt a. M. 31989, S. 9–148, hier S. 12. Nachweise im Folgenden in Klammern im Text. Bei Hegel findet sich das Zitat in: G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 265 f.

[3] »Das postdramatische Theater ist ein post-brechtsches Theater.« Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 42008, S. 48.

[4] Peter Boenisch: Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell, in: Peter Marx (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 157–161, hier S. 160.

[5] Für einen sehr weiten Dramenbegriff plädiert etwa Kai Bremer: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956, Bielefeld 2017, S. 29.

[6] Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997.

[7] Vgl. dazu Marita Tatari: Zur Einführung. Theater nach der Geschichtsteleologie, in: dies. (Hg.): Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich, Berlin 2014, S. 7–21.

[8] Boenisch: Die »Absolutheit des Dramas«, S. 161.

[9] Vgl. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, S. 21.

Die Literaturwissenschaftlerin Maria Kuberg arbeitet am ZfL mit dem Projekt Einheit und Vielfalt. Epospoetiken des Späthumanismus und der Frühaufklärung. Ihr Beitrag erschien zuerst auf dem Faltplakat zum ZfL-Jahresthema 2019/2020, »Historisieren heute«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Maria Kuberg: Drama, nach der Historisierung, in: ZfL BLOG, 11.6.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/06/11/maria-kuberg-drama-nach-der-historisierung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190611-01

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Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/13/mareike-schildmann-patrick-hohlweck-auf-dem-boden-der-tatsachen/ Mon, 13 May 2019 07:49:54 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1118 Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Weiterlesen

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Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Sie greift damit eine bereits in Heft 9/1 geführte Diskussion um den Verlust sicher geglaubter Kriterien für die Bestimmung von Objektivität auf, dessen politische Brisanz Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway im Januar 2017 medienwirksam vorführte: Sie hatte bekanntlich erklärt, der Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, habe mit der Behauptung, bei der Amtseinführung Trumps seien mehr Zuschauer zugegen gewesen als bei derjenigen Barack Obamas, nicht etwa die Unwahrheit gesagt, sondern ›alternative Fakten‹ dargestellt. Im Kontext einer Selbstreflexion der Geistes- und Kulturwissenschaften ist diese Debatte von Bruno Latour bereits 2004 angestoßen worden; sein Aufsatz »Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern«[1] gehört in den fünf Beiträgen des Heftschwerpunkts dann auch zu den am häufigsten zitierten.

Dramatisch – vielleicht sogar »elend«, wie es der Titel der deutschen Übersetzung von Latours Text will [2] – ist die gegenwärtige Lage, weil die großzügige Ausweitung der Kriterien dessen, was als gesicherte oder belastbare Tatsache gelten kann, bekanntlich nicht nur die Leugnung unliebsamer Sachverhalte wie etwa des Klimawandels erlaubt, sondern auch die Verunmöglichung einer Diskussionskultur als Kern demokratischer Praxis bedeutet. Wenn wirklich nichts an sich wahr sein kann, weil – wie es eben der Begriff der ›alternativen Fakten‹ nahelegt – Wahrheit immer nur eine Frage der Perspektive oder des Glaubens ist, zielen Argumente und Kritik per se ins Leere. Dramatisch ist die Lage daher auch speziell für die Geisteswissenschaften, die ihre Rolle in der Öffentlichkeit traditionell in jenem Modus der Kritik ausgefüllt haben, der seit Latours Intervention selbst in Verdacht steht, die derzeitige Krise ausgelöst zu haben. Nach Latours Einschätzung – deren polemische Zuspitzung in Form eines veritablen ›Postmoderne‹-Bashings in jüngerer Zeit geneigtes Gehör gefunden hat – sind es dabei vor allem durch französische Denker*innen popularisierte Spielarten des Konstruktivismus, die eine massive Skepsis gegenüber scheinbar ideologisch gefärbtem wissenschaftlichem Wissen bewirkt und damit Wissenschaftsskepsis und Verschwörungstheorien verschiedenster Provenienz ein Einfallstor geboten haben.

Man kann es als Einsatz des Themenschwerpunkts der ZMK begreifen, auf dieses Problem eine Antwort zu finden. Strategisch nicht ungeschickt geschieht dies, indem mit Albrecht Koschorkes Aufsatz Linksruck der Fakten dem (Selbst-)Vorwurf an die ›Postmoderne‹ (und einen äußerst schwach konturierten Postkolonialismus)[3] zunächst einmal Raum gegeben wird. Im Zeichen einer Theoriegeschichte, die sich – wie zuletzt etwa auch bei Philipp Felsch und Ulrich Raulff – zunehmend der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuwendet, widmet sich Koschorke nicht nur jenen historischen wie politischen Möglichkeitsbedingungen, unter denen die Prämissen des Poststrukturalismus überhaupt erst formuliert werden und reüssieren konnten, sondern auch deren vermeintlich immanenten Aporien. Neben bekannten Argumenten, die bereits in einer publizierten Kurzform des vorliegenden Aufsatzes in der Neuen Zürcher Zeitung diskutiert wurden, findet sich hierbei auch durchaus Überraschendes: Etwa wenn Koschorke die Herausbildung isolierter communities und der Echokammern des Internets nicht nur mit dessen neuer techno-kommunikativer Ordnung in Verbindung bringt, sondern auch mit dem durch ein antizentralistisches und antiinstitutionelles Gemeindeprinzip charakterisierten Protestantismus seit Luther. Indem Koschorke schließlich darauf besteht, das »emanzipatorische Potential und die Erkenntnisleistungen der poststrukturalistischen Theorien mitsamt ihren globalen Fortentwicklungen« nicht »preiszugeben« (S. 118), formuliert er gleichsam den Auftakt für die folgenden Beiträge, die als kritische Reflexion wie auch als Weiterführung dieses Anliegens verstanden werden können.

Koschorkes nicht unstrittige Annahme, beim französischen Poststrukturalismus habe es sich um ein genuin ›linkes‹ Projekt gehandelt (das folglich auch als solches zur Rechenschaft zu ziehen wäre), spielt in den folgenden Beiträgen freilich keine Rolle. Gemeinsam ist diesen vielmehr das Bestreben, die ›Postmoderne‹ von dem – den Einfluss geisteswissenschaftlicher Theorie zweifelsohne überschätzenden – Vorwurf freizusprechen, verantwortlich für die Misere eines vermeintlich postfaktischen Zeitalters zu sein. Gemeinsam ist ihnen zugleich das Verfahren, mit dem sie diese Freisprechung zu bewerkstelligen versuchen, nämlich das der Historisierung. Wenn damit eine Kernkompetenz der Geistes- und Kulturwissenschaften zum Zuge kommt, wird zugleich die Leistungsfähigkeit der (nicht nur) postkritisch in Legitimationskrisen geratenen Disziplinen performativ und, wie vorwegzunehmen ist, überzeugend vorgeführt. So historisieren die Autor*innen das laxe Wahrheitsverständnis, das derzeit sowohl dies- als auch jenseits des Atlantiks von Politiker*innen populistischer Couleur in Anspruch genommen wird, bzw., unmissverständlicher formuliert, jenes Verhältnis von Politik und Lüge, das Ethel Matala de Mazza als Grundelement einer Politik der Staatsräson seit der Frühen Neuzeit beschreibt. Historisch kontextualisiert wird aber auch der Umstand, dass Fakten – wie es ihre in den Beiträgen immer wieder leicht variiert herangezogene Etymologie (lat. das Gemachte‹) vor Augen führt – keineswegs eine vorgängige, neutrale, selbstevidente Entität darstellen, sondern immer schon, in den Worten Cornelius Borcks, als »sozial konstruiert, technisch hergestellt und medial vermittelt« (S. 167) verstanden und damit auf menschliches wie nichtmenschliches Handeln unter konkreten historischen Bedingungen zurückbezogen werden müssen.

Speziell für den deutschsprachigen Kontext ließe sich dies um die begriffsgeschichtlichen Erläuterungen von Johannes F. Lehmann ergänzen [4], der im Anschluss an Lorraine Daston auf den genuin erzählenden Charakter des Fakts hingewiesen hat. Damit ist die inhärente Verbindung von Fiktion und Narration adressiert, die schon die aktenförmigen Darstellungen der species facti seit dem späten 17. Jahrhundert, aber auch die kuriosen Faktensammlungen in den Zeitungen am Ende des 19. Jahrhundert auszeichnete und die Personalunion von Literat und Journalist in der realistischen Literatur verbürgte. Narrativ organisierte Medien verfügen über keinen Begriff des Faktums, der einem Verständnis von der unverrückbaren Objektivität von Informationen und Tatsachen das Wort reden würde: Fiktion und Fakt stehen vielmehr, wie Eva Geulen jüngst mit Seitenblick auf den Fall Relotius im ZfL BLOG gezeigt hat, stets in einem intrikaten Verhältnis, das des analytischen Supplements bedarf.

Ebenso wenig wie eine Rückkehr zu einem Wahrheitsbegriff wünschenswert wäre, der auf die unbezweifelbare Evidenz und Alternativlosigkeit von Faktizität pocht, wie ihn der »March for Science« eingeklagt hat, ist allerdings die derzeitige Diskussion über ›alternative Fakten‹ lediglich als populistisches Bedrohungsszenario abzutun. Die finstere politische Großwetterlage sollte vielmehr, so stellen es insbesondere Borck und Oliver Fahle heraus, als Anlass zu einer Reflexion über den epistemischen Rang und die Legitimations- wie Vermittlungsstrategien von wissenschaftlichen Aussagen angenommen werden. In diesem Sinne wäre das Verhältnis von Wahrheit, Wissen und Objektivität unter den Bedingungen einer ebenso drastischen wie irreversiblen Transformationen der Wissens- und Informationszirkulation im Kontext neuer Kommunikationsmedien zu bedenken. Dass eine solche Reflexion auf veränderte Medienumwelten produktive Horizonte erschließen kann, machen die in allen Beiträgen vorgestellten mediengeschichtlichen Perspektiven deutlich. Dabei werden nicht nur die Operationsweisen und die Entwicklungsgeschichte neuerer Medien in den Blick genommen, die gemeinhin für die derzeitige Legitimationskrise als mitverantwortlich identifiziert werden – nämlich Computer (Vagt) und Internet (Fahle, Borck) –, sondern auch ältere mediale Transformationsprozesse herangezogen, wie die Verbreitung des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit, die Popularisierung (und Politisierung) des Zeitungswesens im 19. Jahrhundert und die Theorie des frühen Dokumentarfilms am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Selbst wenn man also darauf bestehen wollte, dass uns die ›postmoderne‹ Theoriearbeit den Boden der Tatsachen unter den Füßen weggezogen hat, ruft der Themenschwerpunkt des Heftes in Erinnerung, dass mit dem »Säurebad der Historisierung«, dem die vermeintlich »überzeitlich gültigen Entitäten«[5] zu unterziehen sind, ein probates Gegenmittel vorliegt. Dass mit derlei historischen Kontextualisierungen keineswegs die Notwendigkeit einer kritischen Selbstreflexion ausgeräumt ist, daran erinnert speziell für die Geisteswissenschaften der Beitrag von Borck. Diese Selbstreflexion führt allerdings weniger in historische Gefilde als in die zeitgenössischen der Politik. Wenn nämlich, wie Vagt zeigt, das gegenwärtige Misstrauen in Faktizität auch einer Auslagerung des Intellekts in technisch-ökonomische Systeme geschuldet ist, deren algorithmische Logik ganz dem Kosten-Nutzen-Kalkül verpflichtet ist, dann hat dies auch immanente Konsequenzen für das Vertrauen in Wissenschaft: Denn eine im Namen von ›Fördern und Fordern‹ vorangetriebene Kommerzialisierung, Ökonomisierung und Prekarisierung der Wissenschaft wird dieser zwangsläufig ein »Qualitätsproblem« einhandeln, das »ihre gesellschaftliche Anerkennung weit mehr gefährdet als populistische Wissenschaftsskepsis« (S. 181).

 

[1] Bruno Latour: Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 225–248; dt. Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich/Berlin 2007.

[2] Auf einen ebenso eklatanten wie unfreiwillig aussagekräftigen Fehler in der 2007 erschienen deutschen Übersetzung macht der Beitrag von Christina Vagt aufmerksam.

[3] Vgl. dazu aktuell kenntnisreich Vivek Chibber: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Berlin 2019.

[4] Johannes F. Lehmann: Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsgeschichte der ›Thatsache‹ und Kleists Berliner Abendblättern, in: DVjs 89 (2015), S. 307–322.

[5] Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essays zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016, S. 201.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Mareike Schildmann und der Literaturwissenschaftler Patrick Hohlweck arbeiten in dem ZfL-Forschungsprojekt »Lebenslehre – Lebensweisheit – Lebenskunst«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: Auf dem Boden der Tatsachen, in: ZfL BLOG, 13.5.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/13/mareike-schildmann-patrick-hohlweck-auf-dem-boden-der-tatsachen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190513-01

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