Jahresthema REALISMUS Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/category/jahresthema-realismus/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 19 Nov 2021 12:21:18 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Jahresthema REALISMUS Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/category/jahresthema-realismus/ 32 32 Ulrich Plass: REALISMUS FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT (II): Serielle Gewalt in Roberto Bolaños Roman 2666 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-fur-das-21-jahrhundert-ii-serielle-gewalt-in-roberto-bolanos-roman-2666-ulrich-plass-2/ Thu, 14 Apr 2016 09:54:05 +0000 http://www.zflprojekte.de/interim/?p=78 „Die Tote erschien auf einer kleinen Brache in der Siedlung Las Flores. Sie trug ein weißes, langärmeliges Hemd und einen gelben, knielangen Rock höherer Konfektionsgröße.“[1] So beginnt der „Teil von den Verbrechen“ in Roberto Bolaños Roman 2666. Hinter diesen zwei sachlich klingenden Sätzen verbirgt sich eine ambitionierte realistische Poetik. Durch den unbeirrbaren Blick auf eine Weiterlesen

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„Die Tote erschien auf einer kleinen Brache in der Siedlung Las Flores. Sie trug ein weißes, langärmeliges Hemd und einen gelben, knielangen Rock höherer Konfektionsgröße.“[1]

So beginnt der „Teil von den Verbrechen“ in Roberto Bolaños Roman 2666. Hinter diesen zwei sachlich klingenden Sätzen verbirgt sich eine ambitionierte realistische Poetik. Durch den unbeirrbaren Blick auf eine Serie von horrenden Gewaltverbrechen soll die komplexe Struktur einer transnationalen, spätkapitalistischen Wirklichkeit ans Licht gebracht werden, die sich einer rein gegenständlichen Anschauung entzieht und bestenfalls in Metaphern von Kreisläufen, Transaktionen und Kapitalflüssen (136) vorstellbar ist. Die realistische Leistung des „Teils von den Verbrechen“ besteht nun darin, dass eine Schicht dieser sozio-ökonomischen Wirklichkeit, die in beinahe sofortige Vergessenheit zu fallen droht (688), den Leser_innen immer wieder aufs Neue interessant gemacht wird – und zwar allein durch ihre minimal variierte Wiederholung.

Die Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai hat die zuerst von Friedrich Schlegel theoretisierte Roman-Ästhetik des „Interessanten“ mit der von stetiger Bewegung und Austauschbarkeit beherrschten Sphäre der Waren- und Informationszirkulation in Verbindung gebracht. Keine andere ästhetische Kategorie entspreche der Alltagspraxis der Zirkulation besser als die serielle, ruhelose und realistische Ästhetik des Interessanten: „Always connected to the relatively small surprise of information or variation from an existing norm, the interesting marks a tension between the unknown and the already known and is generally bound up with a desire to know and document reality.“[2] Das Interessante, folgert Ngai in ihrer Schlegel-Lektüre, sei eine realistische Ästhetik, die sich von anderen Formen des Ästhetischen durch ihren unbestimmten oder minimalen Affekt, ihre strukturelle und funktionale Allgemeinheit, ihre Serialität, ihren Eklektizismus und ihre Rekursivität unterscheide.[3] Bolaños Roman verkörpert genau diese Eigenschaften einer realistischen Darstellung, durch welche die Sphäre der Zirkulation gegenständlich in Erscheinung tritt. Sie tut dies jedoch nur insofern, als das konkret Gegenständliche einer retroaktiven diskursiven Erläuterung bedarf, denn die Toten sprechen nicht:

„Sie [die ermordeten Frauen] verschwinden. Lösen sich in Luft auf, von einem Moment auf den anderen. Und nach einiger Zeit tauchen ihre Körper in der Wüste wieder auf.“ (382)

Entscheidend für Bolaños „interessantes“ Verfahren ist das mühselige detektivische Sammeln von Informationen, welches das Auffinden immer neuer Leichen begleitet. Anstatt spektakulärer Enthüllungen und dramatischer Wendungen erfahren wir nur wie nebenbei, dass die Mordopfer keine Prostituierten sind, sondern vorwiegend Arbeiterinnen (382, 608, 616). Der gedämpfte Affekt des „bloß Interessanten,“ der sich in Reaktion auf die Mitteilung solcher Informationen sowie die forensische Protokollierung des Auffindens der über hundert Leichen einstellt, steht in einem Spannungsverhältnis zur eigentlichen Bedeutung, die Bolaño in seinen Notizen zum Roman dieser Mordserie zugemessen hat: Er hat sie nämlich als eine Art „verborgenes Zentrum“ (1187) seines Werks bezeichnet, ein Zentrum, das anfangs nur bedrohlich umspielt, im dritten Teil atmosphärisch wird und im vierten Teil gegenständlich allgegenwärtig ist.

Bolaños insgesamt fünfteiliger Roman bildet ein Geflecht aus längeren, an unterschiedliche Genres angelehnten Erzählungen und kürzeren, episodischen Stücken, die um das zentrale Phänomen der Mordserie gruppiert sind. Die Romanhandlung beginnt in den europäischen Zentren London, Paris, Madrid und Turin, verschiebt sich jedoch bald zur globalen Semi-Peripherie, nämlich der Region unmittelbar südlich der mexikanischen Grenze zu den USA. Dort, in der Stadt Santa Teresa, vermuten die vier Protagonisten des ersten Teils, ihres Zeichens alle germanistische Literaturwissenschaftler, den Gegenstand ihrer akademischen Forschung und ihres Begehrens: den sich beharrlich vor der Öffentlichkeit verborgen haltenden Autor Benno von Archimboldi. Über die Stadt Santa Teresa wissen die Figuren nichts; vor ihrer Ankunft dort war ihnen nur mitgeteilt worden, sie sei „ziemlich groß“ und es „gibt Fabriken, und es gibt Probleme“. Die vier Europäer nehmen die mexikanische Stadt als „chaotisch“ (156) wahr: „die Stadt kam ihnen vor wie ein riesiges Zigeuner- oder Flüchtlingslager, deren Bewohner sich beim leisesten Signal in Bewegung setzen.“ (155) Schritt für Schritt entfernt sich Bolaños Erzählen von der Unachtsamkeit der selbstbezogenen Wahrnehmung der akademischen Protagonisten – und rückt die Frauenmorde in den Blick. Zuerst erfährt der Leser davon nur in Form einer Nachricht in der italienischen Zeitung Il Manifesto. Im zweiten Teil des Romans häufen sich dann die Hinweise auf „die Morde“ und „die Verbrechen“. Doch erst im dritten Teil werden sie programmatisch ins Zentrum des Erzählens gerückt: „Niemand schenkt den Morden Beachtung, dabei liegt in ihnen das Geheimnis der Welt verborgen.“ (464)

Bolaños Santa Teresa ist ein wenig fiktionalisiertes Abbild des realen Ciudad Juárez, das sich unmittelbar an der Grenze zum texanischen El Paso befindet. Mit der Einführung neoliberaler „Strukturanpassungsmaßnahmen“ nach der Währungskrise von 1982 und dem Inkrafttreten von NAFTA im Jahr 1994 (gefolgt von einem drastischen Wertverlust des mexikanischen Peso) wurde Juárez zum bevorzugten Standort von Montagebetrieben, sogenannten Maquiladoras. Dort werden importierte Einzelteile zu fertigen Produkten für den Export zusammengesetzt. Die Maquila-Industrie erlaubt es multinationalen Konzernen, ihre Waren unter für sie äußerst profitablen Bedingungen anfertigen zu lassen. Eine vorwiegend migrantische Arbeiterinnenschaft wird auf Flexibilität[4] gedrillt und erhält Löhne, die kaum zum Überleben reichen – eine Tatsache, die im Roman von Yolanda Palacio, der „Leiterin der Abteilung für Sexualdelikte von Santa Teresa“ so erläutert wird: „Eine schlecht bezahlte, ausbeuterische Arbeit, fürchterliche Arbeitszeiten und keine gewerkschaftliche Absicherung, aber wenigstens Arbeit, für viele Frauen, die aus Oaxaca oder Zacatecas kommen, ein Segen“ (752). Obwohl die aus ärmlichen, ländlichen Regionen zugewanderten Arbeiterinnen sich dank der Anstellung in den Maquiladoras zumindest vorübergehend aus dem patriarchalen Haushalt gelöst haben, erhöht gerade diese neue soziale Rolle die Gefahr, zum Opfer sexueller Gewalt zu werden:[5] „Das heißt, hier werden jeden Tag mehr als zehn Frauen vergewaltigt.“ (745) Was in dieser oder ähnlichen Statistiken nur abstrakt zum Ausdruck kommt, ist der Zusammenhang von struktureller und konkreter Gewalt. Die allmähliche Veranschaulichung dieses Zusammenhangs ist die realistische Leistung von 2666. Der Roman beschränkt sich nicht darauf, die Verbrechen an den Maquiladora-Arbeiterinnen als extreme Manifestation einer auf der Geschichte der massenhaften Vergewaltigung der indigenen mexikanischen Bevölkerung durch die europäischen Kolonialherren (384) beruhenden Kultur des mörderischen Machismo erscheinen zu lassen. Vielmehr konstruiert Bolaño ein kaleidoskopisches Bild der neoliberalen Verhältnisse. In ihm haben Aspekte wie das Ungleichgewicht von Arbeit und Kapital in Produktionsformen wie dem „Offshoring“ ebenso ihren Ort wie die Verflechtung von Unternehmer-, Narco– und Staatsmacht (615, 710, 796, 818 f., 825, 833), die imperiale Hegemonie der USA über Mexiko und die De-facto-Straffreiheit für Gewaltverbrechen (713). Die Maquiladora-Arbeiterinnen befinden sich nicht nur geografisch, sondern auch juristisch in einer Zone, in der sie schutzlos[6]  verschiedenen Gewaltformen ausgesetzt sind: Der Gewalt ihrer Sexualpartner, der Drogenhändler, der Polizei und der Söhne privilegierter Familien. 2666 erzählt von einer Gesellschaft, in der die massenhafte Ermordung von Frauen kein Unfall ist, sondern fest zu einer geschichtlich weit zurückreichenden Ausschließung ganzer Bevölkerungssegmente aus dem Schutz von Politik und Justiz gehört (vgl. 355 f.).

Das politisch neutrale Wort „Frauenmord“ wie auch der Begriff des „Lustmords“ verfehlen die gesellschaftlich systemische Dimension dieser Verbrechen. Im Spanischen spricht man vom femicido aber auch vom feminicidio.[7] Dieser aus dem feministischen politischen Aktivismus stammende Neologismus bezeichnet nicht nur die Tatsache der Ermordung einer Frau durch einen Mann, sondern auch deren symbolische Funktion: Am Körper der toten Frau werden reale Gender-Gewaltverhältnisse noch einmal symbolisch wiederholt. Der Tod, den das Opfer erleidet, ist nicht nur ein biologischer, sondern auch ein gesellschaftlicher und politischer; durch ihn soll die Machtlosigkeit der Ermordeten als absolut und unveränderbar in Erscheinung treten. Die Gewalt der feminicidios ist strukturell die Wiederholung allgemeiner gesellschaftlicher Gewalt am einzelnen Körper. Durch diese Wiederholungsstruktur wird das Opfer entindividualisiert und verdinglicht. Diese gewaltsame Verdinglichung der Opfer spiegelt sich auch darin, dass Frauen häufig nur als „Nutten“ und „Huren“ bezeichnet werden und die Polizisten von Santa Teresa sich gleich serienweise die entsetzlichsten misogynen Witze erzählen (730 f.).

Die forensische Darstellungsform, derer sich Bolaño im vierten Teil von 2666 bedient, bringt durch die Unscheinbarkeit ihrer Beschreibungen die doppelte soziale Funktion der feminiziden Gewalt zum Ausdruck: Zum einen werden viele der ermordeten Frauen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und verschwinden so als Individuen. Zum anderen wird aber gerade diese Auslöschung ihrer Identität durch eine ritualistische Zurichtung der Opfer sichtbar gemacht, als sei der Mord für ein Täter-Publikum geschehen: „Eine der Brüste [der Ermordeten] hatte man fast vollständig abgeschnitten, an der anderen fehlte die Brustwarze, sie war ihr abgebissen worden. Ihr Körper lag am Eingang einer wilden Müllkippe namens El Chile.“ (613) Diese zwei Sätze demonstrieren Bolaños realistische Erzähltechnik in nuce: Der Erzählton ist und bleibt vordergründig nüchtern. Ihre weiterreichende Bedeutung enthüllen diese zwei Sätze erst, als sich Verstümmelung und Fundort wiederholen. Die Täter demonstrieren damit sowohl die Ersetzbarkeit des geschändeten Körpers als auch ihre Macht, diesen als wertlosen Abfall zu behandeln und als solchen zu zeigen.

Bolaños Roman bildet die serielle Qualität der feminicidios gewissermaßen mimetisch ab, indem er repetitiv das Auffinden der Ermordeten und die vermutliche Art ihres Todes beschreibt. Er verzichtet darauf, den einzelnen Morden ihren Platz in einer in sich geschlossenen Erzählung anzuweisen. Obwohl Bolaño mit Versatzstücken des Detektiv- und Kriminalromans operiert, verweigert sein Erzählen das Begehren nach Aufklärung bis zum Schluss – und bleibt damit der Wirklichkeit treu. Erst 2015 kam es in Ciudad Juárez erstmals zur Verurteilung von Tätern. Das ist nicht allein auf die Inkompetenz und mögliche Komplizenschaft der ermittelnden Polizei zurückzuführen, sondern auf die Übermacht und Wirkmächtigkeit miteinander verbundener sozio-ökonomischer und kultureller Faktoren.[8] Diese sind im „narrativen“ Modell einer Einzeltäterschaft nicht zu erfassen:[9] „Alle sind darin verwickelt.“ (457)

Im Dienst von Bolaños realistischer Poetik stehen auch die Fiktionalisierungen. Mit Bezug auf den Fund der ersten Leiche heißt es: „Das geschah 1993. Januar 1993. Seit diesem Vorfall begann man, die Frauenmorde zu zählen. Vermutlich hatte es schon vorher Morde gegeben. Die erste Tote hieß Esperanza Gómez Saldaña und war dreizehn Jahre alt. Vermutlich war sie nicht die Erste.“ (467) Bolaño ändert zwar den Namen der Toten, deren reales Vorbild Alma Chavira Farel hieß, nicht aber ihr Alter und den Zeitpunkt, an dem man ihre Leiche entdeckte. In der Rolle des Chronisten, in die der Erzähler hier schlüpft, drückt sich Machtlosigkeit aus: Zwar setzt er der Ermordeten durch die Nennung ihres Namens und das Datieren ihres Todes ein bescheidenes Denkmal. Aber das tut er im ohnmächtigen Wissen darum, dass die Setzung eines vermeintlichen „Anfangs“ dieser Mordserie lediglich ein Zugeständnis an ihre datenmäßige Erfassbarkeit ist:

„Vielleicht aus Bequemlichkeit, weil sie das erste Mordopfer des Jahres 1993 war, führt sie die Liste an. Obwohl sicherlich bereits 1992 Frauen ermordet wurden. Frauen, die nicht auf die Liste kamen oder die nie gefunden wurden, die man anonym in der Wüste verscharrt oder deren Asche man in tiefer Nacht verstreut hat, wenn nicht einmal der, der sie verstreut, weiß, wo genau er sich befindet.“ (468)

Die im Roman erwähnten Maquiladoras tragen mitunter fast satirisch anmutend fiktive Namen: „Multizone West“ (474), „Overworld“, „Country&SeaTech“ (608), „Interzone-Berny“ (759) oder „Maderas de Mexico, wo Möbel im Kolonial- und Landhausstil hergestellt wurden, die in die USA und nach Kanada exportiert wurden“ (544). Insofern diese Namen wie unfreiwillig komische Amerika-Fantasien aus den Ländern der globalen Peripherie klingen, erinnern sie den Leser an das Auseinanderklaffen der Sphären von Produktion und Konsumption: Was südlich der Grenze unter ausbeuterischen Bedingungen produziert wird, wird nördlich der Grenze als Ausdruck eines glücklichen Lebens konsumiert. Durch so einfache Mittel wie das Erfinden von Fabrik-Namen rückt der Roman die Grenzstadt Santa Teresa mit ihrer Maquila-Industrie ins Zentrum eines „interessanten“ realistischen Darstellungsverfahrens. Ihm geht es darum, die serielle Gewalt der Frauenmorde in einen Zusammenhang mit transnationalen postfordistischen Arbeitsverhältnissen und Lebensformen zu bringen. Gerade durch narrative Formen wie Wiederholung, Digression und Episodik, also durch die Partikularisierung seiner diegetischen Bestandteile, erweist sich die Gestalt des Romans im Ganzen als „Einheit der gegeneinander verselbständigten Momente“[10] einer sich der Anschauung entziehenden gesellschaftlichen Totalität. Durch seine ästhetisch autonome Formgebung wird Bolaños Erzählen einer empirischen Wirklichkeit gerecht, die sich nicht, um es mit Georg Lukács zu sagen, durch unmittelbare Widerspiegelung realistisch begreifen lässt, sondern nur durch eine Darstellung auch jener objektiven Zusammenhänge, die sich hinter den sozialen Erscheinungen verbergen.[11]

Ulrich Plass[12]

 

[1] Roberto Bolaño: 2666. Roman, übers. von Christian Hansen, Frankfurt a.M. 2011 (im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl). In der deutschen Übersetzung ist das spanische Verb „apareció” fälschlicherweise mit „lag“ anstatt mit „erschien“ wiedergegeben. Den Hinweis auf die Fehlübersetzung verdanke ich Nataniel Christgau: Tod und Text. Zu Roberto Bolaños 2666, Berlin 2016, S. 31.

[2] Sianne Ngai: Our Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting, Cambridge, Mass. 2012, S. 5.

[3] Ebd., S. 136.

[4] Christian Berndt: An der ‚Peripherie‘ global vernetzter Produktionswelten: Soziale Landschaften der Arbeit in Ciudad Juárez. In: Geographische Zeitschrift 90.3/4 (2002), S. 212–231, hier S. 222.

[5] Tyron P. Woods: Globalizing Social Violence: Race, Gender, and the Spatial Politics of Crisis. In: American Studies 43.1 (2002), S. 127–153, hier S. 142.

[6] Patrick Dove: Literature and the Secret of the World: 2666, Globalization, Global War. In: New Centennial Review 14.3 (2014), S. 139–162, hier S. 141.

[7] Von „feminicidio“ spricht z. B. Ileana Rodríguez, um damit das historische spezifische Phänomen der seriellen Ermordung von Frauen im Rahmen des Übergangs von modernen zu postmodernen Formen industrieller Arbeit zu bezeichnen; siehe Liberalism at its Limits: Crime and Terror in the Latin American Cultural Text, Pittsburgh 2009, S. 153–174. Vgl. auch Julia Estela Monárrez Fragoso: The Victims of Ciudad Juárez Feminicide: Sexually Fetishized Commodities. In: Rosa-Linda Fregoso/Cynthia Bejarano (Hg.): Terrorizing Women: Feminicide in the Americas, Durham/London 2010, S. 59–69, hier S. 69 Fn 1.

[8] Vgl. Jessica Livingston: Murder in Juárez: Gender, Sexual Violence, and the Global Assembly Line. In: Frontiers: A Journal of Women Studies 25.1 (2004), S. 59–76.

[9] Vgl. Sharae Deckard: Peripheral Realism, Millennial Capitalism, and Roberto Bolaños 2666. In: Modern Language Quarterly 73.3 (2012), S. 351–372, hier S. 360. Siehe auch Sergio González Rodríguez: The Femicide Machine, übers. von Michael Parker-Stainback, Cambridge, Mass. 2012.

[10] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, zit. in Georg Lukács: „Es geht um den Realismus“, Werke, Bd. 3: Essays über Realismus, Neuwied und Berlin 1971, S. 317.

[11] Ebd., S. 319.

[12] Diese Überlegungen gehen auf die Diskussionen des Bolaño-Lesekreises am ZfL im Wintersemester 2015/16 zurück. Ich danke meinen Kolleg_innen für ihre Einsichten und Anregungen, insbesondere Natalie Moser und Maria Kuberg; bei Nicolás Kwiatkowski bedanke ich mich für einen wertvollen Hinweis.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Ulrich Plass: Realismus für das 21. Jahrhundert (II): Serielle Gewalt in Roberto Bolaños Roman 2666, in: ZfL BLOG, 14.4.2016, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-fur-das-21-jahrhundert-ii-serielle-gewalt-in-roberto-bolanos-roman-2666-ulrich-plass-2/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20160414-04

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Natalie Moser: REALISMUS FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT (I): Die Wiederkehr der Dorfgeschichte https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-fur-das-21-jahrhundert-i-die-wiederkehr-der-dorfgeschichte-natalie-moser/ Thu, 14 Apr 2016 09:53:33 +0000 http://www.zflprojekte.de/interim/?p=50 Aktualität und Relevanz realistischer Schreibverfahren in der Gegenwartsliteratur anhand einer Dorfgeschichte zu veranschaulichen, klingt erst einmal nicht nach einer guten Idee. Gerade die Dorfgeschichten haben der realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts den Ruf eingetragen, altbacken, naiv und kitschig zu sein. Schauplatz der Handlungen ist üblicherweise ein bäuerlich-dörfliches Milieu, das detailreich und mit Rückgriff auf Oppositionspaare Weiterlesen

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Aktualität und Relevanz realistischer Schreibverfahren in der Gegenwartsliteratur anhand einer Dorfgeschichte zu veranschaulichen, klingt erst einmal nicht nach einer guten Idee. Gerade die Dorfgeschichten haben der realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts den Ruf eingetragen, altbacken, naiv und kitschig zu sein. Schauplatz der Handlungen ist üblicherweise ein bäuerlich-dörfliches Milieu, das detailreich und mit Rückgriff auf Oppositionspaare wie gut vs. böse beschrieben wird. Als formprägend gelten die heute kaum noch bekannten Schwarzwälder Dorfgeschichten Berthold Auerbachs (1843 ff.). Aber die Literaturwissenschaft hat gerade dieses Thema jüngst neu für sich entdeckt.[1]

Darin folgt sie einem Trend der Gegenwartsliteratur, denn Autoren wie beispielsweise Saša Stanišić – in seinem Roman Vor dem Fest (2014) wird das Dorf zum Protagonisten –, Juli Zeh mit dem gerade erschienenen Roman Unterleuten (2016) oder Josef Haslinger haben das Genre der Dorfgeschichte aktualisiert. Die Diffamierung realistischer Prosa wurde auch von Daniel Kehlmann schon aus den Angeln gehoben: „Die wirkliche Frage, die auch die Zukunft der Literatur berührt, ist nicht die Frage Erzählen oder Nicht-Erzählen, sondern die des Realismus. Es ist einfach nicht so: Realismus = Erzählen = altmodisch und andererseits Nicht-Erzählen = Sprachkritik = modern. Das sind Gleichungen, in denen kein einziges Glied stimmt.“[2] Wie sich der Antagonismus von realistisch vs. (post-)modern im Text aufbrechen lässt, soll in der Lektüre einer Erzählung Haslingers überprüft werden, in der der österreichische Schriftsteller bewusst auf das Erzählschema der Dorfgeschichte zurückgriff.

In Haslingers Erzählung fiona und ferdinand (2006) versucht ein namenloser Ich-Erzähler auf Wunsch seiner Mutter in seinem Geburtsort, einem Dorf an der österreichisch-tschechischen Grenze, die Gemüter der Dorfbevölkerung zu beruhigen. Diese waren infolge eines makabren Fundes (Menschenknochen in einer Truhe) und die dadurch ausgelösten Gerüchte in Erregung geraten. Der Erzähler erinnert sich an seine Kindheit und Jugendzeit, erfährt von seiner Mutter Details aus der Vergangenheit und trifft sich mit seinem Jugendfreund, dessen Vater des Mordes verdächtigt wird. Am Ende der Erzählung reist er ab, jedoch ohne dass er eine eigene, schlüssige Erzählung von den Ereignissen in der Vergangenheit entwickeln konnte. Erzählt wird hauptsächlich, welchen Reim sich verschiedene Personen auf Ereignisse machen und welche Muster und Gattungen sie zu diesem Zweck in Anspruch nehmen. Schon die ersten Zeilen von Haslingers Erzählung rufen den Duktus realistischen Erzählens des 19. Jahrhunderts herauf:

als die angehörigen des verstorbenen bachmaier, eines frommen mannes, dessen hals bei lebendigem leib verfault war, die alten möbel durchstöberten, um ein hochgeschlossenes hemd für die leiche zu suchen, stießen sie auf eine versperrte truhe. sie öffneten sie mit montiereisen und fanden zu ihrem entsetzen unter pferdedecken und abgetragener wäsche einen in zeitungspapier eingewickelten stapel von knochen. menschenknochen, wie sich schnell herausstellte. ohne irgendeine behörde damit zu belästigen, übergaben sie die gebeine dem pfarrer, der sie, obwohl er wusste, dass es die sterblichen überreste von kommunisten sein könnten, einsegnete und an der friedhofsmauer vergrub.[3]

Diese Erzählung berichtet vom Ausgraben alter Knochen und ihrer Bestattung am Rande des Friedhofs, wodurch eine Krise überwunden und die kollektive Erinnerung restabilisiert wird. In Form einer Erzählung in der Erzählung wird damit auf ein wichtiges Erzählschema des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts hingewiesen: Eine Norm wird verletzt bzw. eine Grenze überschritten, was eine Krise auslöst. Daraufhin werden Anstrengungen unternommen, die Störung des Systems zu beheben und die Normalität wieder herzustellen. Entscheidend ist dabei, dass der Prozess der Renormalisierung kein intrinsisches Ende hat und spätestens am Ende des Textes abbrechen muss.[4] Dies erklärt die mitunter abrupten Enden realistischer Erzählungen wie z.B. Theodor Fontanes Dorf- und Kriminalgeschichte Unterm Birnbaum, deren Protagonisten allesamt entsorgt werden. ‚Eine Leiche im Keller zu haben‘, diese Redewendung greift Fontanes Text sowohl in wörtlicher – die Leiche des Täters und des Opfers im zum Gefängnis gewordenen Keller – als auch in übertragener Hinsicht auf: Der narrative Renormalisierungsprozess vollzieht sich als Grenzziehung zwischen Leben und Tod; die sichtbaren Produkte dieses Prozesses sind die Leichen.

Bei Haslinger schließen sich dieser ersten Erzählung weitere an, die das Schema von Ordnung, Krise und Renormalisierung sozusagen in Serie aufgreifen, variieren und problematisieren:

nach einigem hin und her einigten wir [der junge Ich-Erzähler und sein Freund franz] uns auf ein liebespaar, das freiwillig in den tod gegangen war. wir nannten die beiden fiona und ferdinand […] der waldviertler ferdl und die sommerfrischlerin fiona hatten in ihrer verbotenen liebe keinen ausweg gesehen und deshalb den tod gesucht. von allen verstoßen. wir waren die einzigen, die sie auf erden noch hatten. sie konnten nur erlöst werden, wenn wir sie zusammensetzten, weiß bemalten und ankleideten. […] die knochen waren verfault. sie zerbröselten. die geschichte, die wir uns ausgedacht hatten, funktionierte nicht. die beiden ließen sich von uns nicht erlösen. und so suchten wir nach einer neuen geschichte und erklärten fiona und ferdinand zu feinden. wir beschlossen, auf sie zu schießen. (FF, 46)

Da sich die Wirklichkeit dem Erzähl-Muster der Liebesgeschichte nicht fügen will – Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe geht auch im 21. Jahrhundert nicht gut aus –, erfinden die beiden Knaben eine Kriminal- oder Kriegsgeschichte und schießen nach Maßgabe dieser Gattungen auf die Skelette. In den Erzählungen werden die Opfer- und Täterrollen jeweils neu zugewiesen; das aufgerufene Genre entscheidet darüber, was Wirklichkeit war oder ist. Das gilt auch für die Erzählungen der Dorfbevölkerung. Sie versuchen zwischen zwei ungeklärten Ereignissen im Dorf Zusammenhang zu stiften, zum einen der Vergewaltigung und Ermordung einer Dorfbewohnerin durch zwei Männer im Jahr 1945 und zum anderen den zwei Skeletten auf einem Acker. Je nach Erzählerin oder Erzähler sind die Skelette hier mal Opfer und mal Täter. Auch der Schluss des Textes unterstreicht die erzählperspektivische Gebundenheit des Wirklichen:

ich ging die friedhofsmauer entlang, bis ich auf einen mit steinen umringten, kleinen erdhaufen stieß, in dem ein holzkreuz steckte. es wirkte wie das grab eines babys.
ich ritzte fiona & ferdinand in den sand. als ich schon im auto saß und gestartet hatte, stieg ich noch einmal aus und lief zurück. ich löschte mit den schuhsohlen die buchstaben wieder aus. (FF, 64)

Der Erzähler wiederholt den Benennungsakt aus der Kindheit, zerstört dann aber die Markierung des Grabes wieder. Das imaginierte Liebespaar wird erinnert, die Spuren dieser Erinnerungsarbeit werden aber sogleich wieder verwischt. Der Text bricht schließlich ab, ohne dass die Herkunft der Skelette geklärt wurde, die Mörder der Dorfbewohnerin identifiziert wurden und ohne dass sich eine der Erzählungen in der Erzählung hatte durchsetzen können.

Haslingers Erzählung fiona und ferdinand ist in der Tat eine Dorfgeschichte, die auf realistische Erzählmuster und Textverfahren zurückgreift. Dazu gehört auch der Detailrealismus. Der Zustand der Leichen, welche der Ich-Erzähler mit seinem Freund beim Spielen auf dem Acker entdeckt hat, wird mit derselben Akribie beschrieben wie das Krauttreten des Erzählers in der mütterlichen Küche, in dem man auch ein Emblem des Auf-der-Stelle-Tretens der Erzählung sehen könnte. Solche Nahsicht auf individuelle und kollektive Krisen im nicht sehr idyllischen Dorf stellt die Erzählung aber auch in eine Reihe mit verkaufskräftigen, nach amerikanischen Vorbildern in Literatur und Filmmedien verfassten Erzählungen wie beispielsweise Haslingers eigene Romane Opernball (1995) und Das Vaterspiel (2000).[5] Beide Romane verfügen über einen ausgeprägten Spannungsbogen, bedienen souverän unterschiedliche Genres wie Kriminalroman und Thriller, liebäugeln mit dem Journalismus und handeln bevorzugt von globalen Machenschaften. fiona und ferdinand deckt diese Rezeptur eines marktförmigen Realismus auf: Man nehme eine tragische Liebes- oder Kriminalgeschichte und variiere das Schema geringfügig: f wie fiona und ferdinand, frieda und franz etc. Die makabre Idee von frieda, den ungeklärten Mord- und Vergewaltigungsfall mit ihrem Mann franz, dem Sohn des verstorbenen bachmaiers, nachzustellen und zu filmen, ist einmal mehr die Variation einer älteren Geschichte. Mit der Formulierung „dein früherer freund“ (FF, 61) spielt franz gegenüber seiner Frau auf ihre Liaison mit seinem Jugendfreund an, sodass es sich wie bei der Erzählung von den verfeindeten, des Mordes verdächtigten bachmaier-Brüdern um eine Rivalitätsgeschichte handelt. Im Unterschied zum klassischen TV-Format Aktenzeichen XY… ungelöst stellt Haslinger keine Aufklärung des Falls in Aussicht, sondern bloße Unterhaltung nach Schema F bzw. f.

Anhand von textinternen Erzählungen in Serie und konfligierenden Sinnstiftungen entautomatisiert Haslingers Erzählung das Verstehen dieses realistischen Textes, ohne das Muster einer realistischen Erzählung zu verlassen. Die handlungsarme Erzählung führt anhand eines Mikrokosmos vor, dass Erzählungen und Handlungen im Laufe der Erzählung ununterscheidbar werden, und sie zeigt, dass Erzählungen über Wirklichkeiten in Gestalt von Handlungen auch Realität werden können. Möglich werden solche Kippfiguren über das Motiv der Krise, die einerseits eine wesentliche Verlaufsform insbesondere des realistischen Erzählens darstellt und andererseits eine bestimmte Dramaturgie der Handlungen vorsieht. Anhand des ‚altmodischen‘ Formats der Dorfgeschichte greift Haslinger auf beides zurück. So gelingt ihm eine unterhaltsame Erzählung, die gleichwohl nicht geschichtsvergessen ist und auch nicht vergessen hat, dass Wirklichkeit sich nur über Zeichen erschließt.[6] So vermag auch und gerade die vermeintlich altmodische Dorfgeschichte gut lesbare Auskunft über komplexe Zusammenhänge zu geben, indem sie sich mit der Tradition des Realismus auseinandersetzt und in sie einschreibt.

Haslingers Dorfgeschichte könnte man insbesondere mit Blick auf die Schlussszene, in welcher der Erzähler Buchstaben in den Sand ritzt und sie wieder verwischt, mit Moritz Baßlers Begriff des postmodernen Realismus beschreiben: Der postmodern-realistische Text, so Baßler „schreibt sich über kulturell eingeführte Frames und Skripte fort, vermeidet jedoch die Naturalisierung und stellt stattdessen die Künstlichkeit seiner Zeichenverwendung aus“.[7] Die Kategorie des postmodernen Realismus orientiert sich aber immer noch an den zitierten Gleichungen ‚Realismus = Erzählen = altmodisch‘ und ‚Nicht-Erzählen = Sprachkritik = modern‘. So entkommt der zeitgenössische realistische Text der Differenz zwischen Realismus und (Post-)Moderne nicht. Zum anderen betont die These von der Ausstellung der Künstlichkeit den selbstreflexiven Aspekt des postmodernen Realismus. Aber ist das entscheidend? Obwohl Haslingers Dorfgeschichte auf das realistische Krisennarrativ ebenso zurückgreift wie auf die Rezeptur marktförmiger zeitgenössischer Romane mit ihrem „verfilmbaren literarischen Qualitätsrealismus nach internationalem Vorbild“[8], blickt sie nicht von außerhalb auf die Tradition des realistischen Erzählens. Sie reizt deren Möglichkeiten vielmehr innerhalb eines überschaubaren Formats aus, ohne die Selbstreflexivität in den Vordergrund zu stellen.[9]

Natalie Moser

[1] Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a.M. 2009, S. 47–81; Kerstin Stüssel: Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen. Problematisches Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien. In: Roland Berbig/ Dirk Göttsche (Hg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin 2013, S. 237–255; Marcus Twellmann: ‚Ueberbleibsel der ältern Verfassung‘. Zur primitivistischen Imagination des Dorfes im 19. Jahrhundert. In: Werner Nell/ Marc Weiland (Hg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, S. 225–246.

[2] Daniel Kehlmann: Erzählen ist im Idealfall ich-los. In: Helmut Gollner (Hg.): Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur, Innsbruck 2005, S. 29–38, hier S. 31.

[3] Josef Haslinger: fiona und ferdinand. In: Ders.: zugvögel. erzählungen, Frankfurt a.M. 2006, S. 39–64, hier S. 39. Nachfolgend mit der Sigle FF zitiert.

[4] Michael Titzmann unterscheidet idealtypisch die Literatursysteme bzw. Epochen ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘ anhand der Funktion der Grenze innerhalb des jeweiligen Systems: Realistische Texte operieren mit Grenzziehungen und sind einer Logik der Differenz (insbesondere: Leben vs. Tod) verpflichtet, während Texte der Frühen Moderne Grenzverschiebungen fokussieren und von einer Logik des Graduellen bestimmt werden (vgl. Michael Titzmann: ‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘. In: Hans Krah/ Claus-Michael Ort, Hg.: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten und realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2002, S. 181–209, hier S. 201–204). Das skizzierte Krisennarrativ (Normalität, Störung und Renormalisierung) verkörpert die binäre Logik des realistischen Erzählens und deutet zugleich auf die fehlende Stoppregel des Erzählens hin.

[5] In der neuen Erzählästhetik des sogenannten amerikanischen Realismus – Stichwort White Trash Noir – nimmt das Dorf, konkreter Ort und Symbol zugleich, ebenfalls eine zentrale Rolle ein (vgl. Sascha Seiler: ‚Im Hinterland‘. Das Dorf im Roman des neuen amerikanischen Realismus. In: Werner Nell/ Marc Weiland, Hg.: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, S. 359–371). – Für konstruktive Hinweise danke ich zudem Ulrich Plass.

[6] Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994.

[7] Moritz Baßler: Die Unendlichkeit des realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart. In: Carsten Rohde/ Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, Bielefeld 2013, S. 27–45, hier S. 44.

[8] Ebd., S. 29.

[9] Zur unhinterfragten Konjunktur der Selbstreflexivität in den Literaturwissenschaften vgl. Eva Geulen/ Peter Geimer: Was leistet Selbstreflexivität in Kunst, Literatur und ihren Wissenschaften? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89.4 (2015), S. 521–533.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Natalie Moser: Realismus für das 21. Jahrhundert (I): Die Wiederkehr der Dorfgeschichte, in: ZfL BLOG, 14.4.2016, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-fur-das-21-jahrhundert-i-die-wiederkehr-der-dorfgeschichte-natalie-moser/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20160414-03

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Eva Geulen: REALISMUS REVISITED https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-revisited-eva-geulen/ Thu, 14 Apr 2016 09:52:54 +0000 http://www.zflprojekte.de/interim/?p=53 Während sich unsere Wirklichkeit medial, technologisch und politisch rasant wandelt, macht Realismus wieder von sich reden. In der Philosophie liest man vom spekulativen oder neuen Realismus, Politiker werben um mehr Realismus, in den Sozialwissenschaften beginnt man am Primat des Konstruktivismus zu zweifeln, und auch in der Literatur hat Realismus Konjunktur. Das Semesterthema des ZfL widmet Weiterlesen

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Während sich unsere Wirklichkeit medial, technologisch und politisch rasant wandelt, macht Realismus wieder von sich reden. In der Philosophie liest man vom spekulativen oder neuen Realismus, Politiker werben um mehr Realismus, in den Sozialwissenschaften beginnt man am Primat des Konstruktivismus zu zweifeln, und auch in der Literatur hat Realismus Konjunktur. Das Semesterthema des ZfL widmet sich der Rückkehr des Realismus und seinen unterschiedlichen Manifestationen. Dabei geht es uns nicht nur um Sichtung und Analyse der aktuellen Realismus-Diskurse, sondern auch um ihre mehr oder weniger latenten Vorgeschichten. In ihnen spielt der künstlerische Realismus seit langem eine besondere Rolle.

In der philosophischen und theologischen Tradition ging es mit dem Realismus-Problem um die Frage, ob beobachterunabhängige Wirklichkeiten existieren und als solche erkannt werden können. In der Kunst untersteht die Frage ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit anderen Bedingungen. Es geht weniger darum, ob Wirklichkeit erkannt oder dargestellt werden könne, sondern wie. Folglich hat der Realismusbegriff in ästhetischen Zusammenhängen ein sehr breites Bedeutungsspektrum entwickelt. Es reicht von Abbildungs-, Nachahmungs- und Verklärungstheoremen über Fragen der Rhetorik (res und verba), Stillehre und Gattungstheorie (genera dicendi, Prosa vs. Poesie, Romanpoetik) bis zu Diskussionen um politisch-gesellschaftliche Möglichkeiten, Aufgaben und Effekte künstlerischer Produktion und Rezeption (etwa in der Expressionismus-Debatte deutscher Exilanten Mitte der 1930er Jahre).

Seit dank Dantes ingeniöser Stilmischung die Literatur gewordenen Toten der „Divina Commedia“ die Lebenden an Wirklichkeit und Lebendigkeit übertrafen,[1] trat Realismus in fast schon regelmäßigen Abständen als Problem oder Programm in Erscheinung: Es geht um den figuralen, poetischen, programmatischen, bürgerlichen, sozialistischen, magischen, neuen, ästhetischen, spekulativen Realismus, ‚border-realism‘ der Peripherien im Zeitalter der Globalisierung; es geht um korrelierende Gegenbegriffe wie Nominalismus, Materialismus, Idealismus, Romantik, Naturalismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Virtualität. Im Namen des Realismus wird die Frage nach dem Verhältnis der Literatur und der Künste als einer „Weise des Weltgestaltens“ (Georg Lukács) zu einer Wirklichkeit gestellt, die dann als ihr Vorbild, Abbild oder Gegenbild erscheinen kann, als Stoff, Medium, Möglichkeit, Referenz, Autorität, Telos.

In Zuge der kulturwissenschaftlichen Entgrenzung der Gegenstände und Bereicherung des geisteswissenschaftlichen Fächerkanons sind die Kardinalprobleme des Realismus in den Künsten auf andere Gebiete abgewandert, wo sie unter neuen Voraussetzungen diskutiert werden: Poetologien des Wissens und Wissensgeschichte in der Literatur, New Historicism, Diskursgeschichte, Praxeologie, Evidenz-Theorien, vor allem aber die Bild- und die Medienwissenschaften haben die alten Fragen mit neuen Terminologien weitergeführt, oft ohne zu wissen oder wissen zu wollen, was sie im Gepäck haben.

Deshalb lohnt es sich, nicht nur die neuen, sondern auch die alten Realismus-Debatten, Realismus-Theorien und Realismus-Phänomene in den Blick zu nehmen, ihren Stand und ihre Anschlussfähigkeit unter den Bedingungen des Fächerwandels und interdisziplinärer Schulung zu erproben. Dass das im Ausgang von der Literatur und ihrer Theoriebildung zum Realismus erfolgen soll, verdankt sich nicht nur der außerordentlichen Vielfalt dort entwickelter Realismus-Konzeptionen, sondern hat neben historischen auch systematische Gründe.

In einem auf dem ersten Kolloquium der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ gehaltenen Vortrag über „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ von 1963 (nachfolgend mit der Sigle WM zitiert) hat Hans Blumenberg der Literatur und den mit ihr beschäftigten Wissenschaften eine Steilvorlage geliefert, deren Potential bis heute unausgeschöpft blieb: Was einer jeweiligen historischen Mitwelt als Wirklichkeit erscheint, kann in dieser weder formuliert noch philosophisch eingeholt werden, weil jeder Versuch schon unter den Bedingungen des selbst-verständlichen Wirklichkeitsverständnisses operiert. Blumenberg zeigt aber, dass in Kunst und ihrer Theorie dieses prädikativ nicht einholbare Selbst-Verständnis den Stand der Implikation verlässt, da seit Platon alle Kunst und ihre Theorie zu dem Satz sich hätten verhalten müssen, „daß die Dichter lügen“:[2]

Also gerade dadurch, daß dem poetischen Gebilde von allem Anfang unserer Tradition an seine Wahrheit bestritten worden ist, ist die Theorie von der Dichtung zu einem systematischen Ort geworden, an dem der Wirklichkeitsbegriff kritisch hereinspielen und aus seiner präformierten Implikation heraustreten muß. (WM, 10)

Gegen das modernitätstheoretische Dogma von der Überwindung des Mimesispostulates setzt Blumenbergs longue durée die Einsicht, dass die moderne Kunst „von dem Zwang zur ständigen Widerlegung ihrer Abhängigkeit von der vorgegebenen Natur nicht freigeworden“ (WM, 26) sei. Gleichzeitig argumentiert er aber auch, dass insbesondere der Roman „zur Aufhebung des Gegensatzes von Realität und Fiktion“ (WM, 27) vorgestoßen sei und sich dabei „seine eigene Möglichkeit nicht als Fiktion von Realitäten, sondern als Fiktion der Realität von Realitäten zum Thema gemacht“ habe (ebd.). Damit hätte der Roman mehr für die Erkennbarkeit der stets nur implizit verfügbaren Wirklichkeitsbegriffe der Moderne geleistet als jedes Philosophem.

Das gibt hinreichend Anlass, die Literatur zum Ausgangspunkt für die Erneuerung der Frage nach dem Realismus zu machen und dabei, im Anschluss an Blumenberg, vor allem nach den Besonderheiten der jeweiligen Form zu fragen, in der das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit gestaltet und umgestaltet wird. In dieser Perspektive lassen sich dann auch Realismus-Konzeptionen anderswo erschließen und vergleichen: in anderen Künsten und Medien, in der Philosophie, aber auch in der Politik, im Recht, in der Ethik und anderen Wissenschaften.

Bei unseren Überlegungen und Nachforschungen zum Realismus im Ausgang von der Literatur darf ein bereits erreichtes Reflexionsniveau allerdings nicht unterschritten werden. Realismus-Theorien und Realismus-Debatten von Auerbach über Lukács bis in die Gegenwart zeichnen sich durch eine doppelte Einsicht aus: Auch die bestimmtesten Verfechter von Kunst als radikaler Gegenwelt bleiben auf eine Wirklichkeit bezogen, der sie sich entziehen oder gegenüberstellen. Umgekehrt wird man noch dem krassesten Abbild-Realismus nachweisen können, dass er die abgebildete Wirklichkeit erst herstellen muss und unvermittelter Wirklichkeitszugang durch die immer auch ästhetischen und rhetorischen Traditionen vermittelt bleibt, denen die Gefolgschaft verweigert wird: Alle Kunstautonomie war stets auch heteronom. Jeder Versuch, sie exklusiv auf ihre Eigen-Wirklichkeit zu verpflichten, blieb so auf Autonomiereserven oder Autonomieversprechen angewiesen wie das autonome Kunstwerk auf die Wirklichkeit als ihr Anderes.

Auf dem Hintergrund der Grundlagenkrise der Physik nach Planck und Einstein, die von den Zeitgenossen als ‚Wirklichkeitszertrümmerung‘ erfahren worden war, beschwört Gottfried Benn (gewiss kein Realist im geläufigen Sinne) noch einmal, ironisch und heroisch zugleich, das Ideal autonomer Kunst:

Eine Wirklichkeit ist nicht vonnöten,
ja es gibt sie garnicht, wenn ein Mann
aus dem Urmotiv der Flairs und Flöten
seine Existenz beweisen kann.[3]

Mit viriler Arroganz setzt sich ein privilegiertes Autorsubjekt in Szene –  und triumphal gleich über alle möglichen Wirklichkeiten hinweg. Aber der Rausch dieses ästhetischen Eigenblutdopings (D. Diederichsen) hält nicht lange vor. Kunst enthüllt sich als Sublimationsakt und hilflos-unbeholfenes Absehen von Wirklichkeiten. Mindestens als Mangel meldet sich die Wirklichkeit im Kunst-Kosmos zurück:

Als ihm graute, schuf er einen Fetisch,
als er litt, entstand die Pietà,
als er spielte, malte er den Teetisch,
doch es war kein Tee zum Trinken da.[4]

Geht man davon aus, dass sich eine entsprechende Dialektik in allen Realismus-Theorien und Realismus-Programmen durchsetzt, dann sind andere Paradigmen und Analysemodelle zu entwickeln. Was könnte oder sollte Realismus unter den Bedingungen reziproker Verwiesenheit von Autonomie und Heteronomie heißen? Und zwar nicht nur in der Kunst, sondern auch in anderen Sphären wie der Politik, der Ethik und der Wissenschaft? Lässt sich die wechselvolle Geschichte dieses Begriffs auch so rekonstruieren, dass man über die ermüdende Dialektik von Autonomie und Heteronomie hinauskommt? Welche Folgen hätte ein reformulierter Realismus für unser Moderneverständnis? Was könnte er für eine globalisierte Welt leisten? Wie verhält sich das Realismus-Postulat zu medientheoretischen, bildwissenschaftlichen, praxeologischen und pragmatischen Perspektiven und Invektiven? Hat Realismus ein Recht (oder gerade kein Recht) zu Kritik, Zeitdiagnostik, zur Politik? Ist ein Realismus vonnöten? Oder keiner da?

Eva Geulen

[1] Vgl. hierzu Erich Auerbach: Farinata und Cavalcante. In: Ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen 112015, S. 167–194.

[2] Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen. 2., durchgesehene Auflage, München 1969, S. 9–27, hier S. 9.

[3] Gottfried Benn: Wirklichkeit. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Schuster, Gedichte 1, Stuttgart 1986, S. 267.

[4] Ebd.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Realismus Revisited, in: ZfL BLOG, 14.4.2016, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-revisited-eva-geulen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20160414-02

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