Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz

Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen (Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz: Konstanz University Press 2022). Ausgerechnet der Autor, der uns 2009 in seinem Buch Kurven, Karten, Stammbäume mit originellen Anwendungsmöglichkeiten datengetriebener, messender Literaturwissenschaft die Augen geöffnet und Hoffnungen auf ganz andere Literaturgeschichten gemacht hatte,[1] bilanziert jetzt Verluste und »Illusions perdues«[2]: abgebrochen die Verbindung »zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts« (9), der erhoffte »intellektuelle[] Schlagabtausch« (164) zwischen close und distant reading, Hermeneutik des Einzelgebildes und quantitativer Analyse fand nicht statt. Die »Lawine kleinerer Studien« blieb »ohne jede geistige Synthese« (165). »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen« (ebd.). Und verloren ging auch ein Konzept der »Form« (9). „Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz“ weiterlesen

Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES

Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam.[1] Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen und dabei umfangreiche Manuskriptkonvolute zurückgelassen, die jahrzehntelang als verschollen galten. Céline selbst war fest davon überzeugt, sie seien ihm gestohlen und möglicherweise auf dem Flohmarkt verkauft worden.[2] „Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES“ weiterlesen

Tatjana Petzer: PARADOXIEN DER UNSTERBLICHKEIT

Im heutigen Russland knüpfen gesellschaftliche Akteure wieder offen an die sowjetische Politik des unsterblichen Kollektivs an. So erinnern neuerdings regionale Gedenkmärsche unter dem Banner des Unsterblichen Regiments (russ. Bessmertnyj polk) an Heldentum und Opfertod; Schlagworte, die im Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland kultiviert wurden, um das Überleben des Volkes gegen die nationalsozialistische Aggression zu sichern. Anstelle der roten Fahnen und Stalin-Porträts, die 1945 am Tag des Sieges die Militärparade flankierten, tragen die heutigen Teilnehmer:innen, darunter auch Staatschef Putin und hochrangige Politiker:innen, Fotos von Familienmitgliedern mit sich, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Das Vermächtnis der Kriegsgeneration wirkt aber nicht nur in Russland, sondern auch in anderen postsowjetischen Staaten identitätsstiftend fort, darunter in der Ukraine, wo ungeachtet einer aufgrund der Nazi-Kollaboration hiesiger Nationalisten gespaltenen Erinnerungskultur die transgenerationale Weitergabe der weltanschaulich konstruierten Unsterblichkeit auf fruchtbaren Boden fällt. „Tatjana Petzer: PARADOXIEN DER UNSTERBLICHKEIT“ weiterlesen

Eva Stubenrauch: DIE KRISE DER ZEITDIAGNOSTIK. Reckwitz, Rosa und die Gesellschaftstheorie der Gegenwart

Die Gegenwart wurde in den vergangenen Jahrzehnten so oft diagnostiziert wie nie zuvor. Seit den 1980er Jahren, angefangen bei Ulrich Becks ›Risikogesellschaft‹, häufen sich entsprechende Zuschreibungen:[1] ›Erlebnisgesellschaft‹, ›Informationsgesellschaft‹, ›Postdemokratie‹, ›breite Gegenwart‹, ›Retrotopia‹ und dergleichen mehr. Wie der Begriff und die in ihm angelegte medizinische Semantik schon andeuten, geht mit der Zeitdiagnostik immer eine Kritik an der Gegenwart einher. „Eva Stubenrauch: DIE KRISE DER ZEITDIAGNOSTIK. Reckwitz, Rosa und die Gesellschaftstheorie der Gegenwart“ weiterlesen

Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović

Die Prominenz ist anwesend

Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett.[1] Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. Die Szene beginnt in ihrem Schlafgemach am Morgen ihres Todes. Nach einigen Minuten schlägt die Verstorbene ihre Augen auf, womit die Darstellerin eine immense Körperbeherrschung demonstriert, denn zuvor lag sie so regungslos, dass man nicht sicher sein konnte, ob sich unter der Totenmaske tatsächlich eine Performerin verbarg. Sie muss mehrfach in das direkt auf ihr Gesicht gerichtete Scheinwerferlicht blinzeln, verzieht aber ansonsten keine Miene. Minutenlang ist dieses Blinzeln die einzig wahrnehmbare Bewegung in dem großen Bühnenraum, während uns eine Tonspur mit dem Bewusstseinsstrom der Verstorbenen konfrontiert. „Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović“ weiterlesen

Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance

In early 1944, shortly after the liberation of Kyiv, the Yiddish poet Dovid Hofshteyn (1889–1952) returned home from evacuation and was confronted firsthand with the horrors of the Holocaust. This encounter moved him to pen the passionate essay Muzeyen fun shand (Museums of Shame).[1] As a writer who had lived through pogroms and civil war, Hofshteyn was no stranger to expressing his reaction to violence and destruction through literature. When Nazi Germany invaded the Soviet Union in June 1941, he became a member of the Jewish Anti-Fascist Committee (JAC), a group largely made up of Soviet Jewish cultural figures whose work was meant to reach a Jewish audience both within and outside the Soviet Union. In an attempt to rally political, financial, and military support for the Soviet war effort, their work was regularly sent to Yiddish presses in the United States, Canada, and Great Britain but also as far as Argentina and South Africa. It was this position as a member of the JAC which made it possible for Hofshteyn to receive information from the front while he was evacuated, to write, and eventually, along with a group of other writers, return home and survey the devastation. „Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance“ weiterlesen

David Anderson: ‘Novel-seeming goods’: RE-READING SALMAN RUSHDIE’S ‘MIDNIGHT’S CHILDREN’ AND PATRICK SÜSKIND’S ‘DAS PARFUM’ 40 YEARS LATER

In a 1984 essay, the American critic Fredric Jameson famously diagnosed postmodernism to be ‘the cultural logic of late capitalism’. Among its distinguishing features was a new mode of ‘aesthetic populism’ grounded in an

effacement […] of the older (essentially high-modernist) frontier between high culture and so-called mass or commercial culture, and the emergence of new kinds of texts infused with the forms, categories and contents of that very Culture Industry so passionately denounced by all the ideologues of the modern.[1]

A new alignment between the twin spheres of culture and the marketplace meant that ‘aesthetic production today has become integrated into commodity production generally’. Wherever one looked, one saw ‘the frantic economic urgency of producing fresh waves of ever more novel-seeming goods (from clothing to airplanes), at ever greater waves of turnover’ (Jameson, p. 56). „David Anderson: ‘Novel-seeming goods’: RE-READING SALMAN RUSHDIE’S ‘MIDNIGHT’S CHILDREN’ AND PATRICK SÜSKIND’S ‘DAS PARFUM’ 40 YEARS LATER“ weiterlesen

Tobias Wilke: VERZETTELTES DENKEN. Ein neues Buch zur Kulturtechnik des Notierens

Ganz am Ende von Hektor Haarkötters Kulturgeschichte des Notierens (Notizzettel: Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Fischer, 2021) haben sich Autor und Verlag einen kleinen Spaß erlaubt. Zwischen Personenregister und hinterem Einbandspiegel stößt die Leserin auf zwei Leerseiten, überschrieben nur mit dem Vermerk »Raum für Ihre Notizen«. Ein Scherz im Angesicht dieser überaus umfangreichen Studie, die auf 590 Seiten materielle Praktiken des Notierens auf verschiedensten Trägermedien wie Zetteln und Notizbüchern, Hauswänden und Bodendielen, Statuen und Videobändern von der Antike bis ins 21. Jahrhundert verfolgt. Ein Scherz, keine Frage, und zugleich einer, der auf ein – mittlerweile überlebtes – Phänomen in der Geschichte von Druck und Buchproduktion rekurriert. Denn welcher Leser wäre nicht schon andernorts eben solchen Vakatseiten begegnet, so vor allem in kostengünstig hergestellten Büchern, die mithilfe der Rubrik »Raum für eigene Notizen« primär eins zu kaschieren suchen: dass der papierene Leerstand am Schluss das Resultat einer letztlich fehlgegangenen Satz- bzw. Druckbogenkalkulation darstellt. Es handelt sich um ein eigentlich überflüssiges Zuviel an Druckfläche, dem erst nachträglich eine (Ersatz-)Funktion zugewiesen wurde: in Gestalt eines Angebots an die Leserschaft, die unbeschriebenen Blätter nun doch, sofern gewünscht, selbsttätig von Hand zu füllen. „Tobias Wilke: VERZETTELTES DENKEN. Ein neues Buch zur Kulturtechnik des Notierens“ weiterlesen

Lukas Schemper: SCHIFFBRUCH DER ZIVILISATION. Überlegungen zu einer Metapher

Anfang Dezember 2021 besuchte Papst Franziskus auf seiner Griechenlandreise auch die Insel Lesbos und das dortige Flüchtlingslager Kara Tepe, wo zu der Zeit etwa 2.500 Menschen lebten.[1] Kara Tepe ist das Nachfolgelager des 2020 abgebrannten Lagers Moria, wo der Papst schon 2016 war und dessen Überfüllung und hygienische Zustände das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik drastisch vor Augen geführt hatten. Auch wenn sich die humanitären Zustände im Vergleich zu damals gebessert haben und bedeutend weniger Menschen in Kara Tepe untergebracht sind als im Vorgängerlager, so hat sich doch zwischen den beiden Papst-Besuchen in der europäischen Migrationspolitik nichts grundsätzlich bewegt. Im Gegenteil. Wurden einzelne europäische Staaten damals noch von den Regierungen anderer Staaten sowie der Europäischen Kommission für das Errichten von Zäunen zur Abwehr von Migranten kritisiert, so haben mittlerweile mehrere Mitgliedsstaaten die EU gebeten, sie eben dabei zu unterstützten.[2] Zudem kommt es wieder vermehrt zu Tragödien durch das Kentern von Flüchtlingsbooten. Mindestens 1.500 Menschen starben so 2021 allein im Mittelmeer.[3] „Lukas Schemper: SCHIFFBRUCH DER ZIVILISATION. Überlegungen zu einer Metapher“ weiterlesen

Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. High­smith und Houellebecq über Literatur

Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre fast absehbar sind, bleibt die Neugier – denn das kann es nicht gewesen sein, nicht bei dieser Autorin, nicht bei diesem Autor. Ab einem gewissen Moment, eher im letzten Drittel der Texte, bricht die enge Alltäglichkeit des erzählten Lebens angesichts unerwarteter Geschehnisse dann auch tatsächlich zusammen. Spätestens mit den abschließenden Seiten müssen das gesamte Erzählgeschehen und seine zentralen Figuren neu bewertet werden. Bei den zwei Büchern handelt es sich um Patricia Highsmiths Ediths Tagebuch (engl. Edith’s Diary, 1977) und Michel Houellebecqs gerade erschienenes Vernichten (frz. Anéantir, 2022).[1] „Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. High­smith und Houellebecq über Literatur“ weiterlesen