Barbara Picht: VON PREDIGERN UND MINERALWASSERVERKÄUFERN. Zu Valentin Groebners kleiner Begriffsgeschichte von Reinheit

Wer redet von der Reinheit? Eine kleine Begriffsgeschichte, heißt Valentin Groebners neuestes Buch. Knapp 100 Seiten umfasst das 2019 im Passagen Verlag erschienene Bändchen, und es geht dem Luzerner Historiker darin weniger um Geschichte als um unsere Gegenwart. Er attestiert ihr große Faszination für eine Vorstellung, die wir mit religiösem Denken leicht, mit einer ›entzauberten‹ und säkularisierten Welt aber schon schwerer in Verbindung bringen. Und doch, so die spannende Beobachtung Groebners, ist Reinheit auch heute allgegenwärtig, »und zwar als ein erstrebenswertes, wunderbares, schlechthin unwiderstehliches Ideal« (S. 20). „Barbara Picht: VON PREDIGERN UND MINERALWASSERVERKÄUFERN. Zu Valentin Groebners kleiner Begriffsgeschichte von Reinheit“ weiterlesen

Uta Kornmeier: DER ARCHITEKT ALS ARZT. Zu Beatriz Colominas »X-Ray Architecture«

Tuberkulose hat die moderne Architektur modern gemacht. Das ist eine der prägnanten Thesen des Buches X-Ray Architecture der Architekturhistorikerin und ‑theoretikerin Beatriz Colomina (Zürich: Lars Müller Publishers, 2019). Darin geht sie in fünf essayistischen Kapiteln den Wechselwirkungen zwischen Medizin und Architektur im 20. Jahrhundert nach. Am Beispiel der Tuberkulose und deren wichtigstem diagnostischen Instrument, der Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen, führt sie die enge Verschränkung medizinischer und architektonischer Diskurse in der Moderne vor. „Uta Kornmeier: DER ARCHITEKT ALS ARZT. Zu Beatriz Colominas »X-Ray Architecture«“ weiterlesen

Franziska Thun-Hohenstein: LEIDTRAGENDE KÖRPER

Warlam Schalamow (1907–1982) ist der einzige Schriftsteller in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dem Körpergedächtnis für sein eigenes Schreiben wie für das menschliche Gedächtnis an sich besonderen Stellenwert beimaß. Nahezu all seine überlieferten Prosatexte und Gedichte sind nach den vierzehn Jahren Gefangenschaft in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, verfasst worden. Alles, was er dort, am »Pol der Grausamkeit« des GULag durchleben musste, hat sich unauslöschlich in sein Gedächtnis wie in seinen Körper eingebrannt. Die Goldgrube der Kolyma, in der die Häftlinge bei Temperaturen bis zu minus 55 Grad arbeiten mussten, ließ den Überlebenden zeitlebens nicht los. Seinen eigenen Erfahrungen entnahm Schalamow ein neues, erschreckendes Wissen über die Verfasstheit des Menschen, über »das Gesetz des Verfalls« ebenso wie über »das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall«. Dieses Wissen mit literarischen Mitteln gegen das Vergessen wachzuhalten, hieß vor allem eines: »Wichtig ist das Wiedererwecken des Gefühls.« Eben dieses Heraufholen des damaligen Gefühls ist für ihn die Garantie von Wahrhaftigkeit. „Franziska Thun-Hohenstein: LEIDTRAGENDE KÖRPER“ weiterlesen

Insa Braun: WRESTLING UM WAHRHAFTIGKEIT: Clemens Setz und Christian Kracht

Innerhalb nur eines Jahres haben sich zwei Autoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb öffentlich zu Wort gemeldet und der Literaturkritik wie der Literaturwissenschaft eine Lehre erteilt: Christian Kracht und Clemens Setz. Die beiden Reden sollten wir uns merken. „Insa Braun: WRESTLING UM WAHRHAFTIGKEIT: Clemens Setz und Christian Kracht“ weiterlesen

Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN

Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Sie greift damit eine bereits in Heft 9/1 geführte Diskussion um den Verlust sicher geglaubter Kriterien für die Bestimmung von Objektivität auf, dessen politische Brisanz Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway im Januar 2017 medienwirksam vorführte: Sie hatte bekanntlich erklärt, der Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, habe mit der Behauptung, bei der Amtseinführung Trumps seien mehr Zuschauer zugegen gewesen als bei derjenigen Barack Obamas, nicht etwa die Unwahrheit gesagt, sondern ›alternative Fakten‹ dargestellt. Im Kontext einer Selbstreflexion der Geistes- und Kulturwissenschaften ist diese Debatte von Bruno Latour bereits 2004 angestoßen worden; sein Aufsatz »Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern«[1] gehört in den fünf Beiträgen des Heftschwerpunkts dann auch zu den am häufigsten zitierten. „Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN“ weiterlesen

Claude Haas: DONALD TRUMP ALIAS MACBETH? Zu Stephen Greenblatts neuem Shakespeare-Buch

Nicht dass der Name Donald Trump in Stephen Greenblatts neuem und immerhin bereits fünften Buch über Shakespeare auch nur ein einziges Mal fallen würde.[i] Es trägt den Untertitel »Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert« und gefällt sich in seitenlangen Anspielungen wie dieser:

»Er [Richard III.] ist ein pathologischer Narzisst und in höchstem Maße arrogant. Er verfügt über eine groteske Anspruchshaltung und hat nie einen Zweifel daran, dass er tun kann, was er will. Er brüllt gern Befehle und sieht, wie seine Untergebenen sie hastig ausführen. Er erwartet unbedingte Loyalität, ist aber unfähig zur Dankbarkeit. Die Gefühle anderer bedeuten ihm nichts. Er hat keinen natürlichen Anstand, keine Vorstellung von Mitmenschlichkeit, kein Schamgefühl.

[…] Er teilt die Welt in Sieger und Verlierer ein. Die Sieger erwecken seine Anerkennung, sofern er sie für seine Zwecke nutzen kann; die Verlierer erregen nur seinen Spott. Das Gemeinwohl ist etwas, von dem nur Verlierer reden. Er redet lieber vom Gewinnen. Er war immer von Reichtum umgeben, er wurde in ihn hineingeboren und macht ausgiebig von seinem Vermögen Gebrauch.« (65f.)

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Daniel Weidner: ZWEI NEUE BIOGRAPHIEN VON GERSHOM SCHOLEM. Oder: Was kann eigentlich eine intellektuelle Biographie?

Gershom Scholem (1897–1982) gehört immer noch zu den wichtigsten deutsch-jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Der Begründer der modernen Erforschung der Kabbala, der engagierte und kritische Zionist, der Zeitgenosse und Freund Walter Benjamins und vieler anderer Intellektueller war eine komplexe Gestalt. Die in den letzten Jahrzehnten erschienenen Brief- und Tagebuchbände haben sein Bild noch reicher und vielschichtiger gemacht – und offensichtlich attraktiv für Biographen. Fast zeitgleich sind nun zwei Biographien Scholems erschienen, die sich an dieser Gestalt und dem sie umgebenden Nimbus abarbeiten: Amir Engels Gershom Scholem. An Intellectual Biography (Chicago University Press 2017, 240 Seiten) und Noam Zadoffs Gershom Scholem. From Berlin to Jerusalem and Back (Brandeis University Press 2018, 344 Seiten).[1] „Daniel Weidner: ZWEI NEUE BIOGRAPHIEN VON GERSHOM SCHOLEM. Oder: Was kann eigentlich eine intellektuelle Biographie?“ weiterlesen

Stefan Willer: LEBENSHILFE VON DEN LASSIE SINGERS

Gegründet 1988, vier Studioalben zwischen 1991 und 1996, zwei Kompilationen und eine Abschiedstournee 1998: so die Eckdaten der Berliner Band Lassie Singers. Gegründet wurde sie von den Sängerinnen Almut Klotz und Christiane Rösinger, die sich zunächst Almut Schummel und C.C. Hügelsheim nannten. Hügelsheim ist der Name des badischen Geburtsortes von Christiane Rösinger. Auch die vor ein paar Jahren früh verstorbene Almut Klotz war Mitte der Achtzigerjahre aus Baden-Württemberg, aus dem tiefen Schwarzwald, nach Berlin gekommen. Die Lassie Singers sind also ein Beispiel für den schwäbisch-badischen Kulturtransfer ins alte West-Berlin und ins Wende-Berlin um 1990. „Stefan Willer: LEBENSHILFE VON DEN LASSIE SINGERS“ weiterlesen

Clara Fischer: DER KIEZKÖNIG VON BERLIN. Eine Figur zwischen Ostrock und Gangsta-Rap

In den 1970er Jahren erlebten viele DDR-Rockbands eine Blüte, die noch zehn Jahre zuvor undenkbar gewesen war. Hatte die Obrigkeit lange Zeit vergeblich versucht, die im Verborgenen gespielte Rockmusik zu verbieten, so gedachte man sie nun durch Anerkennung zu domestizieren. Die ersten Rockbands wurden in die Rundfunksender gelassen, die ersten Ostrock-LPs gepresst. Diese Zugeständnisse waren natürlich mit Auflagen verbunden. Eine davon: Gesungen werden durfte nur auf Deutsch! So etablierte sich in der DDR die erste deutschsprachige Rockmusik und zudem ein spezifischer ›liedhafter‹ Rock, denn die Musiker verstanden sich keineswegs als Sprachrohre des Regimes, sondern teilten in metaphernreichen, lyrischen Texten ihre Botschaften von Freiheit dem Publikum mit.

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Hanna Hamel: HOUELLEBECQS SCIENCE-FICTION. »Unterwerfung« und »Die zweite Invasion der Marsianer« der Strugatzkis

Am 6. Juni 2018 wurde die deutsche Fernsehverfilmung von Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung«[1] in der ARD gesendet. Auf die Erstausstrahlung folgte eine Gesprächsrunde zum Thema »Die Islamdebatte: Wo endet die Toleranz?« An der Programmzusammenstellung wird das Missverständnis deutlich, das sich in der öffentlichen Diskussion von »Unterwerfung« etabliert hat. Dieses Missverständnis besteht darin, die »Islamdebatte« als Thema des Romans zu begreifen und deshalb dessen Szenario zum Gegenstand einer politischen Debatte zu machen. Dabei hat sich die Verfilmung zumindest bemüht, die Romanhandlung über Verfremdungseffekte als fiktionale Perspektivierung zu markieren. Der Film rahmt die Erzählung des Romans, indem er den Darsteller Edgar Selge als Hauptfigur einsetzt, der am Deutschen Schauspielhaus den Protagonisten der Romanhandlung spielt. Es handelt sich also um eine gerahmte Verfilmung der Hamburger Romandramatisierung. Damit wird dem Missverständnis aber nur auf doppelte Weise Vorschub geleistet. „Hanna Hamel: HOUELLEBECQS SCIENCE-FICTION. »Unterwerfung« und »Die zweite Invasion der Marsianer« der Strugatzkis“ weiterlesen