Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN)

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Es ist nicht absehbar, was die Corona-Krise einmal alles zu verantworten haben wird. Zu den Dingen, von denen man behauptet, dass sie ›nicht mehr so sein werden wie vorher‹, könnte die Präsenzlehre an den Universitäten gehören. Gemessen an anderen Vorstellungen, wie etwa dem vorbeugenden Einsatz biometrischer Überwachung aller, wäre das ein kleineres Übel. Hier wie dort gilt jedoch: Sind bestimmte Praktiken erst einmal, sei es auch temporär und zwangsweise, eingeführt, dann kann daraus rasch Alltag werden.[1] Die universitäre Lehre betreffend wäre es dann vorbei mit dem, was Heidegger einmal raunend das »Geheimnis des Seminars«[2] genannt hat. „Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN)“ weiterlesen

Henning Trüper: UNSOUVERÄNITÄT IN DER PANDEMIE

Abdera

Mögen die mikrobiologischen Entdeckungen der Moderne den Begriff der »Ansteckung« auch grundsätzlich verändert haben, die Angst davor ist alt. Schon in der Antike gab sie Anlass zu satirischer Gestaltung. Dem spätantiken Schriftsteller Lukian von Samosata zufolge war in der Stadt Abdera in Thrakien, Heimatort des Philosophen Demokrit und anderer Atomisten, einst ein epidemisches Fieber ausgebrochen, das alle Bewohner veranlasste, nurmehr in Versen zu sprechen und sich für die Figuren einer Tragödie zu halten. Das Theater ließ sich nicht mehr auf das Theater begrenzen. Es ist wohl diese Anekdote, die hauptsächlich für den Ruf Abderas als Stadt der Narren verantwortlich war. „Henning Trüper: UNSOUVERÄNITÄT IN DER PANDEMIE“ weiterlesen

Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? STIL UND SOCIAL MEDIA IN DER GEGENWARTSLITERATUR

»Manchmal entstehen große Textteile auf Twitter. Ich kommentiere dort, woran ich gerade arbeite, und probiere aus«, beschreibt Buchpreis-Gewinner Saša Stanišić in einem Interview seinen Umgang mit Twitter, »aber ich würde nie versuchen, Twitter in meinen Texten zu imitieren.«[1] Der Autor weist auf eine intrikate Verbindung von Social Media mit dem Prozess des literarischen Schreibens hin. Denn wenn, wie Stanišić angibt, »große Textteile« auf Twitter entstehen, haben soziale Medien von Beginn an einen wesentlichen Anteil an der Textproduktion – unabhängig davon, ob der spätere Roman Tweets mimetisch abbildet oder nicht. Das Phänomen der so genannten »Twitteratur« ist zwar bereits seit einiger Zeit bekannt, vielleicht sogar schon wieder überholt.[2] Was allerdings geblieben ist, das ist Twitter als Notizbuch, als Bühne für die literarische Selbstinszenierung und als Ort der sozialen – und möglicherweise auch stilistischen – Kontrolle. „Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? STIL UND SOCIAL MEDIA IN DER GEGENWARTSLITERATUR“ weiterlesen

Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani

Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen mit den Veränderungen unserer städtischen Umgebung. Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts (2018), ein Buch der Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner, widmet sich auf originelle Weise speziell der Berliner Stadtlandschaft: »Gegenüber der Formgeschichte und dem Interesse an Strukturmerkmalen«, so Wagner über ihren Ansatz, »stehen vielmehr Beobachtungen alltäglicher Symptome im öffentlichen Raum der Stadt zur Debatte« (S. 11). „Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani“ weiterlesen

Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG

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Habent sua fata libelli, »Bücher haben ihre Schicksale.« – Diese oft zitierten Worte des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus lassen sich auch auf ein ungeschriebenes Buch beziehen: die Biographie Aby Warburgs, an der seine Assistentin Gertrud Bing bis an ihr Lebensende gearbeitet hat. Ihr unvollendetes Projekt wurde später von Ernst Gombrich wieder aufgegriffen, der damit seine Dankbarkeit gegenüber Bing zum Ausdruck brachte. Der große Wiener Kunsthistoriker hat es dann zu Ende geführt, mit stupender Gelehrsamkeit, aber nur begrenzter intellektueller Sympathie für den, der Objekt dieser Biographie war.[1] Ganz entgegen Gombrichs Absicht hat das Buch eine wahre Warburg-Renaissance ausgelöst, die bis heute andauert. Man könnte also sagen, dass Bings Projekt Erfolg beschieden war, wenn auch auf verschlungenen und unvorhersehbaren Wegen. „Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG“ weiterlesen

Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«

Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf »erstaunliche Parallelen« zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den »gegenwärtigen Entwicklungen«.[2] Die meisten Rezensionen, von der Süddeutschen Zeitung über die Welt bis zur ZEIT, konstatieren in eben diesem Sinne eine verblüffende Aktualität von Adornos Vortrag, die Redaktion von Spiegel Online attestiert Adorno gar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie titelt: »Was Adorno 1967 schon über die Neue Rechte wusste„Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«“ weiterlesen

Sarah Pourciau: THE EMPTY CANVAS: Daniel Kehlmann’s “Tyll” and the Origins of Modernity

At the exact midpoint, to the page, of Daniel Kehlmann’s 2017 novel Tyll, there appears, for the first time, the figure of an empty canvas, which will come to govern the remainder of the work. The canvas is a gift bestowed by the eponymous fool-artist, Tyll Ulenspiegel—whom Kehlmann has transplanted from the 14th to the 17th century, from Germany’s medieval literary tradition to the baroque—upon his recently-acquired patron, the exiled Elizabeth Stuart of England, “Winter Queen” of Bohemia, wife of the “Winter King” Friedrich V of the Palatinate. Friedrich’s decision to proclaim himself King of Bohemia, a title he held for only a year (hence the derisive nickname “Winter King”), marked the beginning of the Thirty Years War that tore up much of Europe between 1618 and 1648; it is against this backdrop of historical chaos that Kehlmann narrates Tyll’s trajectory, in a series of isolated, chronologically disordered episodes. „Sarah Pourciau: THE EMPTY CANVAS: Daniel Kehlmann’s “Tyll” and the Origins of Modernity“ weiterlesen

Hanna Hamel: NACHBARSCHAFTEN. Nachlese zu den ZfL-Literaturtagen

Nachbarschaft ist ein ambivalentes Verhältnis. In kaum einer anderen Beziehung liegen Distanz und Nähe, Freundschaft und Feindschaft, Öffentlichkeit und Intimität so nah beieinander. Die räumliche Nähe verlangt eine eigene Form des Abstandhaltens, damit Nachbarn einander über längere Zeit und auf engem Raum ertragen können. Nachbarn sind aneinander gebunden, auch wenn sich ihre Lebensvollzüge bis auf den geteilten Ort in keiner Weise gleichen. Gerade der Wunsch nach Distanz und klaren Grenzen scheint deshalb oftmals der einzige Berührungspunkt ihrer Interessen zu sein. Der Lyriker Robert Frost hat dieses Verhältnis in seinem Gedicht Mending Wall lakonisch auf den Punkt gebracht: »Good fences make good neighbours.« „Hanna Hamel: NACHBARSCHAFTEN. Nachlese zu den ZfL-Literaturtagen“ weiterlesen

Falko Schmieder: ÜBER DEN ABFALL DES MENSCHEN

Wenn der kanadische Publizist Giles Slade seine Studie Made to Break mit der Gegenüberstellung von ägyptischen Herrscherpyramiden und Computerschrottbergen eröffnet,[1] wird damit ein Phänomen zu neuer Kenntlichkeit entstellt, das Leuten, zu deren Sprachschatz der ›Weltraumschrott‹ gehört, schon allzu vertraut geworden ist: der Müll. Im Licht der Pyramiden wird der Müllberg als Grabhügel erkennbar. Die historisch gewachsene Relevanz des Abfallproblems kulminiert in jüngsten theoretischen Versuchen, die Kultur als Ganzes vom Müll her in den Blick zu nehmen. Damit wird ausbuchstabiert, worauf Begriffe wie ›Wegwerfgesellschaft‹ hindeuten: dass Müll nicht nur als Anderes oder Rest der Produktion zu denken ist, sondern in einem viel grundlegenderen Zusammenhang mit dieser steht. „Falko Schmieder: ÜBER DEN ABFALL DES MENSCHEN“ weiterlesen

Jana Lubasch, Halina Hackert, Ruth Hübner: »Umwuchtungen«. DIE WECHSELVOLLE GESCHICHTE DER ZfL-BIBLIOTHEK

Für Jorge Luis Borges ist die Bibliothek Ort unermesslichen Wissens und Metapher für die Unendlichkeit.[1] Umberto Eco beschreibt sie in Der Name der Rose als einen Raum voller Kräfte, als Schatzhaus voller Geheimnisse. Mögen sich die Bibliotheken über die Jahrhunderte auch einen Teil dieses Zaubers bewahrt haben, sind sie heute mehr denn je moderne Informationseinrichtungen in einer digitalen Gesellschaft. Vor allem in großen wissenschaftlichen Bibliotheken ist dieser Wandel spürbar; als Dienstleistungsunternehmen ist ihre Atmosphäre von Betriebsamkeit und Anonymität geprägt. Kleinere Institutsbibliotheken hingegen haben sich stärker einen Teil des Magischen bewahren können. In gewisser Weise verfügen sie über eine besondere Atmosphäre, einen »spirit«, geformt von dem Ort selbst und den dort anwesenden Menschen.[2]

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