Anthropologie Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/anthropologie/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 02 Jun 2023 12:35:50 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Anthropologie Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/anthropologie/ 32 32 Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/06/02/hanna-hamel-spiele-und-ihre-raeume/ Fri, 02 Jun 2023 12:16:48 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3038 Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis Weiterlesen

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Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.[1]

Es ist den Spielen eigen, dass sie Ausflüchte und »Gegenregion[en]« eröffnen können, dass sie ein »Abtasten von Möglichkeiten unter Wahrung einer geschlossenen Immanenz«[2] erlauben – oder schlicht: dass sie Experimentierräume sind. Dabei haben sie häufig bildende, wenn nicht sogar pädagogische Funktionen. Schon Alexander Gottlieb Baumgarten verschränkte Spiel und Übung im Kontext seiner Ästhetik. Spiele sind für ihn Teil der angeleiteten ästhetischen Übung, die die »Kraft« der »schönen Natur« vermehren soll,[3] zum Beispiel »wenn [ein Knabe] plaudert, wenn er spielt, vor allem, wo er Spiele erfindet oder ein kleiner Anführer unter seinen Spielgefährten ist und, mit rührigem Eifer dem Spiel gewidmet, schon ins Schwitzen kommt und vieles aushält«.[4]

Nicht nur Kinder durchlaufen herausfordernde Bildungsprozesse, wenn sie spielen. Noch weitreichender als Baumgarten fasst Schiller die Rolle des Spiels im Kontext ästhetischer Erziehung. Rund um die kanonische Stelle aus den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen – »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« – schreibt er: »[D]er Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen[5] Wie schon zuvor bei Kant und dessen Vorstellung vom freien Spiel‹ der Erkenntniskräfte ohne Begriff und Zweck wird die Untersuchung des menschlichen bzw. subjektiven Potentials von Schiller eng mit der Ästhetik verflochten. Bei Kant steht in diesem Zusammenhang das Naturschöne im Zentrum der ästhetischen Erfahrung, bei Schiller die hervorbringende ästhetische Praxis und damit die Kunst. Die ästhetische Erfahrung wird bei beiden zu einem entscheidenden Spielraum für die Ausbildung menschlicher Lebens- und Gesellschaftsformen.

Im 19. und 20. Jahrhundert tritt die Idee eines »Zwang[s] zum Spiel«[6] (Huizinga, Plessner) in den Vordergrund, genauso wie der gesellschaftliche Druck, Rollenerwartungen zu erfüllen. Gleichzeitg haben selbstauferlegte Zwänge und Regeln zentralen Anteil an der Lust am Spielen. Darauf verweist nicht zuletzt die umfangreiche Literatur, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Spiel widmet – wobei die Zahl entsprechender Abhandlungen bemerkenswerterweise mit derjenigen zur Diätetik konkurriert.[7] Der Zwang als integraler Teil des Spiels hat für Autor:innen bis heute poetologische Relevanz, zum Beispiel für Peter Handke: »Die Kunst ist das Große Spiel (es gibt natürlich viele kleine); oder besser: die Kunst ist das zwingende Spiel.«[8] Unschuldig und leicht zu haben ist das Spiel auch im ästhetischen Kontext nicht: »Viele können nur unernst spielen, und zerstören das Spiel; lieber will ich nicht spielen«,[9] schreibt Handke an anderer Stelle. Sich auf das Spielen einzulassen, führt außerdem nicht zwangsläufig in die Kunstproduktion, im Gegenteil: »Kunst, die im Spiel ihre Rettung vorm Schein sucht, läuft über zum Sport«,[10] konstatiert Adorno. Zwar befreie das Spiel die Kunst von Zwecken und unmittelbarer Praxis, aber es führe sie auch in die Regression, weil »Spielformen« stets »Wiederholung« seien.[11] Wer und was sich nur noch wiederholt und einmal gesetzten Normen blind folgt, wird unfrei.

Ernsthaftigkeit und selbstreflexiver Anspruch gehören zur Geschichte der Spiele ebenso wie der Spaß und die Lust an ihnen, nicht zuletzt, weil das Spielen ernsthafte Folgen haben kann. Dabei ist es immer auch eine Frage politischer oder ökonomischer Entwicklungen, wie im jeweiligen Kontext das Spielverhalten von einzelnen Akteur:innen oder Gruppen gedeutet wird. In Schlagwörtern wie ›Gamification‹ oder ›Serious Games‹ findet aktuell das Bewusstsein Ausdruck, dass man den ausgreifenden sozialen Einfluss von Spielen nicht unterschätzen sollte. Besonders deutlich wird das auch in Debatten um die Relevanz von Computerspielen sowie in den Sorgen und Ängsten, die sich mit der laufenden Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz – insbesondere der Large Language Models GPT3 bzw. GPT4 – verbinden. (Computer-)Spiele und KI-Entwicklung sind ihrerseits eng verflochten. Die Leistungsfähigkeit einer KI bemaß sich lange an ihren Erfolgen in Spielen wie Schach oder Go.[12] Heute artikuliert sich der moderne Kurzschluss von ästhetischer Fähigkeit zum Spiel (und damit zum Menschsein) in der Angst oder auch im Begehren, die Maschine könnte Literatur (bzw. Kunst) genauso gut wie oder sogar besser als ein menschlicher Autor produzieren. Das Zugeständnis, so gut zu spielen, dass dabei Kunst herauskommt, wäre in diesem Zusammenhang die höchste Nobilitierung, die der moderne Mensch aussprechen kann.

Aber so einfach ist es nicht. Es ist nie ein einzelner Akteur, weder Mensch noch KI, der oder die alleine spielt, und, wie man beispielsweise bei Adorno nachlesen kann, geht es (auch in der Kunst) nie allein ums Spielen. Entscheidend ist deshalb, welches Verständnis von Spiel man zugrunde legt, um daraus abzuleiten, ob ein Mensch oder eine KI ein ausgezeichneter Spieler ist – und welche Konsequenzen man aus dieser Fähigkeit ziehen möchte. Spiele sind immer eingebunden in einen sozialen Raum und eine Assemblage aus interagierenden Akteur:innen, zwischen denen sich die Spielpraxis konstituiert. Man könnte auch sagen: Ohne Interaktion existieren weder Spiel noch Spieler:innen. Konkurrenz und Wettstreit sind nur zwei mögliche Formen dieser Interaktionen. Die Frage, wer der oder die Bessere oder wer der »kleine Anführer« (Baumgarten) ist, stellt sich gar nicht bei jeder Form des Spiels. Spiele-Entwickler:innen haben das schon lang durchschaut. Abseits klassischer Gesellschaftsspiele wie Monopoly oder Mensch ärgere dich nicht gibt es komplexe, kooperative Spiele, in denen etwa gemeinsam gegen das Spiel gespielt wird. Man gewinnt zusammen oder gar nicht.

Vor diesem Hintergrund kann es auch erhellend sein, in den Blick zu nehmen, welcher Status Spielen in literarischen oder theoretischen Texten selbst zuwächst und welche Rolle Spiele in unterschiedlichen historischen Situationen einnehmen können – zum Beispiel bei der Wiederentdeckung von Gesellschaftsspielen in der Pandemie oder in den scheinbar spielerischen Formen ästhetischer Selbstinszenierung im Netz. Selbst und gerade im Spiel kann man das Spielen verlieren, wenn man Wiederholungszwängen unterliegt. Deshalb geht es in künstlerischen Arbeiten heute noch und wieder darum, Räume für neue (ästhetische) Erfahrungen offenzuhalten, indem zum Beispiel eine Sache spielerisch unter dem Blickwinkel einer anderen betrachtet wird: »Wie ließe sich, was hiermit folgte, umschreiben, wollte man ausschließlich vom Essen sprechen?«, fragt Teresa Präauer in ihrem jüngst erschienen Buch Kochen im falschen Jahrhundert und lässt als Antwort auf das selbstverordnete Rezept, nur vom Essen zu sprechen (und dabei wörtlich mit dem Essen zu spielen), eine Kaskade von Kirschen, Zitronen, Melonen, aber auch von »benutzten Teller[n]« und »Thunfischdosen« folgen, um vom perpetuierten Internet-Foodporn zu einer anderen Form des Begehrens zurückzufinden.[13]

In der vielstimmigen Literatur und Theorie zum Spiel wird vor allem deutlich, dass es nicht um den einzelnen Spieler und dessen Eigenschaften geht, sondern dass in Spielen kollektive Aushandlungsprozesse stattfinden: über Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen, über Aufgabenverteilung und Formen der Kollaboration, über den Rekurs auf Regeln, ihre Auslegung und Variation. In ihrem Umgang mit Spielen wird so nicht zuletzt ein Einsatz der Texte offenbar, sich zu diesen Aushandlungsprozessen zu verhalten und sie mitzugestalten. Dabei geht es besonders auch um unerwartete, geteilte Räume;[14] zwischen Poker- und Interface, im Spiel zwischen Tier, Mensch und KI, Lesenden und Schreibenden oder auch zwischen Literatur und Theorie. In diesen Zwischenräumen bewegen sich in diesem Jahr die ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die sich dem Thema ›Spiele‹ widmen – mit literarischen Lesungen und Gesprächen und nicht zuletzt einem gemeinsamen Spieleabend mit Autor:innen und Publikum.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«. Sie ist Mitveranstalterin der diesjährigen ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die unter dem Titel »Spiele« stehen. 

[1] Vgl. Tanja Wetzel: »Spiel«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 577–618, hier 586; zum Spiel in der Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert vgl. Stefan Willer: »Gesellschaftsspiele. Fontanes Irrungen, Wirrungen«, in: Peter Uwe Hohendahl/Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg, Berlin, Wien 2018, 123–141; sowie Dorothea Kühme: Bürger und Spiel. Gesellschaftsspiele im deutschen Bürgertum zwischen 1750 und 1850, Frankfurt, New York 1997.

[2] Helmuth Plessner: »Der Mensch im Spiel«, in: ders.: Conditio humana. Gesammelte Schriften VIII, hg. v. Günter Dux u.a., Frankfurt a.M. 22015, 307–313, hier 307 und 313.

[3] Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik, Bd.1, hg. u. übers. v. Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, 41.

[4] Ebd., 45.

[5] Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, 62–63.

[6] Plessner, »Der Mensch im Spiel« (Anm. 2), 310.

[7] Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4.1 (2013), 133–148, hier 144. Deuber-Mankowsky verweist darin auf die Abhandlung von Moritz Lazarus, Die Reize des Spiels (1883), die sich eingangs mit der Popularität und dem Umfang der Literatur zu »Spiel« im Vergleich zur Literatur zu »Diätetik« befasst.

[8] Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts, Berlin, Darmstadt, Wien 1982, 215.

[9] Ebd., 227.

[10] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 192012, 154.

[11] Ebd., 469.

[12] Vgl. zur verflochtenen Geschichte von Computerspiel und KI: Gabriele Gramelsberger u.a.: »›Mind the Game!‹ Die Exteriorisierung des Geistes ins Spiel gebracht«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 21 (2019), 29–38, hier 29. 

[13] Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert, Göttingen 2023, 168.

[14] Gramelsberger u.a., »›Mind the Game!‹« (Anm. 12), 36.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Spiele und ihre Räume, in: ZfL Blog, 2.6.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/06/02/hanna-hamel-spiele-und-ihre-raeume/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230602-01

 

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Oliver Precht: GIBT ES EINE »BRAZILIAN THEORY«? https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/01/oliver-precht-gibt-es-eine-brazilian-theory/ Wed, 01 Jun 2022 07:33:31 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2564 Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie French Theory (oder in jüngerer Zeit auch Italian Theory)[1] herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm.[2] Dennoch bietet die Rede von einer French Theory – im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Weiterlesen

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Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie French Theory (oder in jüngerer Zeit auch Italian Theory)[1] herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm.[2] Dennoch bietet die Rede von einer French Theory – im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne – einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen Brazilian Theory auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel The Forest and the School eine erste Anthologie.[3] In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug.[4] Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel »Brasilianische Interventionen« im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: »Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken«.[5] Selbst von einer sich andeutenden »Brasilianisierung der Theorie« ist hier die Rede.

Anthropophagie und Anthropologie

Doch lässt sich angesichts der zunehmend vernetzten, internationalen und multilingualen Welt, in der diese Theorie entsteht, überhaupt noch sinnvoll das Label eines Nationalstaats verwenden? Für Luks jedenfalls sind es vor allem zwei Charakterzüge, die es erlauben, in einem emphatischen Sinn von einer brasilianischen‹ Theorie zu sprechen. Zunächst verweist er auf die weit verbreitete kreative Aufnahme des Konzepts der Anthropophagie‹, das von den modernistischen Avantgarden der 1920er Jahre auch als Antwort auf die Frage nach einer eigenständigen brasilianischen Identität entwickelt wurde – eine Identität allerdings, die im Kern Nicht-Identität ist. Methode und Ziel der symbolischen ›Verschlingung‹, des kulturellen ›Kannibalismus‹, den die Gruppe um Oswald de Andrade seinerzeit vertrat, lassen sich als eine Art universalisierte ›kulturelle Aneignung‹ beschreiben, die aber gerade durch ihre Universalisierung und Radikalisierung auf eine allgemeine ›Enteignung‹ kultureller Werte und Artefakte abzielt: Produkt dieser intellektuellen und künstlerischen Praxis wäre eine brasilianische Nicht-Identität, die respektlos alle Kulturen verschlingt, sie mundgerecht zerlegt, verzehrt und in Neues verwandelt.

Diese in den 1920er Jahren entwickelte Idee einer ›Verschlingung‹ und ›Verdauung‹ feierte in den 1960er Jahren, insbesondere im Umkreis des »anderen«,[6] brasilianischen 68 eine Renaissance und wurde selbst wiederum in der brasilianischen Literatur und Musik, in der Kunst und im Kino auf vielfältige Weise angeeignet und weiterentwickelt.[7] Darüber hinaus kam sie bei dem in Brasilien lehrenden Anthropologen Claude Lévi-Strauss (der Oswald de Andrade persönlich kannte), mehr noch aber bei seinem Schüler Eduardo Viveiros de Castro zu theoretischen Ehren: ›Anthropophagie‹ wurde so nicht nur zu einem Schlagwort avantgardistischer Künstlereliten, sondern auch zu einem zentralen Motiv der Erforschung und theoretischen Durchdringung indigener Mythologien, Riten und Lebensweisen.

Und damit wären wir auch schon beim zweiten Spezifikum einer möglichen Brazilian Theory: Neben den ›anthropophagen‹ Avantgarden der 1920er und 1960er Jahre speist sie sich wesentlich aus einer Begegnung mit einer bestimmten Schule der Anthropologie, die sich insbesondere mit den indigenen Kulturen der brasilianischen Küstenregionen und des Amazonasbeckens beschäftigt. Diese jüngere, dem ontological turn verpflichtete Strömung der Anthropologie interessiert sich besonders für das, was man als das Weltbild, oder präziser als die Kosmologie dieser Völker bezeichnen könnte. Für die Brazilian Theory sind die amerindianischen Kosmologien nicht nur Gegenstand der interessierten ethnologischen Beobachtung, sondern stehen auf einer Stufe mit der eigenen, von der abendländischen Philosophie und Wissenschaft geprägten Kosmologie. In einem gewissen Sinn sind die indigenen Kosmologien selbst Theorie und stehen seit über 500 Jahren in einem unreflektierten, aber produktiven Austausch mit der entstehenden modernen Philosophie und Anthropologie – eine zwar sporadische, aber folgenreiche Theoriegeschichte avant la lettre. Und auch heute noch, so der Einsatz der Brazilian Theory, können wir von diesen eigenartigen Kosmologien, in denen alles auf dem Kopf zu stehen scheint, in denen die Tiere von den Menschen abstammen, es nur eine Kultur, aber viele Naturen gibt, in denen es von exotischen Tieren, von Tapiren, Jaguaren und Pekaris nur so wimmelt, etwas lernen. Im Zeitalter der ökologischen Katastrophen erscheint ihr ›animistisches‹ Paradigma, zu allen Lebewesen ›politische‹ Beziehungen zu unterhalten, nicht mehr als ontologisches Kuriosum, sondern als visionärer Denkansatz.

A perfect storm

Im Februar 2022 launchte das Berliner »zentrum für theoretische peripherie | diffrakt« eine Website, die die Frage nach einer Brazilian Theory erneut auf die Tagesordnung setzt: Unter dem Titel a perfect storm werden Essays, Fotografien, Video- und Audioarbeiten brasilianischer Theoretiker*innen und Künstler*innen kuratiert. Die aufwendig gestaltete und materialreiche Seite legt den Fokus auf ein weiteres Charakteristikum der Brazilian Theory: die kritische Analyse der katastrophalen gesellschaftlich-ökologisch-politischen Lage Brasiliens. Sie ist nicht nur der Kontext, aus dem heraus die Entstehung dieser Theorie verständlich wird, sondern auch ihr zentrales Thema: An der Situation Brasiliens lässt sich, so die Annahme, etwas Entscheidendes über die Lage der Welt erfahren.

A perfect storm – der Ausdruck meint zunächst die Kombination verschiedener widriger meteorologischer Faktoren, im übertragenen Sinn aber die Verbindung und wechselseitige Verstärkung politischer, ökologischer und gesellschaftlicher Krisen, wie sie sich in Brasilien beobachten lassen. Die Zerstörung des Amazonas, die Gewalt in den Städten, die ungebrochene Macht des Militärs, der Milizen und der korrupten Eliten, die ständigen, durch den Raubbau an Ressourcen ausgelösten Umweltkatastrophen, der Aufstieg des Rechtsextremismus, die soziale Ungleichheit, der oft verborgene Rassismus, all diese Probleme hängen zusammen, verstärken sich wechselseitig und konvergieren zu einem perfect storm. Dieser Sturm ist einerseits geographisch lokalisiert, er scheint nur in der ökonomisch-politischen Peripherie des globalen Südens möglich. Zugleich ist er andererseits unlokalisierbar: In ihm konvergieren und kulminieren zahllose regionale und globale Konflikte und Entwicklungen. Auch seine Auswirkungen werden auf der ganzen Welt zu spüren sein. Wie kann man dieses ›Brasilien‹ verstehen, ohne in alte und vereinfachende Kategorien der Dependenz- oder Imperialismustheorien zurückzufallen? Und welche politischen Perspektiven gibt es jenseits der sogenannten Modernisierungspolitik der Arbeiterpartei? Wenn es eine Brazilian Theory gibt, so lässt sie sich zweifellos nur vor dem Hintergrund dieser hier nur angedeuteten politischen Problematiken verstehen.

Ob sich der Begriff Brazilian Theory etablieren wird, lässt sich schwer abschätzen. An drängenden Fragen und Problemen mangelt es ebenso wenig wie an neuen Denkansätzen. Das Interesse von außen jedoch, dem sich derartige Kategorisierungen zumeist verdanken, ist unbeständig und kann genauso schnell wie es kam wieder vorübergehen. Auch die ›Produktionsbedingungen‹ dieser Theorie sind alles andere als gesichert, fast alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Institutionen, alle Möglichkeiten der Kunst- und Kulturförderung stehen spätestens seit der Wahl Jair Bolsonaros unter massivem finanziellen und politischen Druck. Im Moment jedoch entsteht inmitten dieses perfect storms eine Theorieströmung, von der man mit gleichem Recht behaupten kann, dass sie sich hinreichend präzise verorten lässt und dass sie ortlos ist. Eigentlich eine gute Voraussetzung dafür, dass sie auch diesseits des Atlantiks aufgenommen und angeeignet wird.

 

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Oliver Precht arbeitet mit seinem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)« am ZfL.

 

[1] Vgl. dazu: Antonio Lucci/Esther Schomacher/Jan Söffner (Hg.): Italian Theory, Leipzig 2020.

[2] Zur Genese dieser Kategorien vgl. Johannes Angermüller: Why there is no poststructuralism in France, London/New York 2015.

[3] Neben Texten von inzwischen etablierten Autor*innen wie Suely Rolnik oder Eduardo Viveiros de Castro enthält der Band auch Ausschnitte von im deutschsprachigen Raum noch weniger bekannten wichtigen Figuren wie dem Schamanen und Aktivisten Davi Kopenawa oder den Anthropologinnen Tânia Stolze Lima oder Manuela Carneiro da Cunha, vgl. Pedro Neves Marques (Hg.): The Forest and the School. Where to Sit at the Dinner Table? Berlin/Köln 2014.

[4] Vgl. beispielsweise: Eduardo Viveiros de Castro: Die Unbeständigkeit der wilden Seele, übers. v. Oliver Precht, Wien 2016; ders.: Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie, übers. v. Theresa Mentrup, Berlin 2019; Deborah Danowski/ders.: In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende, übers. v. Clemens u. Ulrich van Loyen, Berlin 2019; Suely Rolnik: Zombie Anthropophagie. Zur neoliberalen Subjektivität, übers. v. Oliver Precht, Wien 2019; Hélène Clastres: Land ohne Übel. Der Prophetismus der Tupi-Guarani, übers. v. Paul Maercker, Wien 2022.

[5] Timo Luks: »Brasilianische Interventionen. Über Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 849 (2020), S. 54–63.

[6] »The other 68: Anthropophagic Revolutions in Brazilian Counterculture after 1968« hieß eine internationale Tagung, die anlässlich des fünfzigsten Jahrestages von 1968‹ in Frankfurt am Main stattfand.

[7] Nicht nur Dichter wie Haroldo de Campos oder Décio Pignatari haben sich auf Oswald de Andrades Konzept der Anthropophagie berufen und es sich zu eigen gemacht, auch Künstler*innen wie Lygia Pape, Lygia Clark oder Hélio Oiticica, Musiker*innen wie Caetano Veloso oder die Band Os Mutantes und die Filmemacher*innen des Cinema Novo. Vgl. dazu beispielsweise: Haroldo de Campos: »Von der anthropophagen Vernunft«, in: Oswald de Andrade: Manifeste, übers. v. Oliver Precht, Wien/Berlin 2016, S. 145–185; Lygia Pape: The Skin of ALL, Stuttgart 2022; Caetano Veloso: Verdade tropical, São Paulo 2008; Christopher Dunn: Brutality Garden: Tropicália and the Emgergence of Brazilian Counterculture, Chapel Hill/London 2001; Peter W. Schulze: Strategien ›kultureller Kannibalisierung‹: Postkoloniale Repräsentationen vom brasilianischen Modernismo zum Cinema Novo, Bielefeld 2008.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Oliver Precht: Gibt es eine ›Brazilian Theory‹?, in: ZfL BLOG, 1.6.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/01/oliver-precht-gibt-es-eine-brazilian-theory/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220601-01

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Falko Schmieder: ÜBER DEN ABFALL DES MENSCHEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/10/30/falko-schmieder-ueber-den-abfall-des-menschen/ Wed, 30 Oct 2019 13:39:55 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1295 Wenn der kanadische Publizist Giles Slade seine Studie Made to Break mit der Gegenüberstellung von ägyptischen Herrscherpyramiden und Computerschrottbergen eröffnet,[1] wird damit ein Phänomen zu neuer Kenntlichkeit entstellt, das Leuten, zu deren Sprachschatz der ›Weltraumschrott‹ gehört, schon allzu vertraut geworden ist: der Müll. Im Licht der Pyramiden wird der Müllberg als Grabhügel erkennbar. Die historisch Weiterlesen

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Wenn der kanadische Publizist Giles Slade seine Studie Made to Break mit der Gegenüberstellung von ägyptischen Herrscherpyramiden und Computerschrottbergen eröffnet,[1] wird damit ein Phänomen zu neuer Kenntlichkeit entstellt, das Leuten, zu deren Sprachschatz der ›Weltraumschrott‹ gehört, schon allzu vertraut geworden ist: der Müll. Im Licht der Pyramiden wird der Müllberg als Grabhügel erkennbar. Die historisch gewachsene Relevanz des Abfallproblems kulminiert in jüngsten theoretischen Versuchen, die Kultur als Ganzes vom Müll her in den Blick zu nehmen. Damit wird ausbuchstabiert, worauf Begriffe wie ›Wegwerfgesellschaft‹ hindeuten: dass Müll nicht nur als Anderes oder Rest der Produktion zu denken ist, sondern in einem viel grundlegenderen Zusammenhang mit dieser steht.

Eine bis heute relevante Pionierarbeit zum Müll ist Michael Thompsons Rubbish Theory.[2] Am Beispiel von Seidenbildern aus dem 19. Jahrhundert zeigt er, wie einstmals Wertloses zur Antiquität wurde und welche sozialen Distinktionen mit der Deklaration einer Sache als Abfall verbunden sind. In seiner Spur lesen neuere soziologische Studien am Müllaufkommen den sozialen Status der ›Entsorger‹ ab: Zeige ihnen deinen Müll, und sie sagen dir, wer du bist. Reich sein heißt auch, etwas wegzuwerfen haben, und was den einen Müll, ist andern Lebensmittel. Nach Thompson ist klar geworden, dass etwas zu Müll nicht allein aufgrund seiner intrinsischen Eigenschaften wird. Eine spezielle Aufgabe der Kulturwissenschaften liegt daher in der Untersuchung der kulturellen und sozialen Codierung von Müll und des historischen Wandels objektbezogener Wertzuschreibungen.[3] Zu Letzterem gehört auch die Kritik von Rückprojektionen des Müllproblems sowie moderner Abfallkategorien in die Geschichte.

Moderner Abfall

›Müll‹ taucht in einschlägigen Lexika erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständiges Stichwort auf.[4] Der heute oft synonym gebrauchte Begriff Abfall begegnete im 18. Jahrhundert vorwiegend in den religiösen und politischen Bedeutungen der Abtrennung oder Abkehr von Gott oder Staat; im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde diese religiöse Dimension zunehmend durch eine politische überlagert und sukzessive verdrängt. Zugleich werden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort Abfall vermehrt gewerbliche und industrielle Restbestände thematisiert, die die Lemmata seit den 1870er Jahren zu dominieren beginnen. Heute könnte Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande eine Müllstudie erwarten lassen. Die sprachhistorischen Befunde legen jedenfalls die Annahme nahe, dass es Abfall als allgemeines gesellschaftliches Phänomen und Problem erst seit der Moderne gibt.

Der Übergang zur Konsumgesellschaft bedeutete eine anthropologische Revolution und einen kulturgeschichtlichen Wendepunkt in der Beziehung des modernen Menschen zu den Alltagsdingen. Zugleich erscheint er als ein markanter Moment der Beschleunigung der Abfallgeschichte. Standen frühere Zeiten im Zeichen von Knappheit und Mangel, so wurde unter den fordistischen Bedingungen industrieller Massenproduktion der Absatz von Waren zu einem grundlegenden Problem. Komplementär zum Anwachsen der Warenberge verschwanden mit den Speichern, Kellern, Ställen, Schuppen und Speisekammern Orte dauernder Aufbewahrung und daran geknüpfte Alltagskulturen und Formen des Zeitbewusstseins. Älteren Dingbeziehungen und Werthaltungen wie dem Sparen, Pflegen, Reparieren und Schonen haftete bald das Odium des Rückständigen und Antiquierten oder das Stigma der Armut an. Es entstand der neue Sozialcharakter des Verbrauchers, dem das Wegwerfen von Dingen, die noch funktionsfähig sind, unter den Bedingungen permanenter Innovation und Vermodung zur Selbstverständlichkeit wurde.[5] Der US-amerikanische Publizist Vance Packard lieferte Analysen der Verschleißproduktion (planned obsolescence) und eine Kritik an der zeitgenössischen, auf Kurzlebigkeit abgestellten Kultur, die er das Throwaway Age nannte.[6] Seit den 1970er Jahren rückte dann die sich herausbildende Ökologiebewegung die Kosten des neuen Produktionsregimes in den Blick: drohende Ressourcenknappheit, Umweltschäden und wachsende Entsorgungsprobleme, die sich im Symbol des Müllbergs verdichteten. In ihrem Klassiker Die Grenzen des Wachstums (1972) stellten Dennis Meadows et al. einen grundlegenden Widerspruch zwischen kapitalistischer Wachstumsökonomie und Ökologie fest. Seit der Jahrtausendwende werden unter dem neuen Epochenbegriff des Anthropozäns die sich katastrophisch zuspitzenden Folgen dieses Widerspruchs reflektiert. Die Persistenz des Grundkonflikts zeigt sich am Verhältnis zweier Leitsymbole: dem ins Unendliche weisenden Wachstumspfeil und dem Recycling-Symbol, in dem die kosmologische Idee der ewigen Wiederkehr und das Modell einer natürlichen Kreislaufökonomie fusionieren, die die bürgerliche Gesellschaft faktisch aber hinter sich gelassen hat.

›Überflüssige‹ Menschen

Hinter dem allgemeinen Gegensatz von Pfeillinie und Kreislauf stehen verschiedene soziale Gefällelagen. Giles Slade betrachtet es als ein Erbe des Kolonialismus, dass die rohstoffexportierenden Länder zugleich diejenigen sind, in die die reichen Länder ihren Müll entsorgen. In vielen Ländern fallen Müllkategorien und soziale Klassierungen zusammen. Beispielhaft hierfür stehen die zum Alltagsbild von Buenos Aires gehörenden Cartoneros oder die brasilianischen Catadores. Diese Menschen leben vom Verkauf wiederverwertbarer Reststoffe, die sie auf Müllkippen oder in den Straßen der Großstadt aufgesammelt haben, eine – häufig gesundheitsschädliche – Form der Sicherung der eigenen Existenzgrundlage. Die europäischen Vorfahren der Cartoneros und Catadores waren die Lumpensammler, die Chiffoniers.

Ein neues Phänomen in der jüngeren deutschen Alltagsgeschichte bildet die Erscheinung vornehmlich älterer Menschen, die – ausgerüstet mit Taschenlampen, Greifern und Rollwägelchen – einen Teil ihres Tages damit zubringen, Pfandflaschen zu sammeln oder in Müllbehältern nach Verwertbarem zu suchen. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat diese »Ausgegrenzten der Moderne« als »verworfenes Leben« bezeichnet und im Rahmen einer Kritik der »Flüchtigen Moderne« eine verallgemeinerte Abfalltheorie konzipiert, die die Produktion ›nutzloser‹, ›überflüssiger‹ Menschen einbezieht.[7] In seiner Interpretation von Becketts Endspiel hat Adorno einer solchen Theorie vorgearbeitet:

»Die Alten sind nach dem Maß der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sie nicht mehr leisten, überflüssig und wären wegzuwerfen. […] Das Endspiel schult für einen Zustand, wo alle Beteiligten, wenn sie von der nächsten der großen Mülltonnen den Deckel abheben, erwarten, die eigenen Eltern darin zu finden. Der natürliche Zusammenhang des Lebendigen ist zum organischen Abfall geworden.«[8]

Ähnliche Überlegungen finden sich zur selben Zeit bei Hannah Arendt. Die entfesselte Dynamik der Technik provoziert ihr zufolge das Schreckbild der Rückverwandlung des Menschen »in eine Art Schaltier«. Für sie hat die moderne Arbeit »gewissermaßen ein unnatürliches Wachstum des Natürlichen selbst entfesselt« – mit der paradoxen Konsequenz, dass des Menschen »wuchernde Fruchtbarkeit schließlich die Welt selbst und die produktiven Vermögen, denen sie ihre Entstehung verdankt, in ihrer Eigenständigkeit bedroht«.[9] Ihre Beobachtung allerdings, dass die Dinge nicht mehr die Menschen überdauern, wird durch neue Arten von Abfall relativiert. Allen voran durch eine, die sich »weder sinnlich wahrnehmen, noch stofflich tilgen, noch zeitlich überleben, sondern nur auf Jahrzehntausende einsperren und bewachen lässt: der Atommüll«.[10] Auf eine andere Art Abfall, die sich als side effect des Fortschritts der Technik ergibt, verweist ex negativo das unscheinbare Label biodegradable. Am Ende könnten es solche quasi unvergänglichen Arten des Abfalls sein, die die dauerhafteste Hinterlassenschaft der Menschheit bilden werden. Bei Günter Grass ist es die – kulturgeschichtlich mit Unrat und Abfall assoziierte – Ratte, die den Nachruf auf den Menschen hält:

»Wo der Mensch war, an jedem Ort, den er verließ, blieb Müll. Selbst auf der Suche nach letzter Wahrheit und seinem Gott auf den Fersen, machte er Müll. An seinem Müll, der Schicht auf Schicht lagert, war er, sobald man ihm nachgrub, jederzeit zu erkennen; denn langlebiger als der Mensch ist sein Abfall. Einzig Müll hat ihn überdauert.«[11]

Die Müllberge wären demnach die modernen Pyramiden, die nur noch Ratten an den Menschen erinnern.

 

[1] Giles Slade: Made to Break. Technology and Obsolescence in America, Harvard 2006.

[2] Vgl. Michael Thompson: Rubbish Theory. The creation and destruction of value, Oxford 1979, dt. Die Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981.

[3] Vgl. Sonja Windmüller: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem, Münster 2004, S. 21–37.

[4] Vgl. Ludolf Kuchenbuch: »Abfall. Eine Stichwortgeschichte«, in: Hans Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag, Göttingen 1988, S. 155–170.

[5] Vgl. Rainer Keller: Müll – Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen. Die öffentliche Diskussion über Abfall in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2009, S. 24 f.

[6] Vgl. Vance Packard: The Hidden Persuaders, London/New York/Toronto 1957; ders.: The Waste Makers, New York 1961, S. 7.

[7] Vgl. Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003, sowie ders.: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn 2005.

[8] Theodor W. Adorno: »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 11, S. 281–332, hier S. 311.

[9] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 181, S. 407.

[10] Kuchenbuch: »Abfall« (Anm. 4), S. 170.

[11] Günter Grass: Die Rättin, zit. nach Kuchenbuch (Anm. 4), S. 155.

 

Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder arbeitet im ZfL-Forschungsprojekt »Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte«. Am 15./16. November 2019 findet die von ihm mitveranstaltete Tagung »Verwalten – verwerten – vernichten. Kulturpoetische Formationen des Abfalls seit 1930« statt.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Falko Schmieder: Über den Abfall des Menschen, in: ZfL BLOG, 30.10.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/10/30/falko-schmieder-ueber-den-abfall-des-menschen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20191030-01

Der Beitrag Falko Schmieder: ÜBER DEN ABFALL DES MENSCHEN erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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