Architektur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/architektur/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 21 Jun 2024 07:35:08 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Architektur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/architektur/ 32 32 Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/ Thu, 20 Jun 2024 12:27:33 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3312 Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug Weiterlesen

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Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein ›Freilichtmuseum‹ der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen.

Die These, dass die kulturelle Moderne im damals noch sehr viel beschaulicheren Wilmersdorf begann, die steht also schon mal. Aber die Dokumentenlage – und auf die kommt es ihm immer und bei allem an – die ist leider, aber zum Glück für Detlev Schöttker, sehr dürftig. – Noch! Jetzt muss akribisch und mit viel Geschick rekonstruiert werden, wo der Lebensmittelladen stand, in dem Brecht und Simmel zusammengetroffen sein könnten, wer die Besitzer, die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser waren, die oft schon lange nicht mehr stehen. Alte Stadt- und Baupläne müssen gefunden, studiert und mit der jüngeren Stadtentwicklung abgeglichen werden, Postkarten mit unserem Vor-Vorgängerbau sind ausfindig zu machen und zu ersteigern. Es sind aber auch Kontakte zu knüpfen, Netzwerke müssen ausgebildet werden, Projekte geschmiedet, Kooperationen in die Wege geleitet und Ausstellungen geplant werden. Man kann davon ausgehen, dass Detlev Schöttker, der die Gegend seit letztem Jahr systematisch zu Fuß erkundet hat, in der näheren und ferneren Nachbarschaft längst bestens bekannt ist. Pünktlich zum 70. Geburtstag ist der Spurensucher einmal mehr in seinem Element. Wie es sich für einen Detektiv gehört, gibt er sein inzwischen akkumuliertes Wissen strategisch dosiert preis, wittert manchmal Konkurrenten und leidet unter Ignoranten. Er wird schon einmal etwas ungeduldig, wenn jemand versucht, seinen Elan zu bremsen. Er ist nämlich nicht nur ein so skrupulöser wie findiger Forscher, sondern er kann auch ziemlich laut poltern. Als ich ihm aber den neuen Status als Senior Fellow so behutsam wie möglich antrug, grummelte er etwas in sich hinein und war’s zufrieden. – Das ist, muss man schon sagen, eine eher seltene Reaktion.

Das Es-gut-sein-Lassen liegt Detlev Schöttker nämlich eigentlich nicht. Bis heute hat er es mit Walter Benjamin keinesfalls gut sein lassen. 1999 erschien im Suhrkamp Verlag Konstruktiver Fragmentarismus, dessen Untertitel Form und Rezeption erkennen ließ, wie die Deutung der fragmentarischen Form von Benjamins Schreiben in seiner Rezeptionsgeschichte fortwirkt: »So vollendet die Nachwelt, was Benjamin begonnen hatte.« 2006 erschien im gleichen Verlag die unschätzbare Studie über das Verhältnis von Arendt und Benjamin, die die Dokumente im Streit zwischen Scholem, Adorno und Arendt um Benjamins Nachlass erstmalig und mustergültig aufbereitete. 2007 folgte der ebenso wertvolle Kommentar zum vielleicht meistgelesenen Text Benjamins, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2015 in der vierten Auflage). Durchgängig zeichnen sich alle Publikationen und Herausgaben Detlev Schöttkers durch den Vortritt aus, den sie dem Material und den Dokumenten einräumen. Bestimmte und immer wichtige Texte in mühevoller Kleinarbeit mit so viel Sinn für das Detail wie übergreifende Relevanz erst einmal aus den Archiven geklaubt und, perfekt kommentiert, der Nachwelt zur Verfügung gestellt zu haben, gehört zu Detlev Schöttkers größten Verdiensten.

Unter den Dokumenten und Materialien spielen Briefe für ihn schon lange eine besondere Rolle, über die er wiederholt nachgedacht hat, etwa in dem Band Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung (2008). Als Dokumente verstanden, werden Briefe zu einer entscheidenden Schnittstelle zwischen der Person in der Zeitgeschichte, ihrem weiteren Umfeld und der Nachwelt. Aber zum dokumentarischen Charakter der Briefe gehören auch die Briefmarken und zu ihnen wiederum die Stempel. Und beides hat nicht nur ihn, sondern auch Walter Benjamin brennend beschäftigt, wie ein Beitrag in dem von ihm und Dirk Naguschewski gemeinsam herausgegebenen Band Philatelie als Kulturwissenschaft (2019) belegt.

Mit dem erst in jüngerer Zeit hinzugekommenen, manche unter den eingefleischten Benjamin-Expert*innen irritierenden, aber leidenschaftlich und ertragreich verfolgten Interesse an Ernst Jüngers gigantischem Briefkosmos hat sich Detlev Schöttkers Spürsinn neue Jagdgründe erobert und gesichert, die vielleicht nicht ewig, aber doch sehr lange vorhalten werden. Der unter dem Titel Einer der Spiegel des Anderen gemeinsam mit Anja Keith edierte und vielbesprochene Briefwechsel zwischen Gretha und Ernst erschien 2021. Derzeit arbeitet Detlev Schöttker mit Katja Schicht an der Edition des Briefwechsels der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Und das ist erst der Anfang.

Wer Dokumenten auf der Spur ist, kann sich an das Kleinformat einer Briefmarke mit oder ohne Stempel verlieren, aber es zeichnet Detlev Schöttker aus, dass er darüber die Monumente nicht vergisst, die Stein und Bau, Platz und Haus gewordene Geschichte. Ein 2010 im Merkur unter dem Titel Der Beobachter des Parterres erschienener Text über Architektur bei Kafka bildet den Auftakt seiner anhaltenden Auseinandersetzung mit Architektur und Stadtgeschichte. Bei DOM publishers erschien 2019 unter dem Titel Ästhetik der Einfachheit die Geschichte eines Bauhausprogramms, die mit Aristoteles beginnt und in der Spätmoderne endet. Detlev Schöttkers Moderne begann früh und ist noch nicht vorbei. Beim selben Verlag war bereits 2017 unter dem Titel Über Städte und Architekturen eine Anthologie mit Texten von Walter Benjamin erschienen. 2021 schließlich hat Detlev Schöttker mit Kollegen einen Band zu Architekturtexten der Wiener Moderne herausgegeben, darunter Bekanntes, aber auch sehr viel vordem Unbekanntes.

Die mit Architektur befassten Bücher und Editionen sind übrigens ausnehmend schön gemacht. Und zu Detlev Schöttkers Auseinandersetzung mit der Moderne gehört sein eigener an ihr und mit ihr entwickelter Sinn für das Ästhetische. Dieser Sinn lässt nichts aus und ist unbeirrbar. Jüngst waren für unser neues Domizil Möbel für die Lounge auszuwählen. Das uns dabei beratende Team eines Möbelausstatters (Tipp von Detlev Schöttker) hatte seine liebe Not mit uns. Es waren harte Kämpfe ums Ganze. Denn so geht es einem mit Detlev Schöttker: Immer steht mit jedem Detail alles auf dem Spiel. Das kann anstrengend sein, aber wir möchten ihn und seine Moderne nicht missen und zählen weiterhin auf beide.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: Detlev Schöttker zum 70. Geburtstag, in: ZfL Blog, 20.6.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240620-01

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Elke Schmitter: LET’S CALL IT NACHBARSCHAFT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/08/elke-schmitter-lets-call-it-nachbarschaft/ Thu, 08 Feb 2024 10:30:05 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3200 Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Weiterlesen

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Neujahrsempfang, Eberhard-Lämmert-Saal, Begrüßung durch Eva Geulen, Vorstandsvorsitzende der GWZ

Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Forschungsbibliotheken von ZfL und ZAS sowie der Eberhard-Lämmert-Saal. Während des Neujahrsempfangs, mit dem sich ZfL, ZAS und die GWZ am 11. Januar 2024 der unmittelbaren Nachbarschaft vorstellten, entstand die Idee zu dieser Glosse.

Die Redaktion

Der Zettel war klein, das Fenster war groß, dahinter der Bücher viele: So ein freundliches Rätsel am Rande der lauten Straße. Immer gerät man, war’s eben noch schön, an so eine Brache in dieser Stadt, die dem Fußgänger sagt: Hier bist du nicht bedacht. Hier waltet die Schneise, die dich vom anderen Ufer über sechs bis acht Spuren trennt, hier hat ein komatöser Nachkriegspolitiker mal auf den Planungstisch gehauen und einen Platz ausgerufen (der aus einer Kreuzung und einer Unbehaustheit besteht), und immer sind die Ampeln so geschaltet, dass die Kleinen und die Gebrechlichen auf dem Mittelstreifen noch mal daran erinnert werden, dass sie zu klein und zu gebrechlich sind für die Geschäftigen, die Motorisierten, die Durch- und Draufgänger des Verkehrs, die hier nichts suchen und erst recht nichts finden.

Neujahrsempfang, Blick von außen durch das Fenster in den Eberhard-Lämmert-Saal

Doch dann findet so ein Zettel dich und sagt: Wir ziehen hierher und freuen uns schon. Sind, leider schade, kein öffentlicher Ort, aber sprechen doch eine Art Willkommen aus; keine Aufenthaltsgarantie, doch eine Geste, die sagt: Es ist uns nicht egal, wo wir sind, und wir würden auch gerne bleiben.

Und drei Tage später klopfte ich an die Scheibe und ließ mir artig erklären, was für eine Bibliothek das ist (ohne schnippischen Verweis auf die Website, wo ja alles Nötige steht), und noch am Abend schrieb ich eine Mail, ob ich möglicherweise – als Autorin ohne wissenschaftlichen Auftrag – hin und wieder kommen könnte, um ein bisschen zu suchen, zu finden, zu lesen, für einen Roman mit Fußnoten, der gerade entsteht … Und bekam eine freundliche Antwort. Und wiederum zwei Tage später, im tristen Novembergrau, akkreditierte ich mich, ganz offiziell und zugleich angenehm formarm, und mein Blick schnürte einmal die kleinen und großen Gänge entlang, und ich dachte: Hier ist gut sein.

Und schon am übernächsten Tage war es so weit, ein kleiner, urbaner Schicksalsschlag: das Schlüsselmäppchen aus der Tasche gerutscht, darin frisches Geld, die EC-Karte; was einen so zur Bürgerin macht. Und wenn man zu denen gehört, die auf Handtaschen gern verzichten, auf Rucksäcke sowieso, und gern so durch die Straßen flanieren, als wären sie da zu Hause – dann ist das eben der triviale worst case. Dann läuft man noch ein bisschen die Wege ab, und bevor einem klar wird, dass man, natürlich, im Café Manzini oder im Café Piter auf das gewohnte Gesicht Kredit bekäme, um die Zeit zu überbrücken, bis die Mitbewohnerin kommt (und dem Novemberregen so zu entgehen): ist man schon so weit demoralisiert, dass man sich nicht mehr kreditwürdig fühlt.

Aaaber: Da gibt es ja diesen Ort … Und da durfte ich ja auch offiziell hin.

Und da war ich dann auch willkommen.

Legte den schnell dampfenden Mantel ab, ging ein paar Schritte hin und her, vor den Gängen und zwischen den Gängen, nahm die Ruhe auf, die aus den Gesichtern sprach und von den Buchrücken geradezu übersprang. Geriet durch glückliche Fügung in gerade jene Regalreihe, in der das Archiv für Begriffsgeschichte in allen Jahrgängen still und doch selbstbewusst prangt, und damit in aufs Angenehmste nerdig-konzentrierte Aufsätze des Bandes Trost (65,1; hrsg. von Carsten Dutt, Hubertus Busche und Michael Erler), in dem durch die Autoren Gerhard Schreiber und Martin Laube die Erwägungen von Kierkegaard und Blumenberg, von Rodin wie Koselleck miteinander zum Sprechen kamen. Interessant für mich als Ungläubige: Dass Kierkegaard den Trost des Christentums eben nicht als Wohltat versteht, die man spendet (für beispielsweise eine wie mich), dass er eben kein Ersatz sei »für den Verlust zeitlicher Freude, sondern selbst Freude ist, und zwar die der Ewigkeit«. Eine ultimative Hoffnung, für die es keine Begründung gibt, nur einen Entschluss, eine Art performative Selbstschleuderung ins Transzendente. Und dann, überraschend zornig oder auch bitter, vielleicht Adorno-geschult, ein Zitat des Theologen Henning Luther (sic!) von 1998: 

»Trost wird da zur Lüge, wo Sinn suggeriert wird und jeder Anflug eines Verdachts der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit unserer Lebensverhältnisse tabuisiert und verdrängt wird.«

Neujahrsempfang, Keynote Lecture Michael Mönninger, »Der Neubau ACHTUNDEINS und seine Nachbarschaft«

All das interessant für den Kopf, während der Körper, auch als atmosphärisches Wesen gedacht, den tatsächlichen Trost des Obdachs genoss, das ich hier gefunden hatte. Und der mich natürlich bindet, weshalb ich ein glücklicher Gast dieses Hauses zu nennen bin. Erst recht nach der splendiden nachbarschaftlichen Öffnung und Feier am 11. Januar 24, bei der Michael Mönninger historisch-kritischen Aufschluss gab über den Kontext dieser neuen Immobilie, ihre berlintypische Verwobenheit in architektonische wie menschliche Bill wie Unbill; Fuge, Fügung, alles dabei. Als würde die Stadt, dürstend nach Schönheit und städtebaulichem Verstand, abwechselnd aus Lethe und Mnemosyne trinken. Im Unterschied zu den Eröffnungspartygästen, die ganz anderes zu sich nahmen. Aber mit garantiertem Mnemosyne-Effekt!

Elke Schmitter ist Journalistin und Schriftstellerin und wohnt in der Nachbarschaft des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Elke Schmitter: Let’s Call It Nachbarschaft, in: ZfL Blog, 8.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240208-01

 

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Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/ Fri, 06 Mar 2020 08:54:56 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1362 Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen Weiterlesen

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Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen mit den Veränderungen unserer städtischen Umgebung. Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts (2018), ein Buch der Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner, widmet sich auf originelle Weise speziell der Berliner Stadtlandschaft: »Gegenüber der Formgeschichte und dem Interesse an Strukturmerkmalen«, so Wagner über ihren Ansatz, »stehen vielmehr Beobachtungen alltäglicher Symptome im öffentlichen Raum der Stadt zur Debatte« (S. 11).

Komplementär dazu lässt sich das Buch des Architekten und Städtebauhistorikers Vittorio Magnago Lampugnani lesen, Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum (2019). Am Beispiel von – wie er es nennt – »Mikroarchitekturen« (etwa der Telefonzelle), »Objekten« (darunter der Abfallkorb und das Straßenschild) und »Elementen« (z. B. Schaufenstern) schärft er das Bewusstsein für die Vielfältigkeit unserer urbanen Umwelt. Sein Buch ist als ein Glossar angelegt, dessen Geschichten hinter den »kleinen Dingen« einander ähneln: Aus einer praktischen Notwendigkeit, die sich aus einer veränderten sozialen oder technologischen Situation ergibt (Industrialisierung, Aufschwung von Handel und Kommerz, Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel), entsteht etwas Neues, dessen Verbreitung in der Stadt – in der Regel – von den Kommunen finanziell zu stemmen ist:

»Jedes kleine Objekt des Stadtraums ist ein Ort, wo konkrete Bedürfnisse zu einer materialisierten Form finden.« (S. 11)

Während Wagner sich ganz auf Berlin konzentriert, beginnt Lampugnani viele seiner lehrreichen Einträge mit einer Rückschau auf die urbanen Zentren der Antike, um dann die Geschichten seiner Gegenstände durch Ausflüge in die europäischen Metropolen zu verfolgen – bevorzugt London, Paris oder eben auch Berlin. Architektur, Ästhetik und Kritik lassen sich bei dieser Form der Stadterkundung nicht trennen, denn »[d]ie kleinen Dinge im Stadtraum sind […] funktional, technisch und ökonomisch bestimmt und haben dabei oft einen hohen gestalterischen Anspruch« (S. 8). Da Lampugnani diesen Anspruch aber mehr und mehr schwinden sieht, verschafft sich in nicht wenigen seiner Einträge am Ende die mahnende Stimme des Kulturkritikers Gehör. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht das Fazit seiner Ausführungen zum Kiosk:

»Heute, da es kaum mehr Stadtarchitekten gibt, weil diese Position in der Verwaltung faktisch abgeschafft wird, um der Politik mehr Spielraum zu gewähren, werden Gestaltung und Unterhalt der modernen Kioske privaten Firmen überlassen. Sie achten Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und eine gewisse modische Eleganz; Verantwortung für die Stadt und ihre Identität übernehmen sie nicht.« (S. 23)

So mancher Neuerung steht er deshalb skeptisch gegenüber. Kritik erntet beispielsweise die »Gedankenlosigkeit, mit der heute Bänke im städtischen Raum aufgestellt werden«, was aus seiner Sicht zur Verbreitung von »urbanem Kitsch« (S. 80) beitrage. Bei jeglicher Stadtmöblierung, da ist Lampugnani zuzustimmen, geht es eben nicht nur um Funktionalität und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch um ästhetische Fragen, die Auswirkungen auf die spezifische Kultur und Identität konkreter soziale Räume haben. Jedes dieser Dinge, etwa die Straßenlaterne, trägt »städtebauliche Verantwortung« (S. 89). Die Identität einer Stadt wird demnach von langlebigen Objekten (dem Brunnen, dem Straßenschild) ebenso geprägt wie von vergleichsweise kurzlebigen; man denke nur an die grellorangen Straßenmülleimer der Berliner Stadtreinigung mit ihren witzigen Sprüchen, die über die Grenzen der Stadt zu deren frischen Image beigetragen haben. Lampugnanis Ausführungen sind somit nicht frei von normativen Vorstellungen, im Gegenteil. Stadtplaner*innen, Architekt*innen und Kommunalpolitiker*innen täten gut daran, sich eingehender mit ihnen auseinanderzusetzen.

Um Kultur und Identität des städtischen Raums geht es auch bei Monika Wagner. Entlang einiger Beispiele, die ausschließlich dem Berliner Stadtraum entstammen, unternimmt sie »eine historische Rekonstruktion der Produktion, Funktion und Bewertung von Oberflächen sowie der durch sie erzeugten Atmosphären« (S. 11). Die Oberflächen, die sie in den Blick nimmt (Asphalt, Glas, Beton, Naturstein, Keramik usw.), markieren dabei eine Grenze zwischen dem Innenraum der Häuser und ihrem Außen, eine Grenze, mit der die Menschen in der Stadt fortwährend in Berührung geraten. Was eingangs noch ein wenig nüchtern klingt, wird zu einem faszinierenden Parcours durch die jüngere Architekturgeschichte Berlins. Mit dem Aufstieg zu einer Metropole der Moderne in den 1920er Jahren beginnend, widmet sich Wagner im Hauptteil ihres Buches vergleichend der Ausgestaltung von Stalinallee und Hansaviertel, bevor sie abschließend die Friedrichstraße nach dem Fall der Mauer erreicht.

Anhand der nach dem Ersten Weltkrieg vorangetriebenen Asphaltierung der Straßen beschreibt sie die grundsätzliche Ausdifferenzierung der großstädtischen Bevölkerung in Autofahrer und Fußgänger, denen sich die Oberflächen unterschiedlich darstellen. Während die Fußgänger auch weiterhin mit den Oberflächen der Häuser und Straßen in engeren Kontakt kamen (auf dem Gehweg, beim Blick ins Schaufenster), nahmen die Menschen in den Autos Straßenbeläge nur noch vermittelt und die Fassaden der Häuser als rhythmisierte Bewegtbilder wahr. Diese wurden zusätzlich akzentuiert durch Glas und Licht als Elementen einer modernen Architektur, die ihre materiellen Grundlagen zum Verschwinden bringen wollte. Ausführlich bespricht Wagner die Wirkung von Fassadengestaltungen unter den Aspekten Horizontalität und Vertikalität. Sie beruft sich dafür u. a. auf Erich Mendelsohn, verantwortlich für den Umbau des Mossehauses, der die Horizontale mit Demokratie und Freiheit assoziiert, und auf Siegfried Kracauer, der die Vertikale als Ausdruck staatlicher Gewalt interpretiert. Doch erst im komplexen Zusammenspiel der Linien entstehen in der realen Stadt Effekte, die von Bewohner*innen und Besucher*innen abhängig von der jeweiligen historischen Perspektive wahrgenommen werden und differenzierter Interpretationen bedürfen.

Nach dem Krieg und der Teilung Berlins herrschten in Ost und West unterschiedliche Vorstellungen vom öffentlichen Raum, und dabei gerieten auch die Oberflächen zu einem »Schauplatz der Systemkonkurrenz« (S. 12). »Dem öffentlichen Raum der Stadt als Ort staatlicher Repräsentation, sozialer Gemeinschaftsbildung und wechselseitiger Kontrolle kam in der DDR höchste Aufmerksamkeit zu«, schreibt Wagner (S. 70). Sie zeigt dies an der heutigen Karl-Marx-Allee, die im Krieg zerstört und ab 1951 als Stalinallee neu bebaut wurde. Die mehrspurige Fahrbahn, die auch für Aufmärsche herzuhalten hatte, wurde dabei durch monumentale Fassaden gesäumt. Zwar kamen hier überwiegend die gleichen Materialien zum Einsatz, doch die einzelnen Fassaden wurden im Detail unterschiedlich ausgestaltet; dies erschließt sich dem Fußgänger in der Nahsicht aber tatsächlich sehr viel eindrücklicher als dem Autofahrer. Lange Zeit für ihren ›Zuckerbäckerstil‹ verachtet, sind die Wohnhäuser heute wieder extrem angesagt. Im Westteil wurde demgegenüber 1957 das – heute ebenfalls ausgesprochen populäre – Hansaviertel mit seinen freistehenden Hochhäusern inmitten eines durchgrünten Stadtraums präsentiert.[1] So unterschiedlich die beiden städtebaulichen Ansätze auch in politisch-ideologischer Hinsicht waren, sieht Wagner doch Gemeinsamkeiten, was die »erstaunliche Materialvielfalt und die taktilen Angebote« betrifft (S. 95), zumal im Vergleich zum Neuen Bauen der 1920er Jahre mit seinen glatten Oberflächen. In »Einsatz und Gestaltung der Materialien« (ebd.) unterscheiden sich die beiden Vorzeigeprojekte gleichwohl. Überzeugend vertritt Wagner die These, dass in beiden Fällen »Oberflächen aus Naturstoffen und handwerklich verarbeiteten Materialien« geschaffen worden seien, deren Verwendung in Westberlin aber auf eine Integration von modernem Wohnen inmitten gestalteter Natur abgezielt habe, während »die Handwerklichkeit der Oberflächen der Stalinallee […] die Integration in eine Gemeinschaft der Werktätigen« verfolgt habe (S. 110).

Wagner widmet sich überaus anschaulich den Materialien, die den Gebäuden der Stalinallee im Zusammenspiel mit vielfältigen architektonischen Elementen (Balkone, Balustraden, Kolonnaden usw.) abwechslungsreiche Reliefstrukturen verleihen. Anfänglich ließ sich die Opulenz dieser Fassadengestaltung noch als Ausdruck des Reichtums der neuen sozialistischen Gesellschaft deuten, zeugte diese doch nicht zuletzt von großer handwerklicher Kunst. Doch schon bald wollte dieser Stil nicht mehr so recht zur Politik der DDR passen, die an einer stärkeren Industrialisierung des Bauens interessiert war – und deren Verwirklichung dann später in den monotonen Plattenbauten der 1970er Jahre ihren prägnantesten Ausdruck fand. Noch heute bemerkenswert sind die unterschiedlichen Kacheln, die symbolisch »zwischen Tradition und Innovation, zwischen Handwerk und Industrie« (S. 81) stehen. Ihr Ausgangsmaterial Ton, »der ideale Alleskönner«, wird von Wagner als »Scharnier zwischen den materiellen Produktionsbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der staatlichen Gemeinschaftsideologie und der Ästhetik des ›kleinen Mannes‹« interpretiert (S. 84). Dies zeigt sich besonders schön auch an den Bildprogrammen, die sowohl auf den Kacheln als auch an skulpturalen Elementen zum Einsatz kommen (etwa den Keramikreliefs am von Richard Paulick gestalteten Block C der Stalinallee, die deren Aufbau illustrieren).

Zur Stützung ihrer übergeordneten These legt Wagner in ihrer Interpretation des Hansaviertels ein besonderes Augenmerk auf die Gestaltung der Fußgängerwege, deren unregelmäßige Ränder Weg und Grünfläche ineinander übergehen lassen. Ausführlicher betrachtet sie auch den Bau der Akademie der Künste von Werner Düttmann, bei dem u. a. Backstein, Marmorkiesel und Kupfer verwendet wurden:

»Die Materialien betonen ihre Herkunft aus der Natur und evozieren eine scheinbar einfache, handwerkliche Bearbeitung. Damit verstärken sie das Konzept der Stadtlandschaft als Versöhnung von Natur und Moderne.« (S. 109)

Wagners Buch eignet sich hervorragend als Vademecum für ausgedehnte Spaziergänge, sei es durch das Hansaviertel, sei es entlang der Karl-Marx-Allee – oder auch in der neuen Mitte Berlins, wo heute die unterschiedlichsten Architekturstile aufeinandertreffen, in denen das Glatte (Glas, Marmor etc.) und das Raue (etwa Schrottskulpturen, Spolien u. a.) neben- und miteinander angeordnet sind. Hier finden sich städtische Räume – wie etwa die Friedrichstadt-Passagen –, deren Schaffung sich offensichtlich in erster Linie der Logik von Investoren verdankt und weniger urbanistischer Einsicht und Erkenntnis. Beide Bücher tragen dazu bei, derartige Eindrücke zu erklären.

[1] Es ist beispielsweise Schauplatz eines Romans von Helene Hegemann, Bungalow (2018).

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Dirk Naguschewski ist am ZfL zuständig für Wissenstransfer und Kommunikation.

Dieser Text steht unter der Lizenz CC BY‑NC‑ND 3.0 Germany.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Dirk Naguschewski: Auf Tuchfühlung mit deiner Stadt. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani, in: ZfL BLOG, 6.3.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200306-01

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Uta Kornmeier: DER ARCHITEKT ALS ARZT. Zu Beatriz Colominas »X-Ray Architecture« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/09/27/uta-kornmeier-der-architekt-als-arzt-zu-beatriz-colominas-x-ray-architecture/ Fri, 27 Sep 2019 09:07:24 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1188 Tuberkulose hat die moderne Architektur modern gemacht. Das ist eine der prägnanten Thesen des Buches X-Ray Architecture der Architekturhistorikerin und ‑theoretikerin Beatriz Colomina (Zürich: Lars Müller Publishers, 2019). Darin geht sie in fünf essayistischen Kapiteln den Wechselwirkungen zwischen Medizin und Architektur im 20. Jahrhundert nach. Am Beispiel der Tuberkulose und deren wichtigstem diagnostischen Instrument, der Weiterlesen

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Tuberkulose hat die moderne Architektur modern gemacht. Das ist eine der prägnanten Thesen des Buches X-Ray Architecture der Architekturhistorikerin und ‑theoretikerin Beatriz Colomina (Zürich: Lars Müller Publishers, 2019). Darin geht sie in fünf essayistischen Kapiteln den Wechselwirkungen zwischen Medizin und Architektur im 20. Jahrhundert nach. Am Beispiel der Tuberkulose und deren wichtigstem diagnostischen Instrument, der Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen, führt sie die enge Verschränkung medizinischer und architektonischer Diskurse in der Moderne vor.

Es sind besonders zwei Teilbereiche der Tuberkulosemedizin, die Colomina in den Mittelpunkt rückt. Wäre sie selbst Medizinerin, hätte sie diese vielleicht Ätiologie und Sichtbefund genannt: Die Ätiologie betrifft die Entstehungsbedingungen der Krankheit und wie diesen mit Hilfe der Architektur begegnet werden kann; der Sichtbefund die überraschend ähnlichen visuellen Darstellungsformen in Architektur und Medizin. Colomina entwickelt daraus die These, dass wir die Architektur einer Zeit erst zur Gänze begreifen, wenn wir das zeitgenössische medizinische Bild des (kranken) Körpers mitbedenken. Angeregt wurde sie zu diesen Beobachtungen u. a. durch Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher, in dem Sontag den metaphorischen oder bildlichen Gebrauch von Krankheiten wie Tuberkulose und Krebs für bestimmte ökonomische und soziale Situationen kritisiert. Da die Tuberkulosebekämpfung nicht in einem kausalen Verhältnis zu den neuen Eigenschaften moderner Architektur steht, ist Colominas Bezeichnung »Röntgen-Architektur« für die Baukunst der Moderne ebenso metaphorisch zu verstehen.

Medizin und Architektur

In groben Zügen zeichnet Colomina nach, wie der medizinische und der architektonische Diskurs seit der Antike miteinander verknüpft sind. So galt dem römischen Baumeister Vitruv der menschliche Körper als Vorbild für Bauwerke, und er empfahl seinen Schülern, zusätzlich Medizin bzw. Anatomie zu studieren. Seit der Renaissance fallen Ähnlichkeiten zwischen Medizin und Architektur vor allem im praktischen Vorgehen auf: Sowohl Mediziner als auch Architekten visualisierten und studierten Strukturen und Details von Körpern und Räumen mit Hilfe von Gipsabgüssen, Modellen und Schnittbildern. Als Kronzeuge dient hier Leonardo da Vinci, der in seinen anatomischen Skizzen das Innere des Schädels und des Uterus darstellte, als wären sie von einem Architekten mit Zirkel und Elle konstruiert – tatsächlich war in der Vorstellung der Zeit die Welt ja auch von einem göttlichen Baumeister erschaffen worden. Spätestens im 19. Jahrhundert bildeten sich in der Architektur Darstellungskonventionen heraus, die direkt aus anatomischen Traktaten und Atlanten übernommen zu sein scheinen, wie beispielsweise die ›gesprengte‹ Darstellung mit axial auseinandergezogenen Strukturen und der sezierte (Bau-)Körper mit angeschnittenen oder ›gefensterten‹ Wänden und Dächern, deren Sektionsschnitte Einblicke ins Innere geben.

Colomina geht über diese durchaus bekannte visuelle Beziehung zwischen medizinischen und architektonischen Bildern hinaus, wenn sie behauptet, dass sich mit dem Aufkommen der Radiologie nicht nur die medizinischen Darstellungen verändern, sondern auch die Darstellungsweise und am Ende die gesamte Ästhetik der modernen Architektur. Tatsächlich ist die Ähnlichkeit zwischen Röntgenbildern und den Entwürfen und Fotografien moderner Architektur zuweilen verblüffend, etwa bei Mies van der Rohes berühmtem Entwurf für ein Hochhaus in der Berliner Friedrichstraße von 1921. Mit seiner Glashaut und der Stahlskelettkonstruktion kommt der Entwurf der Röntgenaufnahme eines Brustkorbes mit transparenten Körperkonturen und dunklen Knochenschatten sehr nahe. Ein Vergleich dieser Bilder wird in dem opulent illustrierten Buch, das immer wieder Doppelseiten für Bildstrecken nutzt, nur suggeriert, die Bilder werden nicht direkt gegenübergestellt. Klugerweise konstruiert die Autorin keine mimetische Beziehung zwischen Architektur und Röntgentechnologie, sondern zeigt die parallele Entwicklung in beiden Bereichen auf, wobei zumindest die Architekten sehr genau verfolgten, was in der zeitgenössischen Medizin diskutiert und visualisiert wurde. Die Abbildungen funktionieren dabei ebenso als Argumente wie die Textzitate aus den Schriften der Architekten und Kritiker. In Hinblick auf diese Funktion und die interessante Zusammenstellung der Bilder hätte das Buch durchaus ein größeres Format verdient.

Architektur als medizinisches Instrument

Sobald sich Architekten für Fragen der Gesundheit und die Optimierung des Körpers interessieren, präsentieren sie ihre Bauten als medizinische Maßnahmen zur Steigerung des Wohlbefindens. Colomina führt hierzu unter anderem Le Corbusier, Rudolph Michael Schindler, Richard Neutra sowie Alvar und Aino Aalto an, zu deren ikonischen Entwürfen auch Sanatorien gehörten oder Privathäuser, die wie Heilanstalten funktionieren sollten.

Dunkle, enge Räume, die mit Staubfängern vollgestellt waren, feucht und ohne ausreichende Belüftung, dazu ein sitzender, bewegungsarmer Lebensstil, daraus folgende Erschöpfung und Depression – all dies galt im 19. Jahrhundert als Auslöser für Schwindsucht oder Tuberkulose. Als Robert Koch 1882 das Tuberkulosebakterium entdeckte, wurde mangelnde Hygiene nahtlos in diese Reihe eingefügt. Die Architekten reagierten darauf mit einem radikalen Verzicht auf Ornament und Dekoration und schufen großzügige, offene Räume mit klaren Linien und schlichten weißen Wänden.

Abb. 1

Das Röntgenbild, das nach 1900 zur Diagnose und Überwachung des Krankheitsverlaufes allgegenwärtig wurde, normalisierte zudem den Anblick transparenter Körperoberflächen und den Blick ins Innere. Die Architektur schuf zur gleichen Zeit gläserne Fassaden, transparente Wände und Außenräume für ein Leben in Licht, Luft und Sonne (Abb. 1 zeigt den Zusammenhang exemplarisch auf einer Buchseite). In Zusammenarbeit mit Ärzten entstanden nun Gebäude, die den Körper nicht mehr nur schützten, sondern ihn auch formten, indem sie Terrassen für Sonnenbäder und Sporträume fürs tägliche Training zur Verfügung stellten. Außerdem waren sie mit Klimaanlagen und speziellen Sitzmöbeln ausgestattet, die das Atmen und Abhusten erleichtern sollten, wie zum Beispiel die Sessel für Aaltos Sanatorium in Paimio.

Doch dem Schutz vor bakterieller Infektion galt nur eine Sorge der ›therapeutischen‹ Architektur der Moderne, hinzu kam noch die Aufmerksamkeit für den Zustand der Psyche. Die »modernen Nerven«, wie der Architekt Adolf Loos es nannte, galten als durch den Schock der Industrialisierung, die Geschwindigkeit der neuen Technologien, die Großstadterfahrung und schließlich das Trauma des Krieges zerrüttet. Der Verzicht aufs Ornament wurde daher auch nicht ästhetisch oder hygienisch begründet, sondern neurologisch. Loos argumentierte in seiner einflussreichen Schrift Ornament und Verbrechen, dass die Menschen in der Moderne es nicht mehr ertragen könnten, wie in früheren Jahrhunderten zu essen, sich zu kleiden und sich einzurichten: Die alten Verzierungen gingen ihnen buchstäblich auf die Nerven. Die neue Architektur und Innenausstattung sollten dagegen eine beruhigende, ja anästhetisierende Wirkung auf ihre Bewohner haben, so Colomina: »Jeder Raum wurde nun zu einem Aufwachraum, jedes Gebäude zu einem Traumazentrum. Architektur entwickelte sich zu einem psychologischen Handwerk« (S. 37, alle Übersetzungen UK). Weiße Wände und klare Linien waren ein Widerstand gegen die »Droge des Ornaments«. Ein Beispiel hierfür ist Richard Neutras Health House für den Alternativmediziner Philip Lovell. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichneten die Designer und Architekten Charles und Ray Eames das Zuhause sogar als einen psychologischen »Stoßdämpfer«, in dem der Schock einer möglichen nuklearen Vernichtung durch gutes Design absorbiert werden könnte: »Der Bewohner ist ein Patient, und die Moderne ist Krankheit und mögliche Heilung zugleich«, konstatiert Colomina (S. 55). Es ist erstaunlich, was die Zeitgenossen dem modernen Design alles zutrauten.

Die Transparenz des Röntgenbildes

Ob Psychoanalyse oder Bakteriologie, Mikroskopie oder Röntgenstrahlen – die Medizin der Jahrhundertwende zeigt eine Tendenz zur Innenschau und Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Analog dazu vergleicht Colomina das Betreten eines modernen Gebäudes mit dem Betreten eines medizinischen Apparats: »Architektur dient hier weniger dem Schutz als vielmehr dem Ausstellen oder Sichtbarmachen – wie bei einer Röntgendurchleuchtung« (S. 117).

Die neue Transparenz, durch die die Geheimnisse des Inneren sichtbar werden, wurde aber als Angriff auf das Private und die Intimsphäre begriffen. Als eine Form visueller Zudringlichkeit löste sie Scham und Angst vor Kontrolle aus. Gern wird in diesem Zusammenhang, auch von Colomina (S. 132), eine Zeitungsannonce für röntgensichere Unterwäsche erwähnt, die nach 1900 vor anzüglichen Blicken schützen sollte. Einen konkreten Nachweis für diese Werbung bleibt leider auch sie schuldig. Die Anti-Röntgen-Unterwäsche hat es vermutlich nie gegeben, sie ist ein satirischer Einfall, der gleichwohl die Ambivalenz der Röntgenstrahlen auf den Punkt bringt: Diese stellen einerseits eindeutiges und unverstelltes Wissen in Aussicht, das zu Gesundheit und Sicherheit beiträgt, drohen aber zugleich Intimes, Verdrängtes oder Zensiertes ans Licht zu bringen. Da die Strahlen vom Menschen nicht wahrgenommen werden, können sie unbemerkt und ohne Einwilligung zum Einsatz kommen. Für die Betroffenen ist dabei unberechenbar, was sie zutage fördern. Damit verlieren die Menschen die Kontrolle über ihr Bild oder, allgemeiner gesagt, ihre Daten, sie können nicht entscheiden, welche Informationen sie mit wem teilen möchten.

Colominas Überlegungen lassen sich noch weiterführen. Denn nicht nur die moderne Architektur wurde zeitgleich mit der Röntgentechnologie entwickelt, sondern auch das anatomische Modell des Gläsernen Menschen, das 1930 auf der Hygieneausstellung in Dresden ausgestellt war. Während sich die Angst vor der Ausspähung durch Röntgenstrahlen schnell legte, erlebte das Konzept des ›gläsernen Menschen‹ Ende des 20. Jahrhunderts als Sinnbild einer übersteigerten Datenerfassung eine Renaissance. Und die Angst vor der unwillentlichen Entblößung kehrte mit Entwicklung der Tetrahertz- oder Röntgen-Körperscannern, sogenannten Nacktscannern, ebenfalls zurück – inklusive Internetseiten, die von der Entwicklung undurchleuchtbarer Unterwäsche berichten. Es ist also nach wie vor so, dass die Transparenz der Außenhülle für unsichtbare Strahlen nicht nur Faszination, sondern auch Unbehagen hervorruft.

Abb. 2

Für Colominas Argument ist wichtig, dass die ersten radiologischen Durchleuchtungskontrollen auf fluoreszierenden Röntgenschirmen gemacht wurden. Versteht man den Bildschirm als Vermittler zwischen Innen und Außen, lässt sich diese Logik auf die moderne Architektur übertragen. Dabei tritt der Bildschirm selbst (oder eben die Glasfassade) in den Hintergrund, um nur mehr ein Geisterbild des Inneren übrig zu lassen:

»Die Röntgen-Architektur […] gibt den Effekt eines Röntgenbildes wieder, nicht den der Röntgenstrahlen. Es wird nicht eigentlich das Innere des Gebäudes zur Schau gestellt, sondern das Gebäude repräsentiert den Akt der Zurschaustellung oder Offenlegung. Und diese Offenlegung findet auf einem Bildschirm statt« (S. 135).[1]

Das Röntgenhafte an der modernen Architektur wäre also nicht in ihrer Funktion als Durchleuchtungsmaschine zu bestimmen, sondern in ihrer Wirkung als ein Medium der Offenlegung (Abb. 2).

Die Assoziation von Glashaus und Röntgenbild ist spätestens seit den 1930er Jahren etabliert. Demnach fungiert das Glashaus mit seiner Transparenz als ein Symbol sowohl der Überwachung wie der Gesundheit. Die Ärztin Edith Farnsworth etwa sagte über ihr von Mies van der Rohe entworfenes Ferienhaus in Illinois: »Bei mir steht der Müll nicht unter der Spüle. Wissen Sie, warum? Weil man die gesamte ›Küche‹ von der Straße aus einsehen kann und der Mülleimer den Anblick des ganzen Hauses verderben würde. Also verstecke ich ihn in einem Schrank etwas weiter weg vom Spülbecken. […] Ich kann nicht mal einen Kleiderbügel in mein Haus hängen, ohne zu überlegen, wie das von außen aussieht. Ein Möbelstück aufzustellen wird zu einem Riesenproblem, weil das Haus so durchsichtig ist wie ein Röntgenbild« (S. 145f.). Sie fügt hinzu: »Es gibt schon ein Gerücht in der Gegend, dass es ein Tuberkulosesanatorium sei.«

Hyper-Öffentlichkeit

Colomina beschließt ihr Buch mit zwei kurzen, eher assoziativen Kapiteln über Transparenz und Überwachung in der modernen und zeitgenössischen Architektur: So betrachtet sie Glas als architektonischen Werkstoff sowohl der Transparenz als auch des Verschleierns und führt den Vergleich von medizinischen Darstellungstechniken und Architektur noch weiter bis zu den Durchleuchtungsmedien MRT und Körperscanner und den von ihnen generierten digitalen Bildern. Hier wird einmal mehr deutlich, dass Colomina nicht über umbaute Räume spricht, die von Menschen benutzt werden und in konkreten sozialen und politischen Kontexten stehen. Vielmehr versteht sie Architektur hauptsächlich als Bild, als etwas Entworfenes, Fotografiertes oder Modelliertes.

Insgesamt präsentiert sie den architektonischen Diskurs der Moderne mit alleinigem Fokus auf seine Beziehung zur Medizin. Das macht die Argumentation nachvollziehbar und erleichtert den neuen Blick auf die Architektur; es beschleicht die Leserin aber auch das Gefühl, dass die Geschichte teils sehr vereinfacht dargestellt wird. Die in den 1920er und 30er Jahren so wichtigen Konzepte der Hygiene und Körperertüchtigung werden beispielsweise ganz unter dem Begriff der Medizin subsumiert, obwohl sie doch weit darüber hinausgingen.

Colomina selbst geht es aber auch gar »nicht darum, die Beziehung [zwischen Architektur und Medizin] festzuschreiben und zu verknöchern, sondern sie zu reaktivieren, zu öffnen, ein Nachdenken anzuregen […] und die Leser einzuladen, nochmal hinzuschauen und moderne Architektur mit anderen Augen zu sehen« (S. 11). Diese Darstellung der modernen Architektur mag zwar die Architekturgeschichte nicht revolutionieren, sie ist aber originell und ausgesprochen anregend. Nicht zuletzt hilft sie die Frage zu beantworten, wo denn der Einfluss der visuell so viel Aufsehen erregenden Radiographie auf die Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geblieben ist.

 

[1] Ausführlich schreibt Colomina über die Bedeutung des Röntgenschirms als spezifisches Medium der Durchleuchtungsbilder. Welche besondere mediale Funktion sie dabei allerdings im fluoreszierenden Bildschirm entdeckt, ist unklar, denn das beschriebene Transparenzphänomen, dass der Bildträger zugunsten der Darstellung unsichtbar wird, trifft gleichermaßen auf das Röntgenbild zu, das auch als fotografisches Bild auf Glas oder transparenter Folie kursierte.

 

Die Kunsthistorikerin Uta Kornmeier leitet am ZfL das DFG-Forschungsprojekt »Intime Bilder. Die Geschichte kunsthistorischer Radiographie«.

 

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Uta Kornmeier: Der Architekt als Arzt. Zu Beatriz Colominas »X-Ray Architecture«, in: ZfL BLOG, 27.9.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/09/27/uta-kornmeier-der-architekt-als-arzt-zu-beatriz-colominas-x-ray-architecture/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190927-01

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Tatjana Petzer: ARCHITEKTUR DER EINHEIT – Berlins Fernsehturm https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/09/18/tatjana-petzer-architektur-der-einheit-berlins-fernsehturm/ Mon, 18 Sep 2017 08:13:26 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=504 Am 3. Oktober begeht der 1969 eingeweihte Berliner Fernsehturm seinen Jahrestag [Abb. 1: Berliner Fernsehturm, im Vordergrund das Deutsche Historische Museum]. Seit einigen Jahren wird hier in dem auf 207 m Höhe gelegenen Drehrestaurant Sphere, ehemals Tele-Café, das »Einheits-Menü« aus kulinarischen Ost- und West-Spezialitäten serviert. Dass das einstige Wahrzeichen der DDR nach dem Mauerfall rasch zum Weiterlesen

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Am 3. Oktober begeht der 1969 eingeweihte Berliner Fernsehturm seinen Jahrestag [Abb. 1: Berliner Fernsehturm, im Vordergrund das Deutsche Historische Museum]. Seit einigen Jahren wird hier in dem auf 207 m Höhe gelegenen Drehrestaurant Sphere, ehemals Tele-Café, das »Einheits-Menü« aus kulinarischen Ost- und West-Spezialitäten serviert. Dass das einstige Wahrzeichen der DDR nach dem Mauerfall rasch zum Symbol des wiedervereinten Deutschlands avancierte, verdankt es nicht allein seinem heutigen Betreiber, der Deutschen Telekom, die mit eindrucksvollen Außenverkleidungen der Turmkugel zu besonderen Anlässen auch für Deutschland wirbt. Es ist die in der Tradition von Kugelbauten stehende sphärische Konstruktion selbst, die eine architektonische Vision gesellschaftlicher Einheit verkörpert.

Neues Zentrum

Nach der Gründung der DDR galt es, das Gebiet um das im Krieg zerstörte Stadtschloss gemäß den Prinzipien des sozialistischen Städtebaus umzugestalten. Hier sollte der politische Mittelpunkt Ost-Berlins entstehen, wo Aufmärsche und Volksfeiern stattfinden konnten, gerahmt von einer monumentalen Silhouette und einem zentralen  Regierungsgebäude am Ufer der Spree. Ein führender Entwurf dafür stammte von Richard Paulick, der in der Vorkriegszeit Assistent bei Walter Gropius gewesen war, sich als DDR-Architekt aber vom Modernismus verabschieden musste. Sein massives Regierungshochhaus orientierte sich am Vorbild von Boris Iofans Entwurf des für das Stadtzentrum des Neuen Moskau geplanten »Palasts der Sowjets« von 1934, den Stalin persönlich in Höhe und Gestaltung verändert hatte. Mit 415 m sollte der Palast als höchstes Gebäude der Welt das Empire State Building in New York ablösen; doch der Bau kam nicht über das Fundament hinaus und wurde in den 1950er Jahren verworfen.

Unter Druck geriet die DDR-Regierung durch den städtebaulichen Wettbewerb »Hauptstadt Berlin«, den der West-Berliner Senat und der Deutsche Bundestag am 26. Oktober 1955 beschlossen und für 1957/58 ausgeschrieben hatte. An renommierte Architekten wie Le Corbusier in Paris, Hans Scharoun in Berlin und Adolf Ciborowski in Warschau war die Aufgabe herangetragen worden, die zerstörte alte Stadtmitte, die bisher nicht wiederaufgebaut worden war, als ein modernes weltstädtisches Zentrum der zukünftigen Hauptstadt Deutschlands zu gestalten, und zwar mit allen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einrichtungen einer geeinten deutschen Hauptstadt. Ohne Rücksicht auf Sektorengrenzen reichte das Wettbewerbsgebiet vom Brandenburger Tor im Westen bis zum Alexanderplatz im Osten, vom Oranienburger Tor im Norden bis zum Mehringplatz im Süden. Aus den Entwürfen stach der des französischen Architekten Jean Faugeron hervor, der einen Fernsehturm mit dreiseitigem Turmschaft für die Berliner Friedrichstadt vorsah, umgeben von in Ellipsenform dicht gereihten Hochhäusern. Insbesondere der Schattenwurf in der Draufsicht des Entwurfs zeigt große Ähnlichkeit mit dem späteren Turm am Alexanderplatz.

Auf diese Wiedervereinigung am Reißbrett reagierte Ost-Berlin am 7. Oktober 1959 seinerseits mit der Ausschreibung eines »Internationalen Ideenwettbewerbs zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der DDR, Berlin«. Das Planungskollektiv um Gerhard Kosel, Staatssekretär und stellvertretender Minister für Aufbau und Präsident der Deutschen Bauakademie, veröffentlichte dazu klare architektonische Richtlinien. Kosels eigener Vorschlag, ein monumentales Marx-Engels-Forum am Ost-Ufer der Spree zu errichten, das erste Entwürfe um 1950 von Paulick wieder aufgriff und außer Konkurrenz lief, nahm im Wettbewerb die ungekürte Siegerposition ein. Einige Teilnehmer schlugen den Leitlinien der SED zum Trotz vor, auf den Hochhausmonolithen zugunsten einer symbolischen Höhendominante zu verzichten. Darunter war der Entwurf von Hermann Henselmann, seit 1953 Chefarchitekt beim Magistrat von Ost-Berlin, der ebenfalls außer Konkurrenz lief. (Rainer Haubrichs Artikel »So hätte Berlin um ein Haar ausgesehen« enthält Bilder vom Regierungshochhaus und Henselmanns Modell.) Henselmann durchkreuzte die offizielle, nach Stalins Tod als unzeitgemäß empfundene Leitarchitektur mit einer modernen Konzeption der Stadtmitte. Anstelle eines Monumentalbaus nach sowjetischem Muster schlug Henselmann eine verkehrsberuhigte Zentrumsinsel mit einem zentralen »Forum der Nation« vor. Es handelte sich um einen dreigeteilten Komplex mit Parlamentsgebäude, das durch ein Wasserbecken mit einem futuristischen Bau an der östlichen Seite verbunden war. Letzterer, eine in zwei Parabelbögen eingehängte Kundgebungshalle in Form eines leicht abgeschrägten und abgeflachten Ellipsoids, trug den goldenen Schriftzug »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Zum Westen hin sollte sich ein Marx-Engels-Denkmalensemble erheben: ein ca. 300 m hoher Fernsehturm, interpretiert als »Turm der Signale«, der die Bedeutung von »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor« verkörpern sollte, und zu dessen Fuße eine aus einem roten Marmorblock bestehende Marx-Engels-Ehrenhalle. Die technische Skizze zeigt den Turm bereits mit einer Kugel, darin enthalten sind Fernseh- und UKW-Technik, die Drehmaschinerie sowie die Aussichts- und Restaurantetage. Deshalb gilt dieser Entwurf als Geburtsstunde des Berliner Fernsehturms. Doch 1959 war Henselmanns an westlich-modernistischer Architektur angelehnter Entwurf als politischer Affront verstanden worden und Anlass, den Berliner Chefarchitekten seiner Funktion zu entheben.

Turmbau zu Berlin

Anfang der 1960er Jahre befanden sich zwei prominente DDR-Hauptstadtprojekte in einer Sackgasse. Die weiter verfolgten Entwürfe für das Regierungshochhaus unter der Bezeichnung »Zentrales Gebäude« sahen nun die Erweiterung der Spree vor und in deren Mitte, umgeben von Wasser, die Volkskammer samt einer 90m hohen gläsernen Überkuppelung. Die Kuppelbauten immanente Machtsymbolik wurde dabei durch die Materialwahl Glas als Zeichen für Transparenz in der parlamentarischen Arbeit in einer Demokratie verknüpft. Auf diese Vorschläge für den Marx-Engels-Platz konnte man sich jedoch nicht einigen, und da der Nutzen in Hinblick auf die bereits bestehenden Regierungsgebäude fraglich erschien, wurde das Bauvorhaben zurückgestellt. Das zweite Projekt, das sich bereits in der Bauphase befand, der Ost-Berliner Funk- und Fernsehturm, sollte das signaltechnische Empfangs- und Frequenzproblem lösen und die DDR-Bürger dem Einfluss westlicher Sender entziehen. Bauvorhaben an den Standorten Müggelberge (wo der Turm aber den Schönefelder Flugverkehr behindert hätte) und im Volkspark Friedrichshain (wo man den mit 360 m aus allen Berliner Bezirken sichtbaren Turm bereits als »Wahrzeichen der vereinigten Stadt Berlin« visionierte) waren abgebrochen worden. Der Mauerbau hatte die volkswirtschaftlichen Ressourcen strapaziert, umso deutlicher traten die Dringlichkeit, den funktechnischen Missstand zu überwinden, sowie die Notwendigkeit eines baupolitischen Zeichens hervor.

Pragmatische und ideologische Bedürfnisse wurden schließlich befriedigt, als der Alexanderplatz zum Standort des Funk- und Fernsehturms der DDR bestimmt wurde und damit auch den alles überragenden Monumentalbau in der Funktion der städtebaulichen Höhendominante beerbte. Am Fernsehturm wurde nun das geänderte städtepolitische Leitbild ablesbar. Zusammen mit dem rund um den Alexanderplatz errichteten Ensemble von Verwaltungsbauten (Haus der Elektroindustrie, Haus des Reisens, Haus der Statistik, Verlagshochhaus, Haus des Lehrers) hatte er eine repräsentative Funktion und legte Zeugnis von der Stellung von Technik und Medienindustrie im sozialistischen Staat ab.

Das Bauvorhaben wurde im September 1964 vom Politbüro der SED beschlossen, mit der Gesamtleitung wurde Kosel beauftragt. Unter den Mitverantwortlichen war auch der wieder eingesetzte Henselmann, dessen Projektierungsgruppe den für den Standort Friedrichshain konzipierten Turm nun entsprechend für das Stadtzentrum umarbeiten sollte, so dass dieser in Funktion und Gestalt dort zur baukünstlerischen Stadtkrone werden konnte. Beide, Kosel wie Henselmann, wollten einen Turmkopf in dynamischer Kugelform und nicht in Form eines Zylinders, der inzwischen nach dem Stuttgarter Vorbild für Funktürme weltweit üblich geworden war. Begründet wurde die Kugelform ästhetisch – nur eine neue Form konnte auch zum einprägsamen Wahrzeichen werden – und vor allem funktionell – die Kugelform ist im Vergleich zum Zylinder effizienter, denn bei kleiner Oberfläche erhöht sich die Nutzfläche für die Betriebsräume. Die Kugelkonstruktion, die letztlich im Politbüro im Februar 1965 vorgestellt und bestätigt wurde, war jedoch weder die von Henselmann von 1959, der sich diese mit Rubinen besetzt, rot strahlend vorgestellt hatte, noch die von Kosel von 1964, der sie vergoldet sehen wollte. Vielmehr handelte es sich um eine Kugel, der Architekten und Ingenieure des VEB Industrieprojektierung Maß, Form und Technik gegeben hatten. Rostfreier, aus Westdeutschland importierter Edelstahl diente als Außenverkleidung, auf die aus Gründen der Stabilität kleine Pyramiden aufgesetzt wurden, um die Angriffsfläche für Winde zu verringern.

Nach 53 Monaten Bauzeit konnte der Fernsehturm zum 20. Jahrestag der DDR eröffnet werden [Abb. 2: Berliner Fernsehturm, Modell von 1969, Foto: Alter Jakob]. Ebenso wie Kosel und Henselmann, die wegen diverser Kostenexplosionen – der eine beim Turmbau, der andere beim Haus des Lehrers – in Ungnade gefallen waren, geriet der parteilose Architekt der Turmkugel vom VEB Industrieprojektierung Berlin, Fritz Dieter, wegen des sich im Sonnenlicht auf der Kugeloberfläche abzeichnenden Kreuzes in Misskredit, obwohl man dieses vielleicht auch einfach als Plus des Sozialismus hätte deuten können. Anstelle des »Zentralen Gebäudes« wurde wenige Jahre später ein modernistischer Mehrzweckbau errichtet – der Palast der Republik.

Kugelsymbol

Die Kugel wird seit jeher als vollkommene Gestalt betrachtet, die Welt und Kosmos repräsentiert. Konstruierte Sphären wie die Berliner Turmkugel verkörpern architektonisch elementare Gesetzmäßigkeiten der Natur wie auch der Kultur: Ganzheit und Einheit. Die französische Revolutionsarchitektur fand im Kugelbau die visuelle Repräsentation der politischen Einheit einer Vielheit, einer Totalität ohne Hierarchie und damit den symbolischen Ausdruck der Volkssouveränität. Dafür stehen Étienne-Louis Boullées unrealisiert gebliebene Entwürfe »Kenotaph für Newton« (1784), eine radikale Verkörperung von Vollkommenheit, kosmischer Universalität und allseitiger Symmetrie, sowie »Tempel der Vernunft oder der Natur« (ca. 1793), ein Versammlungsbau des Volkes.

Die Faszination für Kugelbauten verstärkte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch kamen entsprechende Entwürfe, abgesehen von Kuppeln und Halbsphären bei Sternwarten und Planetarien, oft nicht über Skizze und Planungsstadium hinaus. Immer öfter riefen auch schwebende Kugeln Vorstellungen des Planetarischen und Globalen auf. Exemplarisch steht dafür in der frühsowjetischen Architektur Ivan Leonidovs Lebenswerk.

Den Anfang bildete dessen »Lenin-Institut« (Diplomarbeit 1927) [Abb. 3], ein Ensemble aus Bibliothekshochhaus und einer scheinbar abhebenden Glaskugel, die als »wissenschaftlich-optisches Theater«, als Auditorium und Massenversammlungsraum mit Blick in den Kosmos dienen sollte. Es kulminierte in seiner Konzeption einer Stadt der Zukunft (1950er Jahre), in der schwebende Kugeln eine prominente Stellung einnahmen und deren Titel »Sonnenstadt« an das gleichnamige utopische Gemeinwesen des italienischen Philosophen Tommaso Campanella von 1602, »La città del Sole«, erinnerte, sowie in dem für die Weltausstellung in Brüssel 1958 skizzierten Sitz der Vereinten Nationen in Kugelform.

Einer der wenigen tatsächlich realisierten Kugelbauten aus dieser Zeit wurde zum Wahrzeichen der Weltausstellung 1939/1940 in New York [Abb. 4: 1939 World’s Fair. Foto via New York Public Library]. Diese stand unter dem Motto »Building the World of Tomorrow, For Peace and Freedom – all Eyes to the Future« und hatte zum Thema, wie die Welt im Jahre 1960 aussehen könnte. Eine begehbare Kugel mit ca. 55 m Durchmesser, die Perisphere, diente als Ausstellungsraum für die von Henry Dreyfuss designte futuristische Metropole »Democracity« und wurde gemeinsam mit der Trylon (Zusammensetzung aus triangular und pylon), einer ca. 186 m hohen Metallnadel mit dreieckigem Grundriss, als Themenensemble von den Architekten Wallace Harrison und J. André Fouilhoux entworfen. Allerdings handelte es sich noch um temporäre Konstruktionen; sie wurden im Zweiten Weltkrieg abmontiert und dienten als Rohstoff für die Kriegswirtschaft.

Spätere Weltausstellungen boten immer wieder Gestaltungsräume für architektonische Sphärenkonstruktionen. Nicht zuletzt hatte der am 4. Oktober 1957 erfolgreich gestartete erste sowjetische Sputnik der Kugelform weiteren Symbolcharakter verliehen. So wurde beispielsweise für die »Century 21 Exposition« von 1962 in Seattle die Space Needle, ein 184m hoher Aussichts- und Restaurantturm, errichtet. R. Buckminster Fuller baute für die Expo ’67 in Montreal den amerikanischen Pavillon in Form einer gewaltigen geodätischen Kuppel, die aus einem falt- und zerlegbaren Raumfachwerk aus Stahlröhren konstruiert war. Diese Bauweise basiert auf Fullers Designwissenschaft, der Synergetik, die er in den Dienst einer Vision stellte: eines durch modernste Transport- und Kommunikationsmedien geeinten Planeten, den er explizit »Raumschiff Erde« nannte.

Als die schwebende und um ihre eigene Achse rotierende Kugel am Alexanderplatz projektiert wurde, waren derartige Elemente also bereits Bestandteil der modernen Architektursprache in Ost und West. Henselmanns »Turm der Signale« und der spätere Fernsehturm, auch »Spree-Sputnik« genannt, knüpften zweifellos an die in der Kugelform verankerte Fortschritts- und Weltraumsymbolik an. Das Besondere war, dass mit der Kugel im neuen Stadtzentrum von Ost-Berlin eine begehbare kulturelle Partizipationssphäre der Egalität geschaffen wurde: ein gesellschaftlicher Treffpunkt und ein optisches Höhentheater mit Blick nach Ost und West, das auf über 200 m Höhe die durch den Mauerbau zementierte Teilung der Stadt quasi aufhob. Heute ist das höchste Bauwerk Deutschlands weniger Wallfahrtsort für Ostalgiker als internationales Wahrzeichen der Bundesrepublik und ihrer Hauptstadt. Form und Funktion entsprechen modernen Einheitssymboliken: der Gemeinschaftskultur, symbolisiert etwa durch die im Rahmen der WM-Kampagne 2006 vorgenommene Umdekoration der Turmkugel zum Riesenfußball, und – anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, als der Fernsehturm noch Ort der Zentralisierung von Information zur einheitlichen Meinungsbildung und Abschottung war – dem regionalen Kommunikationsnetzwerk sowie der medientechnologischen Vision einer globalisierten Welt, in die sich die universale Konstruktion nach dem Mauerfall nahtlos einfügte.

Literatur
Selim O. Chan-Magomedow: Pioniere der sowjetischen Architektur (Dresden: Verlag der Kunst 1983).

Susanne von Falkenhausen: Kugelbauvisionen. Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter (Bielefeld: Transcript 2008).
Bruno Flierl: Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht (Berlin: Verlag für Bauwesen 1998).
Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR (Königstein: Langewiesche 2013).
Joachim Krausse, Claude Lichtenstein (Hg.): Your Private Sky. R. Buckminster Fuller (2 Bde., Baden: Müller 1999/2001).
Peter Müller: Symbol mit Aussicht. Die Geschichte des Berliner Fernsehturms (Berlin: Verlag für Bauwesen, 2. Aufl. 2000).

Die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Tatjana Petzer arbeitet als Dilthey-Fellow am ZfL mit dem Forschungsprojekt Wissensgeschichte der Synergie. Im Wintersemester 2017/18 vertritt sie am Seminar für Slavistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Professur für Slavistische Kulturwissenschaft.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tatjana Petzer: Architektur der Einheit – Berlins Fernsehturm, in: ZfL BLOG, 18.9.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/09/18/tatjana-petzer-architektur-der-einheit-berlins-fernsehturm/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170918-01

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