Archiv Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/archiv/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 06 Nov 2023 11:38:02 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Archiv Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/archiv/ 32 32 Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/ Mon, 06 Nov 2023 10:55:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3129 So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Weiterlesen

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So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.

Der Unbekannte

Trotz einflussreicher Fürsprecher wie Bertolt Brecht, George Grosz, Thomas Mann, Max Reinhardt und Franz Werfel blieb Borchardt zeit seines Lebens weithin unbekannt. Seine Karriere als Bühnenautor im Berlin der Weimarer Republik mag er aus Angst, wegen der satirischen Darstellung von Deutschtümelei und Franzosenhass seine Stelle als Lehrer zu verlieren, selbst vereitelt haben.[1] Ein Romanprojekt musste Borchardt im sowjetischen Exil abbrechen, und als er später in den USA Stücke und Essays über den christlich-konservativen Widerstand gegen den Faschismus schrieb und seine eigenen Lagererfahrungen festhielt, traf er nicht den dortigen Publikumsgeschmack. So blieben die meisten seiner Texte zu Lebzeiten unveröffentlicht. Im Januar 1951 starb Hermann Borchardt in New York.

Ein erster Versuch, Borchardt posthum als Schriftsteller zu etablieren, wurde über 50 Jahre nach seinem Tod unternommen. Im Auftrag des Exilforschers Hermann Haarmann und des Verlegers Stefan Weidle edierte Uta Beiküfner Borchardts monumentalen Roman Die Verschwörung der Zimmerleute 2005 erstmals in deutscher Sprache.[2] Hans Sahl, ein Freund Borchardts im New Yorker Exil, hatte Weidle gefragt, ob er nicht Lust hätte, »zusammen finanziellen Selbstmord zu begehen«,[3] wohlwissend, dass nur wenige Leser bereit wären, einem unbekannten Schriftsteller 1000 Seiten eines Romans zu folgen, der dessen Enttäuschung über die Linken in der Emigration und seine daraus folgende konservative Wende auf großartige Weise schildert: Nicht Revolutionäre retten in diesem Roman die Republik vor den Faschisten, sondern eine konservative Partei im Verbund mit einem mittelalterlichen Zimmermannsorden. In der Tat blieb die satirische Auseinandersetzung mit dem Faschismus, figurenreich und »bösartig« (Brecht), wie schon 1943 in der gekürzten englischen Fassung, auch 2005 im deutschen Original ein Ladenhüter.

Abb. 1: Porträt Hermann Borchardts aus seinem Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main
Abb. 1: Seite aus Hermann Borchardts Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main

Ein Zufall brachte den Autor einige Jahre später erneut ins Gespräch. Mitte der 1920er Jahre hatte Borchardt sich in Berlin mit Bertolt Brecht angefreundet und war dessen Mitarbeiter geworden (u.a. bei der Heiligen Johanna der Schlachthöfe). Bei der Arbeit an der 2014 erschienenen Edition der Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949[4] stießen Hermann Haarmann und Christoph Hesse auf zwölf Briefe Borchardts, die er aus dem Exil in Frankreich, der Sowjetunion und den USA an Brecht geschrieben hatte. Im April 1933 hatte Borchardt nämlich wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe, die er seinen Schülern gestellt hatte, aus Berlin flüchten müssen. Zunächst kam er in Beauchamp nahe Paris unter, entschloss sich dann aber Anfang 1934, eine Professur für Deutsch als Fremdsprache im sowjetischen Minsk anzunehmen, obwohl er schon ahnte, dass er sich in »pauvreté, Kälte, Verstellung und Maulhalten« begeben werde.[5] Die »Verstellung« machte Borchardt allerdings nur mit, bis er aufgefordert wurde, die deutsche Staatsbürgerschaft gegen die sowjetische einzutauschen, was einen deutlich niedrigeren Lebensstandard und die Gefahr der Verhaftung nach sich gezogen hätte. In der Not ging er mit Frau und Kindern im Januar 1936 zurück nach Berlin, wo er ein halbes Jahr später als gebürtiger Jude und Re-Emigrant verhaftet und in den Konzentrationslagern von Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau interniert wurde. Ein Jahr lang kämpfte Dorothea Borchardt für die Entlassung ihres Mannes und erhielt dabei finanzielle Hilfe von Brecht. Eva und George Grosz, die noch vor der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 in die USA emigriert waren, besorgten schließlich Schiffsfahrkarte und Affidavit, so dass Borchardt aus dem KZ Dachau freigelassen wurde und mit seiner Familie in New York ein neues Leben beginnen konnte.

Mehr als Briefe

Erst im Zuge der Rechteklärung für die Briefe an Brecht stellte sich heraus, dass der Rettungsaktion eine schon lange währende Freundschaft mit George Grosz vorausgegangen war. Borchardts damals noch lebender Sohn Hans (1930–2015) meldete sich aus Delaware mit der Nachricht, es existiere ein umfangreicher Briefwechsel seines Vaters mit dem ebenfalls aus Berlin stammenden Künstler. Ob wir nicht Lust hätten, ihn zu edieren? Hermann Haarmann und Christoph Hesse sagten prompt zu und ich stieß im Sommer 2015 dazu, als es zunächst darum ging, die in Kurrentschrift geschriebenen Briefe Borchardts zu entziffern. Zum Abschluss des Projekts reisten Christoph Hesse und ich nach Durham in North Carolina, um sicherzugehen, dass uns kein Brief von Grosz oder Borchardt entgangen war, denn schließlich hielten wir mit dem Briefwechsel das Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft in den Händen, die auch die Nöte des Exils überstand.

Wie aber war dieser Teil des Nachlasses nach Durham gelangt? An der dortigen Duke University war Borchardts jüngster Sohn Frank (1938–2007), der sich von den drei Kindern am meisten für das Werk des Vaters interessierte, bis zu seinem Tod Professor für Germanistik. In einem 1989 publizierten und bis heute wegweisenden Porträt machte er den Schriftsteller Hermann Borchardt der Exilforschung erstmals näher bekannt.[6] Demgegenüber hatte der älteste Sohn Hans, der in Delaware als Chemiker arbeitete, mit dem Werk seines Vaters nichts zu schaffen, wie er in seiner Autobiographie einräumte. Doch nach dem Tod seines Bruders, so erzählt er in der Trauerrede, habe sich etwas Merkwürdiges zugetragen: Über drei Monate hinweg habe jeden Tag ein Vogel wild an die Fensterscheiben seines Hauses gepickt. Das habe ihn und seine Lebensgefährtin dazu bewegt, im Haus seines Bruders doch noch einmal alles durchzusehen. Wäre der Vogel nicht gewesen, so Hans Borchardt, wären zahlreiche Schriften seines Vaters vernichtet worden. Stattdessen werden sie nun – zu unserem Glück! – in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library der Duke University verwahrt.

Tatsächlich fanden wir im dortigen Nachlass Briefe von Grosz und Borchardt, die in der uns vorliegenden Liste nicht verzeichnet waren, außerdem Fragmente aus Borchardts verschollenem »Lagerbuch« und ein uns bis dahin nicht bekanntes Theaterstück über das Scheitern eines christlich-konservativen Aufstands gegen Hitler. Das war schon weit mehr als erwartet, doch der Inhalt der fünften von insgesamt sechs Boxen übertraf alles: Zwei schwarze Kladden mit zerknitterten Etiketten, darin 400 maschinenschriftliche Seiten, durchgehend paginiert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen, über dem mit Bleistift notiert steht: »Geschichte einer Edelfrau. Liebesroman aus deutscher Vergangenheit« – Borchardts nie veröffentlichter zweiter Roman, in vollständiger Überlieferung!

Ein vergessener Roman

Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)
Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)

Nur gelegentlich, in Briefen an Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel sowie gegenüber seinem Literaturagenten Rudolf Kommer, hat Borchardt selbst von der Geschichte einer Edelfrau gesprochen. Sein Sohn Frank hingegen hat den Roman nie erwähnt. Wir wissen mittlerweile, dass Borchardt die Arbeit daran im Mai 1942 begann, als er noch damit beschäftigt war, Die Verschwörung der Zimmerleute für die amerikanische Ausgabe zu kürzen. Denn trotz geringer Verkaufszahlen von The Conspiracy of the Carpenters hatte der Verlagsvorschuss Borchardt einen Geldsegen beschert, weshalb er darauf bedacht war, gleich den nächsten Roman fertigzustellen. »Wenn Ihnen der Roman gefällt, bitte helfen Sie nur noch einmal!«, bat Borchardt Franz Werfel, der für den ersten Roman ein Vorwort verfasst hatte [7]. Doch dieser starb kurz darauf, und so blieb der Roman, der eine Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, bis heute unveröffentlicht. Daran änderte auch ein wohlwollendes Gutachten des österreichischen Schriftstellers Robert Neumann für die englische Literaturagentin Juliet O’Hea nichts:

»Es ist ein fascinierendes, langes und reiches Buch. Viel leichter zugänglich als Borchardt’s anderer Roman: ›Die Verschwörung der Zimmerleute‹, es ist höchst unterhaltsam, randvoll mit prächtig gezeichneten Charakteren, mit phantastischer Würze und Geschmack erzählt. Da ist mehr Würze und Substanz in diesem Buch als in den Romanen eines gackernden Hühnerhofes von kompetenten und mittelmäßig erfolgreichen Schriftstellern zusammen. Diese Würze bringt beinahe Borchardt’s ganzes Werk in Unordnung, er zersplittert sich leicht, es gibt keinen Charakter an der Peripherie, in dessen Hintergrund und Verästelung er nicht folgen möchte. Die Bühne ist dicht bevölkert, überfließend an Leben und Lebensfreude. Ich sage mit aller Verantwortung, daß Borchardt […] sehr nahe an einen großen Schriftsteller herankommt.«[8]

Möglicherweise lag Neumann mit seiner Befürchtung richtig, dass deutsche Eliten 1945 nicht als liebenswerte Protagonisten, sondern nur als Schurken vorstellbar waren.

Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot
Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot

Mit dem Roman-Fund war Hermann Haarmann, Christoph Hesse und mir klar, dass wir aufs Ganze gehen müssen. Wir wollten Hermann Borchardts Werke edieren (mit Ausnahme der Verschwörung der Zimmerleute, die ja bereits in einer exzellenten Ausgabe vorlag). Fördermittel gab uns zunächst die Fritz Thyssen Stiftung. Nachdem wir in den ersten Jahren unserer Arbeit an der Freien Universität Berlin aus den an unterschiedlichen Orten überlieferten Fragmenten Borchardts sogenanntes Lagerbuch rekonstruiert (Band 1, 2021) und so manches verschollen geglaubte Theaterstück doch noch ausfindig gemacht haben (Band 2, 2022),[9] steht im kommenden Jahr die Edition der Geschichte einer Edelfrau an. Dabei sollen auch die »Geheimen Querverbindungen« (so der Titel eines Kapitels von Borchardts ebenfalls in Band 1 veröffentlichter Autobiographie Der Club der Harmlosen) nachgezeichnet werden, die sich von diesem Roman weit in Borchardts Werk ebenso wie in sein Leben hinein erstrecken. Aufschluss darüber versprechen wir uns von den in Durham zahlreich archivierten Vorarbeiten, deren Entstehung bis ins Jahr 1933 nach Berlin zurückreicht, und von dem im Frankfurter Exilarchiv verwahrten Manuskript, das ich dort jüngst aus einer losen Blattsammlung zusammengesetzt habe. In den noch folgenden Bänden 4 und 5 werden wir Borchardts politische Schriften (u.a. zum Totalitarismus) sowie sein philosophisches Vermächtnis, den Traktat über die Unsterblichkeit, über dem er selbst verstarb, veröffentlichen.

 

Der Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Lukas Laier arbeitet am ZfL gemeinsam mit Christoph Hesse an der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur geförderten »Edition der Werke Hermann Borchardts«.

 

[1] Hinweise darauf finden sich in Hermann Borchardt: »Der dicke Mann, der große Sergeij und die materialistische Ehefrau« [ca. 1943], in: Hermann Borchardt Papers, Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina), und ders.: »Curriculum Vitae II«, in: Hermann Borchardt: Werke, Bd. 1, Autobiographische Schriften, hg. von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier, Göttingen 2021, S. 237.

[2] Die dramatische Urfassung der Verschwörung der Zimmerleute befindet sich heute im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt. Dort befinden sich u.a. ebenfalls die fragmentarische Autobiographie Der Club der Harmlosen und die im amerikanischen Exil entstandenen Theaterstücke Die Brüder von Halberstadt, Der verlorene Haufe und Die Frau des Polizeikomissars sowie das unvollendete Stück Befreiung des Pfarrers Müller, das Borchardt als Ghostwriter für Ernst Toller schrieb und von diesem zu Pastor Hall (1939) umgearbeitet wurde. Zum daraus entstandenen Streit siehe Lukas Laier: »Das klingt doch nicht nach Toller!«, in: Jungle World , 2.12.2022.

[3] Stefan Weidle: »Notiz«, in: Hermann Borchardt: Die Verschwörung der Zimmerleute. Rechenschaftsbericht einer herrschenden Klasse, hg. von Uta Beiküfner, Bonn 2005, Bd. 1, S. 8.

[4] Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse, 3 Bde., Berlin 2014.

[5] Brief an George Grosz vom 28. Januar 1934, in: Hermann Borchardt, George Grosz: »Lass uns das Kriegsbeil begraben!« Der Briefwechsel, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse unter Mitwirkung von Lukas Laier, Göttingen 2019, S. 92. Vgl. hierzu die Besprechung in der Süddeutschen Zeitung.

[6] Frank L. Borchardt: »Hermann Borchardt«, in: John M. Spalek/Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2: New York, Berlin 1989, S. 120–131.

[7] Brief von Hermann Borchardt an Franz Werfel, ohne Datum, vermutlich Februar oder März 1945. Alma Mahler and Franz Werfel Papers, Annenberg Rare Book & Manuscript Library, University of Pennsylvania, Philadelphia.

[8] Robert Neumann an Juliet O’Hea: Undatierter Brief, Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main.

[9] Vgl. hierzu Besprechungen in der taz und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Laier: Edieren aus dem Nachlass, in: ZfL Blog, 6.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231106-01

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Eva Geulen: ›ARCHIVIEREN IN DIE ZUKUNFT‹ https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/04/20/eva-geulen-archivieren-in-die-zukunft/ Tue, 20 Apr 2021 07:59:53 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1763 Eva Geulens Text dokumentiert ihren Beitrag zu der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am 24. März 2021 virtuell veranstalteten Tagung »#LiteraturarchivDerZukunft«. Er wurde ursprünglich als Replik auf die dort diskutierte These 3 entworfen: »Literaturarchive schaffen den literarischen und intellektuellen Kanon mit: Das Archivieren in die Zukunft setzt die stetige Diskussion der Entwicklungen in Literatur und den Weiterlesen

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Eva Geulens Text dokumentiert ihren Beitrag zu der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am 24. März 2021 virtuell veranstalteten Tagung »#LiteraturarchivDerZukunft«. Er wurde ursprünglich als Replik auf die dort diskutierte These 3 entworfen: »Literaturarchive schaffen den literarischen und intellektuellen Kanon mit: Das Archivieren in die Zukunft setzt die stetige Diskussion der Entwicklungen in Literatur und den öffentlich wirksamen Bereichen von Wissenschaft und ein Diskutieren der Kriterien dessen voraus, was es zu archivieren gilt – und was nicht.«

›Archivieren in die Zukunft‹ – was heißt das? Man kann in die Zukunft investieren, wie man in Aktien oder erneuerbare Energien investiert, in der Hoffnung auf spätere Gewinne der einen oder anderen Art. Aber ist das Archiv, in dem automatisch zu Vergangenheit und Geschichte wird, was da einmal gelandet ist, auch eine Investition in die Zukunft? Mit Aussichten auf Gewinne für spätere Forschung und erneuerbare Literaturen?

Oder ist mit ›Archivieren in die Zukunft‹ gemeint, dass, mit Rudolf Borchardts auch schon paradoxer Formulierung, eben nicht mehr ein »ewiger Vorrat deutscher Poesie« angelegt werden soll,[1] sondern mit Rücksicht auf jene Zukünfte zu sammeln und zu archivieren ist, die sich gegenwärtig abzeichnen, etwa die gerade erst unter ganz neuen Produktions- und Rezeptionsbedingungen entstehende, und häufig auch rasch wieder vergehende, Literatur im Netz?

Diese Nah-Zukünfte müssen wohl gemeint sein. Nachdem ich mich über die damit verbundene ›Herausforderungen‹ – von denen man statt des etwas lähmenden Begriffs der Krise heute lieber spricht, weil die Bewältigung von Herausforderungen ganz unfehlbar in Zukunft geleistet worden sein wird – etwas schlau gemacht hatte, war ich von anstehenden Aufgaben ziemlich eingeschüchtert: Kittlers Linux-Festplatten liegen schon seit 2011 im Marbacher Archiv. So was kann man nicht ausdrucken. Man kann es auch nicht auf Mikrofiche bannen, jene geniale Lösung, die beim letzten Medienwechsel für die Tageszeitungen gefunden wurde. Und das ist ja nur der Anfang von vielen Fragen zur Archivierbarkeit digitaler Artefakte. Richard Brautigan, der eine Library of Unpublished Books angelegt hat, hat einmal gesagt: »All of us have a place in history. Mine is clouds.«[2] Er konnte nicht ahnen, dass die Cloud zu einem Speicher werden würde, der in Konkurrenz zu öffentlich zugänglichen Archiven tritt. Viele private Anbieter stehen bereit, sich um unser aller digitale Nachlässe zu Lebzeiten zu kümmern. Und was gehört eigentlich alles dazu? Müssen Archive nach der »Burnt Banksy«-Aktion in das Geschäft mit Non-Fungible Tokens und Blockchain einsteigen?[3] Wie archiviert man Twitter-Feeds und die dort veröffentlichte Twitteratur? Wem gehört sie, und wer macht das?

Vorlässe gehören ja schon länger zum Archivgeschäft. Aber bei digitalen Artefakten müssen bereits in der sogenannten präkustodialen Phase sehr viele Vorrichtungen und Absprachen getroffen werden. Ungeleitet kommt niemand mehr ins Archiv. Ist das noch Archivieren in die Zukunft? Oder schon Archivieren der Zukunft? Diese Ambition wäre in der Tat fatal und ein Selbstmissverständnis der Aufgaben eines Archivs.

Unter dem Druck nie bloß technischer Probleme sollte das Archiv sich hüten, sich zu sehr mit der Zukunft zu beschäftigen, und stattdessen sein Verständnis der Vergangenheit schärfen, die es laufend mitproduziert. In mehr als einem Sinne gehört das Archiv der Geschichte. Es ist in der vielleicht einmaligen Lage, Geschichte zu machen, ohne über sie zu verfügen.

Nietzsches Typologie von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Geschichtsschreibung hat auch die möglichen Kriterien des Archivierens ziemlich erschöpfend versammelt: die monumentalische Geschichtsschreibung setzt darauf, die Großen über die Zeiten hinweg zu versammeln, in der Hoffnung, dass das Kontinuum nicht abreißt; die antiquarische Geschichtsschreibung konserviert das Übersehene und Lokale, in der Hoffnung, diese Bedingungen für die Zukunft zu erhalten; und die kritische Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit richtet und zu Zeiten aburteilt, will Platz schaffen für Neues.

Alle drei archivieren in die Zukunft, die sie sich wünschen. Das ist legitim und es sorgt dafür, dass wir nicht nur Archive, sondern auch Archivgeschichten haben, die selbst zur Geschichte gehören. Ein Archiv ist konservativ, weil es konserviert, tradiert, überliefert: monumentalisch, antiquarisch, kritisch ist dabei gar nicht so wichtig. So oder so wird es selektiv sein. Gerade unter den Bedingungen drängender Zukünfte wird der Mut zur Lücke eine Tugend. Auch und gerade die Lücken gehören zur Sammlung.

Das ist aber etwas anderes als die Logik der Antizipation, die nicht dem Ideal des Erhaltens und frommen Wünschen gehorcht, sondern dem Dogma der Planbarkeit von Zukunft. Digitalisierung wirft nicht nur neue Probleme und technische Fragen auf, sondern verlockt auch zu Allmachtsphantasien. Und davor muss ein Archiv sich hüten. Es sollte sich von der Zukunft, die eine offene ist, wie wir soeben wieder lernen, nicht so unter Druck setzen lassen, dass es auf alles vorbereitet und für alles gerüstet sein will. Natürlich sind die Kriterien zu diskutieren und zu reflektieren, auch im Kontakt mit Wissenschaft und Öffentlichkeit. Aber ein Archiv muss den Mut haben zur Lücke und willens sein, sich selbst und andere zu überraschen. Denn wenn einem Archiv die vollkommene Transparenz gelänge, wenn es sich restlos Rechenschaft ablegen könnte über die Kriterien dessen, was es sammelt und nicht sammelt, dann hätte es seine wichtigste historische Aufgabe verfehlt, nämlich in seinen Sammlungen Zeugnis abzulegen von seinen Entscheidungen, seinen Favoriten, seinen Abneigungen und seinen Schwierigkeiten. Etwas pointiert: Wenn es das könnte, dann hätte es vor seiner wichtigsten Aufgabe versagt, nämlich nicht bloß Vergangenes zu archivieren, sondern selbst Geschichte zu werden, zu sein und zu haben.

Archive investieren nicht primär in die Zukunft, sondern in die Zukunft der Vergangenheit. Das ist ihr Dilemma, das ist ihre Chance, und beides zusammen ihr Sinn. Hoffentlich auch in Zukunft.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

[1] Rudolf Borchardt (Hg.): Ewiger Vorrat deutscher Poesie, München 1926.

[2] Richard Brautigan: The Tokyo-Montana Express, New York 1979, S. 150.

[3] Vgl. hierzu einen Artikel im Spiegel: Patrick Beuth u. a.: »Wie Pixelkunst zum Spekulationsobjekt wurde«, in: Spiegel, 19.03.2021.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: ›Archivieren in die Zukunft‹, in: ZfL BLOG, 20.4.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/04/20/eva-geulen-archivieren-in-die-zukunft/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20210420-01

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Moritz Neuffer: PREKÄRE THEORIE, oder: Wer ist Hildegard Brenner? https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/01/14/moritz-neuffer-prekaere-theorie-oder-wer-ist-hildegard-brenner/ Thu, 14 Jan 2021 10:29:07 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1673 »What makes a great magazine editor?«, fragte der britische Literaturwissenschaftler Matthew Philpotts kürzlich in einem Essay für Eurozine und stellte eine Typologie von Herausgebertypen auf, die in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutende Rollen spielten. In dieser Typologie finden sich charismatische und ›performative‹ Leitfiguren wie Herwarth Walden (Der Sturm) oder Karl Kraus (Die Fackel), nüchterne Weiterlesen

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»What makes a great magazine editor?«, fragte der britische Literaturwissenschaftler Matthew Philpotts kürzlich in einem Essay für Eurozine und stellte eine Typologie von Herausgebertypen auf, die in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutende Rollen spielten. In dieser Typologie finden sich charismatische und ›performative‹ Leitfiguren wie Herwarth Walden (Der Sturm) oder Karl Kraus (Die Fackel), nüchterne und bescheidene Verwalter wie Carl von Ossietzky (Die Weltbühne) oder Herbert Steiner (Corona), aber auch Jongleure zwischen diesen Extremen wie Peter Suhrkamp (Neue Rundschau) oder Jean Paulhan (Nouvelle Revue Française). Der einzelgängerische Criterion-Herausgeber T.S. Eliot wird dem ›kollektiven‹ Stil von Sartres Les Temps Modernes gegenübergestellt, während Thomas Mann als Co-Herausgeber von Mass und Wert wiederum dazwischen steht. Der Kanon der ›großen‹ verlegenden Männer legt den Gedanken nahe, dass Hildegard Brenner (*1927) in der intellektuellen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts eine Ausnahmeerscheinung darstellte.

Tatsächlich war die 1952 promovierte Germanistin, die zunächst als Journalistin und später als Professorin an der Universität Bremen arbeitete, in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 1970er Jahre hinein die einzige Frau, die ein intellektuelles Journal von überregionaler Bedeutung herausgab. Von 1964 bis 1982 leitete sie in West-Berlin die Literatur- und Theoriezeitschrift alternative, die mit Heften zur materialistischen Ästhetik, zum Strukturalismus, zur Literatur der DDR, des Exils und der Arbeiterbewegung eine Auflage von bis zu 10.000 Exemplaren pro Nummer erreichte. Der Erfolg gründete zum einen auf weitreichenden Verbindungen nach Paris und Potsdam, Riga und Rom, hinein in Verlage und Zeitschriftenredaktionen, akademische Institutionen und dissidente Zirkel. Er verdankte sich aber wohl ebenso dem strengen Stil, mit dem Brenner einstigen Redaktionsmitgliedern im Gedächtnis geblieben ist: »Ein Gedanke pro Satz genügt!«, erinnert sich Helmut Lethen, 1966 und 1967 Redakteur der Zeitschrift, in seiner jüngst erschienenen Autobiografie an das oberste Gebot seiner damaligen »Chefin«.[1]

Obwohl Zeitgenossen wie Lethen und sein Mitredakteur Heinz Dieter Kittsteiner gelegentlich an Brenner erinnert haben,[2] ist ihr Name nur wenigen geläufig. Dabei hinterließ sie Spuren in der Geschichte der Kritischen Theorie, als sie in der alternative die Editionspolitik von Theodor W. Adorno, Rolf Tiedemann und Peter Unseld kritisierte und eine »wissenschaftliche Öffentlichkeit« für die nachgelassenen Schriften Walter Benjamins forderte.[3] Ebenso wird in der Forschung zum Nationalsozialismus gelegentlich ihr Buch Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus zitiert, das 1963 in der populären Sachbuchreihe rowohlts deutsche enzyklopädie erschien und damaligen Rezensenten als eine der besten Analysen der Zerschlagung und Gleichschaltung der Kultur unter dem Hakenkreuz galt. Andere Arbeiten und Aktivitäten Brenners hingegen sind kaum bekannt, geschweige denn erforscht – was auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie sich nach der Einstellung der alternative im Jahr 1982 fast vollständig aus der intellektuellen Öffentlichkeit zurückzog. Auch im Internationalen Germanistenlexikon ist ihr kein Eintrag vergönnt.

Abb. 1, Vorlass Hildegard Brenner; Foto: Dirk Naguschewski/ZfL

In Anlehnung an eine Begriffsprägung aus der Ideengeschichte der Frühen Neuzeit ließe sich Brenners Lebenswerk somit als ein Fall »prekären« Wissens betrachten, dessen Fortbestand unsicher und ungesichert ist.[4] Der umfangreiche persönliche Vorlass, der im Jahr 2019 dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zur Sichtung übergeben wurde (Abb. 1), ermöglicht es nun, im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts Brenners Rolle als Wissenschaftlerin und Herausgeberin erstmals zu ergründen. Die dafür zu erschließenden Materialien umfassen Manuskripte, Korrespondenzen, Verlagsdokumente, Zeitungsausschnitte, Tonbänder und vieles Weitere, was den Redaktionsnachlass der alternative im Deutschen Literaturarchiv Marbach ergänzt.

Wovon aber lässt sich anhand eines intellektuellen Werdegangs wie desjenigen Hildegard Brenners erzählen, wenn er einmal rekonstruiert ist? Ein erster Problemkomplex liegt auf der Hand: Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive lässt sich insbesondere für die alte Bundesrepublik ein eklatanter Mangel an Studien zur Geschichte weiblicher Intellektueller ausmachen. Auffallend ist dabei, dass deren Situation und Repräsentation bereits zu Brenners eigenen Arbeitsinteressen gehörten: Sie gab die bis heute einzige deutschsprachige Edition von Texten der lettischen Dramaturgin und Theatertheoretikerin Asja Lācis (1891–1979) heraus, die ohne diese Publikation hauptsächlich als Co-Autorin Walter Benjamins und aus dessen Essay über das proletarische Kindertheater bekannt wäre. Ebenso war Brenner daran gelegen, das Werk der Kunsttheoretikerin und Schriftstellerin Lu Märten (1879–1970) in Erinnerung zu halten. Der Vorlass zeugt damit von publizistischen und archivischen Möglichkeiten, mit der Marginalisierung von Autorinnen in der Intellektuellengeschichte umzugehen.

In der Generation der Achtundsechziger, deren Traditionsbezüge Brenner maßgeblich mitprägte, nahm sie eine Sonderstellung ein. 1927 geboren, war sie im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre älter als die studentischen Redakteur*innen der alternative, für die sie damals die Funktion einer Mentorin hatte. So vermittelte Brenner zwischen älteren theoretischen Traditionen und den Ansätzen der sich ab ca. 1960 formierenden Neuen Linken. Ihr theoretisches Interesse galt immer auch den historischen Erfahrungen, die Intellektuelle wie Karl Korsch, Carl Einstein oder Walter Benjamin, die in den 1960er Jahren wiederentdeckt wurden, in ihren Theorien verarbeitet hatten. Brenners Erlebnisse in den Kulturbetrieben des geteilten Nachkriegsdeutschland verliehen ihr ein praktisches Wissen über Verquickungen von Ästhetik und Politik, das sie zu einer Instanz im Umfeld der Studentenbewegung werden ließ. Zu ihren prägenden Arbeitserfahrungen, die sie auch mangels akademischer Festanstellung in den 1950er Jahren gemacht hatte, gehörten eine Hospitanz bei Bertolt Brecht am Berliner Ensemble und ihre freie Tätigkeit für den Hessischen und den Süddeutschen Rundfunk, für die sie über die Theater- und Intellektuellenszene in Ostberlin berichtete.

Da Hildegard Brenners Werk in einer außergewöhnlichen Vielfalt akademischer und journalistischer, monografischer und kollaborativer Schreibweisen vorliegt, stellt ihr Vorlass ein wichtiges Quellenkorpus an der Schnittstelle von Medien- und Intellektuellengeschichte dar. Theoretische Schriften zirkulierten ab den 1950er Jahren zunehmend in schnelllebigen, leicht zugänglichen Publikationsformen wie Zeitschriften, Taschenbüchern, Broschüren oder Raubdrucken, und in der Medienlandschaft der Nachkriegsgesellschaften wurden die Zeitung, das Radio und das Fernsehen vermehrt als Orte des Transfers zwischen akademischer Wissenschaft und Öffentlichkeit eingesetzt. Ihr persönliches Archiv dokumentiert, wie Brenner diese Vielfalt medialer Möglichkeiten über Jahrzehnte hinweg nutzte.

Vor diesem Hintergrund lässt sie sich in mehrfacher Hinsicht als Akteurin eines intellektuellen Formenwandels begreifen, dem die Ideen- und Intellektuellengeschichte allerdings noch lange hinterherhinkte: Bei denjenigen Intellektuellen, die sich weniger durch das ›große‹ Werk exponierten als durch editorische, dokumentarische und journalistische Tätigkeiten, verstärkt derartige publizistische Vielseitigkeit die Gefahr der Vernachlässigung durch die Geschichtsschreibung – es sei denn, sie werden irgendwann als ›große‹ Herausgeberfiguren kanonisiert. Wem diese Aufmerksamkeit zuteilwird, ist eine Frage von Interesse und Auswahl. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, Hildegard Brenners Archiv in zweifacher Absicht zu erschließen: nicht nur, um ihren Platz im Kanon der »great editors« zu bestimmen, sondern auch, um der Geschichte dieses Kanons selbst zu begegnen.

Der Historiker Moritz Neuffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL, wo sein Projekt zur »Erforschung des persönlichen Archivs der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner« von der DFG gefördert wird.

[1] Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin 2020, S. 382.

[2] Heinz Dieter Kittsteiner: »Unverzichtbare Episode. Berlin 1967«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008) 4, S. 31–44, insb. S. 31.

[3] Vgl. Redaktion alternative: »Zu diesem Heft«, in: alternative 56/57 (1968), S. 47.

[4] Mit dem Begriff des »prekären Wissens« erfasst Martin Mulsow (Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, S. 14f.) den ungesicherten Status von materiellen Wissensträgern, aber auch von gesellschaftlich marginalisierten Gelehrten, ihren Sprecherrollen und Aussagen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Moritz Neuffer: Prekäre Theorie, oder: Wer ist Hildegard Brenner?, in: ZfL BLOG, 14.1.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/01/14/moritz-neuffer-prekaere-theorie-oder-wer-ist-hildegard-brenner/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20210114-01

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Matthias Schwartz: GESCHICHTE ALS UNUNTERBROCHENE PERFORMANCE: Das Queer Archives Institute https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/09/03/matthias-schwartz-geschichte-als-ununterbrochene-performance-das-queer-archives-institute/ Tue, 03 Sep 2019 07:41:35 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1199 Zum 50. Jahrestag des Stonewall-Aufstands berichteten die Medien einmal mehr über die angespannten und vielerorts sich sogar verschlechternden rechtlichen und sozialen Lebensumstände queerer Menschen in Osteuropa. Regelmäßig gibt es Meldungen von LGBTIQ*-Demonstrationen in den Hauptstädten der Ukraine, Russlands, Polens oder Georgiens, die von nationalistischen und religiösen Gruppierungen attackiert werden oder nur mithilfe von massivem Polizeieinsatz Weiterlesen

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Zum 50. Jahrestag des Stonewall-Aufstands berichteten die Medien einmal mehr über die angespannten und vielerorts sich sogar verschlechternden rechtlichen und sozialen Lebensumstände queerer Menschen in Osteuropa. Regelmäßig gibt es Meldungen von LGBTIQ*-Demonstrationen in den Hauptstädten der Ukraine, Russlands, Polens oder Georgiens, die von nationalistischen und religiösen Gruppierungen attackiert werden oder nur mithilfe von massivem Polizeieinsatz durchgeführt werden können – wenn sie nicht gleich ganz verboten werden. Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und autoritärer Staatsführer, die ihre gottgewollte Ordnung und nationale Tradition durch ein aus dem Westen eindringendes Sodom und Gomorrha bedroht sehen, verschärft diese Lage noch.

Aus diesem Anlass veranstaltete das Theater HAU-Hebbel am Ufer in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum Berlin in der letzten Juniwoche das kleine Festival »The Present ist Not Enough. Performing Queer Histories and Futures«, das sich in Theatervorstellungen, Performances, Lesungen, Gesprächen, Filmvorführungen, Konzerten, Ausstellungen und Installationen vornehmlich Projekten aus Osteuropa widmete. Aus den dortigen Entwicklungen, so der ukrainische Journalist Maxim Eristavi, lasse sich generell etwas »über tektonische Veränderungen an der globalen LGBTIQ*-Front« lernen. Die Globalisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche habe nämlich keineswegs zu einer Verbesserung der Situation geführt. Ganz im Gegenteil sei ein Erstarken »international agierender homophober Gruppierungen« zu beobachten und steige die Anzahl queerer Geflüchteter, die immer seltener Asyl im Westen bekommen. Zudem hätten die globalen Veränderungen zu einer immer effektiveren Unterdrückung durch die international vernetzten Polizeiregime und dem Siegeszug der Identitätspolitik geführt, deren Anhänger im Namen der Verteidigung konservativer Werte‹ immer erfolgreicher Falschinformationen verbreiteten. Solchen Tendenzen entgegenzuwirken, war ein zentrales Anliegen des Festivals, das mit seinem Programm Visionen – »Manifestos« – für eine queere Geschichte und Zukunft präsentierte.

Eine dieser Geschichtsvisionen liefert das Queer Archives Institute (QAI), das der Warschauer Künstler Karol Radziszewski seit 2015 gestaltet. Es ist noch bis Ende September 2019 im Schwulen Museum Berlin zu sehen und präsentiert Dokumente queeren, vor allem schwulen Lebens aus verschiedenen Ländern Osteuropas in der Spätzeit des Staatssozialismus und während der ersten Jahre nach dessen Untergang. Die Schau ist nicht groß; ein einziger Raum bietet den Ausstellungswänden, Bildschirmen, Schaukästen, Vitrinen und einem Sofa Platz, auf dem man in dem von Radziszewski herausgegebenen ersten und einzigen Hochglanzkunstmagazin aus Osteuropa schmökern kann, das sich Homosexualität und Maskulinität widmet: dem DIK Fagazine. Und doch bekommt man einiges zu sehen, vor allem Zeugnisse von weitgehend unbekannten oder längst vergessenen Lebenswelten, die mehr oder weniger geschützt vor Repression und Diskriminierung existieren konnten und können. So kann man beispielsweise Ryszard Kisiels »POLISH GAY GUIDE on the europeans socialists countries« [sic] bestaunen, den er auf seinen zahlreichen Reisen in den 1970er und 1980er Jahren durch Polen, in die DDR, nach Bulgarien, Ungarn, Rumänien und in die Tschechoslowakei angelegt hat. In dem selbstgebastelten Heft erstellt er handschriftlich und durch Schwarzweißfotos ergänzt ein ausführliches Verzeichnis schwuler Bars, Badehäuser, Parks und anderer Cruising-Orte jener Zeit. Es enthält den Namen des Establishments, Adresse, Öffnungszeiten, die sexuelle Orientierung der Besucher*innen und manchmal vergibt Kisiel auch Sterne. In Ostberlin scheint ihm demnach am besten das »Café Schönhauser Allee« in der Kastanienallee 2 am U-Bahnhof Dimitroffstraße gefallen zu haben, für das er gleich fünf ***** notierte.

Andere Vitrinen zeigen Hefte, aufgeschlagene Seiten oder auch nur Ausrisse aus Zeitschriften wie dem polnischen »Monatsmagazin für Männer« okay, dem »Monatsmagazin für anders Liebende« filo oder der »ersten weißrussischen Publikation für Schwule und Lesben« forum Lambda. Manche Ausgaben wurden im Selbstverlag, mit Schreibmaschine und Filzstift hergestellt und hektographiert, andere scheinen schon professionell gedruckt worden zu sein. Sie alle zeugen in den Texten, Fotos und Zeichnungen von einer lustvollen Zurschaustellung des eigenen queeren Körpers, der selbstbewusst und oft mit Selbstironie präsentiert wird. 2012 hat Radziszewski in einem Interview gesagt, dass es ihm bei dieser Beschäftigung mit der Vergangenheit um eine Suche nach der eigenen Herkunft gehe, nach einer »anderen Geschichte der Gründungsmythen der Identität«. Ihn interessiere die Spezifik des Homosexuellseins in Osteuropa, das sich von der »westlichen Gay-Kultur und Popkultur« und den dazugehörigen Bewegungen unterscheide. Zu dieser spezifischen eigenen Geschichte gehört für ihn die Zeitschrift filo, da sie keine dieser typischen »emanzipatorischen Zeitschriften« sei, wie sie nach 1989 überall erschienen. In einem Gespräch, das er mit Vojin Saša Vukadinović für Texte zur Kunst aus Anlass der Ausstellung geführt hat, hebt Radziszewski die »verrückte« Do-it-yourself-Kreativität von filo hervor, die so »campy and queer« sei, wie es das heute in der polnischen Kunst nicht mehr gebe.

Als paradigmatisch für diesen anderen Umgang mit westlicher Popkultur und Queerness in Osteuropa gilt ihm vor allem ein Werk von Ryszard Kisiel, das in einer kleinen Collage aus Donald-Duck-Aufklebern und den Buchstaben A, I, D, S besteht. 1989 hat Kisiel diese Arbeit für filo erstellt, eine Nachbildung der Zeitschriftenseite ist in der Ausstellung in einer Vitrine zu sehen. Auf ihr sieht man Donald redend, zwinkernd, verlegen lächelnd und verwundert die vier Buchstaben halten. Darüber steht in großen Filzbuchstaben auf Polnisch (und ohne Übersetzung) geschrieben: »ACHTUNG! VIEL SPASS UNGEFÄHRLICH!« Radziszewski hat aus ihr eine riesengroße farbige Tapete im Stil der Pop-Art gemacht, die eine ganze Wand bedeckt. Wie dieses Motiv zu deuten ist, erfährt man nirgends, doch Radziszewski hat es schon mehrfach in früheren Ausstellungen verwendet und auch ein Cover des DIK Fagazines (Nr. 8, 2011) damit gestaltet. In einem Interview hat er einmal erläutert, er sehe in dem Motiv eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Wort AIDS und vergleicht es mit dem eineinhalb Jahre zuvor entstandenen viereckigen Buchstabenbild AIDS des kanadischen Künstlerkollektivs General Idea. Dieses spielte wiederum auf das berühmte LOVE-Motiv des Pop-Art-Künstlers Robert Indiana aus den 1960er Jahren an. Während die Künstleraktivisten von General Idea mit der direkten Identifizierung von LOVE mit AIDS Ende der 1980er Jahre im Medium der Kunst erstmals plakativ darauf hinwiesen, dass die HIV-Infektion nicht nur eine Gefahr für Minderheiten und Randgruppen darstelle, sondern die Krankheit alle betreffe, sieht Radziszewski in Kisiels Bild vor allem die »sehr ironische Geste«. Statt zu skandalisieren, entblößt es an versteckter Stelle und von kaum jemandem beachtet in einer Undergroundpublikation für anders Liebende zwinkernd die Scheinheiligkeit westlicher Popkultur und ihrer Donald Ducks.[1] Direkt darunter findet sich in der Zeitschrift ein knapper, ebenfalls unübersetzter Dialog auf Polnisch, der diese morbid-spöttische Mischung aus Faszination und Furcht vor ›westlichem‹ Genuss noch im verstotterten Akronym aufnimmt: »– Hallo ich habe echte Adidase! / – Oh Gott! Das bringt dich um! / – Dummkopf, das sind nur Schuhe!«

In der Ausstellung wird außerdem ein Film mit Ryszard Kisiel präsentiert, in dem eine Serie von Fotografien zu sehen ist, für die er Cruisingorte an einer polnischen Küstenstadt aufgenommen hat. Versehentlich wurde der Film ein zweites Mal belichtet, so dass nun Straßenansichten spätsozialistischer Tristesse und erotische Aufnahmen nackter Männerkörper einander überlagern. Im Off erläutert Kisiel im Gespräch mit Radziszewski, wie es zu den Bildern gekommen ist. Diesen Film mag man sinnbildlich für eine weitere Intention des QAI nehmen: hinter den überlieferten Bildern vom grauen Alltag der sozialistischen Wirklichkeit das erotische Vergnügen, die Exzesse des Alltags dem Vergessen zu entreißen und so die kurzen Momente des Glücks wieder sichtbar und fühlbar zu machen.

Dabei weigert sich die Ausstellung nicht nur bei der AIDS-Collage konsequent, den Besucher*innen irgendeine Hilfestellung zu geben. Kein Katalog, kein Audioguide, keine genauen Quellenangaben werden geboten. Spärliche Annotationen deuten mehr an, als dass sie informieren, statt zu erklären, verwirren sie eher: Ein Schwarzweiß-Foto zeigt eine elegant gekleidete Frau wohl in ihren Zwanzigern, womöglich aus den 1950er, vielleicht aber auch aus den 1980er Jahren, und die Bildunterschrift lautet: »Jana Kocianová war Sportlerin. Sie spielte Volley- und Basketball und war Mitglied der tschechoslowakischen Nationalmannschaft im Tischtennis. Sie arbeitete als Sekretärin des Prager Bürgermeisters und war die Managerin von Hana Hegerová – die ›Piaf aus Prag‹. Heute lebt sie in Prag.« Wann ist sie geboren, wie lebte sie ihr Leben, warum Sport, wer ist Hana Hegerová, was ist mit dem Prager Frühling, worin besteht die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, warum landete ihr Bild in den Queer Archives? All das erfahren wir nicht, noch nicht einmal, dass in der der Tschechoslowakei gewidmeten Ausgabe des DIK Fagazine (Nr. 9, 2014) ein langes Interview mit Kocianová erschienen ist.

Am Ende der Ausstellung findet man in einer großen Glaskiste einen Haufen scheinbar achtlos aufeinander geworfener, schon etwas ausgeblichener altmodischer Gewänder, prächtiger Kostüme und ausgefallener Verkleidungsartikel: Sich vorzustellen, welche opulenten Feste, exzessiven Orgien oder auch nur einsamen Selbstinszenierungen vorm Spiegel in ihnen möglicherweise einst stattgefunden haben, bleibt der Fantasie der Besucher*innen überlassen. Denn genau darum geht es Karol Radziszewski: die eigene Einbildungskraft, wie und wo ein queeres Leben im sozialistischen und postsozialistischen Osten Europas existiert haben könnte, in Bewegung zu setzen:

»Für mich ist bei der Arbeit mit den Archiven der Einfluss auf die Zukunft durch meine Arbeit mit der Vergangenheit wesentlich, in dem Sinn hat das auch ein politisches Potenzial. Mich interessiert die Suche nach alternativen Versionen bekannter Erzählungen, das Fantasieren über mögliche Wahrscheinlichkeiten. Geschichte ist eine ununterbrochene Performance.«

Insofern sind die Queer Archives auch kein Archiv im gewöhnlichen Sinne, kein gesicherter Ort des Aufbewahrens, Ordnens und Präparierens von Wissensbeständen, Fakten und Dingen, aber auch keine diskursive Institution, kein »Gesetz dessen, was gesagt werden kann« im Sinne von Michel Foucault, für den das Archiv genau jenes System darstellt, das bewirkt, dass alle Dinge sich »in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden, gemäß spezifischer Regelmäßigkeiten sich behaupten oder verfließen«:[2] Diese Archive par excellence sind im heutigem Osteuropa vor allem diejenigen der ehemaligen Geheimdienste, der Polizeidienststellen, der staatlichen Machtapparate, die jegliches Aufkommen von abweichendem Verhalten, dissidenten Einstellungen, nonkonformen Künsten und Lebensformen akribisch beobachtet, dokumentiert, angeordnet, bewertet, infiltriert und gegebenenfalls zerstört haben. Radziszewskis Archiv liefert den Gegenentwurf zu dieser Theorie und Praxis. Bei ihm gibt es keine Gesetze, kein System, keine Regelmäßigkeiten, sondern nur Wunscherfüllung:

»Die Arbeit mit der Geschichte, mit Archiven ist in mehrerlei Hinsicht interessant. Insbesondere, glaube ich, in den postkommunistischen Ländern, wo einige Verbindungen zerrissen sind oder niemals existierten, wo versucht wird, eine neue nationale Idee zu konstruieren, eine neue Narration zu schaffen. Mich interessiert genau dieses Konstruieren, Hinzufügen, Revidieren, jedoch aus einer ganz spezifischen Perspektive. Es gibt hierbei viel Platz für Interpretation. Ich bin kein Historiker, selbst wenn ich mich auf verschiedene Personen beziehe, rede ich im Grunde genommen von mir selber.«

Und in diesem Selbstgespräch mit anderen wird alles möglich:

»Ich suche tastend in der Vergangenheit die Elemente, die ich gerne in ihr finden würde. Und immer stellt sich heraus, dass es sie dort gibt

Das Queer Archives Institute ist so wenig Archiv wie Institut, sondern steht im besten Sinne quer zu allen Institutionalisierungen und Einordnungen. In der Berliner Ausstellung geht es höchstens indirekt um die realen Repressionen und Verfolgungen queerer Menschen im sozialistischen und postsozialistischen Europa, unter deren Bedingungen die hier präsentierten Objekte entstanden sind; die konkreten Umstände werden bis auf wenige Ausnahmen ausgeblendet. Das QAI muss von den Besucher*innen nicht verstanden, durchschaut, kategorisiert werden. Es bietet einen Kunstraum, in dem die Dinge ertastet werden wollen, die man gerne finden würde. Und insofern ist seine Geschichtsvision auch genau das Gegenteil von Historisierung: Aktualisierung einer möglichen Vergangenheit, die es so nie gegeben hat, aber in einer besseren Welt hätte geben sollen.

 

Der Slawist Matthias Schwartz bearbeitet am ZfL das Forschungsprojekt »Affektiver Realismus. Osteuropäische Literaturen der Gegenwart«. Gemeinsam mit Dirk Uffelmann (Gießen) organisiert er die Internationale Konferenz »Socialism’s Divergent Masculinities. Representations of Male Subjectivities in Soviet Constellations and Beyond«, die im Juni 2020 am ZfL stattfindet.

 

[1] Michał Witkowski hat diesen Lebensformen und abweichenden Körperinszenierungen queerer Selbstentwürfe im Spätsozialismus und den ersten Jahren danach seinen Roman Lubiewo (2004) gewidmet, der als erster »polnischer Tuntenroman« 2007 ins Deutsche übersetzt worden ist. Auch in ihm wird von den Protagonist*innen wiederholt diese Abgrenzung von der aus dem Westen kommenden Gay-Kultur vollzogen, die statt Genuss, Nachlässigkeit und Zeitverschwendung nur noch den disziplinierten Körpertechniken neoliberaler Karrierewege und kommerzieller Massenkultur folge. Für eine polnische Neuauflage des Buchs hat Karol Radziszewski 2006 eigene Fotos als Illustrationen beigesteuert.

[2] Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt am Main 1981, S. 187.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: Geschichte als ununterbrochene Performance: Das Queer Archives Institute, in: ZfL BLOG, 3.9.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/09/03/matthias-schwartz-geschichte-als-ununterbrochene-performance-das-queer-archives-institute/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190903-01

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EIN FORSCHUNGSPROJEKT ZU ERNST JÜNGERS BRIEFARCHIV. Detlev Schöttker im Gespräch https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/06/15/ein-forschungsprojekt-zu-ernst-juengers-briefarchiv-detlev-schoettker-im-gespraech/ Thu, 15 Jun 2017 09:00:18 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=443 Detlev Schöttker antwortet auf Fragen von Alexander Pschera, Publizist und Vorsitzender der Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft e.V.. Das Interview erschien im April 2017 auf der Webseite der Ernst und Friedrich Jünger Gesellschaft e.V. Alexander Pschera: Sie haben in den vergangenen Jahren mehrere kleinere Briefwechsel Ernst Jüngers veröffentlicht, darunter mit Gershom Scholem, Dolf Sternberger Weiterlesen

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Detlev Schöttker antwortet auf Fragen von Alexander Pschera, Publizist und Vorsitzender der Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft e.V.. Das Interview erschien im April 2017 auf der Webseite der Ernst und Friedrich Jünger Gesellschaft e.V.

Alexander Pschera: Sie haben in den vergangenen Jahren mehrere kleinere Briefwechsel Ernst Jüngers veröffentlicht, darunter mit Gershom Scholem, Dolf Sternberger und dem kommunistischen Pressefotografen Otto Storch. 2010 ist außerdem der von Ihnen und Anja Hübner herausgegebene Band »Autoren schreiben Ernst Jünger« erschienen. Inzwischen leiten Sie ein Forschungsprojekt zu Jüngers Briefnachlass, der seit 1996 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt. Können Sie das Projekt kurz skizzieren?

Detlev Schöttker: Ich möchte zunächst einige Fakten mitteilen, da sie nicht bekannt sind: Jünger hat sein Leben lang täglich Briefe bekommen und geschrieben. Wie seine Sekretäre berichtet haben, nahm die Erledigung der Korrespondenz mehrere Stunden pro Tag ein. Darüber hinaus sammelte Jünger die Schreiben in Archivkästen, die in seinem Wohnhaus in Wilflingen heute noch (ohne Inhalt) zu sehen sind. Den Bestand übergab er etwa zwei Jahre vor seinem Tod mit dem gesamten Nachlass an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (DLA). Es handelt sich um ca. 130.000 Schreiben, davon 90.000 Briefe an den Autor und ca. 40.000 Briefe von ihm (jeweils in Abschriften oder Durchschriften bei Verwendung einer Schreibmaschine). Damit ist Jüngers Briefnachlass vermutlich das größte private Briefarchiv.

Die Schreiben sind im Marbacher Archiv mit den Grundinformationen erfasst worden: Name des Absenders bzw. Empfängers, Datum und Ort. Diese Informationen sind online über die Homepage zugänglich. Die Briefe selbst können vor Ort mit einigen Einschränkungen bei noch lebenden Personen bestellt und eingesehen werden. Außerdem gibt es ein maschinenschriftliches, allerdings nicht vollständig erhaltenes Verzeichnis der Korrespondenten mit ca. 5000 Namen, das Jüngers Sekretär Heinz Ludwig Arnold Mitte der 1960er Jahre erstellt hat; es wurde von Jüngers zweiter Ehefrau Liselotte später handschriftlich ergänzt.

Eine inhaltliche Erfassung der gesamten Korrespondenz (Regesten) wäre nur im Rahmen eines umfassenden Langzeitprojekts möglich; nach Berechnungen eines EDV-Experten am Marbacher Archiv würde man dafür ca. 30 Jahre mit 10 Mitarbeitern benötigen. Da dies in absehbarer Zeit nicht möglich ist, versuche ich, die Besonderheiten des brieflichen Nachlasses im Rahmen einer Monografie darzustellen. Der Arbeitstitel lautet »Korrespondenz und Nachleben – Ernst Jüngers Briefarchiv«. Dafür hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzielle Mittel für drei Jahre (2015-2018) auf der Basis eines Antrags gewährt.

AP: Welche Ziele verfolgt das Projekt?

DS: Ich beschränke mich nicht auf den Briefbestand allein, sondern bemühe mich um einen Zugang, der poetologisch, literaturhistorisch und kulturtheoretisch ausgerichtet ist. Deshalb ist das Projekt am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin angesiedelt, auch wenn in Marbach das Material liegt.

Ich möchte drei Hauptanliegen der Untersuchung nennen: Erstens stelle ich dar, welche Funktion Briefe für Jünger hatten; zweitens geht es um ihre Rolle in seinen Werken, und drittens sollen die Besonderheiten des Briefarchivs charakterisiert werden.

Dazu lässt sich bisher Folgendes sagen:
– Erstens hat Jünger seit den frühen zwanziger Jahren durch Briefe und Briefwechsel Netzwerke mit Freunden und Weggenossen geschaffen, die zur Verbreitung seiner Schriften und Auffassungen beigetragen haben.
– Zweitens hat er seit Ende der dreißiger Jahre in den Tagebüchern – von den »Strahlungen« bis hin zu »Siebzig verweht« immer wieder auf Briefe zurückgegriffen, um sich als Autor und Weltdeuter in Szene zu setzen. Die brieflichen Aktivitäten waren also nicht nur eine Ergänzung der literarischen Arbeiten, sondern Bestandteil seiner Autorschaft.
– Drittens hat Jünger das Briefarchiv nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch für die Nachwelt aufgebaut, um Biographen, Editoren und Interpreten mit Material zu versorgen, wie eigene Äußerungen bestätigen. Ich bezeichne Jünger deshalb als Archiv-Autor und sein Briefarchiv als zweites Werk. Nur so ist erklärbar, warum ein Autor täglich derart viel Zeit in das Schreiben, Lesen und Sammeln von Briefen investiert.

AP: Welche Publikationen und Editionen sind zu erwarten?

DS: Es gibt viele Jünger-Forscher, die sich mit einzelnen Briefwechseln oder Briefkomplexen beschäftigen und diese für Studien zu Werk und Biographie nutzen. Über geplante Editionen und Untersuchungen bin ich nicht im Einzelnen informiert. Doch erscheinen inzwischen häufig einschlägige Publikationen, zuletzt u.a. die Briefe von Armin Mohler, Jüngers erstem Sekretär, an den »Chef«. Im Rahmen meines Projekts beschäftige ich mich neben der Untersuchung der genannten Aspekte mit drei Briefwechseln bzw. Briefkomplexen, zu denen ich Editionen vorbereite:

– Briefe ehemaliger Frontsoldaten zu den Kriegsbüchern des Ersten Weltkriegs (es handelt sich um mehrere hundert Schreiben der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, auch von Soldaten aus Ländern, die Gegner Deutschlands waren und die Jüngers Bücher aus den frühen Übersetzungen ins Spanische und Englische kannten);

– der Briefwechsel zwischen Ernst und Gretha Jünger (es handelt sich um ca. 2000 Briefe mit einem Schwerpunkt auf dem Zweiten Weltkrieg, die Einblicke in die private Dimension des Krieges geben, von dem die Ehefrau Jüngers durch die Bombardierungen Hannovers und seiner Umgebung stärker betroffen war als der Autor in Paris);

– der Briefwechsel zwischen Jünger und dem Historiker Joseph Wulf, der als polnischer Jude das Konzentrationslager Auschwitz überlebte und zum Begründer der Holocaust-Forschung in Deutschland wurde (er steht beispielhaft für die politischen Debatten zum Nationalsozialismus seit den sechziger Jahren).

AP: Welche weiteren Briefbestände in Jüngers Nachlass sollten bearbeitet werden bzw. von welchen versprechen Sie sich am meisten?

DS: Eine Hierarchisierung bzw. qualitative Bewertung ist nicht möglich, weil niemand in absehbarer Zeit über 130.000 Briefe lesen oder gar beurteilen kann. Nicht selten hat man es hier mit schwierigen Handschriften zu tun, und nicht selten muss man in anderen Archiven arbeiten, um Jüngers eigene Briefe zu lesen, wenn keine Ab- oder Durchschriften von ihm angefertigt wurden. Darüber hinaus tauchen immer wieder kleinere Briefwechsel mit unbekannten oder kaum bekannten Korrespondenten auf, die Aufschlüsse über Jüngers Biographie oder die Entstehung seiner Werke geben. Einzelbriefe können ebenfalls interessant sein, wie die anfangs erwähnte Anthologie »Autoren schreiben Ernst Jünger« zeigt.

Natürlich gibt es auch umfangreiche und sehr bedeutende Briefwechsel, die bisher nicht ediert wurden, darunter die Korrespondenz zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger. Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass die kleineren Briefwechsel mit weniger bekannten oder unbekannten Partnern für die Biographie, das Werk und die Zeitgeschichte Jüngers ebenso wichtig sind wie die Korrespondenzen mit prominenten Partnern, die in den letzten zwanzig Jahren publiziert wurden, darunter mit Carl Schmitt, Martin Heidegger, Friedrich Hielscher, Gerhard Nebel und anderen.

AP: Welchen Aufschluss über Jünger und sein Werk geben die noch nicht veröffentlichten Briefbestände? Können Sie unser Jünger-Bild verändern?

DS: Für Editoren, Biographen und Interpreten bietet der Briefnachlass umfassende Möglichkeiten der Recherche, die unsere Kenntnis von Werk und Biographie zweifellos ergänzen und vertiefen werden. Immer wieder beeindruckend ist, wie unterschiedlich die Personen waren, die Jünger geschrieben haben: einfache Leser mit Fragen zu Büchern, junge Schriftsteller auf der Suche nach Publikationsmöglichkeiten, Redakteure von Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten mit der Bitte um Beiträge, Publizisten und Historiker mit der Bitte um Auskünfte zu Personen oder Ereignissen und Aktivisten linker und rechter Bewegungen mit der Bitte um Unterstützung. Die meisten bekamen eine Antwort. Briefe, auf die Jünger nicht reagierte oder die er wegwarf, kennt man freilich nicht. Und einige Korrespondenzen mit prominenten Partnern, darunter Ernst Niekisch und Erich Mühsam, hat Jünger aus Angst vor der Gestapo bekanntlich vernichtet, wie er in den »Strahlungen« berichtet.

Durch die Vielzahl der Korrespondenzen mit Freunden, Gegnern, Verlagen, Zeitschriften, Zeitungen und unterschiedlichen Institutionen ist Jüngers Briefarchiv ein Spiegel der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts: vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit, die in diesem Falle mit Jüngers Tod im Jahr 1998 endet. Als Fundament literatur- und zeithistorischer Forschung ist Jüngers Briefarchiv bisher kaum genutzt worden.

AP: Wie viele Briefe befinden sich nicht in Marbach, sondern in Privatbesitz, und lassen sie sich erschließen?

Es gibt Tausende, vermutlich sogar Zehntausende von Briefen Jüngers, die nicht in seinem Nachlass sind, weil er keine Abschriften oder Durchschriften angefertigt hat. Von diesen Briefen befinden sich viele in Archiven anderer Autoren oder Publizisten wie Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Joseph Wulf. Solche Archive sind überwiegend bekannt und meist zugänglich; eine Übersicht gibt es allerdings nicht. Über die große Zahl von Briefen in privaten Nachlässen, die inzwischen im Autographen-Handel oder sogar bei Ebay angeboten werden, weiß man kaum etwas. Da das Deutsche Literaturarchiv nicht alles kauft oder kaufen kann, was im Handel angeboten wird, wäre es gut, private Sponsoren oder eine Stiftung zu gewinnen, die hier einspringt, damit Jüngers Briefarchiv komplettiert werden kann.

 

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Ein Forschungsprojekt zu Ernst Jüngers Briefarchiv. Detlev Schöttker im Gespräch, in: ZfL BLOG, 15.6.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/06/15/ein-forschungsprojekt-zu-ernst-juengers-briefarchiv-detlev-schoettker-im-gespraech/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170615-01

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