Atombombe Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/atombombe/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 08 Dec 2023 08:47:36 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Atombombe Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/atombombe/ 32 32 Tobias Wilke: KI, DIE BOMBE. Zu Gegenwart und Geschichte einer Analogie https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/10/19/tobias-wilke-ki-die-bombe-zu-gegenwart-und-geschichte-einer-analogie/ Thu, 19 Oct 2023 12:14:46 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3117 »A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?« – so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken Weiterlesen

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»A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?« – so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken neuester (Sprach-)Technologien beschworen werden, lässt der Vergleich mit dem Vernichtungspotenzial von Atomwaffen nicht lange auf sich warten. Dies gilt für die in Print- und Onlinemedien ausgetragene Diskussion, ist aber auch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit ihren Spezialöffentlichkeiten zu beobachten.[1] Warnungen vor den unabsehbaren Folgen der KI-Entwicklung gleichen in ihrer Drastik und teils bis aufs Wort den Mahnrufen und Appellen, mit denen in der Nachkriegszeit auf die damals neue Gefahr eines drohenden globalen Nuklearkonflikts reagiert wurde. Ob sich die von der New York Times anonymisiert präsentierten Aussagen wie »If we go ahead on this, everyone will die« oder »We are drifting toward a catastrophe beyond comparison«[2] auf unsere Gegenwart oder auf die historische Situation der 1950er und 1960er Jahre beziehen, ist daher tatsächlich nicht immer ohne Weiteres auszumachen. Und erst kürzlich berichtete die Zeitung von einem Mitarbeiter des von Google betriebenen DeepMind-Forschungslabors, der einen Vortrag zum maschinellen Lernen mit einem Zitat aus George Orwells Essay You and the Atomic Bomb (1945) eröffnet hatte – ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die zwischen Künstlicher Intelligenz und Nuklearwaffen gezogenen Parallelen zu einem anscheinend unverzichtbaren Topos in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen und Large Language Models (LLMs) geworden sind.[3]

Erklären lässt sich diese Ubiquität zunächst damit, dass die Atombombenreferenz in der Regel als Teil von Aufmerksamkeitsstrategien fungiert, die auf die Dringlichkeit von Sicherheitsstandards, Risikomanagement und Kontrollmechanismen für die KI-Entwicklung hinweisen sollen. Insofern solche Warnungen und Forderungen jedoch praktisch immer mit der Betonung des schier ›grenzenlosen‹ Problemlösungspotenzials von Künstlicher Intelligenz einhergehen bzw. sich eben daraus allererst begründen, befeuern sie zusätzlich den gegenwärtigen Hype um diese Technologien. Dabei fällt auf, dass es gerade die Protagonisten der Big-Tech-Konzerne sind, die in den Chor der vielzähligen Warnrufe und Regulierungsappelle einstimmen bzw. darin sogar den Ton angeben. Als Ende Mai etwa das Center for AI Safety ein offizielles Statement on AI Risk herausgab, in dem erklärt wurde, »[m]itigating the risk of extinction from AI should be a global priority alongside other society-scale risks such as pandemics and nuclear war«, zählten die CEOs von OpenAi und Google DeepMind, Sam Altman und Demis Hassabis, sowie der Microsoft-Gründer Bill Gates zu den prominentesten Unterzeichnern. Und in einem schon im April veröffentlichten Memorandum zum Thema Governance of Superintelligence schlugen die ChatGPT-Entwickler von OpenAI selbst die Einrichtung einer KI-Kontrollinstanz nach dem Vorbild der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vor.

Diese Beispiele lassen erkennen, dass in den Diskussionen der vergangenen Monate durchaus verschieden geartete Vorstellungen von einer atombombenhaften Gefährdung der Menschheit durch KI miteinander konkurrieren. Am konkretesten gestalten sich die Inbezugsetzungen dort, wo auf die künftige Integration von Künstlicher Intelligenz in die Steuerung nuklearer Waffensysteme sowie auf eine zu erwartende Automatisierung von militärischen Entscheidungsprozessen insgesamt rekurriert wird. »Never give artificial intelligence the nuclear codes« lautete etwa die Überschrift eines Artikels in der Juni-Ausgabe des Magazins The Atlantic, der mit einem (computergenerierten) Bild eines aus binärem Zahlencode geformten Atompilzes illustriert wurde. Und auch in den Kontexten von Security Studies und internationaler Politik debattiert man mittlerweile intensiv über die Möglichkeit eines globalen »AI arms race«, das die Gefahren des atomaren Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg noch weit in den Schatten stellen würde.[4]

Während solche Szenarien also zu antizipieren versuchen, wie sich Künstliche Intelligenz ganz buchstäblich in eine Bombe verwandeln könnte, kreist ein anderer, sehr viel stärker spekulativer Strang der Auseinandersetzung um ein aus Filmen wie Terminator und The Matrix bekanntes Motiv: Die dort noch fiktional verhandelte Auslöschung der Menschheit durch außer Kontrolle geratene ›superintelligente‹ Maschinen wird nun unter dem Stichwort der sogenannten ›rogue AI‹[5] – also einer abtrünnigen, zerstörerischen Variante gegenwärtiger Computertechnologien – in den Raum bald schon möglicher Realitäten verlegt. Unter Rückgriff auf das Imaginationsarchiv der Science-Fiction (die ihrerseits ja gerade im Zeitalter der ersten Atombomben und Digitalrechner breite Popularität erlangte) bilden sich somit prognostische Aussagen darüber heraus, wie Künstliche Intelligenz faktisch zu einer Bedrohung im planetarischen Maßstab avancieren könnte. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass sie sich bereits in naher Zukunft – und im Gegensatz zu ›klassischen‹ Atomwaffen – einer nachträglichen Einhegung durch menschliche Akteure auf irreversible Weise entziehen dürfte.

Auf der einen Seite also die Warnung vor Künstlicher Intelligenz als (Teil der) Bombe, auf der anderen Seite die Befürchtung, dass KI letztlich wie die Bombe, oder sogar eher noch als diese, zu einer Quelle von totaler physischer Vernichtung zu werden vermag: Zwischen diesen extremen Polen hat es in den letzten Monaten eine Fülle von äußerst diffusen Beschwörungen der potenziell destruktiven Kräfte von generative artificial intelligence gegeben. In einer der frühesten prominenten Reaktionen auf ChatGPT forderten im März 2023 zahlreiche Vertreter:innen aus US-amerikanischer Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in einem offenen Brief ein mindestens sechsmonatiges Moratorium in der KI-Entwicklung. Denn Systeme, die das Problemlösungsvermögen menschlicher Intelligenz besäßen oder gar überträfen, brächten »profound risks to society and humanity« mit sich, darunter die mögliche Auflösung zivilisatorischer Institutionen, soziale Desintegration und die Verdrängung von menschlicher agency aus den Sphären von Ökonomie, Arbeit, Politik und Kultur. Die angesprochenen Gefahren bleiben hier – wie auch in vielen anderen Einlassungen zur Künstlichen Intelligenz – eher vage. (Die automatisierte Produktion und Verbreitung von Fake News und Propaganda durch Chatbots und eine daraus folgende Überflutung gesellschaftlicher Kommunikationskanäle ist noch einer der deutlicher benannten katastrophalen Effekte.) Doch gibt die Vorstellung einer zwischen privaten Konzernen aus ökonomischen Interessen ausgetragenen Konkurrenz um immer leistungsfähigere KI-Systeme eine mindestens implizite historische Referenz zur Dynamik des atomaren Wettrüstens zu erkennen. Zu befürchten bzw. eigentlich schon im Gange sei, so die Autor:innen des Briefs, »an out-of-control race to develop and deploy ever more powerful digital minds that no one – not even their creators – can understand, predict, or reliably control«.

In ihrer kurzen Vorbemerkung weisen die Autoren des eingangs genannten New York Times-Ratespiels darauf hin, dass der von ihnen zum Quizgegenstand gemachte Vergleich durchaus kein gänzlich neues Phänomen, sondern bereits seit Jahren verwendet worden sei. Dabei beziehen sie sich namentlich auf Tesla-Gründer und X-Besitzer Elon Musk, einen der derzeit wohl vernehmbarsten Advokaten einer umfassenden KI-Regulierung, der schon am 3.8.2014 in einem Tweet warnte, »[w]e need to be super careful with AI. Potentially more dangerous than nukes« – um sich dann wenig später selbst an der Gründung von Open AI zu beteiligen.[6] Hervorzuheben ist allerdings, dass nicht erst die beschleunigte Entwicklung von ›Superintelligenz‹ im frühen 21. Jahrhundert zu solchen Vergleichen Anlass gab. Diese bilden vielmehr eine Konstante in der diskursiven Auseinandersetzung mit digitalen Technologien, was sich insbesondere an zwei bereits länger zurückliegenden formativen Phasen des Informationszeitalters beobachten lässt: dem Digitalisierungsschub der 1980er und frühen 1990er Jahre, der durch die Verbreitung erschwinglicher PCs und die Freigabe des World Wide Web (1993) für die öffentliche Nutzung gekennzeichnet war, sowie den Nachkriegsjahrzehnten, die sowohl durch die Anfänge des mainframe computing als auch durch die eskalierende atomare Konfrontation zwischen Ost- und Westmächten geprägt wurden.

 

»La bombe informatique/Die Informatikbombe«: Unter diesem Titel strahlte der deutsch-französische Kultursender ARTE im Herbst 1995 ein Fernsehgespräch zwischen dem Philosophen Paul Virilio und dem Medienwissenschaftler Friedrich Kittler aus.[7] Geführt gleichsam auf halber Strecke zwischen Kittlers frühen Studien zur Mediengeschichte wie Grammophon Film Typewriter (1986) und Virilios später publiziertem Buch The Information Bomb (1999) legt diese Diskussion Zeugnis davon ab, wie der Prozess globaler digitaler Vernetzung erstmals nachhaltig ins Zentrum der geistes- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung zu rücken begann. Für Virilio, den Theoretiker der Geschwindigkeit und ihrer militärischen wie medientechnischen Hintergründe, stellte sich das Heraufziehen einer weltweit synchronisierten Informationsgesellschaft als ultimatives Stadium historischer Beschleunigung mit einem Unfallpotenzial von nie gesehenen Ausmaßen dar:

»[T]his is what Einstein called, very judiciously, ›the second bomb‹. The first bomb was the atomic bomb, the second one is the information bomb, that is, the bomb that throws us into ›real time‹.«[8]

Ausgehend von einer – vermutlich apokryphen[9] – Einstein-Äußerung machte Virilio so eine Reihe von bildlichen Analogien zwischen nuklearer und digitaler Katastrophe geltend: Instantane Datenübertragung und unbegrenzte Interaktivität würden letztlich zu einer »Überhitzung« gesellschaftlicher Kommunikation, zu einer Art von sozialer »Kernspaltung« mit entsprechend destruktiven Folgen führen müssen; geboten seien daher Kontrollen und internationale Präventivmaßnahmen nach dem Vorbild der »nuklearen Abschreckung«.[10]

Kittler hingegen richtete seinen Blick in für ihn charakteristischer Weise auf die historischen Entwicklungszusammenhänge, die Computertechnologie und Atomwaffen seit ihren Anfängen miteinander verbunden haben. Dies klingt bedeutend weniger alarmistisch als Virilios Statements und kommt im Ton eher lakonisch daher. Doch galt das Kommen der Apokalypse auch Kittler als ausgemacht. »Vor dem Ende, geht etwas zu Ende«, hieß es in diesem Sinne schon in der Einleitung zu Grammophon Film Typewriter (das just im Jahr des Reaktorunfalls von Tschernobyl erschienen war).[11] Ehe das nukleare Armageddon eintritt, so sollte dies besagen, vermag die zu militärischen Zwecken entwickelte Datenübertragung per Glasfaserkabel noch den zivilen Funktionsbereich sämtlicher (Unterhaltungs-)Medien zu revolutionieren – und deren Nutzer:innen genau dadurch von der Einschreibung der bevorstehenden Katastrophe in die digitale Technik abzulenken. Denn die Verkabelung von Rechnern, wie sie zunächst im Arpanet des US-Militärs erprobt wurde, hatte ursprünglich dazu gedient, Waffen- und Kommunikationssysteme gegen die elektromagnetischen Auswirkungen möglicher Nuklearschläge zu immunisieren. Für Kittler leitete sich daraus eine materiell verbürgte Komplizenschaft zwischen Digitalisierung und atomarer Aufrüstung her, die hinter den Datenflüssen alltäglicher Computernutzung jedoch verborgen bleibe: »Glasfaserkabel übertragen eben jede denkbare Information außer der einen, die zählt – der Bombe.«[12]

Virilio und Kittler waren noch nicht mit Künstlicher Intelligenz in ihren heute aktuell gewordenen Erscheinungsformen befasst. Doch weisen ihre Reflexionen auf bestimmte Kontinuitäten hin, die sich auch in der forcierten Digitalisierung des frühen 21. Jahrhunderts fortsetzen sollten. So lässt sich eine direkte Entwicklungslinie vom (geschlossenen) Arpanet der 1970er und 80er Jahre über das (offene) Internet der 1990er und 2000er zu den (teils offenen, teils geschlossenen) LLMs der Gegenwart ziehen, die ohne ihre aus dem Netz bezogenen sprachlichen Trainingsdaten schlechthin undenkbar wären. Kittlers Hinweis indes, »that both computers and atomic bombs are an outcome of the Second World War«,[13] erlaubt es zugleich, diese historischen Verbindungen bis an die Anfänge des Computerzeitalters zurück zu verlängern. Eine zentrale Rolle kommt in diesem Kontext dem Mathematiker John von Neumann zu, der während des Kriegs zeitweilig am Los Alamos National Laboratory arbeitete und dort Berechnungen für das Design der ersten Atombombe anfertigte; wenig später entwickelte er im Rahmen des Manhattan-Projekts der US-Regierung ein neues Schaltungskonzept für elektronische Rechner, die sogenannte Von-Neumann-Architektur, die zum bis heute gängigen Bau- und Funktionsplan von Computern avancieren sollte.

Zum Komplex dieser institutionell-genealogischen Verflechtungen gehört aber auch, dass sich die rasch aufkommende Frage nach der Lernfähigkeit und quasimenschlichen Intelligenz solcher Rechen- bzw. Denkmaschinen[14] sehr bald mit Reflexionen über die möglichen Folgen der Atomtechnologie und das nach dem Krieg einsetzende Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR zu verbinden begann. So zu verfolgen etwa bei Norbert Wiener, der die erste Ausgabe seines Buches Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) mit einem kurzen, an von Neumann anknüpfenden Ausblick auf die Möglichkeit beschloss, lernfähige Schachcomputer zu konstruieren. In der zweiten Auflage 1961 fügte er diesen Überlegungen dann ein neu verfasstes Kapitel (On Learning and Self-Reproducing Machines) hinzu, in dem er seine Perspektive auf den möglichen Einsatz solcher ›intelligenten‹ Maschinen im Kontext militärischer Konfliktszenarien, vor allem des »new and as yet untried war with atomic weapons«,[15] ausweitete. Kurz vor dem kritischen Höhepunkt der atomaren Konfrontation angesichts der Kubakrise (1962) sah Wiener somit schon die Automatisierung von Waffensystemen und kriegsstrategischen Entscheidungsprozessen mittels Künstlicher Intelligenz voraus, wie sie gegenwärtig unter neuen technischen Vorzeichen diskutiert wird. Und er hob dabei verschiedene mit dieser Entwicklung verbundene Gefahren hervor, die auch in der aktuellen Debatte um KI zentrale Bedeutung (wieder-)erlangt haben: das Problem eines »unguarded use of learning machines«[16] zum Beispiel, das aus einer unkontrollierbaren Eigendynamik solcher Systeme resultiert, sowie die noch weiter reichende Möglichkeit, dass sich diese Systeme aufgrund ihrer »new and real agencies«[17] irgendwann sogar gezielt gegen ihre Schöpfer wenden könnten.

Weniger auf das destruktive Potenzial von Künstlicher Intelligenz gerichtet, doch dafür umso radikaler in der Einschätzung ihrer zivilisatorischen Konsequenzen war wiederum eine Diagnose, die der deutsche Wissenschaftsphilosoph Max Bense bereits 1955 formulierte:

»Nicht die Erfindung der Atombombe ist das entscheidende technische Ereignis unserer Epoche, sondern die Konstruktion der großen mathematischen Maschinen, die man […] gelegentlich auch Denkmaschinen genannt hat. Diese Feststellung begründet sich auf der Tatsache, daß die Technik mit ihnen einen neuen Aufgabenbereich, fast möchte man sagen: einen neuen Sinn gewonnen hat.«[18]

Zehn Jahre nach den ersten Atombombenabwürfen über Japan und inmitten der Eskalationsphase des Kalten Kriegs war diese Einschätzung gewiss (noch) nicht konsensfähig und ersichtlich (auch) als Provokation intendiert. Dennoch war es Bense mit seinem vergleichenden Befund durchaus ernst. Während die Atombombe vor allem eine physische Bedrohung von außen darstellte, waren die ›Denkmaschinen‹ dazu angetan, alle Bereiche des sozialen und geistigen Lebens zu durchdringen und in ihrem innersten Kern zu verändern; und eben dies rechtfertigte es, sie als die eigentliche Grundlage »einer neuen Stufe der Technischen Welt«[19] anzusehen. Benses halb diagnostische, halb prognostische Einschätzung stellt sich im Rückblick als hellsichtige Charakterisierung des (kommenden) Digitalzeitalters dar – ist es doch gerade das mittlerweile eingetretene und sich aktuell stark beschleunigende Vordringen von Künstlicher Intelligenz in die unterschiedlichsten Kommunikations-, Informations- und Kulturtechniken, das zuletzt auch für eine topische Rückkehr der Atombombe in die öffentliche Diskussion gesorgt hat.

Was aber hat eine heutige KI wie ChatGPT selbst zur Konjunktur dieser vergleichenden Bezugnahmen zu sagen? Stellt man dem Chatbot diese Frage (und was läge in der aktuellen Situation näher?), so erzeugt das System eine Liste von generischen Aussagen über ähnliche Risiken, unabsehbare Konsequenzen und ethische Implikationen beider Technologien, ergänzt um den relativierenden Hinweis, es handle sich um »keine perfekte Analogie«.[20] Dieser Einschränkung mag ohne Weiteres zuzustimmen sein. Entscheidend jedoch ist etwas anderes: Die diskursive Rekurrenz des Vergleichs – und seine eben darauf beruhende Erfass- und Reproduzierbarkeit durch statistisch verfahrende LLMs – lässt ideologische constraints sichtbar werden, denen die Bildung von Aussagen über Künstliche Intelligenz unterliegt – wobei ›ideologisch‹ hier im Sinne einer Regulierung des Denk- und Sagbaren durch bestimmte Wahrscheinlichkeiten zu verstehen ist.[21] Eben diese Wahrscheinlichkeiten aber sind es wiederum, die auch und gerade in Zukunft eine Analyse ihrer historischen Bedingtheit notwendig machen.

 

Der Literaturwissenschaftler Tobias Wilke arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle an dem Projekt »Digitale Sprache. Linguistik, Kommunikationsforschung und Poetik im frühen Informationszeitalter«.

[1] Für die journalistische Debatte im deutschen Sprachraum vgl. exemplarisch Alexander Grau: »KI-Moratorium? Künstliche Intelligenz ist die Atombombe«, in: Cicero Online, 15.4.2023, und Ursula Scheer: »Ist KI so gefährlich wie die Atombombe?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2023. Für den wissenschaftlichen Diskussionskontext vgl. u.a. Dan Hendrycks/Mantas Mazeika/Thomas Woodside: An Overview of Catastrophic AI Risks, in: arXiv, 9.10.2023, S. 4.

[2] Ian Prasad Philbrick/Tom Wright-Piersanti: »A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?«, in: The New York Times, 10.6.2023.

[3] Vgl. Siobhan Roberts: »AI Is Coming for Mathematics, Too«, in: The New York Times, 2.7.2023. Orwells Essay erschien am 19.10.1945 in der Londoner Zeitung Tribune.

[4] So warnte unlängst u.a. Charles Oppenheimer, Enkel des Atombomben-Entwicklers J. Robert Oppenheimer, vor einer entsprechenden Konkurrenz zwischen China und den USA. Vgl. Charles Oppenheimer: »To Avoid an AI ›Arms Race‹, the World Needs to Expand Scientific Collaboration«, in: Bulletin of Atomic Scientists, 12.4.2023. Als einschlägige Publikation aus dem Bereich der Security Studies vgl. auch James Johnson: AI Bomb: Nuclear Strategiy and Risk in the Digital Age, Oxford 2023.

[5] Zu diesem Begriff vgl. Hendrycks(Mazeika/Woodside: Overview (Anm. 1)

[6] Vier Jahre später (11.4.2018) war Musk sich angeblich sicher: »Mark my words – A.I. is far more dangerous than nukes.«

[7] Ein Video der Sendung ist online zugänglich. Eine schriftliche englische Übersetzung von Auszügen des Gesprächs erschien später unter dem (leicht abgewandelten) Titel »The Information Bomb. A Conversation«, in: Angelaki. Journal of the Theoretical Humanities 4.2 (1999), S. 81–90.

[8] Ebd., S. 82.

[9] Vgl. dazu Roger Stahl: »Weaponizing Speech«, in: Quarterly Journal of Speech 102.4 (2016), S. 376–395, hier S. 378.

[10] Vgl. Paul Virilio: The Information Bomb, New York 1999, S. 108.

[11] Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 7.

[12] Ebd.

[13] »The Information Bomb. A Conversation« (Anm. 7), S. 82.

[14] Prägend hierzu Alan Turing: »Computing Machinery and Intelligence«, in: Mind 59.236 (1950), S. 433–460.

[15] Norbert Wiener: Cybernetics, Or Communication and Control in the Animal and the Machine, Boston 21961, S. 242.

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 244.

[18] Max Bense: »Vorwort«, in: Louis Couffignal: Denkmaschinen, übers. v. Elisabeth Walther und Max Bense, Stuttgart 1955, S. 7.

[19] Ebd., S. 7f.

[20] ChatGPT (May 24 Version), Response auf die Frage »Why is AI so often compared to the atomic bomb?«, generiert am 5.7.2023. Hervorzuheben ist, dass sich die Datenbasis von ChatGPT bislang nur bis Ende 2021 erstreckt und damit (noch) nicht den Zeitraum erfasst, in dem die Freischaltung des Systems selbst maßgeblich zur Renaissance der Atombomben-Referenz beigetragen hat.

[21] Vgl. dazu Leif Weatherby: »ChatGPT is an Ideology Machine«, in: Jacobin, 17.4.2023.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tobias Wilke: KI, die Bombe. Zu Gegenwart und Geschichte einer Analogie, in: ZfL Blog, 19.10.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/10/19/tobias-wilke-ki-die-bombe-zu-gegenwart-und-geschichte-einer-analogie/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231019-01

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Magdalena Gronau/Martin Gronau: PHYSIKER IN DER (ALB-)TRAUMFABRIK. Christopher Nolans Oppenheimer https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/08/31/magdalena-gronau-martin-gronau-physiker-in-der-alb-traumfabrik-christopher-nolans-oppenheimer/ Thu, 31 Aug 2023 08:20:12 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3080 Oppenheimer (Regie: Christopher Nolan, USA 2023) hat diverse Rekorde gebrochen. Er zählt zu den erfolgreichsten Filmen mit R-Rating; schon jetzt konnte er sich unter den ganz oder in wesentlichen Teilen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielenden Filmen den vordersten Platz sichern. Das 180 Minuten lange Biopic über den sogenannten ›Vater der Atombombe‹ stellt selbst Weiterlesen

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Oppenheimer (Regie: Christopher Nolan, USA 2023) hat diverse Rekorde gebrochen. Er zählt zu den erfolgreichsten Filmen mit R-Rating; schon jetzt konnte er sich unter den ganz oder in wesentlichen Teilen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielenden Filmen den vordersten Platz sichern. Das 180 Minuten lange Biopic über den sogenannten ›Vater der Atombombe‹ stellt selbst langjährige Spitzenreiter wie Dunkirk (Regie: Christopher Nolan, USA 2017) oder Saving Private Ryan (Regie: Steven Spielberg, USA 1998) in den Schatten. Mit einem erlesenen Star-Ensemble und einem Budget von 100 Millionen US-Dollar hat Nolan ein dunkles Historienspektakel geschaffen, das angesichts revolutionärer KI-Entwicklungssprünge, menschengemachter Klimaveränderungen und wiederaufkeimender geopolitischer Bedrohungen erschreckend aktuell ist. Wieder einmal sieht sich die Menschheit mit ihren selbstzerstörerischen Kräften konfrontiert.

Abb. 1: Werbeplakate für »Oppenheimer«, (c) Universal Pictures

Die Geschichte ist bekannt: Von 1943 bis 1945 arbeitete unter der wissenschaftlichen Leitung von J. Robert Oppenheimer ein Heer von Ingenieuren und hochkarätigen Forschern in der abgelegenen Retortenstadt Los Alamos an der Entwicklung einer Nuklearwaffe, um den Bemühungen Nazideutschlands um eine militärische Anwendung der kürzlich entdeckten Kernspaltung zuvorzukommen. Die Bombe ist für das Marketing des Films von zentraler Bedeutung. Wie die Filmplakate (Abb. 1) bedienen auch die Trailer in erster Linie die morbide Neugier, eine Kernexplosion nicht nur sehen, sondern förmlich miterleben zu können: ein bombastisches Fanal, wie es anscheinend nur Christopher Nolan, der Großmeister des Überwältigungskinos, in Szene zu setzen vermag.

In der Tat gelingt es dem Film, anhaltend Spannung aufzubauen. Von Anfang an prophezeien klickende Geigerzähler sowie das Grollen und Flimmern imaginierter nuklearer Prozesse den Weltenbrand, der zwei Stunden später nach einem zeitdeckend heruntergezählten Countdown den Beginn einer neuen Zeitrechnung markiert. Todessüchtig scheint der Film auf die zentrale Szene (über‑)menschlicher Zerstörungslust zuzulaufen, auf nichts weniger als eine »terrible revelation of divine power« (Oppenheimer in Oppenheimer über die Atombombe). Glaubt man der physikalisch affizierten Bombenmetaphorik des Feuilletons, liefert Nolan, was die Werbung verspricht. So fabuliert die NZZ von »Nolans Teilchenbeschleuniger«, der »massiv Druckwellen über die Leinwand« jage, von einer »Kernwaffe des Kinos«, einem »cineastische[n] Wettrüsten«, nach dem »das Publikum, geplättet und verstrahlt, aus den Sitzen geschabt werden« müsse.[1] Da stellt sich die Frage: Muss man einen solchen Film gesehen haben?

Narrative Komplexität

Zunächst einmal: Bildsprachliche Plattitüden liegen in Anbetracht der audiovisuellen Strahlkraft des mit superhochauflösenden 65-mm-IMAX- und Panavision-Kameras gedrehten Films nahe. Sie verengen jedoch den Blick zu stark auf dessen technische Schauwerte. Oppenheimer ist nämlich auch in narrativer Hinsicht überaus geschickt gestrickt. Der Plot, der den Zuschauer*innen zumindest in groben Zügen bekannt sein dürfte, wird durch die Einführung verschiedener Erzählebenen mit gegenläufig aufgebauten Spannungsbögen und dramaturgischen Verästelungen in permanente Dynamik versetzt. So sind trotz grob chronologischer Organisation der episodenhaften Einblicke in Oppenheimers Leben die einzelnen Fragmente achronologisch angeordnet und assoziativ verknüpft. Das Wechselspiel von grobkörnigen Farb- und Schwarz-Weiß-Passagen fungiert nicht nur als zeitliche Richtschnur, sondern dient zunehmend auch der Konturierung von Oppenheimers Innen- und einer stärker objektivierten Außensicht.

Abb. 2 (von oben nach unten): Robert Oppenheimer (re.) mit Leslie Groves (li.); Trinitiy-Detonation; Robert Oppenheimer (re.) mit Albert Einstein (li.) (alle Bilder gemeinfrei)

Oppenheimer will viel: Es geht um Aufstieg und Fall einer scheinbar gleichermaßen genialen wie kapriziösen Forscherpersönlichkeit, um politische und romantische Irrungen und Wirrungen, um die großen Fragen von Wissensdrang und Schuld, Reue und Verantwortung, Kontrolle und Kontrollverlust – und das vor dem am Horizont dräuenden Gegenlicht eines menschengemachten Infernos. Die Bombe ist mehr als eine hochtechnisierte Version von Frankensteins Monster oder eines außer Kontrolle geratenen Golems. Sie ist vor allem ein ambigues Symbol dafür, was passieren kann, wenn Wissenschaft, Politik und Militär zu einer geradezu allmächtigen Funktionseinheit verschmelzen (Abb. 2). Dann wird der Krieg zum Vater aller Dinge, zum Gebieter, der moralische Argumente in ein Schattendasein zwingt. Wer hier Bedenken äußert, muss sich in den Räumen der Macht als humanitätsduseliges »cry baby« (Truman in Oppenheimer über Oppenheimer) verspotten lassen.

Oppenheimer bietet auch viel – vielleicht sogar zu viel: In seinem Anspruch auf historische Akkuratesse wirkt der Film mitunter wie die bildgewaltige Adaptation eines Wikipedia-Artikels. So wird das Publikum mit einer Kaskade von Wissenschaftlernamen konfrontiert, die fast schon eine prosopographische Registratur erfordert: Teller, Rabi, Fermi, Lawrence, Bethe, Fuchs, Feynman, Gödel, Serber, Alvarez, Bainbridge, Neddermeyer, Morrison, Kistiakowsky, Condon, Snyder, Heisenberg, Diebner, Bothe, von Weizsäcker, Bohr – und natürlich darf auch Einstein als in die Popkultur eingegangene Ikone wissenschaftlicher Genialität und Besonnenheit nicht fehlen. Selbst ausführliche Dokumentarfilme zum Manhattan-Projekt sind in Sachen Namedropping sehr viel zurückhaltender. Einzig die Vulgärnamen der beiden Schattenmacher, ›little boy‹ und ›fat man‹, werden in Nolans Film komplett ausgespart – was umso bemerkenswerter erscheint, als sie in der letzten größeren Verspielfilmung des Stoffes, Roland Joffés Fat Man and Little Boy (USA 1989), noch titelgebend waren.

Abb. 3: Cillian Murphy als Oppenheimer;  (c) Universal Pictures Germany GmbH

Oppenheimer setzt andere Prioritäten. Die Bombe ist zwar eine dauerpräsente Requisite, zelebriert wird aber (angefangen mit Cillian Murphy) ein dialoglastiges ›Kino der Gesichter‹ (Abb. 3). Dass diesen bisweilen allzu prominenten Gesichtern (Matt Damon, Robert Downey Jr., Gary Oldman, Matthias Schweighöfer usw.) bis in randständige Nebenrollen hinein die Namen historischer Personen zugeordnet werden, zeugt von einem dokumentarischen Gestus, der leicht übersehen lässt, dass konkrete Konstellationen (z.B. die Begegnung Oppenheimers mit Bohr in Cambridge) dem Reich der Fiktion entspringen.

Die sonst so gern bemühte Frage nach der ›Faktizität‹ der dargestellten Geschichte weiß Nolan indes geschickt zu umgehen. Das liegt vor allem an der konsequenten Perspektivierung: Von Beginn an zieht der dynamische Schnitt des Films die Zuschauer*innen in einen Stream of Consciousness von Empfindungen, Begegnungen, Erinnerungsfragmenten und abstrakt-bedrohlichen »visions of a hidden universe« (Oppenheimer in Oppenheimer über seine Halluzinationen). Gezeigt wird weniger, »wie es eigentlich gewesen«, als vielmehr, wie Oppenheimer das Geschehen erlebt haben mag. Expressive Nahaufnahmen saugen das Publikum förmlich in die Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten und bauen ihn als tragische, innerlich zerrissene Gestalt auf. So wird Oppenheimer ganz im Sinne der biographischen Buchvorlage[2] als American Prometheus in Szene gesetzt, der mit Trinity, Code-Name des ersten erfolgreichen Kernwaffentests, eben nicht nur die Initialzündung für das Atomzeitalter lieferte, sondern nach dem – im Film etwas platt durch einen vergifteten Apfel symbolisierten – Sündenfall der Wissenschaft die Folgen seines politischen (und moralischen?) Absturzes in der McCarthy-Ära in unerwarteter Ausführlichkeit auszusitzen hat.

Perspektivierungen

Die erfolgreichen Verfilmungen des Lebens von John Nash (A Beautiful Mind, Regie: Ron Howard, USA 2001) und von Stephen Hawking (The Theory of Everything, Regie: James Marsh, USA 2014) haben bereits gezeigt, das namhafte Wissenschaftler in der Traumfabrik durchaus eine lukrative Rolle spielen können. Oppenheimer steht inhaltlich in dieser Tradition des klassischen Biopics, orientiert sich stilistisch jedoch an eher extravaganten Genre-Vertretern wie Amadeus (Regie: Miloš Forman, USA 1984) oder JFK (Regie: Oliver Stone, USA 1991) und nimmt in nicht unerheblichen Passagen Anleihen beim Gerichtsfilm. Dabei bleibt er der genretypischen Idolisierung der Wissenschaftlerfigur verhaftet: Präsentiert wird ein vielseitig gebildetes, polyglottes Universalgenie mit faustisch-pathologischem Wissensdrang, beständig an der Kippe zwischen »Brillanz« und Wahnsinn, das die Revolution der Physik kenntnisreich mit den Revolutionen der Kunst (Picasso!), der Musik (Strawinsky!), der Politik und Psychologie (Marx! Freud! Jung!) in Beziehung zu setzen vermag und zudem mit den Qualitäten eines idealistischen politischen Märtyrers ausgestattet ist. Inwiefern eine solche Charakterisierung historisch haltbar ist, sei dahingestellt.[3]

Abb. 4: Barbenheimer-Memes

»Brilliance is taken for granted in your circle«, stutzt Oppenheimers schnauzbärtiger Sidekick Lt. General Groves den von ihm selbst auserkorenen wissenschaftlichen Leiter des milliardenschweren Forschungsvorhabens zurecht. Immer wieder nimmt Nolan über solche Nebenfiguren kluge diskursive Nuancierungen vor, entmystifiziert beiläufig die Oppenheimer’sche Sicht auf die Dinge. Das hat der Film auch nötig, bedenkt man seine unleugbaren blinden Flecken: Was ist mit den im Rahmen des Manhattan-Projekts vorgenommenen, ethisch höchst fragwürdigen Radiationsexperimenten? Oder dem nachhaltigen Schaden, den die frühen Atombombentests an den native communities z.B. in der Jornada del Muerto, dem Gelände des Trinity-Tests, angerichtet haben? Inszeniert Nolan mit Oppenheimer und seiner durchweg maskulinen Welt, in der Frauen ein eher unterbelichtetes Dasein im Schatten ihrer genialen Gatten fristen, nicht einen fast schon biederen ›Große-Männer-Film‹? – Natürlich, nur so konnte das taggenau terminierte Barbie-Counter-Programming jenen cineastischen Synergieeffekt zeitigen, der in den zahlreichen Barbenheimer-Memes (Abb. 4) einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Doch selbst in dieser Hinsicht sorgen Nebenfiguren für ein differenzierteres Gesamtbild: Über die scharfsichtige Figur der Kitty Oppenheimer, die ihre aufgezwungene Rolle als Ehefrau und Mutter fast schon selbstbewusst im Alkohol ertränkt, sowie die emanzipiert auftretende Chemikerin Lilli Hornig wird das historische Geschlechterverhältnis zumindest als problematisch markiert.

Fragen der Anschaulichkeit

Ein Film kann (und muss) nicht alles zeigen. Vieles ist belanglos, manches wiederum so erschütternd, dass es – jenseits cinematischer Spiegelung – geradezu paralysierend wirkt.[4] Gute Filme sind nicht ohne Grund oft Imaginationsvehikel. Sie erschließen und re-präsentieren Bilder, die in den Köpfen ihres Publikums längst eingelagert sind. In einem solchen Sinn kann Nolan das ikonische Potenzial des ersten Atompilzes voll ausschöpfen, wenn er diesen in ungewohnter Farbenpracht und Strahlkraft verbildlicht – und sich damit gewissermaßen in die Tradition Edward Steichens stellt, dessen von Kracauer bis Barthes vielfältig rezipierte S/W-Fotoinstallation The Family of Man (1951) bekanntlich auf das in Farbe gehaltene Lichtbild einer nuklearen Explosion zuläuft. Gewiss ist die filmische Simulation einer ›echten Bombe‹ reines Handwerk. Die inszenatorische Kunst besteht darin, erst mit einiger Verzögerung die existenzphilosophische Schockwelle einsetzen zu lassen, mit der etwa bei Günther Anders und Karl Jaspers das atomare (End‑)Zeitalter seinen Anfang nimmt.[5]

Interessant ist, was im Dunkeln bleibt – nämlich in erster Linie das humanitäre Elend in Hiroshima und Nagasaki. Lediglich in düster flackernden Visionen deuten sich die unmenschlichen Auswirkungen der atomaren Detonationen an. Freilich sind in Oppenheimers Halluzination nicht etwa die Einwohner*innen der japanischen Städte von den Konsequenzen ›seiner‹ Erfindung betroffen, sondern, wohl in Vorausahnung einer künftigen sowjetischen Bombe, seine ihm nach dem Abwurf begeistert zujubelnden Mitarbeiter*innen. Mit einer gewissen »Apokalypse-Blindheit« (Günther Anders) geschlagen, in der die Atombombe zu einem zwar fürchterlichen, doch nicht mehr fassbaren Instrument moderner Kriegsführung vergeistigt wird, ist Oppenheimer in der Tat Zerstörer von (abstrakten) Welten – und nicht von menschlichen Individuen. Dass der Film in Japan, aber auch in japanischstämmigen Communities der USA sehr kritisch und als »morally half-formed« aufgenommen wird, verwundert wenig.[6]

Für einen Film über moderne Physik und ihre politischen Verstrickungen, der selbst für das physikalisch Undarstellbare ästhetische Bilder findet, ist die Ausblendung ihrer Opfer jedenfalls eine bemerkenswerte Entscheidung. Verbietet wirklich der »Respekt vor den Opfern der US-Atombombenabwürfe«[7] eine wie auch immer geartete Verbildlichung? Ist das eine Frage der Pietät oder nicht doch victim erasure? Für ein Paar nackter Brüste hat die Produktionsfirma bereitwillig ein R-Rating in Kauf genommen. Es kann also nicht an der Altersfreigabe in den USA liegen, dass man Oppenheimer in einem Briefing über den militärischen Einsatz der Bomben nicht über die Schulter blickt, sondern nur beim bedeutungsschwangeren Wegschauen zuschaut. Das atomare Grauen offenbart sich, wenn überhaupt, nur als scheinbar tiefsinniger Reflex in Oppenheimers wasserblauen Augen.

Das Problem ist nicht neu: Bereits John Herseys Reportage im New Yorker (1946), die nach der anfänglich euphorischen Befürwortung des noiseless flash auch in den USA eine Art von »Atommoral« (Hans Blumenberg) wachrief, führte das Leid der Betroffenen zensurbedingt rein sprachlich vor Augen.[8] Filmische Adaptionen wie Joffés Schattenmacher oder die BBC-Serie Oppenheimer (Regie: Barry Davis, GB 1980) bildeten die japanischen Opfer ebenso wenig ab wie The Family of Man, zu der auch in Hiroshima tätige Kriegsfotografen beigetragen haben. Vor diesem Hintergrund wirkt Nolans Ansatz nicht nur unoriginell, sondern geradezu antiquiert. In Anbetracht gegenwärtig auflebender Bedrohungsszenarien wirft der Film die Frage auf, ob die Nicht-Darstellung, die hinter künstlerisch ambitioniertere Ansätze zurückzufallen scheint, mit einem zwischenzeitlich totgeglaubten Endzeitdiskurs korrespondiert, wie er im deutschen Sprachraum etwa bei Karl Jaspers, Erwin Chargaff und anderen kulturpessimistischen Wissenschafts- und Technikkritikern fassbar wird. Wozu die Bombe noch immer als »ontologisches Unikat« (Anders) sakralisieren?

Slavoj Žižek hat in einem in der Berliner Zeitung erschienenen Artikel an Oppenheimer nur eines auszusetzen: Der Film versäume es, »deutlich zu machen, dass die Beschwörung jeglicher Art von ›spiritueller Tiefe‹ den Schrecken der neuen, von der Wissenschaft hervorgebrachten Realität vernebelt«. Um der ›nackten Apokalypse‹ entgegenzutreten, brauche es das »Gegenteil von spiritueller Tiefe: einen völlig respektlosen komischen Geist«[9] – ganz klassisch: Lachen als Mittel der Entspannung. Das ist natürlich nicht der einzig mögliche Weg: Während Alain Resnais in Hiroshima, mon amour (F 1959) dokumentarische Elemente mit fiktionalisierten Szenen zu einem poetischen Bilderstrom verwebt, ist in dem auf einer autobiografischen Graphic Novel basierenden Anime-Film Barfuß durch Hiroshima (Regie: Mori Masaki, J 1983) die Sequenz des Bombenabwurfs in ihrer zeichnerischen Drastik schwer auszuhalten. Womöglich hätte wenigstens die Suggestion eines Einbruchs historischer Empathie in die filmische Realität auch Oppenheimer gutgetan.

Oppenheimer ist ein sehenswerter Film. Man sollte sich allerdings im Klaren darüber sein, dass er sich darin genügt, die Banalität einer Wissenschaft auszustellen, die im Krieg einfach zu funktionieren hat: Was gemacht werden kann, wird gemacht. Das Nachdenken darüber kommt – wie die Sichtbarkeit der Fortschrittskonsequenzen – immer erst ex post. Gerade mit Blick auf die historische Person Oppenheimer wird die gleichzeitig betriebene Mythisierung damit fragwürdig. Anstatt Oppenheimer zum modernen Prometheus, zum Vordenker amerikanischen Könnensbewusstseins zu stilisieren, hätte man mit gleichem Recht dessen weniger berühmten Bruder als mythische Vorlage wählen können. Schließlich war Epimetheus, der Nachdenker, dafür verantwortlich, dass die Büchse der Pandora in die Welt der Menschen kam.

 

Die Chemikerin und Literaturwissenschaftlerin Magdalena Gronau ist Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung. Gemeinsam mit dem Althistoriker Martin Gronau bearbeitet sie am ZfL das Projekt »Die Philologie der Physiker. Angewandtes Textwissen in der Wissenschaftskultur der Quantenphysik«.

 

Gefördert von der VolkswagenStiftung.

[1] Andreas Schreiner: »Dr. Oppenheimer oder: Wie er lernte, die Bombe zu lieben«, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.7.2023.

[2] Kai Bird/Martin J. Sherwin: American Prometheus. The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer, New York 2006.

[3] Der Wissenschaftshistoriker David Cassidy hat kürzlich in einem Interview darauf aufmerksam gemacht, dass im Fall Oppenheimers von Genialität nicht unbedingt die Rede sein kann – und noch viel weniger von politischer Naivität und Märtyrertum. Adrian Cho: »Oppenheimer hätte einen Nobelpreis bekommen«, in: Süddeutsche Zeitung, 25.7.2023.

[4] Vgl. Siegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, with an Introduction by Miriam Bratu Hansen, Princeton, NJ 1997 [1960], S. 305.

[5] Vgl. Ilona Stölken-Fitschen: »Der verspätete Schock. Hiroshima und der Beginn des atomaren Zeitalters«, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 139–155.

[6] Emily Zemler: »Critics say omitting the Japanese toll makes ›Oppenheimer‹ ›morally half-formed‹«, in: Los Angeles Times, 4.8.2023.

[7] Michael Schleicher: »›Oppenheimer‹ von Christopher Nolan: Der Popstar der Physik«, in: Merkur, 19.7.2023.

[8] John Hersey: »Hiroshima«, in: The New Yorker, 23.8.1946.

[9] Slavoj Žižek: »Slavoj Zizek über ›Indiana Jones‹, ›Barbie‹ und ›Oppenheimer‹: Wer verträgt die Wahrheit nicht?«, in: Berliner Zeitung, 20.7.2023.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Magdalena Gronau/Martin Gronau: Physiker in der (Alb-)Traumfabrik. Christopher Nolans Oppenheimer, in: ZfL Blog, 31.8.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/08/31/magdalena-gronau-martin-gronau-physiker-in-der-alb-traumfabrik-christopher-nolans-oppenheimer].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230831-01

Der Beitrag Magdalena Gronau/Martin Gronau: PHYSIKER IN DER (ALB-)TRAUMFABRIK. Christopher Nolans Oppenheimer erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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