Berlin Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/berlin/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 24 May 2024 08:53:55 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Berlin Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/berlin/ 32 32 Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/ Fri, 24 May 2024 08:22:47 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3300 Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Weiterlesen

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Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt.[3] Obwohl das Wort »dämonisch« nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren.

Gemäß Goethes berüchtigter Antidefinition in Dichtung und Wahrheit (1831) manifestiert sich das Dämonische nur als Widerspruch. Seine Struktur ist ein Weder-noch: weder göttlich noch menschlich, weder teuflisch noch engelhaft, weder unvernünftig noch verständig, weder Zufall noch Vorsehung. Während die Dämonen von Anbeginn von Dämonologien eingehegt wurden, zelebriert das Dämonische einen Bruch mit dem Logos. Deshalb wandert es aus dem Bereich der Theologie und Philosophie in ästhetisch-existenzielle Zusammenhänge: Goethe, der das Dämonische in einer Entscheidungskrise erlebte, flüchtet sich gegen Ende seiner gescheiterten Definition »hinter ein Bild«, womit er die literarische Figur seines Egmont meint.[4] Bei Georg Lukács fließt das Dämonische schließlich in die Theorie des Romans ein.[5] Das Dämonische streift die Phantastik ab und wird zum Signum der Moderne.[6]

Auch Benjamin assoziiert das Dämonische mit der Moderne. Er nähert sich der ambivalenten Kategorie in mehreren Texten und aus unterschiedlichen Richtungen: von Goethe in seinem großen Wahlverwandtschaften-Aufsatz (1924/25), von Karl Kraus, den Benjamin als dämonische Gestalt einer unerlösten Moderne porträtiert,[7] oder vonseiten der jüdischen Dämonologie – wie nicht zuletzt Giorgio Agamben (der Partei für die Engel ergreift) auf den Spuren von Gershom Scholem betont.[8] Aus diesen Blickwinkeln zeigt sich das Dämonische tief in Benjamins Geschichts- und Sprachphilosophie eingebettet. Dagegen nimmt Das dämonische Berlin, das in der Forschung kaum Beachtung fand, eine scheinbar naive, kindliche Perspektive ein. Das Dämonische offenbart sich ausgerechnet in »einer klaren prosaischen Stadt«, die dem Aberglauben und Ominösen abschwören will.[9]

Die Wendung »dämonisches Berlin« stammt von dem Germanisten und Museumsdirektor des Märkischen Museums Otto Pniower, der in einem Aufsatz historische Berliner Schauplätze in Hoffmanns Erzählungen identifizierte.[10] Benjamin, der Pniowers Ansatz folgt, eröffnet Das dämonische Berlin mit einer Kindheitserinnerung: Als er vierzehn Jahre alt war, kam der Komponist und Musikschriftsteller August Halm in seine Schule, um Hoffmann vorzulesen. Wozu jemand solche unerklärlichen Geschichten schreibe, wollte Halm bei einem späteren Besuch erklären. Dazu kam es nicht, und so versuchte Benjamin, die Frage selbst zu beantworten. In einem ersten Schritt ersetzte er das Wozu durch ein Warum: Warum schreibt einer so bizarre Geschichten? Seine Antwort: Hoffmann gehört zu denjenigen Schriftstellern, die »von ihren Figuren besessen sind«, von phantastischen Visionen heimgesucht werden und sich erst beruhigen, wenn sie diese niederschreiben.[11]

Einen Monat nach Ausstrahlung von Das dämonische Berlin, im März 1930, führte Benjamin seine Antwort in dem Vortrag E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza für den Frankfurter Rundfunk weiter aus: Hoffmann erzähle Geschichten, »um die Figuren, Arabesken, Ornamente festzuhalten, in denen alte Geister- und Naturdämonen ihr Wirken in der Tageshelle des neuen Jahrhunderts […] einzuzeichnen suchen«.[12] Er verleihe archaischen Naturmächten, die in der Moderne verdrängt wurden, ein Sprachrohr. Das Dämonische wird zur Wiederkehr der vorgeschichtlichen Dämonen in der »Tageshelle«. Der Dichter erscheint folglich als ein von besessenen Figuren Besessener, als dämonisches Medium. Sein Schreiben ist ein Exorzismus.

In einem zweiten Schritt thematisiert Benjamin die Wirkung von Hoffmanns Texten: Die dämonischen Mächte, von denen sich der Dichter schreibend befreit, fahren in die Leserinnen und Leser seiner Geschichten. Benjamin erinnert sich, wie er, als seine Eltern einmal nicht zu Hause waren, als Kind heimlich Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) las und plötzlich »alle Schrecken wie Fische mit stumpfen Mäulern sich allmählich in der umgebenden Dunkelheit um die Tischkanten sammelten, so dass meine Augen wie an einer rettenden Insel sich auf die Buchseiten hefteten, aus denen doch alle diese Schrecken kamen«.[13] Das Dämonische verwandelt sich von einer Naturmacht in eine literarische Überwältigung. Das Medium Schrift wird zum Ursprung der dämonischen Versuchungen, vor denen es uns zugleich zu retten verspricht. Nicht mehr der Autor oder der Text, sondern die Lesenden sind nun dämonisch.[14]

Die »Fische mit stumpfen Mäulern« sind ein Echo der Bergwerke zu Falun, deren Protagonist Elis Fröbom vom Meeresgrund träumt, um in der Dunkelheit eines Stollens zu verschwinden. Doch zugleich erinnern sie an die Dämonen, die den Heiligen Antonius auf zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Darstellungen aus der Dunkelheit bedrängen. So bildet sich etwa auf einem Gemälde von Jan Brueghel d. Ä. (1603/04), das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet, ein dämonischer Lesekreis um den Heiligen, der sich in einer grotesken nächtlichen Landschaft in ein Buch vertieft. Die Dämonen werden von dem Licht und der Lektüre angelockt, die sie seltsamerweise selbst erst ermöglichen: ein Frosch-Dämon leuchtet dem lesenden Antonius mit der Fackel. Das Dämonische offenbart sich im hermeneutischen Drama von Dunkelheit und rettendem Licht der Schrift.[15]

Nach dieser Lektüreszene kommt Benjamin in einem dritten Schritt wieder auf den Dichter zurück, dem er ein erzählerisches »satanisches« Wissen attestiert, das »die Geister unter ihrer raffiniertesten Verkleidung aufspürt«.[16] Eine solche Gabe hätte man früher in der monastisch-mystischen Tradition, die Antonius repräsentiert, als »Unterscheidung der Geister« bezeichnet.[17] Bei Benjamin erscheint sie in einem profanen urbanen Licht: Hoffmann erfinde seine Gestalten nicht, er erspähe sie in der Großstadt (nicht in der Wüste). Er entdecke sie hinter der Fassade des preußischen Bürger- und Beamtentums, dem der Autor selbst angehört. Für ihn sei immer »Geisterstunde«, auch »in diesem vernünftigen Berlin am hellen Mittag« begegne ihm das Dämonische.[18] Daher sei er »weniger ein Seher, als ein Anseher«; ein genauer Beobachter, ein »Physiognomiker von Berlin«, der eine Tradition gründet, die laut Benjamin in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) kulminiert.[19]

Die alte »Unterscheidung der Geister« wird zur Physiognomie. Man könnte mit Georg Friedrich Lichtenberg – dem Benjamin sein letztes Hörspiel Lichtenberg. Ein Querschnitt (1933) widmete – von einer Pathognomik sprechen, der Beobachtung der affektiven Regungen und Bewegungen. Das ist die »Kunst zu schauen«, wie wir sie insbesondere in Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) finden: Das Alltagstreiben auf dem Berliner Gendarmenmarkt wird aus diesem »Eckfenster der Moderne«[20] zu einem Wimmelbild in »Callots Manier« – man denke an Jacques Callots Radierung Die Versuchungen des Hl. Antonius (zweite Version 1635), die Hoffmann in der Einleitung seiner Fantasiestücke (1814/15) erwähnt (und die später über Gustave Flauberts Arbeitstisch hing). Das Phantastische konvergiert bei Hoffmann mit dem Realistischen, den Versuchungen des Marktes. Das Dämonische äußert sich in den anonymen urbanen »Figuren, Arabesken, Ornamenten«, die die individuellen Schicksale bestimmen und deren historische Schichtungen Benjamin in seinen eigenen Berlin-Texten untersucht.[21] Damit wird endlich das Wozu geklärt – nicht das Wozu des Dichters, sondern das des Lesens: Wir sollen Hoffmanns Texte lesen, als ob ihr Zweck darin bestünde, die affektiven, sozialen, ökonomischen Zwänge aufzudecken, die sich hinter der scheinbaren Tageshelle unsrer eigenen Gegenwart immer noch verbergen. So endet Das dämonische Berlin mit einer Lektüreanweisung.

Abschließend möchte ich eine weitere Ebene andeuten, die Benjamin nicht dezidiert anspricht: 25 Jahre nach seiner Begegnung mit Halm, der 1929 starb, schlüpft Benjamin in dessen Rolle, um lauschenden Kindern eine Antwort zu geben. Der Vortrag ist damit selbst eine dämonische Wiederkehr; die Radiostunde eine Geisterstunde. Das junge Medium des Radios, das den mesmeristischen Phantasien und unheimlichen Automaten Hoffmanns entgegenkommt, musste zwangsläufig als dämonisch empfunden werden. Das »Stimmenhören« wird zur elektromagnetischen Technik. Benjamin, der in einem Brief an Scholem erwähnt, dass er ein »Hörfunkspiel über Spiritismus« plant,[22] ist sich der spiritistischen Anklänge des Medienbegriffs bewusst. Im Vortrag über Hoffmann und Panizza betont er – unter Rückgriff auf die Erzählung Die Automate (1814) –, dass Hoffmann Musiker, nicht bloß Physiognomiker war. Als solcher habe er »wirkende Zusammenhänge mit der fernsten Urzeit« im »Hörbaren« erkannt.[23] Dies gilt für den Gesang und die Musik, in der die Romantik einen verzerrten Nachhall einer natürlichen pantheistischen Harmonie erkennen will. In der Maschinenmusik, die in Die Automate verdammt wird (man denke an den aktuellen Widerstand gegen KI in der Musikindustrie), äußert sich hingegen das dämonische Prinzip der Moderne, welche das Radio mit der lebendigen Stimme versöhnen wird. Für Benjamin überwindet das Radio diesen »manichäischen« Dualismus von »Schein und Leben«, Technik und Liebe, den Hoffmann verficht.[24] Das Radio ermöglicht eine Chance, die dämonische Moderne mit dämonischen Mitteln zu überwinden.

Jakob Moser ist Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Philosophie der Universität Wien und forscht zur Geschichte und Theorie dämonischer Trugbilder. Im Sommersemester 2024 ist er Gastwissenschaftler am ZfL.

[1] Siehe hierzu den grundlegenden Sammelband: Eva Geulen/Kirk Wetters/Lars Friedrich (Hg.): Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014.

[2] Goethe schreibt in seiner polemisch zugespitzten Übersetzung von Walter Scotts Essay über Hoffmann: »Es ist unmöglich, Märchen dieser Art irgendeiner Kritik zu unterwerfen; […] es sind fieberhafte Träume eines leichtbeweglichen kranken Gehirns.« Zit. nach: Hartmut Steinecke: »Kommentar«, in: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 3, hg. v. dems., Frankfurt a.M. 2009, S. 949.

[3] Vgl. Walter Benjamin: »Das dämonische Berlin«, in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Christoph Göde/Henri Lonitz, Bd. 9.1: Rundfunkarbeiten. Texte, hg. von Thomas Küpper/Anja Nowak, Berlin 2017, S. 206–212, hier S. 206-212.

[4] Dies betont Martina Wagner-Egelhaaf: Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020, S. 170ff.

[5] Vgl. Kirk Wetters: »The Luciferian and the Demonic in Georg Lukácsʼ ›Die Theorie des Romans‹«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 243–266. Siehe auch das Projekt von Patrick Eiden-Offe am ZfL.

[6] Dies verhindert freilich nicht, wie Martina Wagner-Egelhaaf kürzlich in einem Vortrag im Warburg-Haus in Hamburg demonstrierte, dass Dämonen als metaphorische Kräfte in Gegenwartsliteratur und ‑theater Hochkonjunktur haben.

[7] Vgl. Eva Axer: »Alldeutig, mehrdeutig, undeutig. Walter Benjamins ›Bezwingung‹ dämonischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 325–343.

[8] Vgl. Giorgio Agamben: »Walter Benjamin und das Dämonische«, in: ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. von Francesca Raimondi, Frankfurt a.M. 2013, S. 237–273.

[9] So der Philosoph Fritz Mauthner, der über Goethes »Aberglauben« bezüglich des Dämonischen schreibt: »je höher ein Mensch, desto mehr stehe er unter dem Einfluß der Dämonen; Raphael, Mozart, Napoleon, auch Lord Byron, werden dämonisch genannt; das Dämonische werfe sich gern an bedeutende Figuren; in einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren.« Zit. nach Cornelia Zumbusch: »Dämonische Texturen. Der Durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 79–95, hier S. 79.

[10] Vgl. Otto Pniower: »E. T. A. Hoffmanns Berlinische Erzählungen«, in: Archiv der Brandenburgia. Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin 12.II (1907), S. 6–25. Vgl. auch Michael Bienert: E. T. A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze, Berlin 2015.

[11] Vgl. Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 207.

[12] Walter Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza«, in: ders.: Rundfunkarbeiten (Anm. 3), S. 458–467, hier S. 461.

[13] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 208.

[14] Dies argumentiere ich ausführlich in meinem Buch Lesende Dämonen. Schrift als Versuchung, Wien/Berlin 2022.

[15] Zu Brueghels Bild ebd., S. 42–47.

[16] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[17] Zu diesem Begriff siehe z.B. Niklaus Largier: »Rhetorik des Begehrens. Die ›Unterscheidung der Geister‹ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität«, in: Martin Baisch u.a. (Hg.): Inszenierung von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein i. Ts. 2005, S. 249–270.

[18] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[19] Vgl. ebd., S. 210.

[20] Ich übernehme diesen Ausdruck von Helmut Lethen: »Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann«, in: ders.: Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg. i. Br. 2009, S. 9–42.

[21] Zu Benjamins Straßen-Literatur vgl. Gerhard H. Hommer: Attraktionen der Straße. Eine Berliner Literaturgeschichte 19271932, Göttingen 2021.

[22] Dies bemerkt Reinhard Döhl: »Walter Benjamins Rundfunkarbeit«, in: Stuttgarter Schule.

[23] Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza« (Anm. 12), S. 461.

[24] Vgl. ebd., S. 462.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Jakob Moser: »Das Dämonische Berlin«: Walter Benjamin über E. T. A. Hoffmann, in: ZfL Blog, 24.5.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240524-01

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Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/ Fri, 06 Mar 2020 08:54:56 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1362 Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen Weiterlesen

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Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen mit den Veränderungen unserer städtischen Umgebung. Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts (2018), ein Buch der Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner, widmet sich auf originelle Weise speziell der Berliner Stadtlandschaft: »Gegenüber der Formgeschichte und dem Interesse an Strukturmerkmalen«, so Wagner über ihren Ansatz, »stehen vielmehr Beobachtungen alltäglicher Symptome im öffentlichen Raum der Stadt zur Debatte« (S. 11).

Komplementär dazu lässt sich das Buch des Architekten und Städtebauhistorikers Vittorio Magnago Lampugnani lesen, Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum (2019). Am Beispiel von – wie er es nennt – »Mikroarchitekturen« (etwa der Telefonzelle), »Objekten« (darunter der Abfallkorb und das Straßenschild) und »Elementen« (z. B. Schaufenstern) schärft er das Bewusstsein für die Vielfältigkeit unserer urbanen Umwelt. Sein Buch ist als ein Glossar angelegt, dessen Geschichten hinter den »kleinen Dingen« einander ähneln: Aus einer praktischen Notwendigkeit, die sich aus einer veränderten sozialen oder technologischen Situation ergibt (Industrialisierung, Aufschwung von Handel und Kommerz, Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel), entsteht etwas Neues, dessen Verbreitung in der Stadt – in der Regel – von den Kommunen finanziell zu stemmen ist:

»Jedes kleine Objekt des Stadtraums ist ein Ort, wo konkrete Bedürfnisse zu einer materialisierten Form finden.« (S. 11)

Während Wagner sich ganz auf Berlin konzentriert, beginnt Lampugnani viele seiner lehrreichen Einträge mit einer Rückschau auf die urbanen Zentren der Antike, um dann die Geschichten seiner Gegenstände durch Ausflüge in die europäischen Metropolen zu verfolgen – bevorzugt London, Paris oder eben auch Berlin. Architektur, Ästhetik und Kritik lassen sich bei dieser Form der Stadterkundung nicht trennen, denn »[d]ie kleinen Dinge im Stadtraum sind […] funktional, technisch und ökonomisch bestimmt und haben dabei oft einen hohen gestalterischen Anspruch« (S. 8). Da Lampugnani diesen Anspruch aber mehr und mehr schwinden sieht, verschafft sich in nicht wenigen seiner Einträge am Ende die mahnende Stimme des Kulturkritikers Gehör. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht das Fazit seiner Ausführungen zum Kiosk:

»Heute, da es kaum mehr Stadtarchitekten gibt, weil diese Position in der Verwaltung faktisch abgeschafft wird, um der Politik mehr Spielraum zu gewähren, werden Gestaltung und Unterhalt der modernen Kioske privaten Firmen überlassen. Sie achten Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und eine gewisse modische Eleganz; Verantwortung für die Stadt und ihre Identität übernehmen sie nicht.« (S. 23)

So mancher Neuerung steht er deshalb skeptisch gegenüber. Kritik erntet beispielsweise die »Gedankenlosigkeit, mit der heute Bänke im städtischen Raum aufgestellt werden«, was aus seiner Sicht zur Verbreitung von »urbanem Kitsch« (S. 80) beitrage. Bei jeglicher Stadtmöblierung, da ist Lampugnani zuzustimmen, geht es eben nicht nur um Funktionalität und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch um ästhetische Fragen, die Auswirkungen auf die spezifische Kultur und Identität konkreter soziale Räume haben. Jedes dieser Dinge, etwa die Straßenlaterne, trägt »städtebauliche Verantwortung« (S. 89). Die Identität einer Stadt wird demnach von langlebigen Objekten (dem Brunnen, dem Straßenschild) ebenso geprägt wie von vergleichsweise kurzlebigen; man denke nur an die grellorangen Straßenmülleimer der Berliner Stadtreinigung mit ihren witzigen Sprüchen, die über die Grenzen der Stadt zu deren frischen Image beigetragen haben. Lampugnanis Ausführungen sind somit nicht frei von normativen Vorstellungen, im Gegenteil. Stadtplaner*innen, Architekt*innen und Kommunalpolitiker*innen täten gut daran, sich eingehender mit ihnen auseinanderzusetzen.

Um Kultur und Identität des städtischen Raums geht es auch bei Monika Wagner. Entlang einiger Beispiele, die ausschließlich dem Berliner Stadtraum entstammen, unternimmt sie »eine historische Rekonstruktion der Produktion, Funktion und Bewertung von Oberflächen sowie der durch sie erzeugten Atmosphären« (S. 11). Die Oberflächen, die sie in den Blick nimmt (Asphalt, Glas, Beton, Naturstein, Keramik usw.), markieren dabei eine Grenze zwischen dem Innenraum der Häuser und ihrem Außen, eine Grenze, mit der die Menschen in der Stadt fortwährend in Berührung geraten. Was eingangs noch ein wenig nüchtern klingt, wird zu einem faszinierenden Parcours durch die jüngere Architekturgeschichte Berlins. Mit dem Aufstieg zu einer Metropole der Moderne in den 1920er Jahren beginnend, widmet sich Wagner im Hauptteil ihres Buches vergleichend der Ausgestaltung von Stalinallee und Hansaviertel, bevor sie abschließend die Friedrichstraße nach dem Fall der Mauer erreicht.

Anhand der nach dem Ersten Weltkrieg vorangetriebenen Asphaltierung der Straßen beschreibt sie die grundsätzliche Ausdifferenzierung der großstädtischen Bevölkerung in Autofahrer und Fußgänger, denen sich die Oberflächen unterschiedlich darstellen. Während die Fußgänger auch weiterhin mit den Oberflächen der Häuser und Straßen in engeren Kontakt kamen (auf dem Gehweg, beim Blick ins Schaufenster), nahmen die Menschen in den Autos Straßenbeläge nur noch vermittelt und die Fassaden der Häuser als rhythmisierte Bewegtbilder wahr. Diese wurden zusätzlich akzentuiert durch Glas und Licht als Elementen einer modernen Architektur, die ihre materiellen Grundlagen zum Verschwinden bringen wollte. Ausführlich bespricht Wagner die Wirkung von Fassadengestaltungen unter den Aspekten Horizontalität und Vertikalität. Sie beruft sich dafür u. a. auf Erich Mendelsohn, verantwortlich für den Umbau des Mossehauses, der die Horizontale mit Demokratie und Freiheit assoziiert, und auf Siegfried Kracauer, der die Vertikale als Ausdruck staatlicher Gewalt interpretiert. Doch erst im komplexen Zusammenspiel der Linien entstehen in der realen Stadt Effekte, die von Bewohner*innen und Besucher*innen abhängig von der jeweiligen historischen Perspektive wahrgenommen werden und differenzierter Interpretationen bedürfen.

Nach dem Krieg und der Teilung Berlins herrschten in Ost und West unterschiedliche Vorstellungen vom öffentlichen Raum, und dabei gerieten auch die Oberflächen zu einem »Schauplatz der Systemkonkurrenz« (S. 12). »Dem öffentlichen Raum der Stadt als Ort staatlicher Repräsentation, sozialer Gemeinschaftsbildung und wechselseitiger Kontrolle kam in der DDR höchste Aufmerksamkeit zu«, schreibt Wagner (S. 70). Sie zeigt dies an der heutigen Karl-Marx-Allee, die im Krieg zerstört und ab 1951 als Stalinallee neu bebaut wurde. Die mehrspurige Fahrbahn, die auch für Aufmärsche herzuhalten hatte, wurde dabei durch monumentale Fassaden gesäumt. Zwar kamen hier überwiegend die gleichen Materialien zum Einsatz, doch die einzelnen Fassaden wurden im Detail unterschiedlich ausgestaltet; dies erschließt sich dem Fußgänger in der Nahsicht aber tatsächlich sehr viel eindrücklicher als dem Autofahrer. Lange Zeit für ihren ›Zuckerbäckerstil‹ verachtet, sind die Wohnhäuser heute wieder extrem angesagt. Im Westteil wurde demgegenüber 1957 das – heute ebenfalls ausgesprochen populäre – Hansaviertel mit seinen freistehenden Hochhäusern inmitten eines durchgrünten Stadtraums präsentiert.[1] So unterschiedlich die beiden städtebaulichen Ansätze auch in politisch-ideologischer Hinsicht waren, sieht Wagner doch Gemeinsamkeiten, was die »erstaunliche Materialvielfalt und die taktilen Angebote« betrifft (S. 95), zumal im Vergleich zum Neuen Bauen der 1920er Jahre mit seinen glatten Oberflächen. In »Einsatz und Gestaltung der Materialien« (ebd.) unterscheiden sich die beiden Vorzeigeprojekte gleichwohl. Überzeugend vertritt Wagner die These, dass in beiden Fällen »Oberflächen aus Naturstoffen und handwerklich verarbeiteten Materialien« geschaffen worden seien, deren Verwendung in Westberlin aber auf eine Integration von modernem Wohnen inmitten gestalteter Natur abgezielt habe, während »die Handwerklichkeit der Oberflächen der Stalinallee […] die Integration in eine Gemeinschaft der Werktätigen« verfolgt habe (S. 110).

Wagner widmet sich überaus anschaulich den Materialien, die den Gebäuden der Stalinallee im Zusammenspiel mit vielfältigen architektonischen Elementen (Balkone, Balustraden, Kolonnaden usw.) abwechslungsreiche Reliefstrukturen verleihen. Anfänglich ließ sich die Opulenz dieser Fassadengestaltung noch als Ausdruck des Reichtums der neuen sozialistischen Gesellschaft deuten, zeugte diese doch nicht zuletzt von großer handwerklicher Kunst. Doch schon bald wollte dieser Stil nicht mehr so recht zur Politik der DDR passen, die an einer stärkeren Industrialisierung des Bauens interessiert war – und deren Verwirklichung dann später in den monotonen Plattenbauten der 1970er Jahre ihren prägnantesten Ausdruck fand. Noch heute bemerkenswert sind die unterschiedlichen Kacheln, die symbolisch »zwischen Tradition und Innovation, zwischen Handwerk und Industrie« (S. 81) stehen. Ihr Ausgangsmaterial Ton, »der ideale Alleskönner«, wird von Wagner als »Scharnier zwischen den materiellen Produktionsbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der staatlichen Gemeinschaftsideologie und der Ästhetik des ›kleinen Mannes‹« interpretiert (S. 84). Dies zeigt sich besonders schön auch an den Bildprogrammen, die sowohl auf den Kacheln als auch an skulpturalen Elementen zum Einsatz kommen (etwa den Keramikreliefs am von Richard Paulick gestalteten Block C der Stalinallee, die deren Aufbau illustrieren).

Zur Stützung ihrer übergeordneten These legt Wagner in ihrer Interpretation des Hansaviertels ein besonderes Augenmerk auf die Gestaltung der Fußgängerwege, deren unregelmäßige Ränder Weg und Grünfläche ineinander übergehen lassen. Ausführlicher betrachtet sie auch den Bau der Akademie der Künste von Werner Düttmann, bei dem u. a. Backstein, Marmorkiesel und Kupfer verwendet wurden:

»Die Materialien betonen ihre Herkunft aus der Natur und evozieren eine scheinbar einfache, handwerkliche Bearbeitung. Damit verstärken sie das Konzept der Stadtlandschaft als Versöhnung von Natur und Moderne.« (S. 109)

Wagners Buch eignet sich hervorragend als Vademecum für ausgedehnte Spaziergänge, sei es durch das Hansaviertel, sei es entlang der Karl-Marx-Allee – oder auch in der neuen Mitte Berlins, wo heute die unterschiedlichsten Architekturstile aufeinandertreffen, in denen das Glatte (Glas, Marmor etc.) und das Raue (etwa Schrottskulpturen, Spolien u. a.) neben- und miteinander angeordnet sind. Hier finden sich städtische Räume – wie etwa die Friedrichstadt-Passagen –, deren Schaffung sich offensichtlich in erster Linie der Logik von Investoren verdankt und weniger urbanistischer Einsicht und Erkenntnis. Beide Bücher tragen dazu bei, derartige Eindrücke zu erklären.

[1] Es ist beispielsweise Schauplatz eines Romans von Helene Hegemann, Bungalow (2018).

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Dirk Naguschewski ist am ZfL zuständig für Wissenstransfer und Kommunikation.

Dieser Text steht unter der Lizenz CC BY‑NC‑ND 3.0 Germany.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Dirk Naguschewski: Auf Tuchfühlung mit deiner Stadt. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani, in: ZfL BLOG, 6.3.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200306-01

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Patrick Hohlweck: ZEITMASCHINEN – Tangerine Dream in Berlin, 1980 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/04/23/patrick-hohlweck-zeitmaschinen-tangerine-dream-in-berlin-1980/ Tue, 23 Apr 2019 08:08:04 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1101 Ende Januar 1980 machte sich die Westberliner Band Tangerine Dream auf in den Ostteil der Stadt. Ihr Ziel war der Palast der Republik, in dessen Großem Saal sie im Rahmen der Jugendkonzerte des Radiosenders DT 64 auftreten sollte: gleich zweimal – so meldete es der Spiegel im Vorfeld – vor insgesamt 5.800 Zuhörern. Es sollte Weiterlesen

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Ende Januar 1980 machte sich die Westberliner Band Tangerine Dream auf in den Ostteil der Stadt. Ihr Ziel war der Palast der Republik, in dessen Großem Saal sie im Rahmen der Jugendkonzerte des Radiosenders DT 64 auftreten sollte: gleich zweimal – so meldete es der Spiegel im Vorfeld – vor insgesamt 5.800 Zuhörern. Es sollte der erste Auftritt einer westdeutschen Rockgruppe in der DDR werden, noch zweieinhalb Jahre vor Udo Lindenbergs vielbeachtetem, von langem Werben vorbereitetem Konzert in Ostberlin. Die nach 1990 etablierte Erzählung dieser Episode der Popgeschichte lautet folgendermaßen: Die futuristischen Klänge Tangerine Dreams und die von ihnen vorgeführten technischen Möglichkeiten hätten die Zuschauer so sehr beeindruckt, dass einige von ihnen in der Folge selbst die Flucht aus dem realsozialistischen Alltag mittels elektronischer Musik erprobten. Das Konzert sei so zur Initialzündung einer Reihe von zum Teil kurios anmutenden Electronic Escapes from the Deutsche Demokratische Republik geworden.[1]

Im Mittelpunkt des Formats Popmusik stehen, wie Diedrich Diederichsen erklärt, »empirische, konkrete Personen […] – zunächst repräsentiert durch die einmaligen Geräusche, die ihr Körper hervorbringt«.[2] Diese Fokussierung auf die Körperlichkeit des Stars, ohne die Popmusik nicht auskommt (und sei es im Modus der Simulation: man denke an die jahrzehntelange Praxis der Fernsehauftritte von Bands mit nicht angeschlossenen elektrischen Gitarren, begleitet von einem angedeuteten Schlagzeugspiel), wurde mit der Verbreitung von consumer electronics als Instrumenten prekär. Denn das Grundprinzip elektronischer Klangsynthese, die Umwandlung von Elektrizität in sonisches Material durch Manipulation, bricht mit der vormals festen Verbindung von Material und Gestalt eines Instruments und dem Klang, den es produziert. Anders als bei akustischen Instrumenten, wo die Töne durch Schwingungen des Klangkörpers oder in ihm entstehen, oder bei elektrischen Instrumenten, wo diese Schwingungen elektrisch verstärkt werden, ist elektronische Klangsynthese von der Welt der (materiellen) Körperlichkeit auf eigentümliche Weise separiert und verändert auch die Formate der Präsentation und Rezeption: Im Vergleich zu Konzerten von, sagen wir, Udo Lindenberg wirkten die konzentrierten, im Sitzen vorgetragenen Performances von Tangerine Dream deshalb eher unspektakulär.

Möglich, dass es dieser Eindruck war, der die Verantwortlichen des Ministeriums für Kultur der DDR bewog, sich um ein Gastspiel von Tangerine Dream zu bemühen: Die Musik der Band war, wie Bandleader Edgar Froese bekannte, »wertfrei«, und angesichts ihrer überwiegend instrumentalen Kompositionen gab es keine ideologische Unbill zu befürchten. Gleichzeitig verfügte die Band, die als Aushängeschild der »Berliner Schule« elektronischer Rockmusik galt, über einige internationale Bekanntheit, weshalb ihr Auftreten in der realsozialistischen Pop-Provinz als eine veritable Sensation gelten würde.

Doch die Geschichte der Electronic Escapes aus der DDR lässt sich auch aus einer anderen Perspektive erzählen: Im Ostberliner Stadtteil Adlershof hatte man bereits 1956 in Räumlichkeiten, die zunächst dem Betriebslaboratorium für Rundfunk und Fernsehen (BRF) und später dem Rundfunk- und Fernsehtechnischen Zentralamt (RFZ) der Deutschen Post zugeordnet waren, ein »Labor für Akustisch-Musikalische Grenzprobleme« eingerichtet. Hier, in der Agastraße, wurde ein Instrument konzipiert, das den eigenartigen Namen Subharchord trug. Es knüpfte an eine Erfindung des Ingenieurs Friedrich Trautwein aus der Frühgeschichte der elektronischen Musik an, das Trautonium, sowie an dessen Weiterentwicklung, das Mixtur-Trautonium.

Das Trautonium, erstmals 1930 auf der Messe »Neue Musik Berlin« vorgestellt, wurde mit einem Bandmanual gespielt, d.h. mit einem um eine Saite gewickelten Widerstandsdraht und einer darunterliegenden Metallplatte. Das Hinunterdrücken der Saite auf die Metallschiene verursachte die Entladung eines Kondensators, der eine Kippschwingung und damit einen Ton entstehen ließ. Das Instrument wurde damit nicht über eine Tastatur gespielt, wie etwa ein Klavier oder eine Orgel, sondern wie ein abstrahiertes Saiteninstrument, und ermöglichte so kontinuierliche, nicht-diskrete Tonhöhenänderungen. Die entscheidende Neuerung des Trautoniums, deren Übernahme später dem Subharchord zu seinem Namen und einiger Brisanz verhalf, war sein Basieren auf der subharmonischen Tonreihe. Während die Klänge eines konventionellen Instruments aus einer harmonisch zusammengesetzten Summe von Tönen unterschiedlicher Tonhöhe gebildet werden (hierbei sind einem Grundton Obertöne zugeordnet, die zu ihm in einem Verhältnis stehen, das in Vielfachen ganzer Zahlen ausgedrückt werden kann), lässt sich die subharmonische Reihe oder Untertonreihe als Spiegelung der Obertöne am Grundton vorstellen, wobei die Frequenz des Grundtons dem Intervall entsprechend durch ganze Zahlen geteilt wird. Dieses Basieren auf der subharmonischen Reihe war zugleich Anlass kulturpolitischer Skepsis gegenüber den Adlershofer Plänen. Denn anders als Obertöne gibt es Untertöne in der Natur nicht; es handelte sich bei ihrer Hervorbringung also um ein techno-spekulatives Unterfangen, das Formalismusvorwürfe nahelegte. Zunächst konnte jedoch die Satisfaktionsfähigkeit für den Sozialistischen Realismus erfolgreich behauptet werden: Erste zaghafte Versuche einer sozialistischen Erkundung der akustisch-musikalischen Grenzprobleme sind nachhörbar auf der Sammlung Experimentelle Musik, die Mitte der 1960er Jahre auf dem DDR-Klassik-Label Eterna erschien. Das erste Stück der B-Seite heißt hier etwa: »Frequenztransponierung einer Tonfolge beim Spiel auf den gleichen Tasten innerhalb einer Oktave durch jeweilige Umschaltung der Teilungsverhältnisse eines subharmonischen Frequenzteilers. Die Teilungsverhältnisse sind: ½, ⅓, ⅕, ⅛.«

Die Subharchord-Entwickler hatten sich an den Bauplänen des Westberliner Mixtur-Trautoniums orientiert. Dieses war von dem Komponisten Oskar Sala, der 1930 bereits an der Einführung des Trautoniums beteiligt gewesen war, seit den späten 1940er Jahren weiterentwickelt und in der Folge nahezu eigenhändig in der Geschichte elektronischer Klangsynthese platziert worden. Ausgerechnet einer der vielleicht spektakulärsten Auftritte des Realen der Natur in der Kunst des 20. Jahrhunderts verdankt sich dem Mixtur-Trautonium: nämlich die Vogelschwärme in Alfred Hitchcocks Die Vögel (1961), die Sala unter alleiniger Verwendung seines Proto-Synthesizers zum Schreien brachte.

Ende der 1960er Jahre bekamen Tangerine Dream im Elektronik Beat Studio, das der Schweizer Komponist Thomas Kessler im Keller einer Wilmersdorfer Berufsschule eingerichtet hatte, die Möglichkeit, mit dem damals neuen Instrument Synthesizer zu experimentieren. Etwa zeitgleich wurde im Ostteil der Stadt trotz fortgeschrittener Planung das Vorhaben, das im Labor in Adlershof betriebene »Experimentalstudio für künstliche Klang- und Geräuscherzeugung« in größere Räumlichkeiten im Funkhaus Nalepastraße zu verlegen, bereits wieder abgebrochen: Offenbar hatte die Weiterentwicklung elektronischer Musik keine Priorität. Eines von nur einer Handvoll produzierten Exemplaren des Subharchords hatte in diesem neuen Studio das zentrale Instrument werden sollen. Stattdessen sollten einige Jahre vergehen, bis das Instrument Mitte der 1980er Jahre im »Studio für Elektroakustische Musik« der Akademie der Künste in der Luisenstraße wieder zum Einsatz kam. Zwischengelagert wurde es indes im Ostberliner Postmuseum an der Leipziger Straße, Ecke Mauerstraße, dem heutigen Museum für Kommunikation.

Nicht weit entfernt vom eingelagerten Subharchord, in dem sich die komplizierte Entwicklung elektronischer Musik in der DDR kristallisiert, müssen Tangerine Dream also Ende Januar 1980 mit mehreren Sattelschleppern voller technischen Equipments die Grenze nach Ostberlin überquert haben. Die Apostrophierung ihres Auftritts als deutsch-deutsche Entwicklungshilfe, als Ermutigung zur träumerischen Flucht aus der popmusikalischen Randzone, trifft – so könnte man etwas zugespitzt sagen – weniger die historischen Umstände, als dass sie ein hegemoniales Narrativ von der emanzipativen Kraft des Pop als geschichtlichem Prozess beschreibt, der sukzessiv zur Vollendung strebt. Kein Zweifel: Der Auftritt von Tangerine Dream in Ostberlin nimmt einen exponierten Platz in der deutschen Geschichte elektronischer Musik ein. Analog zur Funktionsweise des für elektronische Musik maßgeblichen Wechselstroms, der nicht linear, sondern in Intervallen übertragen wird, ist jedoch auch die Geschichte elektronischer Musik, wie Kodwo Eshun erläutert, nicht als Genealogie, sondern stets nur als Ensemble von Diskontinuitäten zu verstehen.[3] Nicht im Hinblick auf einen musikalisch verabreichten Eskapismus also ist Tangerine Dreams Konzert in Ostberlin bedeutsam, sondern im Hinblick auf ein technisches Potential, das bei ihm zur Aufführung kam und das als Echo einer unterbrochenen Geschichte von den Westberliner Krautrockern reimportiert wurde.

Dieses Potential, die historische Zeit aus den Angeln zu heben, verkörperte sich in Tangerine Dreams Synthesizern, von denen etwa der Ostberliner Musiker Reinhard Lakomy der Gruppe noch vor Ort ein Exemplar abkaufte. Zwar sollten noch im Laufe der 1980er Jahre mit dem Vermona Synthesizer (VEB Klingenthaler Harmonikawerke) und dem Tiracon 6V (VEB Automatisierungsanlagen Cottbus) zwei analoge Synthesizer in der DDR in Serie gehen. Doch die ostdeutschen Produktionsmöglichkeiten waren stark begrenzt, so dass Orte wie die Ostberliner Musikerkneipe »Melodie« in der Friedrichstraße oder das Westberliner Elektronikgeschäft »A bis Z« am Anhalter Bahnhof zu zentralen Anlaufstellen für Elektronikinteressierte wurden. Nicht selten bewegten sich Synthesizerkäufe aber, selbst wenn es sich um gebrauchte Instrumente handelte, angesichts des Wechselkurses finanziell in der Größenordnung von Immobiliengeschäften. Mittel der Wahl waren häufig die sogenannten »Devisenvergehen«: Selbst die Akademie der Künste wickelte ihre Instrumentenankäufe bisweilen auf nächtlichen Parkplätzen ab.[4]

Noch bevor der Ostberliner Radiosender DT 64 Ende der 1980er Jahre begann, mit »Electronics« eine wöchentliche Sendung auszustrahlen, deren Mitschnitte vielmehr umgekehrt in Westberlin kursierten, erschienen auf dem DDR-Pop-Label Amiga tatsächlich einige Alben elektronischer Musik. Reinhard Lakomys bereits 1981 veröffentlichtes Das geheime Leben war ein achtbarer Verkaufserfolg, seine Kollaboration mit Rainer Oleak von 1985, Zeiten, ist vielleicht eines der besten Alben elektronischer Musik aus Deutschland überhaupt. Ebenfalls auf Amiga erschien ein Mit- bzw. Ausschnitt des zweiten Tangerine-Dream-Konzerts im Palast der Republik. Das Album, nach den Konzerten noch in Ostberlin von der Band nachbearbeitet, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit das erste und auch einzige einer westdeutschen Popband, das in der DDR aufgenommen und produziert wurde. Teil der Vereinbarung mit dem Veranstalter DT 64 war, dass die Musik innerhalb der folgenden sechs Jahre nicht in Westdeutschland veröffentlicht werden würde. Ein Mitschnitt des ersten Konzerts des Tages erschien derweil in Westberlin als Bootleg unter dem Titel Staatsgrenze West, auf dem fiktiven Label VEB Schallplatten Quitzow (Katalognr. 08/15): Er unterteilt das Konzert in zwei Stücke, deren Titel nicht von der Band autorisiert waren: »Lustlose Planerfüllung« und »Antifaschistischer Schutzwall«.

[1] So die Compilation Mandarinenträume (Permanent Vacation), die zum dreißigjährigen Jubiläum des Konzerts 2010 einige in der DDR entstandenen Aufnahmen aus den Jahren 1981–1989 einem neuen Publikum zugänglich machte.

[2] Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik, Köln 2014, S. XVIII.

[3] Vgl. Kodwo Eshun: More Brilliant Than the Sun: Adventures in Sonic Fiction, London 1998, S. 9 [161].

[4] So der ehemalige Leiter des Studios für Elektroakustische Musik, Georg Katzer, im Interview mit Manfred Miersch, der die Geschichte des Subharchords mit beeindruckender Präzision und nahezu im Alleingang aufgearbeitet hat. 

 

Der Literaturwissenschaftler Patrick Hohlweck arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem ZfL-Projekt Lebenslehre – Lebensweisheit – Lebenskunst.

Sein Beitrag war Teil des Programms »Science is Pop! Kurzvorträge und Hörbeispiele zur Berliner Musikkultur«, das am 28.8.2018 vom ZfL im Museum für Kommunikation Berlin im Rahmen der Ausstellung »Oh Yeah! Popmusik in Deutschland« präsentiert wurde.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Hohlweck: Zeitmaschinen – Tangerine Dream in Berlin, 1980, in: ZfL BLOG, 23.4.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/04/23/patrick-hohlweck-zeitmaschinen-tangerine-dream-in-berlin-1980/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190423-01

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Lutz Greisiger: STRASSENKÄMPFE, LICHTBILDER, FOXTROTT. Zur Ausstellung »Berlin in der Revolution 1918/19: Fotografie, Film, Unterhaltungskultur« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/02/28/lutz-greisiger-strassenkaempfe-lichtbilder-foxtrott-zur-ausstellung-berlin-in-der-revolution-1918-19-fotografie-film-unterhaltungskultur/ Thu, 28 Feb 2019 09:54:28 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1042 2018/19 jähren sich zum hundertsten Mal die epochalen Ereignisse, die als Novemberrevolution und Spartakusaufstand in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen sind. Die Stadt Berlin, Hauptschauplatz der damaligen Vorgänge, begeht das Jubiläum mit einem »Themenwinter«, offenbar bestrebt, deren historischem Gewicht gerecht zu werden (bzw. es für das Stadtmarketing zu mobilisieren): »Über 250 Ausstellungen und Veranstaltungen« Weiterlesen

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2018/19 jähren sich zum hundertsten Mal die epochalen Ereignisse, die als Novemberrevolution und Spartakusaufstand in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen sind. Die Stadt Berlin, Hauptschauplatz der damaligen Vorgänge, begeht das Jubiläum mit einem »Themenwinter«, offenbar bestrebt, deren historischem Gewicht gerecht zu werden (bzw. es für das Stadtmarketing zu mobilisieren): »Über 250 Ausstellungen und Veranstaltungen« werden aufgeboten und im Podewil in der Klosterstraße gar ein »Revolutionszentrum« betrieben. Die zum Jahrestag der doppelten Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht am 9. November eröffnete Ausstellung im Museum für Fotografie nimmt die Ereignisse zwischen November 1918 und Mai/Juni 1919 aus verschiedenen Richtungen in den Blick und befasst sich neben der Dokumentarfotografie mit dem Kino und der Unterhaltungskultur, mit Operette, Revue, Kabarett und Tanz.

Hauptteil und Gerüst der Ausstellung bilden Fotografien aus den Beständen der Kunstbibliothek Staatliche Museen und von ullstein bild: etwa 120 Arbeiten von Willy Römer (1887–1979), den Gebrüdern Otto Haeckel (1872–1945) und Georg Haeckel (1873–1942) sowie anderen Fotografen, die mit ihren Plattenkameras das Geschehen begleiteten und dokumentierten. Die Aufnahmen von den Massendemonstrationen, Streikkundgebungen und Einzügen heimkehrender Frontsoldaten, von den heftigen Kämpfen und den Zerstörungen in der Stadt werden in chronologischer Reihenfolge präsentiert. Sie (und die anderen gezeigten Bildmedien) dienen hier nicht, wie in den Aufarbeitungen der Historiker oft üblich, bloß »als beiläufige Illustrationen ihrer textorientierten Darstellungen«[1], sondern werden selbst als Quellen befragt. Eine erschöpfende Auswertung können selbstverständlich weder Ausstellung noch Katalog leisten, aber der Gewinn aus dieser Herangehensweise wird deutlich.[2] So lässt etwa die Kleidung der Demonstrant*innen deren sehr heterogene Klassenzugehörigkeit erkennen. Auch präsentieren die Fotos bemerkenswert viele Frauen als aktiv am Geschehen Beteiligte. Zudem bezeugen die abgebildeten, aber nicht identifizierbaren (weil wohl historisch nicht weiter in Erscheinung getretenen) Redner auf improvisierten Podesten und Lastwagen oder die Demonstrant*innen mit offenbar eigenhändig beschrifteten Schildern die Spontaneität der Handelnden.

Die Auseinandersetzungen um die zukünftige politische und ökonomische Ordnung – parlamentarische Demokratie und kapitalistische Verhältnisse oder Rätedemokratie und Vergesellschaftung zumindest der Schlüsselindustrien – spitzten sich im Laufe des Dezembers immer mehr zu und erreichten um den Jahreswechsel einen Höhepunkt. Brennpunkt des Januaraufstandes war das Zeitungsviertel zwischen Wilhelm-, Linden- und Leipziger Straße. Neben dem Redaktionsgebäude des Vorwärts oder dem Ullstein-Verlagsgebäude wurde auch das Mossehaus, Sitz des Berliner Tageblatts, durch Artilleriefeuer der Regierungstruppen schwer beschädigt. Eine Reihe bekannter und weniger bekannter Fotografien von Willy Römer, drei von ihnen sind in der Ausstellung zu sehen,[3] dokumentiert die Kämpfe um das Gebäude. Aufgenommen wahrscheinlich in den Gefechtspausen, zeigen sie kampfbereite Aufständische, die sich hinter Barrikaden aus Zeitungspapierrollen verschanzt haben. Ein Vergleich mit dem Gebäude in seinem heutigen Zustand zeigt, dass Römer diese Bilderserie vor dem Doppelportal Schützenstraße 18 (damals 20–23) aufgenommen hat, dem heutigen Eingang zum ZfL.

Bis auf wenige Vergrößerungen werden in der Ausstellung Kontaktabzüge im Format 13×18 cm gezeigt, teils in zwei Reihen übereinander. Die Detailfülle und -schärfe der Bilder nötigt die Besucher*innen, sehr nah heranzutreten bzw. sich hinunterzubeugen und sich der an Schnüren bereithängenden Folienlupen zu bedienen, was das Betrachten etwas mühsam gestalten kann. Zu den nicht wenigen Ansichtskarten, die zwischen den Fotoabzügen hängend die Arbeit der Fotografen zusätzlich dokumentieren, wären nähere Erläuterungen wünschenswert gewesen, denn sie sind von eigenem mediengeschichtlichen Interesse. Die Fotopostkarte war als Massenmedium erst wenige Jahre alt und war erstmals während des Ersten Weltkriegs als Feldpost verschickt und nicht zuletzt auch als Propagandamittel eingesetzt worden. Nun erwiesen sich die ad hoc und buchstäblich über Nacht in großen Auflagen hergestellten Ansichtskarten vom Revolutionsgeschehen als Verkaufsschlager. Ob es sich bei den ausgestellten Beispielen um Bromsilberdrucke oder Lichtdrucke handelt – beides damals noch recht neue, heute nahezu vergessene Vervielfältigungsverfahren – ist leider nicht vermerkt.

Strukturiert wird die Präsentation der Fotografien durch Texttafeln zur Chronologie der Ereignisse sowie kurze Auszüge aus Briefen von George Grosz, Hannah Höch, Käthe Kollwitz und Kurt Tucholsky sowie aus den Tagebüchern von Harry Graf Kessler. Nicht ohne weiteres ließen sich offenbar die anderen Exponate in diese Ordnung integrieren, was auch eine gewisse Separation der Themenbereiche zur Folge hat.

Die politischen Umbrüche, die allgemeine soziale Notlage, die Gewalt auf den Straßen provozierten die Berliner*innen zu einer »beispiellose[n] Vergnügungssucht«, wie der Text auf der Website zur Ausstellung konstatiert. Exponate, die nicht zur Gattung Dokumentarfotografie zu rechnen sind, bieten dafür eine beeindruckende Fülle von Belegen. Szenenfotos der zahlreichen Produktionen des jungen und gerade in den Nachkriegs- und Revolutionsmonaten aufblühenden Mediums Film, mit Stars wie Pola Negri, Henny Porten oder Emil Jannings, und von UFA-Großprojekten wie dem Revolutionsdrama Madame Dubarry von Ernst Lubitsch (das sich um die Französische, nicht die gegenwärtige deutsche Revolution drehte) sollten die Phantasie des Publikums anregen. Wo es die Auseinandersetzung mit der Gegenwart suchte, bot das Kino Fiktionalisierungen mit (sozial-)demokratischer, antibolschewistischer Stoßrichtung, wie zum Beispiel Söhne des Volkes des dänischen Regisseurs Holger-Madsen oder, wenig später, Joseph Delmonts Die entfesselte Menschheit. Die Zahl der Kinos in Berlin wuchs allein in den Monaten, die die Ausstellung behandelt, mit 46 Neueröffnungen um 20 Prozent.

Zerstreuung und Unterhaltung boten auch die zahlreichen Operetten- und Revueproduktionen, die zahlreichen Tanzveranstaltungen mit aktuellen internationalen Modetänzen wie Twostep und Foxtrott sowie das neue Genre der Filmoperette, die in der Ausstellung durch eine beeindruckende Fülle von mehrfarbigen Plakaten repräsentiert sind. Aber auch hier drangen Themen aus der oft wenig erfreulichen sozialen Realität in die Sphäre des Amüsements ein, so etwa die Streiks und die allgegenwärtige Wohnungsnot in der Revue Halloh! Halloh! von Rudolf Nelson und Fritz Grünbaum. Das wichtigste Medium aber, in dem Politik und Unterhaltung zusammentrafen – und das am meisten von der Aufhebung der Zensur profitierte – war das Kabarett, dessen Aufschwung mit Plakaten, Programmzetteln, Zeitungsanzeigen dokumentiert wird und für das Namen wie Walter Trier, Walter Mehring oder Kurt Tucholsky stehen.

Die Ausstellung präsentiert die verschiedenen Typen von Exponaten räumlich getrennt voneinander, was die Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit, des Neben-, und Durcheinanders von erbitterten politischen Auseinandersetzungen und entfesselter Lebensfreude, von Blutvergießen und Tanzvergnügen nicht unbedingt erleichtert. Dennoch gewährt diese Gegenüberstellung unerwartete Eindrücke vom Geschehen. Die so verschiedenartig anmutenden Medien und kulturellen Ausdrucksformen im Rahmen derselben Ausstellung zu betrachten, hat seine eigene Schlüssigkeit: »Was nach bis dahin gängigen Vorstellungen als zweitrangig galt, nämlich die Fotografie, der Film und die Genres der leichteren Muse, gewann binnen kürzester Zeit deutlich mehr Akzeptanz in der breiteren Öffentlichkeit und entwickelte sich zunehmend ins Populäre, wie wir es heute kennen.«[4] Eine Revolution ereignete sich nicht nur auf der politischen Bühne und auf den Straßen Berlins, sondern gleichzeitig auch in der Unterhaltungskultur.

[1] Ausstellungskatalog Berlin in der Revolution 1918/1919: Fotografie, Film, Unterhaltungskultur, für die Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin hg. von Ludger Derenthal, Evelin Förster und Enno Kaufhold, Dortmund 2018, Einleitung, S. 13–21, hier S. 13f.

[2] In dieser Hinsicht sehr instruktiv sind die Beiträge von Enno Kaufhold zum Ausstellungskatalog, »Momente des Überlieferten«, S. 25–59, und »Die revolutionären ›Arbeiter und Soldaten‹«, S. 61–76.

[3] Vgl. im Ausstellungskatalog S. 43, Nr. 27; S. 47, Nr. 31; S. 111, Nr. 15. Das Foto S. 134, Nr. 1 (nicht von Römer) zeigt zudem Dreharbeiten, vermutlich für eine Wochenschau, vor dem Mossehaus.

[4] Einleitung, S. 21.

 

Der Religionswissenschaftler Lutz Greisiger arbeitet im ZfL-Projekt »Formen und Funktionen von Weltverhältnissen«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lutz Greisiger: Straßenkämpfe, Lichtbilder, Foxtrott. Zur Ausstellung »Berlin in der Revolution 1918/19: Fotografie, Film, Unterhaltungskultur«, in: ZfL BLOG, 28.2.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/02/28/lutz-greisiger-strassenkaempfe-lichtbilder-foxtrott-zur-ausstellung-berlin-in-der-revolution-1918-19-fotografie-film-unterhaltungskultur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190228-01

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Stefan Willer: LEBENSHILFE VON DEN LASSIE SINGERS https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/05/stefan-willer-lebenshilfe-von-den-lassie-singers/ Mon, 05 Nov 2018 08:28:26 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=908 Gegründet 1988, vier Studioalben zwischen 1991 und 1996, zwei Kompilationen und eine Abschiedstournee 1998: so die Eckdaten der Berliner Band Lassie Singers. Gegründet wurde sie von den Sängerinnen Almut Klotz und Christiane Rösinger, die sich zunächst Almut Schummel und C.C. Hügelsheim nannten. Hügelsheim ist der Name des badischen Geburtsortes von Christiane Rösinger. Auch die vor Weiterlesen

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Gegründet 1988, vier Studioalben zwischen 1991 und 1996, zwei Kompilationen und eine Abschiedstournee 1998: so die Eckdaten der Berliner Band Lassie Singers. Gegründet wurde sie von den Sängerinnen Almut Klotz und Christiane Rösinger, die sich zunächst Almut Schummel und C.C. Hügelsheim nannten. Hügelsheim ist der Name des badischen Geburtsortes von Christiane Rösinger. Auch die vor ein paar Jahren früh verstorbene Almut Klotz war Mitte der Achtzigerjahre aus Baden-Württemberg, aus dem tiefen Schwarzwald, nach Berlin gekommen. Die Lassie Singers sind also ein Beispiel für den schwäbisch-badischen Kulturtransfer ins alte West-Berlin und ins Wende-Berlin um 1990.

Ein weiteres Gründungsmitglied war der später als Solist bekannt gewordene Funny van Dannen, der zwar nur ein paar Monate bei der Band blieb, ihr aber als Koautor einiger Songs verbunden blieb. Auch sonst gab es zahlreiche Verbindungen zu Mitmusikern wie Bernd Begemann, Rocko Schamoni oder Jochen Distelmeyer, allesamt Vertreter der damals viel gepriesenen Hamburger Schule, deren Wirkungskreis sich bekanntlich nicht auf die Musikszene der Hansestadt beschränkte. Doch bei aller prominenten männlichen Beteiligung waren die Lassie Singers eine klar weibliche Band. Ihre Songs sind fast alle aus weiblicher Perspektive formuliert, und sie sind mit unverwechselbaren weiblichen Stimmen gesungen.

Diese Stimmen – außer denen von Rösinger und Klotz noch die von Kathrin von Witzleben – klingen scharf und rotzig, nölend und grölend, mitunter auch gepresst und verdruckst. In ihrem Zusammensingen, ob einstimmig, mehrstimmig oder im Wechsel von Hauptstimme und Backgroundchor, wird nicht die schöne Verschmelzung gesucht, sondern die unsaubere Abweichung. Dazu passt der rohe Sound der Gruppe (auf den ersten Alben wesentlich geprägt von dem Schlagzeuger Heiner Weiß und dem Gitarristen Hermann Herrmann). Die Stücke sind betont ›unterproduziert‹ und wirken oft so, als wären sie beim ersten Durchproben gleich eingespielt worden.

Geradezu sprichwörtlich – jedenfalls bei den Fans der Gruppe – wurden die Texte der Lassie Singers: Titelzeilen wie »Liebe wird oft überbewertet« oder »Geh in den Keller und reiß dich zusammen«, Refrains wie »Pärchen stinken, Pärchen lügen / Pärchen winken und fahr’n nach Rügen«. Viele der Stücke sind Liebeslieder, etliche davon sarkastisch oder melancholisch, oft über das Ende der Liebe, wie »Loswerden« (die Coverversion eines Stücks der Hamburger-Schule-Band Die Regierung), manchmal sogar schon über das Ende vor dem Anfang, wie der Song »Mein zukünftiger Exfreund«. Andere Songs handeln vom Trinken und Feiern, vom »Leben in der Bar« oder von »Johnny, Jim und Jack« (gemeint sind die Whiskysorten). Wieder andere feiern in ironischer und zugleich emphatischer Weise die eigene Identität, sei es die des einzelnen »Ich« (so die Aneignung von Peter Maffays Liebeshymne »Du«), sei es die der Band: »Wir wollen nämlich gar nicht besser sein / Hauptsache nämlich, wir können immer schrei’n«.

Eine Reihe von Lassie-Singer-Songs lässt sich einem Subgenre zuordnen, das man als Ratgeberpop bezeichnen könnte. Völlig zu Recht trägt das erste Album den Titel »Die Lassie Singers helfen dir«. Darauf findet sich das bemerkenswerte Stück »Jeder ist in seiner eigenen Welt«. Wer hier Hilfe erhält, sind keine ratsuchenden Menschen, sondern nacheinander eine Hecke, eine Waschmaschine und ein Käfigvogel. Die Hecke heißt Sonja, die Waschmaschine Oskar und der Vogel Steffi. Was es mit diesen Wesen auf sich hat, ist in den drei Strophen zu erfahren. Vor allem die Hecke Sonja erscheint durchaus als trost- und ratbedürftig:

Sonja steht seit viereinhalb Jahren
vor dem Einfamilienhaus am Rande der Stadt
Sonja zermartert sich oftmals den Kopf,
fühlt sich unausgeglichen, nutzlos und matt

Gesungen werden diese Zeilen über einem markanten Gitarrenriff, das einen schlichten, garagenrockigen Song im gängigen Strophe-Refrain-Format erwarten lässt. Die Sache ist dann aber strukturell ein wenig komplexer: In jeder der drei Strophen folgt auf einen ersten Teil ein harmonisch anders gearteter zweiter, auf diesen ein Zwischenteil – eine sogenannte ›Bridge‹ – und erst dann der eigentliche Refrain. Statt AB AB AB lautet das Schema also ABCD ABCD ABCD. Im B-Teil der ersten Strophe heißt es über Sonja, sie blicke oft »neidvoll zum Fluss zu den anderen Hecken / die so selbstbewusst und stolz ihre wilden Zweige zum Himmel strecken«. Nachdem die Not der Hecke dargestellt wurde, wird sie von den Sängerinnen direkt adressiert (»Sonja!«), merkt auf (mit einem kleinlauten »Ja?«) und erhält im überleitenden C-Teil direkten Zuspruch:

Sonja gib nicht auf, sei stark und denk daran
es gibt ein kleines Wort, das dir helfen kann.

Wie man im Refrain hört, handelt es sich nicht um ein einzelnes Wort, sondern um eben jenen Merksatz, der schon im Songtitel angedeutet wird. Vollständig lautet er:

Jeder ist in seiner eigenen Welt, aber meine ist die richtige
aber meine ist die richtige, jeder ist in seiner eigenen Welt

Das ist witzig, überraschend und in positivem Sinne unverschämt. Was ein kulturpessimistischer Befund über die Isolation des modernen Individuums sein könnte – »Jeder ist in seiner eigenen Welt« –, wird im Selbstbehauptungsstil der Band trotzig überspitzt: »aber meine ist die richtige.« Man muss allerdings bedenken, dass so ja nur die erste Zeile des Refrains lautet. In der zweiten werden die beiden Teilsätze vertauscht: »Aber meine ist die richtige, jeder ist in seiner eigenen Welt.« Die herausfordernde Selbstgerechtigkeit sieht sich also wieder auf den melancholischen Befund der unverbundenen Eigenwelten zurückgeworfen.

Umso mehr stellt sich die Frage, was es mit der Maxime von der einzig richtigen eigenen Welt letztlich auf sich hat – und wer sie sich gesagt sein lassen sollte. Zumindest die bekümmerte Hecke Sonja könnte sich an der Frechheit der Lassie Singers durchaus ein Beispiel nehmen. Von Oskar erfährt man jedoch, dass er sich »schon als junge Waschmaschine« großartig fühlte (»und natürlich hat er noch niemals im Leben daneben gepumpt«), von Steffi, dass sie mit ihrem stumpfen Leben im Vogelkäfig völlig zufrieden ist (»und sie schläft nachts immer ruhig, denn sie sieht niemals Gespenster«). Was da noch zu raten sein könnte, wissen die Ratgeberinnen selbst nicht so genau: Oskar müsse man den Sinnspruch eigentlich »nicht extra sagen«, zu Steffi »fällt uns nichts ein.«

Der Refrain wird trotzdem nach jeder Strophe unverändert gesungen und zum Abschluss ein weiteres Mal wiederholt, nach einer eingesprochenen Didaxe (»Wir fassen noch einmal zusammen, was wir bis jetzt in diesem Stück gelernt haben …«). Offenbar soll hier wirklich eine Lebenslehre für jedermann formuliert werden. Aus eigener Erfahrung ist zu bestätigen, dass sie in dunklen Stunden erstaunlich gut funktioniert. Das ist so, obwohl – nein, weil die Helferinnen wissen, dass diese Lehre eigentlich nicht funktionieren kann. Daher die Brüchigkeit ihres Gesangs, die Reibungen zwischen ihren Stimmen, die wacklige Metrik mit viel zu vielen Silben pro Songzeile. Die Lassie Singers helfen dir, weil sie selbst die Hilflosigkeit kennen.

Der Literaturwissenschaftler Stefan Willer war bis September 2018 stellvertretender Direktor des ZfL. Aktuell ist er Professor am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Dieser Beitrag war Teil des Programms »Science is Pop! Kurzvorträge und Hörbeispiele zur Berliner Musikkultur«, das am 28.8.2018 vom ZfL im Museum für Kommunikation Berlin im Rahmen der Ausstellung »Oh Yeah! Popmusik in Deutschland« präsentiert wurde.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Stefan Willer: Lebenshilfe von den Lassie Singers, in: ZfL BLOG, 11.5.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/05/stefan-willer-lebenshilfe-von-den-lassie-singers/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180511-01

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Clara Fischer: DER KIEZKÖNIG VON BERLIN. Eine Figur zwischen Ostrock und Gangsta-Rap https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/10/16/clara-fischer-der-kiezkoenig-von-berlin-eine-figur-zwischen-ostrock-und-gangsta-rap/ Tue, 16 Oct 2018 09:21:01 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=905 In den 1970er Jahren erlebten viele DDR-Rockbands eine Blüte, die noch zehn Jahre zuvor undenkbar gewesen war. Hatte die Obrigkeit lange Zeit vergeblich versucht, die im Verborgenen gespielte Rockmusik zu verbieten, so gedachte man sie nun durch Anerkennung zu domestizieren. Die ersten Rockbands wurden in die Rundfunksender gelassen, die ersten Ostrock-LPs gepresst. Diese Zugeständnisse waren Weiterlesen

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In den 1970er Jahren erlebten viele DDR-Rockbands eine Blüte, die noch zehn Jahre zuvor undenkbar gewesen war. Hatte die Obrigkeit lange Zeit vergeblich versucht, die im Verborgenen gespielte Rockmusik zu verbieten, so gedachte man sie nun durch Anerkennung zu domestizieren. Die ersten Rockbands wurden in die Rundfunksender gelassen, die ersten Ostrock-LPs gepresst. Diese Zugeständnisse waren natürlich mit Auflagen verbunden. Eine davon: Gesungen werden durfte nur auf Deutsch! So etablierte sich in der DDR die erste deutschsprachige Rockmusik und zudem ein spezifischer ›liedhafter‹ Rock, denn die Musiker verstanden sich keineswegs als Sprachrohre des Regimes, sondern teilten in metaphernreichen, lyrischen Texten ihre Botschaften von Freiheit dem Publikum mit.

Von Bedeutung blieb darüber hinaus eine starke Orientierung an Rockmusik aus dem Westen, was zu einer Vielzahl an Experimenten führte. Das Lied Der King vom Prenzlauer Berg (1978) von der Band City ist beispielsweise am Hard Rock ausgerichtet. Dem entspricht der Songtext: Hier ist nichts verklausuliert, sondern verschlagwortet. Der Protagonist Nobi hält sich für den ›King‹ des Prenzlauer Berg, ein Stadtteil, der in dem Song nicht näher charakterisiert wird. Das ist offenbar auch nicht nötig, denn jeder weiß, wofür der legendäre Prenzlauer Berg steht: Im 19. Jahrhundert siedelten sich hier im Zuge der Industrialisierung zahlreiche metallverarbeitende Firmen an und mit ihnen sprossen dicht gebaute Arbeiterwohnungen aus dem Boden. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Viertel für spekulativen Wohnungsbau und die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung, ein sozialer Brennpunkt. In der DDR blieben Sanierungsprogramme die Ausnahme, das durch den Mauerbau an den Stadtrand gedrängte Gebiet war von Leerstand geprägt.

Ein Ort also, der in den 1970ern alles ist außer bürgerlich und damit ideal für junge Männer, die sich am Rande des Gesetzes bewegen. Nobi treibt es aber zu weit, denn er jagt zusammen mit seinen Freunden den Leuten nicht nur Angst und Schrecken ein, sondern hält sich sogar für die Nummer eins – bis seine Kumpels ihm nach einer Schlägerei einheizen und er erkennen muss, dass »ihm der Thron genommen war«. Nun gilt: »Er war der King vom Prenzlauer Berg«, denn Solidarität ist wichtiger als die Stärke des Einzelnen. Wer sich über seine Freunde erhebt, steht ganz schnell alleine da.

Gleiches gilt für den Rap in Deutschland nach 2000, auch wenn hier die ›Kings‹ zumindest dem Namen nach wie Pilze aus dem Boden sprießen. Während in den 1990er Jahren noch eine Art »Mittelstandsrap« (Baier) den deutschen Hip-Hop dominierte, etablierte sich nach der Jahrtausendwende der Gangsta-Rap, der sich mit seinen harten Texten am afroamerikanischen Rap und dessen mythischem Ursprungsort, der South Bronx in New York, orientiert. In Deutschland sind es vor allem junge Männer mit einer familiären Migrationsgeschichte, die aus einer (vermeintlichen) Randposition heraus typische Narrative von Widerstand, Gewalt und Hypermaskulinität bedienen. Die Großstadt mit ihren Spannungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen, regionaler und globaler Kultur, Zentrum und Peripherie ist dabei für den Gangsta-Rap unabdingbar (vgl. Stemmler): Rasch wurde Berlin zur Hauptstadt dieser Stilrichtung in Deutschland.

Die Vielzahl an Berlin-Songs im Rap zu überblicken, ist schier unmöglich. Typischerweise wird die Stadt als Ort eines täglichen Überlebenskampfs charakterisiert. Sie wird aber auch verherrlicht, denn das ›rappende Ich‹ hat es in dem Untergrund-Milieu ganz nach oben geschafft. Diese Art »Negatividealisierung« (Gruber) entfaltet noch mehr Wirkung, wenn nicht die abstrakte Großstadt, sondern der zum ›Ghetto‹ stilisierte Bezirk das Zentrum der Erzählung bildet.

»Ihr wollt’n Ghettolied? – Auf einem Ghettobeat?
Komm’ nach Wedding – dann wisst ihr, wo das Ghetto liegt!«,

rappt Massiv im Ghettolied (2006). Der gebürtige Rheinland-Pfälzer muss aber die Verteidigung hinterherschieben:

»Ach was, ich bin kein Berliner?
Che Guevara war auch kein Kubaner«.

Denn die ›Authentizität‹ oder ›Realness‹ spielt im Rap eine wichtige Rolle, und wer schon nicht aus Berlin kommt, muss zumindest glaubhaft machen, mit der Stadt verwachsen zu sein.

Entsprechend betonen gebürtige Berliner wie Sido in Mein Block (2003) ihre Herkunft (in diesem Fall das Märkische Viertel), um ihre ›Street Credibility‹ zu erhöhen. Solidarität mit dem eigenen Milieu ist aber auch im Gangsta-Rap wichtig: Die ›Kings‹ sind ihren »Brüdern« und »übergeilen Nachbarn« treu und ›dissen‹ den Bürger in seinem Einfamilienhaus oder den zugezogenen Rapper. Stets sind es die Problemkieze, die zur Identifikation dienen. Besungen werden das Märkische Viertel, Wedding, Kreuzberg, Neukölln – aber nicht mehr der Prenzlauer Berg. Schon sein Nicht-Auftauchen im Gangsta-Rap weist darauf hin, dass er offenbar einen historischen Wandel durchlaufen hat.

Das ist auch dem »Mittelstandsrapper« Max Herre aufgefallen, der 2004 seinen King vom Prenzlauer Berg veröffentlicht. In diesem Song sampelt er die Refrainzeile »Und in seinen Gedanken ist er der King vom Prenzlauer Berg« von City. Max Herre erzählt nicht mehr die Geschichte eines übermütigen Rockers, sondern die des »kompletten Berlin-Hipsters«. Das Feindbild mit all seinen Klischees: ein zugezogener Schwabe, in der IT-Branche tätig, prahlt vor dem Rapper mit seinen beruflichen Projekten und internationalen Vernetzungen. Kurz: ein Blender, der, wie es in dem Song heißt, »wirklich stereotypisch für die anthropologische Entwicklung dieser Region in den letzten Jahren« steht. Durch seine Artikulationsfähigkeit disqualifiziert sich das rappende Ich als Fürsprecher eines Arbeitervierteles allerdings selbst, und auch die eigene Stuttgarter Herkunft bekennt Max Herre in dem Song offen. Die Gentrifizierung wird also ironisch, nämlich aus Sicht eines Gentrifizierers, problematisiert, gleichzeitig aber die Verbundenheit mit dem legendären Stadtteil betont. Auch für den »Mittelstandsrap« ist die Identifikation mit quasimythischen Orten von Bedeutung.

Und die Kiezkönigin? Die kommt relativ kurz. Wenn in der Popmusik ohnehin ein Männerüberhang auffällt, so gilt dies für den Rap in besonderer Weise. Nur eine Königin von Kreuzberg konnte gefunden werden, die Prinz Pi 2011 besingt. Der Rapper preist das Berliner Mädchen, das sich nicht um Regeln schert und allen Weiblichkeitsklischees widerspricht. Während andere junge Frauen »so individuell« sind, dass »sie wieder alle gleich« sind, randaliert die Königin von Kreuzberg am 1. Mai, säuft alle unter den Tisch, ist weder schön noch reich, sondern einfach »frei«. Sie ist die einzige Kiezkönigin, die diesen Status als unsolidarischer Solitär behalten darf, wenn auch nur, weil er ihr vom Mann zugesprochen wurde.

Letztendlich bleibt der Kiezkönig ein Paradox. Ob bei City oder in den verschiedenen Rap-Richtungen: Die Identifikation mit dem Problemkiez ist in der Popmusik einerseits ein wichtiges Zeichen für Unabhängigkeit und Widerstand. Andererseits ist sie eine Gratwanderung, denn der Querulant darf sich eben nicht wie ein absolutistischer Herrscher über alles und jeden erheben, sondern muss Milieutreue beweisen – und damit auch seinen Zuhörern die Möglichkeit geben, sich als gleichberechtigten Teil dieses Milieus zu imaginieren. Dabei fällt der Milieuschutz auf, den nach 2000 fast jeder Rap-Song betreibt, indem das Bürgertum und zugezogene Yuppies als schädliche Einflüsse diskreditiert werden. Eine solcher Protektionismus war in den 1970er Jahren offensichtlich noch nicht nötig. Eines aber haben die unterschiedlichen Erzählungen aus unterschiedlichen Jahrhunderten gemeinsam: Jeder Berliner Kiezkönig entpuppt sich als Phantasma.

Weiterführende Literatur

1. Ostrock
Christian Hentschel/Peter Matzke: Als ich fortging … Das große DDR-Rock-Buch, Berlin 2007.
Bernd Lindner: DDR Rock & Pop, Köln 2008.
Michael Rauhut: Rock in der DDR. 1964 bis 1989, Bonn 2002.

2. Deutschsprachiger Rap
Angelika Baier: »Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben«. Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap, Tübingen 2012.
Johannes Gruber: Performative Lyrik und lyrische Performance. Profilbildung im deutschen Rap, Bielefeld 2017.
Ayla Güler Saied: Rap in Deutschland. Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen, Bielefeld 2012.
Susanne Stemmler: Die Stadt erzählen: Hip-Hop in Berlin, in: Berlin – Madrid. Postdiktoriale Großstadtliteratur, hg. v. Katja Carrillo Zeiter/Berit Callsen, Berlin 2011, S. 137–145.
Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, Göttingen 2015.

3. Prenzlauer Berg
Klaus Grosinski: Prenzlauer Berg. Eine Chronik, 2., erweiterte Auflage, Berlin 2008.
Alexander Haeder/Ulrich Wüst: Prenzlauer Berg. Besichtigung einer Legende, Berlin 1994.

Die Germanistin Clara Fischer promoviert am ZfL in dem Projekt Experimentierfeld Versepos (1918–1933). Dieser Beitrag war Teil des Programms »Science is Pop! Kurzvorträge und Hörbeispiele zur Berliner Musikkultur«, das am 28.8.2018 vom ZfL im Museum für Kommunikation Berlin im Rahmen der Ausstellung »Oh Yeah! Popmusik in Deutschland« präsentiert wurde.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Clara Fischer: Der Kiezkönig von Berlin. Eine Figur zwischen Ostrock und Gangsta-Rap, in: ZfL BLOG, 16.10.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/10/16/clara-fischer-der-kiezkoenig-von-berlin-eine-figur-zwischen-ostrock-und-gangsta-rap/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20181016-01

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Tatjana Petzer: ARCHITEKTUR DER EINHEIT – Berlins Fernsehturm https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/09/18/tatjana-petzer-architektur-der-einheit-berlins-fernsehturm/ Mon, 18 Sep 2017 08:13:26 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=504 Am 3. Oktober begeht der 1969 eingeweihte Berliner Fernsehturm seinen Jahrestag [Abb. 1: Berliner Fernsehturm, im Vordergrund das Deutsche Historische Museum]. Seit einigen Jahren wird hier in dem auf 207 m Höhe gelegenen Drehrestaurant Sphere, ehemals Tele-Café, das »Einheits-Menü« aus kulinarischen Ost- und West-Spezialitäten serviert. Dass das einstige Wahrzeichen der DDR nach dem Mauerfall rasch zum Weiterlesen

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Am 3. Oktober begeht der 1969 eingeweihte Berliner Fernsehturm seinen Jahrestag [Abb. 1: Berliner Fernsehturm, im Vordergrund das Deutsche Historische Museum]. Seit einigen Jahren wird hier in dem auf 207 m Höhe gelegenen Drehrestaurant Sphere, ehemals Tele-Café, das »Einheits-Menü« aus kulinarischen Ost- und West-Spezialitäten serviert. Dass das einstige Wahrzeichen der DDR nach dem Mauerfall rasch zum Symbol des wiedervereinten Deutschlands avancierte, verdankt es nicht allein seinem heutigen Betreiber, der Deutschen Telekom, die mit eindrucksvollen Außenverkleidungen der Turmkugel zu besonderen Anlässen auch für Deutschland wirbt. Es ist die in der Tradition von Kugelbauten stehende sphärische Konstruktion selbst, die eine architektonische Vision gesellschaftlicher Einheit verkörpert.

Neues Zentrum

Nach der Gründung der DDR galt es, das Gebiet um das im Krieg zerstörte Stadtschloss gemäß den Prinzipien des sozialistischen Städtebaus umzugestalten. Hier sollte der politische Mittelpunkt Ost-Berlins entstehen, wo Aufmärsche und Volksfeiern stattfinden konnten, gerahmt von einer monumentalen Silhouette und einem zentralen  Regierungsgebäude am Ufer der Spree. Ein führender Entwurf dafür stammte von Richard Paulick, der in der Vorkriegszeit Assistent bei Walter Gropius gewesen war, sich als DDR-Architekt aber vom Modernismus verabschieden musste. Sein massives Regierungshochhaus orientierte sich am Vorbild von Boris Iofans Entwurf des für das Stadtzentrum des Neuen Moskau geplanten »Palasts der Sowjets« von 1934, den Stalin persönlich in Höhe und Gestaltung verändert hatte. Mit 415 m sollte der Palast als höchstes Gebäude der Welt das Empire State Building in New York ablösen; doch der Bau kam nicht über das Fundament hinaus und wurde in den 1950er Jahren verworfen.

Unter Druck geriet die DDR-Regierung durch den städtebaulichen Wettbewerb »Hauptstadt Berlin«, den der West-Berliner Senat und der Deutsche Bundestag am 26. Oktober 1955 beschlossen und für 1957/58 ausgeschrieben hatte. An renommierte Architekten wie Le Corbusier in Paris, Hans Scharoun in Berlin und Adolf Ciborowski in Warschau war die Aufgabe herangetragen worden, die zerstörte alte Stadtmitte, die bisher nicht wiederaufgebaut worden war, als ein modernes weltstädtisches Zentrum der zukünftigen Hauptstadt Deutschlands zu gestalten, und zwar mit allen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einrichtungen einer geeinten deutschen Hauptstadt. Ohne Rücksicht auf Sektorengrenzen reichte das Wettbewerbsgebiet vom Brandenburger Tor im Westen bis zum Alexanderplatz im Osten, vom Oranienburger Tor im Norden bis zum Mehringplatz im Süden. Aus den Entwürfen stach der des französischen Architekten Jean Faugeron hervor, der einen Fernsehturm mit dreiseitigem Turmschaft für die Berliner Friedrichstadt vorsah, umgeben von in Ellipsenform dicht gereihten Hochhäusern. Insbesondere der Schattenwurf in der Draufsicht des Entwurfs zeigt große Ähnlichkeit mit dem späteren Turm am Alexanderplatz.

Auf diese Wiedervereinigung am Reißbrett reagierte Ost-Berlin am 7. Oktober 1959 seinerseits mit der Ausschreibung eines »Internationalen Ideenwettbewerbs zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der DDR, Berlin«. Das Planungskollektiv um Gerhard Kosel, Staatssekretär und stellvertretender Minister für Aufbau und Präsident der Deutschen Bauakademie, veröffentlichte dazu klare architektonische Richtlinien. Kosels eigener Vorschlag, ein monumentales Marx-Engels-Forum am Ost-Ufer der Spree zu errichten, das erste Entwürfe um 1950 von Paulick wieder aufgriff und außer Konkurrenz lief, nahm im Wettbewerb die ungekürte Siegerposition ein. Einige Teilnehmer schlugen den Leitlinien der SED zum Trotz vor, auf den Hochhausmonolithen zugunsten einer symbolischen Höhendominante zu verzichten. Darunter war der Entwurf von Hermann Henselmann, seit 1953 Chefarchitekt beim Magistrat von Ost-Berlin, der ebenfalls außer Konkurrenz lief. (Rainer Haubrichs Artikel »So hätte Berlin um ein Haar ausgesehen« enthält Bilder vom Regierungshochhaus und Henselmanns Modell.) Henselmann durchkreuzte die offizielle, nach Stalins Tod als unzeitgemäß empfundene Leitarchitektur mit einer modernen Konzeption der Stadtmitte. Anstelle eines Monumentalbaus nach sowjetischem Muster schlug Henselmann eine verkehrsberuhigte Zentrumsinsel mit einem zentralen »Forum der Nation« vor. Es handelte sich um einen dreigeteilten Komplex mit Parlamentsgebäude, das durch ein Wasserbecken mit einem futuristischen Bau an der östlichen Seite verbunden war. Letzterer, eine in zwei Parabelbögen eingehängte Kundgebungshalle in Form eines leicht abgeschrägten und abgeflachten Ellipsoids, trug den goldenen Schriftzug »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Zum Westen hin sollte sich ein Marx-Engels-Denkmalensemble erheben: ein ca. 300 m hoher Fernsehturm, interpretiert als »Turm der Signale«, der die Bedeutung von »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor« verkörpern sollte, und zu dessen Fuße eine aus einem roten Marmorblock bestehende Marx-Engels-Ehrenhalle. Die technische Skizze zeigt den Turm bereits mit einer Kugel, darin enthalten sind Fernseh- und UKW-Technik, die Drehmaschinerie sowie die Aussichts- und Restaurantetage. Deshalb gilt dieser Entwurf als Geburtsstunde des Berliner Fernsehturms. Doch 1959 war Henselmanns an westlich-modernistischer Architektur angelehnter Entwurf als politischer Affront verstanden worden und Anlass, den Berliner Chefarchitekten seiner Funktion zu entheben.

Turmbau zu Berlin

Anfang der 1960er Jahre befanden sich zwei prominente DDR-Hauptstadtprojekte in einer Sackgasse. Die weiter verfolgten Entwürfe für das Regierungshochhaus unter der Bezeichnung »Zentrales Gebäude« sahen nun die Erweiterung der Spree vor und in deren Mitte, umgeben von Wasser, die Volkskammer samt einer 90m hohen gläsernen Überkuppelung. Die Kuppelbauten immanente Machtsymbolik wurde dabei durch die Materialwahl Glas als Zeichen für Transparenz in der parlamentarischen Arbeit in einer Demokratie verknüpft. Auf diese Vorschläge für den Marx-Engels-Platz konnte man sich jedoch nicht einigen, und da der Nutzen in Hinblick auf die bereits bestehenden Regierungsgebäude fraglich erschien, wurde das Bauvorhaben zurückgestellt. Das zweite Projekt, das sich bereits in der Bauphase befand, der Ost-Berliner Funk- und Fernsehturm, sollte das signaltechnische Empfangs- und Frequenzproblem lösen und die DDR-Bürger dem Einfluss westlicher Sender entziehen. Bauvorhaben an den Standorten Müggelberge (wo der Turm aber den Schönefelder Flugverkehr behindert hätte) und im Volkspark Friedrichshain (wo man den mit 360 m aus allen Berliner Bezirken sichtbaren Turm bereits als »Wahrzeichen der vereinigten Stadt Berlin« visionierte) waren abgebrochen worden. Der Mauerbau hatte die volkswirtschaftlichen Ressourcen strapaziert, umso deutlicher traten die Dringlichkeit, den funktechnischen Missstand zu überwinden, sowie die Notwendigkeit eines baupolitischen Zeichens hervor.

Pragmatische und ideologische Bedürfnisse wurden schließlich befriedigt, als der Alexanderplatz zum Standort des Funk- und Fernsehturms der DDR bestimmt wurde und damit auch den alles überragenden Monumentalbau in der Funktion der städtebaulichen Höhendominante beerbte. Am Fernsehturm wurde nun das geänderte städtepolitische Leitbild ablesbar. Zusammen mit dem rund um den Alexanderplatz errichteten Ensemble von Verwaltungsbauten (Haus der Elektroindustrie, Haus des Reisens, Haus der Statistik, Verlagshochhaus, Haus des Lehrers) hatte er eine repräsentative Funktion und legte Zeugnis von der Stellung von Technik und Medienindustrie im sozialistischen Staat ab.

Das Bauvorhaben wurde im September 1964 vom Politbüro der SED beschlossen, mit der Gesamtleitung wurde Kosel beauftragt. Unter den Mitverantwortlichen war auch der wieder eingesetzte Henselmann, dessen Projektierungsgruppe den für den Standort Friedrichshain konzipierten Turm nun entsprechend für das Stadtzentrum umarbeiten sollte, so dass dieser in Funktion und Gestalt dort zur baukünstlerischen Stadtkrone werden konnte. Beide, Kosel wie Henselmann, wollten einen Turmkopf in dynamischer Kugelform und nicht in Form eines Zylinders, der inzwischen nach dem Stuttgarter Vorbild für Funktürme weltweit üblich geworden war. Begründet wurde die Kugelform ästhetisch – nur eine neue Form konnte auch zum einprägsamen Wahrzeichen werden – und vor allem funktionell – die Kugelform ist im Vergleich zum Zylinder effizienter, denn bei kleiner Oberfläche erhöht sich die Nutzfläche für die Betriebsräume. Die Kugelkonstruktion, die letztlich im Politbüro im Februar 1965 vorgestellt und bestätigt wurde, war jedoch weder die von Henselmann von 1959, der sich diese mit Rubinen besetzt, rot strahlend vorgestellt hatte, noch die von Kosel von 1964, der sie vergoldet sehen wollte. Vielmehr handelte es sich um eine Kugel, der Architekten und Ingenieure des VEB Industrieprojektierung Maß, Form und Technik gegeben hatten. Rostfreier, aus Westdeutschland importierter Edelstahl diente als Außenverkleidung, auf die aus Gründen der Stabilität kleine Pyramiden aufgesetzt wurden, um die Angriffsfläche für Winde zu verringern.

Nach 53 Monaten Bauzeit konnte der Fernsehturm zum 20. Jahrestag der DDR eröffnet werden [Abb. 2: Berliner Fernsehturm, Modell von 1969, Foto: Alter Jakob]. Ebenso wie Kosel und Henselmann, die wegen diverser Kostenexplosionen – der eine beim Turmbau, der andere beim Haus des Lehrers – in Ungnade gefallen waren, geriet der parteilose Architekt der Turmkugel vom VEB Industrieprojektierung Berlin, Fritz Dieter, wegen des sich im Sonnenlicht auf der Kugeloberfläche abzeichnenden Kreuzes in Misskredit, obwohl man dieses vielleicht auch einfach als Plus des Sozialismus hätte deuten können. Anstelle des »Zentralen Gebäudes« wurde wenige Jahre später ein modernistischer Mehrzweckbau errichtet – der Palast der Republik.

Kugelsymbol

Die Kugel wird seit jeher als vollkommene Gestalt betrachtet, die Welt und Kosmos repräsentiert. Konstruierte Sphären wie die Berliner Turmkugel verkörpern architektonisch elementare Gesetzmäßigkeiten der Natur wie auch der Kultur: Ganzheit und Einheit. Die französische Revolutionsarchitektur fand im Kugelbau die visuelle Repräsentation der politischen Einheit einer Vielheit, einer Totalität ohne Hierarchie und damit den symbolischen Ausdruck der Volkssouveränität. Dafür stehen Étienne-Louis Boullées unrealisiert gebliebene Entwürfe »Kenotaph für Newton« (1784), eine radikale Verkörperung von Vollkommenheit, kosmischer Universalität und allseitiger Symmetrie, sowie »Tempel der Vernunft oder der Natur« (ca. 1793), ein Versammlungsbau des Volkes.

Die Faszination für Kugelbauten verstärkte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch kamen entsprechende Entwürfe, abgesehen von Kuppeln und Halbsphären bei Sternwarten und Planetarien, oft nicht über Skizze und Planungsstadium hinaus. Immer öfter riefen auch schwebende Kugeln Vorstellungen des Planetarischen und Globalen auf. Exemplarisch steht dafür in der frühsowjetischen Architektur Ivan Leonidovs Lebenswerk.

Den Anfang bildete dessen »Lenin-Institut« (Diplomarbeit 1927) [Abb. 3], ein Ensemble aus Bibliothekshochhaus und einer scheinbar abhebenden Glaskugel, die als »wissenschaftlich-optisches Theater«, als Auditorium und Massenversammlungsraum mit Blick in den Kosmos dienen sollte. Es kulminierte in seiner Konzeption einer Stadt der Zukunft (1950er Jahre), in der schwebende Kugeln eine prominente Stellung einnahmen und deren Titel »Sonnenstadt« an das gleichnamige utopische Gemeinwesen des italienischen Philosophen Tommaso Campanella von 1602, »La città del Sole«, erinnerte, sowie in dem für die Weltausstellung in Brüssel 1958 skizzierten Sitz der Vereinten Nationen in Kugelform.

Einer der wenigen tatsächlich realisierten Kugelbauten aus dieser Zeit wurde zum Wahrzeichen der Weltausstellung 1939/1940 in New York [Abb. 4: 1939 World’s Fair. Foto via New York Public Library]. Diese stand unter dem Motto »Building the World of Tomorrow, For Peace and Freedom – all Eyes to the Future« und hatte zum Thema, wie die Welt im Jahre 1960 aussehen könnte. Eine begehbare Kugel mit ca. 55 m Durchmesser, die Perisphere, diente als Ausstellungsraum für die von Henry Dreyfuss designte futuristische Metropole »Democracity« und wurde gemeinsam mit der Trylon (Zusammensetzung aus triangular und pylon), einer ca. 186 m hohen Metallnadel mit dreieckigem Grundriss, als Themenensemble von den Architekten Wallace Harrison und J. André Fouilhoux entworfen. Allerdings handelte es sich noch um temporäre Konstruktionen; sie wurden im Zweiten Weltkrieg abmontiert und dienten als Rohstoff für die Kriegswirtschaft.

Spätere Weltausstellungen boten immer wieder Gestaltungsräume für architektonische Sphärenkonstruktionen. Nicht zuletzt hatte der am 4. Oktober 1957 erfolgreich gestartete erste sowjetische Sputnik der Kugelform weiteren Symbolcharakter verliehen. So wurde beispielsweise für die »Century 21 Exposition« von 1962 in Seattle die Space Needle, ein 184m hoher Aussichts- und Restaurantturm, errichtet. R. Buckminster Fuller baute für die Expo ’67 in Montreal den amerikanischen Pavillon in Form einer gewaltigen geodätischen Kuppel, die aus einem falt- und zerlegbaren Raumfachwerk aus Stahlröhren konstruiert war. Diese Bauweise basiert auf Fullers Designwissenschaft, der Synergetik, die er in den Dienst einer Vision stellte: eines durch modernste Transport- und Kommunikationsmedien geeinten Planeten, den er explizit »Raumschiff Erde« nannte.

Als die schwebende und um ihre eigene Achse rotierende Kugel am Alexanderplatz projektiert wurde, waren derartige Elemente also bereits Bestandteil der modernen Architektursprache in Ost und West. Henselmanns »Turm der Signale« und der spätere Fernsehturm, auch »Spree-Sputnik« genannt, knüpften zweifellos an die in der Kugelform verankerte Fortschritts- und Weltraumsymbolik an. Das Besondere war, dass mit der Kugel im neuen Stadtzentrum von Ost-Berlin eine begehbare kulturelle Partizipationssphäre der Egalität geschaffen wurde: ein gesellschaftlicher Treffpunkt und ein optisches Höhentheater mit Blick nach Ost und West, das auf über 200 m Höhe die durch den Mauerbau zementierte Teilung der Stadt quasi aufhob. Heute ist das höchste Bauwerk Deutschlands weniger Wallfahrtsort für Ostalgiker als internationales Wahrzeichen der Bundesrepublik und ihrer Hauptstadt. Form und Funktion entsprechen modernen Einheitssymboliken: der Gemeinschaftskultur, symbolisiert etwa durch die im Rahmen der WM-Kampagne 2006 vorgenommene Umdekoration der Turmkugel zum Riesenfußball, und – anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, als der Fernsehturm noch Ort der Zentralisierung von Information zur einheitlichen Meinungsbildung und Abschottung war – dem regionalen Kommunikationsnetzwerk sowie der medientechnologischen Vision einer globalisierten Welt, in die sich die universale Konstruktion nach dem Mauerfall nahtlos einfügte.

Literatur
Selim O. Chan-Magomedow: Pioniere der sowjetischen Architektur (Dresden: Verlag der Kunst 1983).

Susanne von Falkenhausen: Kugelbauvisionen. Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter (Bielefeld: Transcript 2008).
Bruno Flierl: Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht (Berlin: Verlag für Bauwesen 1998).
Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR (Königstein: Langewiesche 2013).
Joachim Krausse, Claude Lichtenstein (Hg.): Your Private Sky. R. Buckminster Fuller (2 Bde., Baden: Müller 1999/2001).
Peter Müller: Symbol mit Aussicht. Die Geschichte des Berliner Fernsehturms (Berlin: Verlag für Bauwesen, 2. Aufl. 2000).

Die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Tatjana Petzer arbeitet als Dilthey-Fellow am ZfL mit dem Forschungsprojekt Wissensgeschichte der Synergie. Im Wintersemester 2017/18 vertritt sie am Seminar für Slavistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Professur für Slavistische Kulturwissenschaft.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tatjana Petzer: Architektur der Einheit – Berlins Fernsehturm, in: ZfL BLOG, 18.9.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/09/18/tatjana-petzer-architektur-der-einheit-berlins-fernsehturm/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170918-01

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