Close Reading Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/close-reading/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 28 Nov 2022 15:45:08 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Close Reading Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/close-reading/ 32 32 Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/25/eva-geulen-distant-reading-up-close-moretti-zieht-bilanz/ Fri, 25 Nov 2022 13:25:08 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2783 Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen Weiterlesen

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Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen (Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz: Konstanz University Press 2022). Ausgerechnet der Autor, der uns 2009 in seinem Buch Kurven, Karten, Stammbäume mit originellen Anwendungsmöglichkeiten datengetriebener, messender Literaturwissenschaft die Augen geöffnet und Hoffnungen auf ganz andere Literaturgeschichten gemacht hatte,[1] bilanziert jetzt Verluste und »Illusions perdues«[2]: abgebrochen die Verbindung »zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts« (9), der erhoffte »intellektuelle[] Schlagabtausch« (164) zwischen close und distant reading, Hermeneutik des Einzelgebildes und quantitativer Analyse fand nicht statt. Die »Lawine kleinerer Studien« blieb »ohne jede geistige Synthese« (165). »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen« (ebd.). Und verloren ging auch ein Konzept der »Form« (9).

Bei der ›verlorenen Form‹ stutzt man erst einmal. Denn kaum einem Begriff wurde im vergangenen Jahrzehnt in den Literatur- und Kulturwissenschaften mehr Aufmerksamkeit geschenkt.[3] Die zahlreichen Ausprägungen dieser Form-Obsession sind sicher zu vielgestaltig, um sie auf einen Nenner zu bringen. Doch mit Blick auf die besonders intensiv und auch kontrovers rezipierte Studie Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network (2015) von Caroline Levine[4] kann man festhalten, dass sich das jüngere Interesse an der Form einem Ungenügen an der Reduktion von Literatur auf ihre Inhalte oder Themen verdankt. Gerade der gesellschaftlichen und sozialen Dimension der Kunst will man mit der Form auf neue Weise habhaft werden. Ein erweiterter Formbegriff soll den Königsweg zur sozialen und historischen Dimension des Kunstwerks bahnen. Diese Rückbesinnung auf die Form von Literatur ist überraschend und neu, weil die Beschäftigung mit Form lange als ahistorisch und unpolitisch galt.

Der Lukács- und Spitzer-Leser, Marxist und Morphologe Moretti hatte solche Rückbesinnung nie nötig. Lange vor ›Neuen Formalismen‹ und quantitativen Methoden war Form für ihn die zentrale Kategorie der Literaturwissenschaften, weil in ihr die »wahrhaft soziale Dimension der Literatur« (9) stecke: Künstlerische Form ist Arbeit an der Wirklichkeit, Kampf um Organisation und, mit einem Wort Aby Warburgs, »›antichaotisch[]‹« (89), sie unterwirft historisches Material der Umgestaltung. Aber die Widerstände, denen diese Intervention ausgesetzt ist, haben ebenfalls Anteil an der Form. Mit dem Biologen Wentworth D’Arcy Thompson, dessen Studie On Growth and Form (1917) Moretti immer schon gerne zitiert hat, ist jede Form auch ein Parallelogramm der auf sie einwirkenden Kräfte (vgl. 41). Die Form ist also die Schnittstelle zwischen historischen Kräften, die auf sie einwirken, und dem gestaltend-umwandelnden Eingriff: Schauplatz eines Kampfes zwischen Kräften und Gegenkräften. Diese »antagonistische Qualität« der Form (89), die aus ihr ein Indiz, einen »Fingerabdruck der Geschichte« macht,[5] gehe jedoch in den quantifizierenden Methoden des topic modelling und data mining, die Texte »wie ›Wortsäcke‹« analysieren (9 u.ö.), auf verschiedenen Ebenen verloren.

Diese Verfahren unterbrechen und suspendieren zunächst den Bezug zur Formerfahrung in der Lektüre eines Einzelgebildes. Und das ist für einen analog geschulten und brillanten Leser wie Moretti durchaus ein Problem (vgl. 157). Die Aufgabe, aber auch die Chance statistischer Verfahren besteht jedoch nun einmal darin, eine komplexe Struktur mit vielen Elementen und Beziehungen auf wenige Merkmale zu reduzieren, um so gleichsam synthetisch eine Form zweiter Ordnung zu generieren, die über große Textmengen und Zeiträume hinweg beobachtet werden kann. Mit anderen Worten: In den DH wird Hamlet nicht nur nicht gelesen, sondern Hamlet wird ›gemacht‹ (47), d.h. durch strategisch bestimmte Reduktion, Selektion und Abstraktion formaler Merkmale analysierbar und sogar simulierbar gemacht (vgl. das Kapitel zur »Simulation dramatischer Netzwerke«).

Neben der verführerischen Verfügbarkeit von immer mehr Daten spielen bei der Anwendung statistischer Verfahren die unverzichtbaren Visualisierungsstrategien häufig eine fatale Rolle. Das wird im fünften von insgesamt sechs Kapiteln anhand einer Metanalyse zu »Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften« gezeigt (verfasst gemeinsam mit Oleg Sobchuk). Auf den inzwischen vertrauten Wimmelbildern mit den vielen mehr oder weniger dicht geclusterten Punkten schafft der Trend in Gestalt der Trendlinie Klarheit. Deren Problematik erhellt eine Studie zur durchschnittlichen Einstellungslänge in Filmen der vergangenen hundert Jahre.[6] Der sichtbare Trend zur kürzeren Dauer ›beweist‹ schrumpfende Aufmerksamkeitsspannen. Verborgen bleibt der Umstand, dass die US-amerikanische Action-Film-Industrie andere Filmgattungen sukzessive vom Markt verdrängt hat. Die Dominanz dieses auf kurze Einstellungen abonnierten Genres steckt hinter dem Trend. Die schöne Linie kaschiert bzw. verleugnet überdies deutlich sichtbare Sprünge in der Entwicklung. Moretti fragt: »Sehen sie ihre eigenen Daten nicht? Natürlich sehen sie sie; Trendlinien haben aber verändert, wie wir sehen« (123). Mit der Trendlinie haben wir »eine Möglichkeit gefunden«, das zu »übersehen«, was »durch die Dominanz des Kanons« verdeckt wird (ebd.).

Natürlich weiß Moretti, dass nicht nur Datenvisualisierungen anfällig für solche Interpretationsfehler sind. Auch hermeneutische Interpretationen schießen beim Versuch, durch den interpretierenden Rückbau der Form – Moretti bezeichnet das Verfahren als »Reverse Engineering« (28) – die historische Welt (wieder) zu entdecken, der das Kunstwerk und seine Form entstammen, oft genug über ihre Daten hinaus und verlegen sich aufs Fabulieren. Dass hermeneutische und statistische Methode noch in ihren Irrtümern divergieren, liegt an der Inkompatibilität der Welten, in denen sie operieren: »Die Interpretation bewegt sich zwischen Form und Welt« (30), also in der Vertikalen. Die Quantifizierung bewegt sich immer nur zwischen Form und Form, also auf der Horizontalen: »Es sind entgegengesetzte Impulse. Dionysos, Apollo. […] Beides große Leidenschaften. Doch zu exklusiv, um ihre Kräfte auf ein gemeinsames Ziel hin zu bündeln« (30f.). Aber wie hieß es bei Nietzsche? »Und siehe! Apollon konnte nicht ohne Dionysus leben!«[7] Ergebnis ihrer Kollaboration war das Wunderwerk der attischen Tragödie. Und in der Tat, auch wenn die Königskinder der Hermeneutik und der statistisch-quantitativen Literaturwissenschaft »nicht wechselseitig in ihre jeweilige Arbeit eingreifen« (31) können, scheint ihre komplementäre Ergänzung zu wundersamen Zwecken möglich.[8]

***

Morettis Buch bilanziert also nicht nur Verluste, sondern macht auch eine Gegenrechnung auf. Die versammelten Best-of-Praktiken erheben den Anspruch, den dokumentierten Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre etwas entgegenzusetzen. Sie wollen Wege zu einer fruchtbaren Koexistenz von close und distant reading weisen. In einer im fünften Kapitel angeführten Dostojewski-Studie wurde beispielsweise die »Lautstärke« der Figuren ›gemessen‹ nach Maßgabe der ihren Aussagen von der Erzählstimme attribuierten Verben »schreien«, »sagen« und »flüstern«. Heraus kam eine Art Partitur von Dostojewskis Romanen, die Bachtins Formkonzept der Polyphonie eindrucksvoll bestätigt (vgl. 133). Morettis Begeisterungsfähigkeit für empirische Verifikation oder »Operationalisierung« (137 u.ö.) ästhetischer Kategorien ungeachtet, ist allein die Bestätigung dessen, was man schon vorher wusste, etwas dürftig. Gleichwohl erhellt das Beispiel sowohl die praxeologische Dimension von Morettis Auseinandersetzung mit Glanz und Elend der digitalen Methoden wie auch den hohen Stellenwert, den ästhetische Theoreme und Formkonzepte bei ihm genießen.

Das in dieser Beziehung vielleicht aufregendste, weil Theorie nicht bloß bestätigende, sondern sie erweiternde Beispiel für die Operationalisierung eines theoretischen Konzeptes liefert das vierte Kapitel zu Aby Warburg, das Moretti zusammen mit Leonardo Impett verfasst hat. Wie D’Arcy Thompson und Moretti selbst war auch Warburg ein passionierter Morphologe. Sein berühmter Bilderatlas Mnemosyne galt dem Versuch, über Zeiten, Gattungen und Formate hinweg wiederkehrende figürliche Bewegungsmuster zu identifizieren, die er Pathosformeln nannte. Was das sei, wollten Moretti und sein Team genauer wissen. Und warum Warburg von Formeln statt von Formen sprach, haben sie bei der Arbeit auch herausgefunden. Wenn Formen gelernt haben, sich zu replizieren, werden daraus Formeln, die von Menschen und Maschinen problemlos wiedererkannt werden, obwohl es weder den einen noch den anderen gelingt, die innere Logik der wahrgenommenen Familienähnlichkeiten verbindlich zu formulieren (vgl. 89).

Moretti und sein Team unternahmen also den abenteuerlichen Versuch, Pathosformeln zu ›messen‹. Zu diesem Zweck waren Hunderte bewegter Gestalten auf den 63 Tafeln von Warburgs Atlas in eine statistisch analysierbare Form mit für Algorithmen hinreichendem Abstraktionsgrad zu verwandeln. Heraus kamen zwölf Strichmännchen mit Armen, Beinen und Rumpf, die aber immerhin den Gliederpuppen glichen, die ältere Maler bekanntlich oft zur Hand hatten. Daraus ergaben sich insgesamt elf verschiedene Winkelformationen der einzelnen Körperteile, die den Algorithmus auf die Spur von Pathosformeln setzen sollten. Und siehe da, der Algorithmus clusterte richtig; er ›erkannte‹ die Pathosformeln, die Warburg auch schon erkannt hatte. Jetzt schien der Weg frei für einen Atlas von sehr viel größeren Ausmaßen.

Das gemeinsame morphologische Merkmal, das der Algorithmus zum Clustern verwendet hatte, war die gleichzeitige Bewegung der Arme und Beine. Erwin Panofskys Gegenüberstellung von Pathosformeln und der Technik des Kontrapost leistete klärende Amtshilfe. Die durch Symmetrisierung im Kontrapost erreichte Einheit wird vom Pathos aufgebrochen; unter seinem Einfluss machen sich Beine und Arme gewissermaßen gegeneinander selbständig: »Es geht hier um Körper, die zugleich an zwei Fronten kämpfen« (105). Von einem Biomechaniker lernte das Team, dass es sich dabei um hochgradig instabile Posen handelt, denen auch der beste Tänzer keine Dauer verleihen kann. (Deshalb sehen die der Pathosformel »Nymphe« zugehörigen Figuren stets so aus, als würden sie gleich stolpern oder ihre Last verlieren.) Die andernorts entwickelte »LifeForms«-Software vermag diese instabilen Posen so ins Bild zu setzen, wie es natürlichen Körpern nie gelingen könnte. Fazit: Pathosformeln zerbrechen die Einheit und sprengen die anatomisch-physischen Möglichkeiten eines natürlichen Körpers mithilfe einer Dissonanz, über die der Körper mit sich selbst in Konflikt gerät (vgl. 106).

Dass man zu diesem Ergebnis auch auf konventionelle Weise gelangen kann, zeigt der in diesem Kapitel von Anfang an mitlaufende Aufsatz der Kunsthistorikerin Maria Luisa Catoni, die anhand eines einzelnen Bildes einer »Verzweifelte[n] Frau in Bewegung« denselben Effekt festgestellt und im Register der Rhetorik als »Oxymoron« des Körpers bezeichnet hatte (107). Das von ihr analysierte Bild findet sich in Warburgs Atlas nicht. Aber die verzerrte Haltung der verzweifelten Frau ähnelt einer von Warburg aufgenommenen Mänade, die der Algorithmus im Schaubild weitab von den anderen Figuren mit Pathosformeln platziert hatte: ein »absolute[r] Ausreißer« (108). Aber gerade dieser Ausreißer ist der vorgeschobenste Posten – die Avantgarde – und gibt der »kleine[n] Armee« (109) auf dem Schaubild die Richtung vor: »dass der-Körper-als-Oxymoron keine singuläre Anomalie ist, sondern die logische Entfaltung der inneren Struktur der Pathosformeln« (109).

Man kann fast nicht anders, als in dem Pathosformeln charakterisierenden Widerstreit der Gliedmaßen ein Emblem der auseinanderstrebenden Vektoren von close und distant reading zu entdecken. Durch sie geht dieselbe Dissonanz, die im Begriff der Pathosformel quasi hegelianisch punktuell aufgehoben erscheint. Denn ohne Cantonis Exegese wäre die Mänade am äußersten Rand des Schaubildes eine Anomalie geblieben. Ohne die Arbeit des Algorithmus nach Maßgabe der Strichmännchen wäre Catonis Lektüre singulär geblieben. Das eine erhellt das andere, und gemeinsam enthüllen sie Logik und inneren Zusammenhang aller Pathosformeln: »Und das ist genug« (109). Wechselseitige Erhellung der Methoden und besondere Aufmerksamkeit für Ausreißer sind entscheidend.[9] Beides hatte schon im zweiten Kapitel »Ausnahmen, Normen, Extremfälle« zu Carlo Ginzburg eine Rolle gespielt. Und auch im dritten Kapitel erweisen sich gerade die Fehler der Simulationen als aufschlussreich, weil sie Interpretationen herausfordern, die das Verfahren nicht mitliefert. Auch eingefleischte DH-Skeptiker werden sich vom Potential der Methoden überzeugen lassen, wenn sie so theorieaffin und kenntnisreich eingesetzt werden, dass sie sogar ein paar Rätsel von Warburgs Pathosformeln lösen helfen.

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Aber wo ist die Geschichte geblieben, der sich diese Formen und Formeln verdanken und der sie entstammen? Sie hat sich förmlich verflüchtigt. Hinter (oder auch: unter) dem so eindrücklich veranschaulichten Zusammenspiel (nicht: der Zusammenarbeit) von Hermeneutik und quantitativ-statistischen Methoden lauert jene Kluft, die Form und Geschichte trennt. Moretti schließt nicht aus, dass es sich dabei um eine »objektive Antinomie« handeln könnte (70). Denn auch als Kräftediagramm oder »Fingerabdruck der Geschichte« tendiert Form zur Statik; nur indem sie sich aus dem geschichtlichen Prozess herauslöst, wird sie überhaupt als Form erkennbar. Schon Goethe wollte schier daran verzweifeln, dass er die Übergänge von einer Form zur anderen nicht »rund herausbringen« konnte, weil wir die »unmerklichen Übergänge« weder wahrnehmen noch diskursiv darstellen können.[10] Bei Nietzsche heißt es: »[U]nser Intellekt ist zu stumpf, um die fortwährende Verwandlung wahrzunehmen: das ihm Erkennbare nennt er Form. In Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine Unendlichkeit sitzt.«[11] Und Moretti weiß ebenfalls, »wie radikal sich die Morphologie, wenn sie ihrem Dämon folgt – und was ist Forschung anderes, als dem eigenen Dämon zu folgen? – aus der Geschichte zurückziehen kann« (70). »Es gibt keine Formen ohne Geschichte« (142). Und es gibt auch keine Geschichte ohne Formen. Aber wie Formen und Geschichte aufeinander bezogen werden können, bleibt ein Rätsel.

Morphologie und Geschichte: Das ist ein sehr langes, sehr abwechslungsreiches, zuletzt – aber vielleicht geht es ja gar nicht um das Letzte – immer aporetisches und zuzeiten auch abgründiges Kapitel, insbesondere in den Literaturwissenschaften. In ihm spielt Goethe eine wichtige Rolle, viele Biologen vor und nach D’Arcy Thompson. Auch Außenseiter wie der Wiener Paul Kammerer mit seinem Gesetz der Serie (1919) kommen darin vor, die russischen Formalisten, Gestalttheoretiker, die Germanisten André Jolles, Günther Müller, Horst Oppel und Eberhard Lämmert, Kunsthistoriker wie Warburg, Panofsky und George Kubler, Architekten wie Gilbert Simondon, Filmtheoretiker wie Siegfried Kracauer, Philosophen wie Ernst Cassirer und Hans Blumenberg.[12] Sie alle waren auf der Suche nach dem Kreuzungs- und Konvergenzpunkt, an dem die Form in einem antagonistischen Prozess geschichtlich emergiert, und haben dabei entweder die Form oder die Geschichte verloren.

Moretti beschließt das Buch im sechsten und letzten Kapitel mit einem Selbstrückblick: seine frühe Begegnung mit Fernand Braudel, seine hoffnungsfrohen Erwartungen an die quantitativen Methoden, die Aussichten auf eine »Literaturgeschichte ohne Texte« (20) in Analogie zu Wölfflins »Kunstgeschichte ohne Namen« – und dann die Desillusionierung angesichts der stattgehabten Entwicklungen. Es fehle, so resümiert Moretti, an der »wissenschaftlichen Phantasie […], die den Naturwissenschaften ihre grandiose intellektuelle Verwegenheit verleiht. Wenn wir doch nur so schöne Theorien hätten …« (166).

Geblieben ist dem enttäuschten Moretti sein unerschütterliches Vertrauen in die Phantasie der Naturwissenschaften. Das ist beim Marxisten Moretti unter Umständen verständlich, mit dem Morphologen verträgt es sich schlecht. Die Morphologie zählte nämlich noch nie zu den anerkannten naturwissenschaftlichen Ideen oder Theorien. Allenfalls als Hilfsdisziplin wird sie in einem breiten Fächerspektrum sowohl natur- wie humanwissenschaftlicher Provenienzen geduldet. Morphologen wie der tendenziell anti-darwinistische D’Arcy Thompson (der allerdings die Computer-Technik des Morphing vorwegnahm und auch die später validierte Theorie der Constraints evolutionärer Entwicklung),[13] waren keineswegs wohlgelittene Mitglieder der naturwissenschaftlichen Zunft. Carlo Ginzburg, auch er ein Morphologe, der mit seiner Mikrostudie zu Menocchio an dem einen Ende der methodischen Formanalysen angesiedelt ist, an deren anderem die quantitativen Verfahren liegen, hat jüngst noch einmal die morphologische Intuition betont, die ihn geleitet habe und oft jahrzehntelang auf empirische Substanziierung warten musste.[14] Morphologische Intuition ist kein naturwissenschaftliches Verfahren. Und wenn Moretti angesichts des berühmten Darwin-Diagramms über den Ursprung der Arten drei quantitative Studien anführt, bei denen man fast »Zeuge der Entstehung einer neuen kulturellen Art« sei (146), dann ist das kein Beweis für die »Verwegenheit« der Naturwissenschaften, sondern für die Macht morphologischer Intuitionen.

Nicht nur zwischen Morphologie und Geschichte klafft ein Bruch. Schon durch die Morphologie selbst geht ein Schisma. Wie Warburgs Pathosformeln war Morphologie stets ein Oxymoron und in sich gespalten. Sie war einerseits methodisch kontrollierte Reihenbildung und daneben immer auch Intuition, morphologische Schau, wie sie Kracauer noch geltend machte für die Aufgabe des Historikers, wenn er aus den erhobenen Daten der Vergangenheit so etwas wie Geschichte machen wollte.[15] Die Morphologie ist wirklich ein Dämon: »janusköpfig mit einem Antlitz der Zeitlichkeit und einem der Struktur zugewandt«.[16]

Aber das sind ›letzte Dinge‹, über die man unweigerlich ins Fabulieren gerät. Vorläufig wäre dafür zu sorgen, dass Morettis jüngstes Buch Pflichtlektüre für alle wird, die weiterhin besinnungs- und geistlos in die digitale Wende in den Literatur- und Geisteswissenschaften investieren.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

[1] Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, übers. von Florian Kessler, Frankfurt a.M. 2009.

[2] Ders.: Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz 2022, S. 164. Weitere Zitate daraus werden durch Angabe der Seitenanzahl in Klammern im Fließtext nachgewiesen.

[3] Vgl. den Überblick im Einleitungskapitel von Eva Axer/Eva Geulen/Alexandra Heimes (Hg.): Aus dem Leben der Form. Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2021, S. 7–40.

[4] Caroline Levine: Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton 2015. Zur Diskussion vgl. Eva Axer: »›Einfache Formen‹: Eine doppelte Perspektive auf Form. André Jolles, Caroline Levine«, in: Axer/Geulen/Heimes (Hg.): Aus dem Leben der Form (Anm. 3), S. 235–270.

[5] Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume (Anm. 1), S. 71.

[6] Die Bevorzugung des Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum ist übrigens auch ein Zeichen dafür, dass sich die Literaturgeschichte »nicht merklich verändert« hat (8) und viele ältere Annahmen und Usancen die Umstellung auf neue Verfahren unbeschadet überlebt haben.

[7] Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, in: ders.: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, München 1988, S. 9–156, hier S. 40.

[8] In dem aus den Sozialwissenschaften importierten Jargon spricht man auch von mixed methods approaches. Ob der zu einem entangled methods approach erweitert werden kann, hat Rabea Kleymann untersucht in »Datendiffraktion: Von Mixed zu Entangled Methods in den Digital Humanities«, in: ZfDGZeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderband 5: Fabrikation von Erkenntnis – Experimente in den Digital Humanities (2021–2022). Über Formfragen habe ich mich mit Rabea Kleymann für den ZfL Podcast Bücher im Gespräch (Episode 9, 2022) unterhalten.

[9] Schon im Vorwort zu Morettis großer Studie über den Entwicklungsroman spielte das Motiv der imperfections eine wichtige Rolle; vgl. Franco Moretti: The Way of the World. The Bildungsroman in European Culture, London 2000, S. xii. Im Übergang zum distant reading zerfiel allerdings die im Zeichen der morphologischen Bricolage hergestellte Äquivalenz von Einzelwerk, Gattung und Geschichte. Vgl. dazu Eva Geulen: »Formen der Zeit in Geschichtstheorie und Literaturforschung. Wilhelm Dilthey, Siegfried Kracauer, Hans Jonas, Hans Blumenberg/Günther Müller, Horst Oppel, Eberhard Lämmert, Franco Moretti«, in: Axer/Geulen/Heimes: Aus dem Leben der Form (Anm. 3), S. 271–317, hier S. 316.

[10] Vgl. Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016.

[11] Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften, Bd. III, Schriften der Studenten- und Militärzeit 1864–1868, hg. von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta, München 1994, S. 387.

[12] Vgl. Axer/Geulen/Heimes: Aus dem Leben der Form (Anm. 3).

[13] Vgl. Stephen Jay Gould: »D’Arcy Thompson and the Science of Form«, in: New Literary History 2.2 (1971), S. 229–258.

[14] Vgl. Carlo Ginzburg: »Medals and Shells. On Morphology and History, Once again«, in: Critical Inquiry 45.2 (2019), S. 380–395.

[15] Vgl. Eva Geulen: »Morphologie in der Geschichtstheorie nach 1945. Zum Verhältnis von Epochen und Chronologie bei Kracauer, Kubler und Blumenberg«, in: Timothy Attanucci/Ulrich Breuer (Hg.): Leistungsbeschreibung/Describing Cultural Achievements. Literarische Strategien bei Hans Blumenberg/Hans Blumenberg’s Literary Strategies, Heidelberg 2020, S. 199–210.

[16] Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume (Anm. 1), S. 25.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Distant Reading Up Close: Moretti zieht Bilanz, in: ZfL Blog, 25.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/25/eva-geulen-distant-reading-up-close-moretti-zieht-bilanz/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221125-01

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Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/09/07/eva-geulen-altes-und-neues-aus-den-literaturwissenschaften/ Mon, 07 Sep 2020 07:00:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1538 Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Weiterlesen

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Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Geschichtslektion: Die große Zeit der Geisteswissenschaften lag in dem Jahrhundert zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg. Danach ging es etappenweise bergab, mit verzweifelter, auch vor schlimmsten Ideologien nicht Halt machender Anbiederung an die sogenannte Öffentlichkeit; aber auch Rückzug in den Elfenbeinturm und zunehmende Verwissenschaftlichung trugen zur Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften bei.

Schließlich der Silberstreif einer neuen Aufgabe der Geisteswissenschaften heute, in außerakademischen Kontexten, wo man Leute mit Erfahrung in ästhetischer Erfahrung offenbar gut gebrauchen kann, weil sie die Fähigkeit besäßen, »die Welt komplexer aussehen zu lassen«. Eine entsprechende Praxis könne jedenfalls »zurückführen zu einem säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation« – im Unterschied zur abgehobenen Kunstreligion der vorigen Jahrhundertwende –, »in dem schon immer die eigentliche Stärke, ja der spezifische gesellschaftliche Beitrag der sogenannten Geistes-›Wissenschaften‹ gelegen hatte«. Da ist was dran.

Andreas Kablitz mochte dazu aber nicht schweigen, gab den Gegenspieler und korrigierte am 4. November 2019 in der FAZ erst einmal Gumbrechts Festlegung der Geisteswissenschaften auf Expertise in ästhetischer Erfahrung. Geisteswissenschaftliches Kerngeschäft sei vielmehr »die Rationalisierung einer schon vorausgesetzten ästhetischen Wirkung«. (»Begreifen, was uns ergreift«, hieß das bei Emil Staiger.) Und ihre vornehmste wie wichtigste Aufgabe fänden die Geisteswissenschaften immer noch in der Lehre. Die heute sträflich vernachlässigte Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sorge automatisch und hinreichend für die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften. Da ist auch was dran.[1]

Dass beide Positionen dennoch harmonisch zusammenstimmen, liegt auch an ihren geteilten Prämissen. Es hat nämlich seit dem 18. Jahrhundert keinen Bildungsbegriff gegeben, der ohne ästhetische Erfahrung gedacht werden könnte, wie es umgekehrt seither auch kein von (Aus-)Bildung ganz entkoppeltes Konzept ästhetischer Erfahrung gegeben hat. Beider Widerstreit gehört konstitutiv zur deutschen Bildungstradition Humboldt’scher Prägung und bestimmt die Diskussion von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794) bis zu Adorno, der in der »Frühen Einleitung« zu seiner Ästhetischen Theorie (1970) bemerkt: »Wer nicht weiß, was er sieht oder hört, genießt nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondern ist unfähig, sie wahrzunehmen«. Auch und gerade wo versucht wird, das eine gegen das andere auszuspielen, erweisen sich ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung als aufeinander bezogen. Deshalb konnte aus dem Schlagabtausch der beiden Romanisten kein Streit werden.

Aber wie steht es mit Kablitzens Tadel von Gumbrechts Geschichtsvergessenheit? Habe der doch verschwiegen, dass die Geisteswissenschaften deshalb und nur dann entstanden, als sich »in der Folge der Aufklärung« die Beschäftigung mit menschlichen Belangen »nicht mehr auf eine für alle Menschen gleiche natura hominis […] zurückführen ließ«. Der Erfinder der Formel von der ›breiten Gegenwart‹ braucht sich da nicht belehren zu lassen, denn er verfährt ja seinerseits gut historisch, was Kablitz auch nicht unerwähnt lässt, der dieselbe Geschichte mit etwas anderen Akzenten erzählt. Vor allem in Deutschland ist die historische Perspektive spätestens seit Dilthey erste (akademische) Bürgerpflicht und Inbegriff von Geisteswissenschaftlichkeit überhaupt.

Strategische Historisierung

Erfrischend und gründlicher provozierend ist deshalb der Blick in das Buch eines jungen Anglisten der Yale University, das auch in den USA, wo die Humanities von jeher nicht so eng an den Primat der Geschichte gekoppelt waren, für einige Aufregung gesorgt hat. Im Alleingang, abseits geläufiger Periodisierungen und Selbstbeschreibungen, hat Joseph North eine – eingestandenermaßen tendenziöse – Geschichte seines Fachs vorgelegt.[2]

Das Ganze ist in der Tat sehr lokal auf die Anglistik in den USA (und Großbritannien) bezogen. Unbekümmert äußert der Autor überdies seine politischen Überzeugungen. Den Ansprüchen der Fachgeschichte, wie sie etwa in Deutschland vielbändig und in eigens dafür reservierten Zeitschriften gepflegt wird,[3] entspricht er gewiss nicht, will es aber auch gar nicht. Die praktische Indienstnahme von Fachgeschichtsschreibung als Gegenwartsintervention ist die Pointe seiner ›strategischen Historisierung‹.[4] Die Provokation: Frontal greift der sich als links identifizierende Autor den berühmten Imperativ des Übervaters der US-amerikanischen akademischen Linken, Fredric Jameson, an: »Always historicize!« Daran zweifeln zu wollen, kommt schon einem Affront gleich, besonders im linken Spektrum. Rechts steht, wer überzeitliche Ideale beschwört und an ewige Klassiker glaubt.

Uns allen ist der Imperativ »Always historicize!« so in Fleisch und Blut übergegangen, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, noch mal extra zu fragen, worin denn eigentlich genau der beschworene Nexus zwischen Historisierung und (linker) Politik besteht. Erlaubt es historisches Wissen um die Kontexte von Literatur schon, über vergangene oder gegenwärtige Phänomene und Fragen politisch verlässliche oder gar Wege weisende Auskunft zu erhalten? Oder muss man dazu, mit Franco Moretti zu reden, ›die Kräfte‹ und Gesetze der Geschichte unter dem Kapitalismus schon kennen? Wozu bedarf es dann aber der Historisierung? Oder ist der Begriff, sofern er streng genommen den Vorgang bezeichnet, mit dem ein vordem historischen Prozessen als entzogen wahrgenommenes Phänomen zu einem geschichtlichen wird,[5] ein weniger belastetes Wort für ›Ideologiekritik‹, die ja auch die Geschichtlichkeit des scheinbar Naturwüchsigen herausarbeitet?[6] Das ist ein weites und in den Geisteswissenschaften auch hierzulande weitgehend unbefragtes Feld, eben weil das historistische Paradigma, wie man an Gumbrecht und Kablitz sieht, zu den Hintergrundannahmen unseres geisteswissenschaftlichen Tuns und Lassens zählt.

Genau in dieser unbefragten Selbstverständlichkeit liege ein Problem, meint Joseph North. Seit den 70er Jahren habe sich das im Jameson’schen Imperativ geronnene »historicist/contextualist paradigm« in seinem Fach flächendeckend durchgesetzt, ohne als herrschendes Paradigma durchschaut worden zu sein. Was viele politisch engagierte Kolleginnen und Kollegen in den USA, von Konservativen in den 80er Jahren als »tenured radicals«[7] denunziert, als erfolgreiche Überwindung verkrusteter akademischer Strukturen und konservativer Wissenschaftstraditionen feiern, sei ein Pyrrhussieg gewesen und laufe spätestens unter den seit 2008 drastisch veränderten sozio-ökonomischen Verhältnissen auf den Ausverkauf des Fachs an den herrschenden Neoliberalismus hinaus: »a local break on the left then dragged to the right«. Die historische Lektion lautet hier, dass auch linke Positionen historischen Prozessen ausgesetzt sind, die ihrem Wert und ihrer Wahrheit zusetzen können. Hier mangelt es offenbar an genau der Historisierung, die man mit Jamesons Parole so gern im Munde führt.

In Parenthese kann man sich fragen, ob denn der Historisierungsschub dergleichen leistet, der gegenwärtig die ab den späten 1970er Jahren als Avantgarde und Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaften begriffene Theoriebildung im Zeichen ihres allerorten ausgerufenen Endes ereilt.[8] Überlegungen jedenfalls, die beispielsweise Michel Foucault oder Bruno Latour geradewegs verantwortlich machen für die Nöte unseres post-faktischen Zeitalters,[9] verzeichnen die Interaktionen zwischen innerakademischen und außerakademischen Entwicklungen zugunsten ersterer. Die Vorstellung, dass ein paar Bücher die weltpolitische Lage verändert haben, ist eine abwegige Selbstüberschätzung von Elfenbeinturmbewohnern. Selbstkritik dient hier dem Zweck der Selbstbehauptung einst mächtiger Fächer, die sich nicht abfinden können mit ihrer Zukunft als Orchideenfächer, in die manch einer die Germanistik ganz unpolemisch (und entlastend) entlassen wollte.[10]

North, der an die politische Wirksamkeit seines Fachs weiterhin enthusiastisch glaubt, macht es umgekehrt. Er lässt die Puppen der ›Verhältnisse‹ in Gestalt des außerakademischen Neoliberalismus tanzen und verlangt von seinen Kolleginnen und Kollegen bloß, ihre vermeintlichen Errungenschaften und Widerstände als Effekte dieser Umstände zu begreifen und daraus, wenn möglich, Konsequenzen zu ziehen. North behauptet also, dass von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, über Terry Eagleton und Fredric Jameson bis Gayatri Spivak und darüber hinaus alle jüngere Theorie und Praxis in den Literatur- und Geisteswissenschaften unter den Bedingungen einer, wenn nicht geradewegs einverstandenen, so doch letztlich passiven historistischen Gelehrsamkeit operieren.

Man müsse sich eben fragen, ob beispielsweise die den doppelten Standard des Westens unermüdlich thematisierenden Postcolonial Studies die herrschende Ordnung tatsächlich aktiv herausgefordert hätten und nicht vielmehr Ausdruck und Ausfluss der herrschenden Ordnung »in its new diverse and multicultural, US-expansionist forms« seien. Auch jüngere Kurskorrekturen nach 2000, die ihrer Verwechselbarkeit mit älteren und als konservativ begriffenen geisteswissenschaftlichen Traditionen und Begriffen durch das vorangestellte Adjektiv ›neu‹ zuvorkommen möchten, wie New Aesthetics und New Formalism,[11] partizipierten an dieser praxisfernen, historistischen Grundhaltung.

Eine Blütenlese des Anliegens wichtiger Bücher seines Fachs der letzten zwei Jahrzehnte wird bei North zum Symptomkatalog dafür, dass sich die Hegemonie des historistischen Paradigmas von den späten 70ern bis heute wölbt. Dabei waren der Literaturwissenschaft eigentlich – und das heißt auch bei North: historisch betrachtet – Alternativen schon an der Wiege gesungen worden. Seit den 70er Jahren ganz vergessen wurde der alte Widersacher der Gelehrsamkeit: der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von britischen Amateuren und Ästheten gegen die Philologenzunft in Stellung gebrachte und von den seit Langem nur noch als Feindbilder (eigentlich: Pappkameraden) überhaupt zur Kenntnis genommenen Altvorderen I. A. Richards und F. R. Leavis systematisch entwickelte Practical Criticism.

Das historistische/kontextualisierende Paradigma, das bei North auch »scholarly« heißt, beschränkt sich auf die Analyse von Kultur. Dem Practical Criticism sei es dagegen darum gegangen, »to intervene in culture«. Und solche Intervention, die Widerstand gegen ökonomische und politische Zwänge nicht bloß predigt (oder sie facettenreich analysiert und diagnostiziert), sondern tatsächlich praktiziert und therapeutisch dagegen vorgeht, sei vor allem durch die Ausbildung von Leserinnen und Lesern (wie bei Kablitz) zu erzielen und über den Weg einer »cultivation of aesthetic sensibilities« (wie bei Gumbrecht).

Im ersten Kapitel seines Buchs zeichnet North den Streit der jungen Amateur-Ästheten mit den professionellen Philologen zu Beginn des Jahrhunderts in England nach. Die antiakademischen underdogs setzten sich schließlich mithilfe einer methodischen Revolution durch: dem sogenannten close reading. Von linksliberalen Autoren wie I. A. Richards und William Empson – dessen 1930 erschienenes Buch Seven Types of Ambiguity eine Ikone des close reading ist – für radikalpädagogische Zwecke entwickelt, wurde die neue Methode beim Übersetzen in die USA von den reaktionären evangelikalen Südstaatlern der New Critics (allen voran T. S. Eliot) für ihre christlichen Zwecke gekapert und dabei so verfälscht, dass sich die Ansicht durchsetzen konnte, close reading sei eine christliche hermeneutische Praxis, mit der man als Linker lieber nichts zu tun haben möchte.

Mit den Worten von Jane Gallop, die schon 2007 zaghaft die Kerbe andeutete, in die North nun mächtig schlägt: close reading »is being thrown out with the dirty bathwater of timeless universals«. Und damit, so North, wurden auch die Ideale, die diese Methode überhaupt erst gezeitigt hatten, einer radikalen, von einer utilitaristischen und pragmatischen Ästhetik inspirierten Pädagogik preisgegeben. Nur einer trotz und wegen ihres historistischen Paradigmas geschichtsvergessenen Literaturwissenschaft konnte close reading zum Zerrbild Geschichte ignorierender Lektürepraktiken von Klassikern werden. North ist nicht so naiv, dass er das Paradigma der Gelehrsamkeit durch den ja auch in die Jahre gekommenen Practical Criticsm handstreichartig ersetzen möchte. Aber er glaubt, dass der alte Widerstreit zwischen beiden Modellen den amerikanischen und britischen Literaturwissenschaften besser bekommen sei als die alternativlose Alleinherrschaft des seit etwa 1970 fragwürdigen Konsens stiftenden Historismus.

Norths Kronzeuge für das Potential der über dem Feindbild des New Criticism vergessenen Vorgeschichte ist der marxistische Begründer der Cultural Studies, Raymond Williams, Autor der berühmten Keywords: A Vocabulary of Culture and Society (1976), ausgebildet in Cambridge, Schüler von Richards und Nachfolger von Leavis. Als Williams 1977 schrieb, ästhetische Theorie sei »the main instrument of evasion« der sozialen Prozesse, in die alle Kunst verstrickt sei, habe er sich nicht gegen Ästhetik oder deren Theoretisierung überhaupt gewandt, sondern bloß gegen die auch schon von Richards und Leavis kritisierte ›kontinentale‹ Ästhetiktradition mit ihrem seit Kant dominanten Motiv desinteressierter Kontemplation, das im Desinteresse historistischer Betrachtung fortlebe.

Dagegen hatten Richards, Empson und in der Folge eben auch Williams im Namen einer utilitaristischen und materialistischen Ästhetik polemisiert. (Für Spezialisten der ziemlich komplizierten Diskussion über die ›kontinentale‹ Ästhetik im Allgemeinen und Adorno-Leser im Besonderen ist so etwas natürlich schwere Kost! Und es ist auch keinesfalls ausgemacht, ob Williams bei North wirklich adäquat rekonstruiert wurde. Aber man muss seiner Erzählung nicht in allen Details folgen, um die Stoßrichtung seines Affronts zu würdigen.)

Wo es um die Gründe für die heutige Alleinherrschaft des historistischen Paradigmas geht, wird es allerdings ziemlich unerträglich holzschnittartig. Den Ton gibt die jüngere Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts an: Schuld am ungewollten Ausverkauf der Literaturwissenschaft trägt der auf die Krise des Keynesianismus Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre folgende Neoliberalismus. Dass damals eine neue neoliberale Ära anbrach, hätten die Geisteswissenschaften nicht wahrgenommen und sich stattdessen in ihrem allmählich anachronistisch werdenden Paradigma häuslich eingerichtet. Das ist freilich sehr allgemein und schwammig obendrein. (Ist Neoliberalismus dasselbe wie Globalisierung?) Auch der offenbar auf maximale Reichweite setzenden Zusammenziehung von ›historistisch‹ und ›kontextualisierend‹ im »historicist/contextualist paradigm« mangelt es an Trennschärfe. Diese und andere Einwände sind inzwischen vielfach erhoben worden, denn das Buch wurde im englischsprachigen Kontext dutzendfach rezensiert.[12]

Wichtiger als eine Analyse seiner Schwächen ist die Frage nach den Alternativen, die North durchaus beantwortet, auch wenn er auf Prognosen über ihre Durchsetzbarkeit verzichtet. Diese Alternativen haben mit Gumbrechts Ehrenrettung der Geisteswissenschaften als Kompetenzzentrum für ästhetische Erfahrung manches gemein, allerdings nicht den gelassenen Ton. Mit wuchtigem Pathos wendet sich North am Ende seiner Einleitung an seine »friends on the left«: »the struggle is being fought, must be fought, on the terrain of sensibility.«

Und nicht weniger emphatisch wird am Schluss das kritische Geschäft der Literaturwissenschaften in der Ausbildung von »new methods for cultivating subjectivities and collectivities« gesehen. Im Kapitel »The Critical Unconscious« – Kontrafaktur von Fredric Jamesons berühmtem Buch The Political Unconscious (1981) – prüft North jüngere ästhetikfreundliche Ansätze aus dem Bereich des New Formalism, der New Aesthetics und der Affekttheorie. Eve Sedgwick, D. A. Miller und Lauren Berlant figurieren als Hoffnungsträger, die das verschüttete revolutionäre (muss man schon so sagen!) Potential praktischer Kritik tendenziell wiederentdecken.

North zufolge soll Literaturwissenschaft (wieder) bereit sein, »to use the literary as a means of ethical (or political?) education; have its emphasis on therapeutic rather than mere diagnostic uses of the literary«, und natürlich hat sie künftig auch »committed […] to a public role« zu sein. Ähnliche humanistisch-ästhetische Selbstbesinnungen verfolgen Martha Nussbaum in Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities (2010, ausführlich kommentiert bei North) und Gayatri Spivak in An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012).

Aber ist es für eine Wiederbelebung der von North ausgegrabenen materialistischen Ästhetik der britischen Altvorderen nicht längst zu spät? Und zwar nicht aufgrund uneinsichtiger Historisten, sondern gerade aufgrund der mit Neoliberalismus nur verkürzt wiedergegebenen ›Verhältnisse‹? Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Norths Lokalgeschichte nicht vorkommen, haben gegenläufig zu Norths (und Gumbrechts) Aktualisierungsversuchen den Sieg der Ästhetik unter der Ägide des Neoliberalismus dokumentiert, indem sie ihren triumphalen Einzug in die Managementliteratur seit den 90ern aufgezeigt haben.[13] Der Soziologe Andreas Reckwitz hat das in seinen Studien zum kreativen Selbst und der Kultur der Singularitäten vertieft.[14] Vielleicht speist sich das überzeugte Pathos von North, Nussbaum und anderen aus Quellen, die längst nicht mehr so frisch sprudeln, wie Norths tapfere Aktualisierung von Richards, Leavis und Empson glauben machen will. Ist das alles doch nur die Nachhut einer Welt, die sich so uneinholbar und unwiderruflich gewandelt hat wie das Klima?

Die deutsche Tradition

Bevor man in gegenwärtig besonders wohlfeile Melancholie versinkt, sollte man sich vorläufig, wie North selbst, auf lokale Kontexte konzentrieren.[15] Was wäre denn von seiner »Concise Political History« der US-amerikanischen Anglistik hierzulande zu lernen? In der deutschen Wissenschaftstradition ist Norths Entgegensetzung von kontemplativ-distanzierter und materialistisch-utilitaristischer Ästhetik tendenziell so wenig anschlussfähig wie die von Gelehrsamkeit und Praxis (sei es als Bildung, sei es als ästhetische Erfahrung).[16]

Folglich führt Peter Szondi Richards und Empson in seinem kanonischen Essay »Über philologische Erkenntnis« (1962) nicht als materialistische Ästhetiker, sondern als mit Grundsatzfragen der Hermeneutik beschäftigte Text-Theoretiker an. Für das, was im Englischen close reading heißt und von Peter Szondi vorbildlich gelehrt wie praktiziert wurde, ist Ästhetik keine Referenz. Gleichwohl ist sein Versuch, die Methodik der Literaturwissenschaft »aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs« der Werke zu gewinnen, aus dem also, was Adorno die »Logik ihres Produziertseins« nannte, Norths Überlegungen in mindestens einer Hinsicht affin.

Dessen bemerkenswerteste und für hiesige Diskussionszusammenhänge interessanteste Leistung besteht in der Tat im geschärften Blick für close reading als Methode eigenen Rechts. In den Literaturwissenschaften ist Lesen eben nicht bloß soft skill oder Kulturtechnik, sondern eine Kunst, wie Nabokov seine 1982 erschienenen Überlegungen zur europäischen Literatur seit Cervantes überschrieben hat. Dabei geht es nicht um Mimikry ans Objekt – obwohl zum Sonderfall der Literatur- im Unterschied zur Kunst- und Musikwissenschaft als besondere Herausforderung die Überschneidungen von Objekt- und Metasprache gehören –, sondern um kontrollierbare Verfahren. Szondi schrieb: »es gibt keine ›Überinterpretation‹, die nicht auch schon falsch wäre«.

Einen solchen sowohl emphatischen wie methodisch gehegten Lektürebegriff findet man nach Szondi eigentlich nur noch bei Paul de Man. Seine radikal anti-hermeneutischen Allegorien des Lesens (1979) trieben das Lesen allerdings nüchtern und kontrolliert in die Aporie der Unlesbarkeit und damit in seine eigene Unmöglichkeit. Angeschlossen hat daran, ebenfalls aporetisch, in Deutschland wohl nur Werner Hamacher, in erbitterter Auseinandersetzung mit dem hermeneutischen Sinn- und Verstehensbegriff in den Aufsätzen seiner Sammlung Entferntes Verstehen (1998) und etwa zehn Jahre später im Zeichen einer eigenwilligen Inanspruchnahme der Philologie in Für – die Philologie (2009).

Obwohl North sich unter ganz anderen fachgeschichtlichen Prämissen für die Lektüre als Praxis einsetzt, klingt es wie ein Echo auf Norths Abrechnung mit seinem Fach, wenn man bei Hamacher über die Philologie liest, sie sei »zu einer Hilfsbranche der Historiographie, der Soziologie, der Psychologie, der Kulturanthropologie und der Technikgeschichte geworden« und habe »sich den von ihnen diktierten Aufmerksamkeiten, Perspektiven und methodologischen Imperativen gefügt«. Mit für diesen Autor eigentlich nicht typischer Großzügigkeit fügte Hamacher hinzu, solches sei »nicht immer zu ihrem Schaden, aber selten zugunsten ihrer kritischen Kraft« geschehen.

Diese Haltung wurde jüngst gestärkt. Die Berliner Altphilologin Melanie Möller nahm das Erscheinen des von Luisa Banki und Michael Scheffel herausgegebenen Bands Lektüren: Positionen zeitgenössischer Philologie (2017) in der FAZ vom 28. Mai 2018 zum Anlass, eine »Renaissance der Philologie« teils zu verkünden, teils zu fordern. Vehement plädierte sie dafür, »die Texte wieder zu ihrem Recht kommen« zu lassen, »während die Literaturwissenschaft prekäre Verhältnisse mit Kultur- und Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Philosophie eingeht«. Und darüber entbrannte sogleich ein Streit, den dieses Mal erfreulicherweise keine Herren, sondern Damen bestritten. Im Namen des Methodenpluralismus und seiner Errungenschaften widersprachen Claudia Dürr, Andrea Geier und Berit Glanz am 6. August 2018 ebenfalls in der FAZ. Der in Kopenhagen lehrende Literaturwissenschaftler Christian Benne sprang Melanie Möller bei und trat seinerseits für close reading ein: »Arbeit am Text« erschöpfe sich eben nicht in »textimmanenter Versenkung«, wie die Autorinnen unterstellt hatten.

Was diese eigentlich begrüßenswerte Wiederentdeckung der genauen Lektüre problematisch macht und von Autoren wie Szondi oder Hamacher unterscheidet, ist ihr immer wieder neu umschriebenes Telos. Der Nachvollzug der Eigenbewegung des Texts, den der Heidelberger Philologe Jürgen Paul Schwindt etwas irreführend auf den Namen einer »athematischen Lektüre« getauft hat[17] – irreführend, weil, um es mit einem Satz Adornos zu sagen, »Sprache […] ihr semantisches Element nicht abschütteln, nicht rein mimetisch oder gestisch werden kann« –, mündet nämlich stets verlässlich in der »Reflexivität des Textes« (Möller): Der »sich selbst kommentierende« (Benne) und »die eigene Gemachtheit« (Möller) mitreflektierende Text, das sind alles Relikte einer subjektphilosophischen Gedankenfigur, die gerade Hamacher zeitlebens bekämpft hat.

Traut man dem Verfahren des close reading als auf die Eigenlogik der Texte bezogener Erkenntnisleistung so wenig zu, dass dabei immer nur eine modernistisch prämierte Selbstreferenzialität herauskommt, die stets Gefahr läuft, den Hermeneuten nur ihre eigene Reflexivität widerzuspiegeln? Freilich hat Benne recht, dass es »ohne Anerkennung von Subjektivität […] in den Geisteswissenschaften keine Objektivität« gibt. Szondi sah das auch so, aber von Selbstreflexion des Texts oder der mit ihm beschäftigten Subjekte ist auch bei ihm die Rede nicht.

Close reading kann doch viel mehr! Wo die Lektüren gelungen sind (und nur diese Fälle zählen), treten Theoreme (Ästhetik, Affekt, Hermeneutik und Philologie) in den Hintergrund und die vexatorischen Fragen nach Text vs. Kontext, thematischer vs. athematischer Lektüre, Literatur vs. Kultur etc. stellen sich in dieser Form nicht mehr. Vorgemacht hat das der New Historicism, dem es auch programmatisch um die Überwindung solcher Gegensätze ging: Stephen Greenblatts Shakespeare-Bücher in den USA oder Moritz Baßlers Verfahrensstudien zur Popliteratur und zum Realismus hierzulande.

Das Schöne an gelungenen Lektüren ist ihre überragende Evidenz. Man weiß sofort, ob gelesen wurde – oder eben nicht. Und dass das nicht bloß einmal und endgültig geschieht, sondern immer wieder neu und anders möglich ist, dafür sorgt der Unterschied zwischen der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft als Kunstwissenschaft:

»Während die Geschichtswissenschaft ihren Gegenstand, das vergangene Geschehen, aus der Ferne der Zeiten in die Gegenwart des Wissens, außerhalb dessen es nicht gegenwärtig ist, hereinholen muß und kann, ist dem philologischen Wissen immer schon die Gegenwart des Kunstwerks vorgegeben, an dem es sich stets von neuem zu bewähren hat. […] Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen, nicht bloß weil es sich, wie jedes andere Wissen, durch neue Gesichtspunkte und neue Erkenntnisse ständig verändert, sondern weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann« (Szondi)

Das bedarf des immer strittigen und streitbaren Vollzugs der Lektüre. Auf die Herausforderung durch andere Disziplinen, Verfahren und Gesichtspunkte, einschließlich der Geschichtswissenschaft, wollen wir dabei ebenso wenig verzichten wie auf die Erweiterung der Gegenstandsfelder.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. Ihr Beitrag erschien erstmals in »Merkur«, Nr. 855, August 2020, S. 55-65.

[1] Gumbrecht hat inzwischen nachgelegt und sich unter dem Titel »Gelenke des Lichts« in der FAZ vom 22. April 2020 genauer erklärt.

[2] Joseph North, Literary Criticism. A Concise Political History. Cambridge, MA: Harvard University Press 2017.

[3] Vgl. etwa Christoph König et al. (Hrsg.), Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien.

[4] Eine andere Art der ›strategischen Historisierung‹ hat jüngst Patrick Eiden-Offe im Anschluss an Jacques Rancière erörtert: »Verrufenes Historisieren«, ZfL BLOG, 29. April 2019.

[5] Vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, »Um die ›Historisierung des Nationalsozialismus‹. Ein Briefwechsel«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36, 1988, S. 339–372.

[6] Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964.

[7] Vgl. Roger Kimball, Tenured Radicals. New York: Harper & Row 1990.

[8] Vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. München: Beck 2015; Achim Geisenhanslüke, Textkulturen. Literaturtheorie nach dem Ende der Theorie. Paderborn: Fink 2015.

[9] Vgl. Albrecht Koschorke, »Die akademische Linke hat sich selbst dekonstruiert. Es ist Zeit, die Begriffe neu zu justieren«, in: NZZ, 18. April 2018 sowie die als Kooperationsveranstaltung des Konstanzer Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne« mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt veranstaltete Konferenz »Concerning Matters and Truth. Postmodernism’s Shift and the Left-Right-Divide«, 4. bis 6. Oktober 2018.

[10] Vgl. Christoph Möllers, »Disziplinbegrenzung zwischen Historismus und Relevanzbedürfnis«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (4), 2015, S. 485–493.

[11] Hinzufügen könnte man noch den New Historicism und den New Materialism. Über Ersteren informiert luzide Moritz Baßlers Einleitung in dem von ihm herausgegebenen Band New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen: Francke 2001; Letzteren kennt man auch unter dem Begriff Spekulativer Realismus. Vgl. Armen Avanessian (Hrsg.), Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert. Berlin: Merve 2013.

[12] Dermot Ryan, Autor einer Rezension in boundary 2 von 29. Januar 2018, begnügte sich damit, Norths wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Argumente als ›romantische Antikapitalismuskritik‹ abzutun. Zu den lesenswerteren, weil gelasseneren, Besprechungen gehört die von Bruce Robbins in Los Angeles Review of Books, 14. Mai 2017.

[13] Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2003.

[14] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 2012, und Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017.

[15] Und sich überdies an den Artikel von Justin Stover (»Warum es keine guten Gründe zur Verteidigung der Geisteswissenschaften gibt«, in: Merkur 72, Heft 828, Mai 2018, S. 25–39) erinnern, mit dem auch Gumbrecht schließt, um zu versichern: »Sollten Universitäten und Bildungspolitik ihnen [den Geisteswissenschaften] die finanzielle Unterstützung entziehen, wird ihr Leben außerhalb dieses Rahmens weitergehen, der ihnen in der Vergangenheit eine Form gegeben hat, aber keinesfalls ihr Ursprung war.«

[16] Etwas anders sieht es wohl in der Fachgeschichte der DDR auch über den Mauerfall hinaus aus. Vgl. Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990.

[17] Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Heidelberg: Winter 2016.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Altes und Neues aus den Literaturwissenschaften, in: ZfL BLOG, 7.9.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/09/07/eva-geulen-altes-und-neues-aus-den-literaturwissenschaften/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200907-01

Der Beitrag Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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