Editionspraxis Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/editionspraxis/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Tue, 05 Dec 2023 11:24:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Editionspraxis Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/editionspraxis/ 32 32 Patrick Eiden-Offe: EDITIONSPHILOLOGIE ALS AKTIVISMUS: Der umkämpfte Hölderlin https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/ Tue, 05 Dec 2023 09:10:23 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3175 In Erinnerung an Marianne Schuller Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren Weiterlesen

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In Erinnerung an Marianne Schuller

Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren ab­geschlossen sein; tatsächlich erscheint der letzte Band 2008. Aufsehen­erregend war die neue Ausgabe vor allem wegen ihrer Editionsprinzipien: Alle Handschriften werden im Faksimile wiedergegeben, eine »typographische Umschrift« bildet die Schrift­bildlichkeit der Handschriftenblätter ab, eine »Phasenanalyse« macht den zeitlichen Charakter des Entwurfsprozesses nach­vollziehbar. Aufsehenerregend war aber auch, dass die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) von Anfang an unter einem politisch-aktivistischen Stern stand: »Roter Stern über Hölderlin« oder »Liest Marx jetzt Hölderlin?« lauteten einschlägige Überschriften in der Presse.

Vom Verlag hatte Sattler »einen allgemein zugaenglichen besseren text« gefordert, und eine Ausgabe, die die »trennung von wissenschaftlichen und populaeren ausgaben« aufhebt, um damit ein größeres Publikum zu erreichen. Die komplizierten Editionsprinzipien und die spektakuläre Druckgestaltung dienten dem aufklärerischen Ziel, den Leser:innen eine Ausgabe an die Hand zu geben, die es ihnen er­laubte, editorische Entscheidungen selbst zu überprüfen. Die FHA, so hieß es, »bleibt nicht bei der utopie des idealen lesers stehen, sondern unternimmt es, ihn zu bilden«.[1]

Dieser Anspruch schließt zwei Annahmen ein: Erstens Hölderlin geht alle an! und zweitens Es gibt Leute, die das verhindern wollen. Die erste Annahme speist sich aus den Debatten um einen »neuen Hölderlin«, die seit den 1960er Jahren geführt wurden. Gegen die restaurative Vereinnahmung des Autors etwa durch Martin Heidegger hatten schon Theodor W. Adorno und Peter Szondi Einspruch erhoben.[2] Pierre Bertaux hatte den »Jakobiner Hölderlin« entdeckt, der zugleich zur Ikone der Antipsychiatrie avancierte.[3] Dieser neue Hölderlin wurde nun von der FHA editorisch unterstützt.

Das führt zur zweiten Annahme: Die FHA wendet sich explizit gegen die große Stutt­garter Ausgabe (StA), die 1974 gerade ab­geschlossen worden war. Diese war 1943 von dem Tübinger Germanisten Friedrich Beißner begründet worden und galt im Fach als mustergültig. Die Herausgeber der FHA erhoben nun schwere Vorwürfe. In der StA fänden sich massenhaft »falsche[] Entzifferungen und Textzusammenstellungen«, die absichtlich vorgenommen und »ästhetisch motiviert« seien. Die ästhetische »Vorliebe fürs ›Vollendete‹« sei aber eigentlich politisch zu verstehen, als Votum für eine geschlossene Gemeinschaft, die sich im vollendeten Werk wiederfinden solle.[4] Hier schließt sich der Kreis: Denn Beißner war NSDAP- und SA-Mitglied und hatte 1943, parallel zum Start der StA, eine »Feldausgabe« Hölderlins besorgt. Der philologische Einsatz für den unverstellten Hölderlin wurde für die Frank­furter so zu einem buchstäblich antifaschistischen Kampf dafür,

»daß gepfleget werde /
Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet«.[5]

Das Hölderlin-Imperium schlägt umgehend zurück. Das ganze Unternehmen der FHA sei rein politisch motiviert und schon des­wegen wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, der Herausgeber Sattler ein fach­fremder Autodidakt. Die Auseinander­setzung zog sich lange hin und ist mittler­weile Gegenstand einer »historischen Kontroversenforschung« geworden.[6] Das Ergebnis der Auseinandersetzung lässt sich mit dem Titel eines Büchleins aus dem Merve Verlag, ebenfalls aus dem Jahr 1975, zusammenfassen: Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt. Die FHA löste eine editions­philologische Revolution aus, hinter die es kein Zurück gab. Sie etablierte einen neuen Standard, der nicht zuletzt in den großen Editionsprojekten zu Kleist und Kafka bekräftigt wurde, die in der Folge bei Roter Stern erscheinen sollten.

Wissenschaftshistorisch könnte man die Geschichte der FHA also als Lehrstück darüber lesen, wie ein wenigstens zum Teil von außerhalb der Wissenschaft kommender politisch-aktivistischer Impuls ein wissenschaftliches Feld aufmischt und neu sortiert, bis sich dort schließlich ein Paradigmenwechsel vollzieht. Eine solche Erfolgsgeschichte atmet indes wenig Hölderlin’schen Geist. Denn ihm waren immer auch die Verluste und die »Narben« wichtig, die der Gang der Geschichte schlägt.[7] Vielleicht müssen wir, gerade wenn es um den Zusammenhang von Aktivismus und Wissenschaft geht, auch danach fragen, was aus den initialen politischen Impulsen wird, wenn sich der »rationale Kern« der wissenschaftlichen Debatte herausschält und der Aktivismus überflüssig zu werden droht.

Zur politischen Dimension der FHA gehörte eine Provokation, die aufs eigene Lager zielte: Gekämpft wurde nicht nur gegen die Verfälschung Hölderlins, sondern auch gegen eine Linke, die diese nicht durchschaut und sich deshalb für Hölderlin gar nicht erst interessiert. Dieser Konflikt wird gleich im ersten Heft von Le pauvre Holterling offengelegt, einer Schriftenreihe, die die FHA als Organ einer wissenschaftlichen und politischen Selbstverständigung und Gegenöffentlichkeit von Anfang an begleitet hat. In einem »offenen Brief« mokieren sich hier »ehemalige Mitarbeiter« des Verlags über die FHA, die sie unter Verweis auf die portugiesische Revolution, die »Obdachlosen«, die »arbeitslosen Jugendlichen«, das »tapfer kämpfende Volk der Palästinenser« und schließlich »die Genossen im Knast« als politisch überflüssig verwerfen. Eigentlich gehe es wohl darum, als »linke[r] Verlag« in der Krise zu überleben, »indem man bürgerliche Dichter, die begriffs- und gefühlsduselig antikapitalistisch waren, verlegt und den Linken als links und revolutionär, den Bürgern als ›nichtradikale Neueinschätzung‹ (FAZ) verkauft«.[8]

Darauf antwortet im gleichen Heft der selbst »im Knast« einsitzende Schriftsteller Peter Paul Zahl. Der hält zunächst fest, dass er nicht »für revolutionäre Portugiesen, Obdachlose, Jugendliche und Palästinenser« sprechen könne, wohl aber vielleicht für die »Genossen im Knast« – und als ein solcher brauche er persönlich den unverfälschten Hölderlin unbedingt, um im Gefängnis zu überleben. Zahl mahnt einen kulturrevolutio­nären Kampf an, der sich nicht ausschließlich an »konkreten Tageszielen« orientieren dürfe, sondern auch eine »Rekonstruktion von Sinnlichkeit und Sprache, von Kommunikation« im Blick haben müsse – und dabei »kann Hölderlin uns helfen«.[9] Zahls Intervention verdeutlicht, dass die FHA auch zur kulturellen Aufklärung einer kulturbanau­sischen Linken beigetragen hat. Die ehemaligen Mitarbeiter aber haben vielleicht auch einen Punkt, wenn sie danach fragen, was von einer revolutionären Edition bleibt, wenn das übergreifende politische Projekt verloren geht.

In der politischen Ernüchterung und Depression, die nach 1975 bald eintrat, kehrte sich der polemisch-aktivistische Impuls der FHA gewissermaßen nach innen. Im Verbund von Verlag und Herausgebern kommt es nun zu Friktionen, die mitunter beklemmende Züge annehmen. Die Herausgeber etwa werfen dem Verlag vor, auf seinen Rechten zu beharren und so die Verbreitung des »echten« Hölderlin zu verhindern. Und Sattler, der als überzeugter Antiakademiker die FHA immer auch als Einspruch gegen eine »szientifisch verkürzte« Literaturwissenschaft verstanden hat, kann es nur als Verrat werten, wenn einzelne seiner Mitherausgeber mit ihrer editorischen Kompetenz bald akademische Karriere machen.[10] Vom einst kämpferischen Kollektiv bleiben schließlich nur verfeindete Einzelne übrig, die sich verraten fühlen.

Wenn wir heute über Wissenschaft und Aktivismus debattieren, dann geht es schnell um die Gefahren des Aktivismus für die Wissenschaft. Die Geschichte der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe lehrt hier Gelassen­heit: Mitunter speisen sich die großen wissen­schaftlichen Innovationen genau aus den aktivistischen Impulsen, die den Zeitgenoss:innen völlig überspannt oder sogar verrückt erscheinen. Die Geschichte der FHA lehrt aber auch, nach den Kosten solcher Erfolge für die Aktivist:innen und ihr politisches Anliegen zu fragen. Denn unter dem Zwang des wissenschaftlichen Fortschritts werden diejenigen, die sich nicht anpassen wollen oder können, schnell zu den »Untergetretenen« und »Irregeführten«, von denen die Geschichte voll ist und denen wir – den letzten Sätzen von Sattlers Nachwort zum letzten Band der FHA folgend – beizustehen haben:

»Zornlos, kraft tieferer Einsicht.«[11]

 

Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle der DFG mit dem Projekt Georg Lukács: eine intellektuelle Biographie. Außerdem leitet er das Projekt Kartographie des politischen Romans in Europa. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

 

[1] D. E. Sattler: »Persönlicher Bericht. VII« auf der persönlichen Homepage hoelderlin.de unter »d e sattler – entwuerfe editionen«.

[2] Vgl. Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins« [1963], in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 447–491; Peter Szondi: »Hölderlin-Studien« [1967], in: ders.: Schriften I, Berlin 2011, S. 261–366.

[3] Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, Frankfurt a.M. 1969, und ders.: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1978.

[4] Michel Leiner/D. E. Sattler/KD Wolff: »Vorwort«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 10–19, hier S. 17.

[5] So heißt es im Schluss von Hölderlins Patmos.

[6] Vgl. Gideon Stiening: »Editionsphilologie und ›Politik‹. Die Kontroverse um die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe«, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007, S. 265–298.

[7] »ein Ärgerniß aber ist Tempel und Bild, // Narben gleichbar zu Ephesus. Auch Geistiges leidet« – so die späte, selbst tief vernarbte Überarbeitung von Brod und Wein.

[8] Sechs Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter: »Liebe Mitarbeiter des Verlags Roter Stern! Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 1, 1976, S. 22.

[9] Peter Paul Zahl: »An ehemalige Mitarbeiter des Verlags Roter Stern. Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling (Anm. 8), S. 23–25, hier S. 23f.

[10] Leiner/Sattler/Wolff: »Vorwort« (Anm. 4), S. 17.

[11] D. E. Sattler: »Zur Edition«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 20, Frankfurt a.M. 2008, S. 8.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe: Editionsphilologie als Aktivismus: Der umkämpfte Hölderlin, in: ZfL Blog, 5.12.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231205-01

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Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/ Mon, 06 Nov 2023 10:55:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3129 So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Weiterlesen

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So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.

Der Unbekannte

Trotz einflussreicher Fürsprecher wie Bertolt Brecht, George Grosz, Thomas Mann, Max Reinhardt und Franz Werfel blieb Borchardt zeit seines Lebens weithin unbekannt. Seine Karriere als Bühnenautor im Berlin der Weimarer Republik mag er aus Angst, wegen der satirischen Darstellung von Deutschtümelei und Franzosenhass seine Stelle als Lehrer zu verlieren, selbst vereitelt haben.[1] Ein Romanprojekt musste Borchardt im sowjetischen Exil abbrechen, und als er später in den USA Stücke und Essays über den christlich-konservativen Widerstand gegen den Faschismus schrieb und seine eigenen Lagererfahrungen festhielt, traf er nicht den dortigen Publikumsgeschmack. So blieben die meisten seiner Texte zu Lebzeiten unveröffentlicht. Im Januar 1951 starb Hermann Borchardt in New York.

Ein erster Versuch, Borchardt posthum als Schriftsteller zu etablieren, wurde über 50 Jahre nach seinem Tod unternommen. Im Auftrag des Exilforschers Hermann Haarmann und des Verlegers Stefan Weidle edierte Uta Beiküfner Borchardts monumentalen Roman Die Verschwörung der Zimmerleute 2005 erstmals in deutscher Sprache.[2] Hans Sahl, ein Freund Borchardts im New Yorker Exil, hatte Weidle gefragt, ob er nicht Lust hätte, »zusammen finanziellen Selbstmord zu begehen«,[3] wohlwissend, dass nur wenige Leser bereit wären, einem unbekannten Schriftsteller 1000 Seiten eines Romans zu folgen, der dessen Enttäuschung über die Linken in der Emigration und seine daraus folgende konservative Wende auf großartige Weise schildert: Nicht Revolutionäre retten in diesem Roman die Republik vor den Faschisten, sondern eine konservative Partei im Verbund mit einem mittelalterlichen Zimmermannsorden. In der Tat blieb die satirische Auseinandersetzung mit dem Faschismus, figurenreich und »bösartig« (Brecht), wie schon 1943 in der gekürzten englischen Fassung, auch 2005 im deutschen Original ein Ladenhüter.

Abb. 1: Porträt Hermann Borchardts aus seinem Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main
Abb. 1: Seite aus Hermann Borchardts Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main

Ein Zufall brachte den Autor einige Jahre später erneut ins Gespräch. Mitte der 1920er Jahre hatte Borchardt sich in Berlin mit Bertolt Brecht angefreundet und war dessen Mitarbeiter geworden (u.a. bei der Heiligen Johanna der Schlachthöfe). Bei der Arbeit an der 2014 erschienenen Edition der Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949[4] stießen Hermann Haarmann und Christoph Hesse auf zwölf Briefe Borchardts, die er aus dem Exil in Frankreich, der Sowjetunion und den USA an Brecht geschrieben hatte. Im April 1933 hatte Borchardt nämlich wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe, die er seinen Schülern gestellt hatte, aus Berlin flüchten müssen. Zunächst kam er in Beauchamp nahe Paris unter, entschloss sich dann aber Anfang 1934, eine Professur für Deutsch als Fremdsprache im sowjetischen Minsk anzunehmen, obwohl er schon ahnte, dass er sich in »pauvreté, Kälte, Verstellung und Maulhalten« begeben werde.[5] Die »Verstellung« machte Borchardt allerdings nur mit, bis er aufgefordert wurde, die deutsche Staatsbürgerschaft gegen die sowjetische einzutauschen, was einen deutlich niedrigeren Lebensstandard und die Gefahr der Verhaftung nach sich gezogen hätte. In der Not ging er mit Frau und Kindern im Januar 1936 zurück nach Berlin, wo er ein halbes Jahr später als gebürtiger Jude und Re-Emigrant verhaftet und in den Konzentrationslagern von Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau interniert wurde. Ein Jahr lang kämpfte Dorothea Borchardt für die Entlassung ihres Mannes und erhielt dabei finanzielle Hilfe von Brecht. Eva und George Grosz, die noch vor der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 in die USA emigriert waren, besorgten schließlich Schiffsfahrkarte und Affidavit, so dass Borchardt aus dem KZ Dachau freigelassen wurde und mit seiner Familie in New York ein neues Leben beginnen konnte.

Mehr als Briefe

Erst im Zuge der Rechteklärung für die Briefe an Brecht stellte sich heraus, dass der Rettungsaktion eine schon lange währende Freundschaft mit George Grosz vorausgegangen war. Borchardts damals noch lebender Sohn Hans (1930–2015) meldete sich aus Delaware mit der Nachricht, es existiere ein umfangreicher Briefwechsel seines Vaters mit dem ebenfalls aus Berlin stammenden Künstler. Ob wir nicht Lust hätten, ihn zu edieren? Hermann Haarmann und Christoph Hesse sagten prompt zu und ich stieß im Sommer 2015 dazu, als es zunächst darum ging, die in Kurrentschrift geschriebenen Briefe Borchardts zu entziffern. Zum Abschluss des Projekts reisten Christoph Hesse und ich nach Durham in North Carolina, um sicherzugehen, dass uns kein Brief von Grosz oder Borchardt entgangen war, denn schließlich hielten wir mit dem Briefwechsel das Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft in den Händen, die auch die Nöte des Exils überstand.

Wie aber war dieser Teil des Nachlasses nach Durham gelangt? An der dortigen Duke University war Borchardts jüngster Sohn Frank (1938–2007), der sich von den drei Kindern am meisten für das Werk des Vaters interessierte, bis zu seinem Tod Professor für Germanistik. In einem 1989 publizierten und bis heute wegweisenden Porträt machte er den Schriftsteller Hermann Borchardt der Exilforschung erstmals näher bekannt.[6] Demgegenüber hatte der älteste Sohn Hans, der in Delaware als Chemiker arbeitete, mit dem Werk seines Vaters nichts zu schaffen, wie er in seiner Autobiographie einräumte. Doch nach dem Tod seines Bruders, so erzählt er in der Trauerrede, habe sich etwas Merkwürdiges zugetragen: Über drei Monate hinweg habe jeden Tag ein Vogel wild an die Fensterscheiben seines Hauses gepickt. Das habe ihn und seine Lebensgefährtin dazu bewegt, im Haus seines Bruders doch noch einmal alles durchzusehen. Wäre der Vogel nicht gewesen, so Hans Borchardt, wären zahlreiche Schriften seines Vaters vernichtet worden. Stattdessen werden sie nun – zu unserem Glück! – in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library der Duke University verwahrt.

Tatsächlich fanden wir im dortigen Nachlass Briefe von Grosz und Borchardt, die in der uns vorliegenden Liste nicht verzeichnet waren, außerdem Fragmente aus Borchardts verschollenem »Lagerbuch« und ein uns bis dahin nicht bekanntes Theaterstück über das Scheitern eines christlich-konservativen Aufstands gegen Hitler. Das war schon weit mehr als erwartet, doch der Inhalt der fünften von insgesamt sechs Boxen übertraf alles: Zwei schwarze Kladden mit zerknitterten Etiketten, darin 400 maschinenschriftliche Seiten, durchgehend paginiert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen, über dem mit Bleistift notiert steht: »Geschichte einer Edelfrau. Liebesroman aus deutscher Vergangenheit« – Borchardts nie veröffentlichter zweiter Roman, in vollständiger Überlieferung!

Ein vergessener Roman

Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)
Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)

Nur gelegentlich, in Briefen an Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel sowie gegenüber seinem Literaturagenten Rudolf Kommer, hat Borchardt selbst von der Geschichte einer Edelfrau gesprochen. Sein Sohn Frank hingegen hat den Roman nie erwähnt. Wir wissen mittlerweile, dass Borchardt die Arbeit daran im Mai 1942 begann, als er noch damit beschäftigt war, Die Verschwörung der Zimmerleute für die amerikanische Ausgabe zu kürzen. Denn trotz geringer Verkaufszahlen von The Conspiracy of the Carpenters hatte der Verlagsvorschuss Borchardt einen Geldsegen beschert, weshalb er darauf bedacht war, gleich den nächsten Roman fertigzustellen. »Wenn Ihnen der Roman gefällt, bitte helfen Sie nur noch einmal!«, bat Borchardt Franz Werfel, der für den ersten Roman ein Vorwort verfasst hatte [7]. Doch dieser starb kurz darauf, und so blieb der Roman, der eine Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, bis heute unveröffentlicht. Daran änderte auch ein wohlwollendes Gutachten des österreichischen Schriftstellers Robert Neumann für die englische Literaturagentin Juliet O’Hea nichts:

»Es ist ein fascinierendes, langes und reiches Buch. Viel leichter zugänglich als Borchardt’s anderer Roman: ›Die Verschwörung der Zimmerleute‹, es ist höchst unterhaltsam, randvoll mit prächtig gezeichneten Charakteren, mit phantastischer Würze und Geschmack erzählt. Da ist mehr Würze und Substanz in diesem Buch als in den Romanen eines gackernden Hühnerhofes von kompetenten und mittelmäßig erfolgreichen Schriftstellern zusammen. Diese Würze bringt beinahe Borchardt’s ganzes Werk in Unordnung, er zersplittert sich leicht, es gibt keinen Charakter an der Peripherie, in dessen Hintergrund und Verästelung er nicht folgen möchte. Die Bühne ist dicht bevölkert, überfließend an Leben und Lebensfreude. Ich sage mit aller Verantwortung, daß Borchardt […] sehr nahe an einen großen Schriftsteller herankommt.«[8]

Möglicherweise lag Neumann mit seiner Befürchtung richtig, dass deutsche Eliten 1945 nicht als liebenswerte Protagonisten, sondern nur als Schurken vorstellbar waren.

Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot
Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot

Mit dem Roman-Fund war Hermann Haarmann, Christoph Hesse und mir klar, dass wir aufs Ganze gehen müssen. Wir wollten Hermann Borchardts Werke edieren (mit Ausnahme der Verschwörung der Zimmerleute, die ja bereits in einer exzellenten Ausgabe vorlag). Fördermittel gab uns zunächst die Fritz Thyssen Stiftung. Nachdem wir in den ersten Jahren unserer Arbeit an der Freien Universität Berlin aus den an unterschiedlichen Orten überlieferten Fragmenten Borchardts sogenanntes Lagerbuch rekonstruiert (Band 1, 2021) und so manches verschollen geglaubte Theaterstück doch noch ausfindig gemacht haben (Band 2, 2022),[9] steht im kommenden Jahr die Edition der Geschichte einer Edelfrau an. Dabei sollen auch die »Geheimen Querverbindungen« (so der Titel eines Kapitels von Borchardts ebenfalls in Band 1 veröffentlichter Autobiographie Der Club der Harmlosen) nachgezeichnet werden, die sich von diesem Roman weit in Borchardts Werk ebenso wie in sein Leben hinein erstrecken. Aufschluss darüber versprechen wir uns von den in Durham zahlreich archivierten Vorarbeiten, deren Entstehung bis ins Jahr 1933 nach Berlin zurückreicht, und von dem im Frankfurter Exilarchiv verwahrten Manuskript, das ich dort jüngst aus einer losen Blattsammlung zusammengesetzt habe. In den noch folgenden Bänden 4 und 5 werden wir Borchardts politische Schriften (u.a. zum Totalitarismus) sowie sein philosophisches Vermächtnis, den Traktat über die Unsterblichkeit, über dem er selbst verstarb, veröffentlichen.

 

Der Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Lukas Laier arbeitet am ZfL gemeinsam mit Christoph Hesse an der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur geförderten »Edition der Werke Hermann Borchardts«.

 

[1] Hinweise darauf finden sich in Hermann Borchardt: »Der dicke Mann, der große Sergeij und die materialistische Ehefrau« [ca. 1943], in: Hermann Borchardt Papers, Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina), und ders.: »Curriculum Vitae II«, in: Hermann Borchardt: Werke, Bd. 1, Autobiographische Schriften, hg. von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier, Göttingen 2021, S. 237.

[2] Die dramatische Urfassung der Verschwörung der Zimmerleute befindet sich heute im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt. Dort befinden sich u.a. ebenfalls die fragmentarische Autobiographie Der Club der Harmlosen und die im amerikanischen Exil entstandenen Theaterstücke Die Brüder von Halberstadt, Der verlorene Haufe und Die Frau des Polizeikomissars sowie das unvollendete Stück Befreiung des Pfarrers Müller, das Borchardt als Ghostwriter für Ernst Toller schrieb und von diesem zu Pastor Hall (1939) umgearbeitet wurde. Zum daraus entstandenen Streit siehe Lukas Laier: »Das klingt doch nicht nach Toller!«, in: Jungle World , 2.12.2022.

[3] Stefan Weidle: »Notiz«, in: Hermann Borchardt: Die Verschwörung der Zimmerleute. Rechenschaftsbericht einer herrschenden Klasse, hg. von Uta Beiküfner, Bonn 2005, Bd. 1, S. 8.

[4] Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse, 3 Bde., Berlin 2014.

[5] Brief an George Grosz vom 28. Januar 1934, in: Hermann Borchardt, George Grosz: »Lass uns das Kriegsbeil begraben!« Der Briefwechsel, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse unter Mitwirkung von Lukas Laier, Göttingen 2019, S. 92. Vgl. hierzu die Besprechung in der Süddeutschen Zeitung.

[6] Frank L. Borchardt: »Hermann Borchardt«, in: John M. Spalek/Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2: New York, Berlin 1989, S. 120–131.

[7] Brief von Hermann Borchardt an Franz Werfel, ohne Datum, vermutlich Februar oder März 1945. Alma Mahler and Franz Werfel Papers, Annenberg Rare Book & Manuscript Library, University of Pennsylvania, Philadelphia.

[8] Robert Neumann an Juliet O’Hea: Undatierter Brief, Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main.

[9] Vgl. hierzu Besprechungen in der taz und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Laier: Edieren aus dem Nachlass, in: ZfL Blog, 6.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231106-01

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Stefan Willer: DIE KUNST DES NACHWORTS. (Ein Nachtrag zu »Schalamow. Lektüren«) https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/07/23/stefan-willer-die-kunst-des-nachworts-ein-nachtrag-zu-schalamow-lektueren/ Mon, 23 Jul 2018 07:28:51 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=842 Das kürzlich erschienene Büchlein Schalamow. Lektüren versammelt die Vorträge eines Kolloquiums zum Werk des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow (1907–1982), das im Mai 2016 am ZfL stattfand. Unmittelbarer Anlass war damals der 65. Geburtstag von Franziska Thun-Hohenstein. Sie hat selbst zahlreiche Lektüren seiner Texte vorgelegt – nicht zuletzt in Gestalt der Nachworte in den mittlerweile sieben Weiterlesen

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Das kürzlich erschienene Büchlein Schalamow. Lektüren versammelt die Vorträge eines Kolloquiums zum Werk des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow (1907–1982), das im Mai 2016 am ZfL stattfand. Unmittelbarer Anlass war damals der 65. Geburtstag von Franziska Thun-Hohenstein. Sie hat selbst zahlreiche Lektüren seiner Texte vorgelegt – nicht zuletzt in Gestalt der Nachworte in den mittlerweile sieben Bänden der Schalamow-Werkausgabe, deren Herausgeberin sie ist. Auch wenn der zweite Band kein Nachwort enthält und das Nachwort zum dritten von Michail Ryklin stammt, sind es doch Thun-Hohensteins Nachworte, die die Werke in Einzelbänden in besonderer Weise prägen.

Hinzu kommen weitere editorische Paratexte, insbesondere die erläuternden Anmerkungen. Wer sie konsultiert, mag den Eindruck gewinnen, es handle sich um leicht erreichbare Hintergrundinformationen. Das ist dem Charakter der Ausgabe geschuldet, die einen großen Leserkreis erreichen soll – und tatsächlich erreicht –, die also keine im engeren Sinne wissenschaftliche Ausgabe ist. Tatsächlich aber ist in die Erläuterungen eine Fülle von Wissen eingegangen, das in minutiöser Archivarbeit gewonnen wurde und im Anmerkungsapparat äußerst verknappt und verdichtet erscheint. Umso eindringlicher wird auf diese Weise der historische Ort von Schalamows Schreiben bestimmt: »›Methode Nr. 3‹ – Bezeichnung für die ab Mitte 1937 genehmigte physische Folter während der Untersuchungshaft« (Bd. 6, S. 258); »Umschmiedung – (russ.: perekowka) propagandistisches Schlagwort für die sowjetische Umerziehungspolitik mittels physischer Zwangsarbeit; geprägt Anfang der dreißiger Jahre, bezogen auf die am Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals beteiligten Lagerhäftlinge« (Bd. 6, S. 270).

In den Nachworten kann sich die Herausgeberin mehr Raum geben, doch auch hier ist sie fern davon, in der Sache oder der Rhetorik irgendwie weitschweifig zu verfahren. Im Nachwort des ersten Bands liefert sie eine Übersicht zu Warlam Schalamows Leben und Werk, auf die sie in den folgenden Bänden zurückverweisen kann. Biographische Ausführungen werden also ökonomisch und gezielt eingesetzt. Und schon jene erste Übersicht im ersten Nachwort ist kein Abarbeiten von Lebensdaten, keine pflichtschuldige Erfüllung des Formats l’homme et l’œuvre, sondern dient der Einführung in eine Konflikt- und Problemgeschichte. Ausgangspunkt ist Schalamows Offener Brief von 1972, in dem er sich gegen die Publikation seiner Werke in der russischen Emigrantenpresse wendet. Dadurch wurden seinerzeit die Spannungen zur Dissidentenszene verschärft, und Schalamow wurde zu einer Art Gegenentwurf zu Solschenizyn.

Schalamow als Streitfall, als umstrittener und streitbarer Autor, sein Leben als in jeder Hinsicht problematische Schriftstellerexistenz: Das ist ein entscheidender Faktor in der ›Leben-und-Werk‹-Charakteristik, die Thun-Hohenstein in ihren Nachworten herausstellt. Sie macht damit deutlich, dass es sich hier um einen Autor handelt, der es sich selbst und seinen Zeitgenossen, aber eben auch seinen Lesern, alles andere als einfach macht. Ein weiterer Faktor, durch den die Verbindung von Leben und Werk überhaupt erst ihre historische Schärfe und ihren historischen Sinn erhält, ist das Überleben. Schalamow ist in seiner Autorschaft nur als Überlebender des GULag zu verstehen.

Die Herausgeberin bekräftigt die historische Authentizität des Durchlebens und Durchleidens als Inbegriff von Schalamows Poetik, indem sie seine Schreibweise als dokumentarisch kennzeichnet. Wiederholt zitiert sie in den Nachworten Schalamows Formel, er habe »mit den ›Erzählungen aus Kolyma‹ eine Prosa geschrieben, die […] ›durchlitten ist wie ein Dokument‹« (z.B. Bd. 5, S. 417). Allerdings ist diese Authentizität literarisch nur im Modus der Nachträglichkeit zu haben. Im Nachwort zu Band 4 ist vom »Kampf ums Überleben in den Lagern« die Rede, dem sich Schalamow »im Niederschreiben der ›Erzählungen aus Kolyma‹ nochmals stellte« (Bd. 4, S. 578). Dieses »Nochmals« ist bei der Charakterisierung von Schalamows Schreiben und von Schalamow als Schriftsteller immer mitzubetonen. Ohne dass Thun-Hohenstein jemals die Realität und Unmittelbarkeit der Lagererfahrungen einklammern würde, ist ihr doch daran gelegen, den komplexen Bezug der Texte zu jener Realität genau zu bestimmen.

Wie groß die poetologische Bedeutung der Nachträglichkeit für Schalamows Schreiben ist, zeigt sich auch mit Blick auf seine autobiographischen Texte, die in Bd. 5 der Werkausgabe, Das vierte Wologda, versammelt sind. Auch hier macht das Nachwort deutlich, wie groß der Aufwand an Gedächtnis- und Wiederbelebungskunst ist, den Schalamow betreibt. Das Nachwort trägt den Titel »›fantiki‹ des Lebens«. Damit ist das von Schalamow in seiner Kindheit gespielte Spiel mit gefalteten Bonbonpapieren, den fantiki, gemeint, mit denen er kleine theatralische Szenen erschuf. In Thun-Hohensteins pointierter Lektüre wird dieses Kinderspiel zur ästhetischen Signatur von Schalamows Erinnerungsprojekt: ein weiterer Beleg dafür, dass die Authentizität dieses Lebens immer nur in literarisch geformter Weise vorliegt.

»Schalamow war Dichter«, schreibt Thun-Hohenstein dezidiert. »Seine Prosa, die er selbst als ›schlicht‹ und ›klar‹ bezeichnete, ist die eines Dichters, der über ein besonderes Gespür für Komposition, für Rhythmisierung und Melodik der Sprache verfügte.« (Bd. 4, S. 576) Eben darauf, auf Schalamows Art und Weise der Komposition, wollen die Nachworte hinweisen. Die »Erzählungen aus Kolyma« sind demnach als »ein sorgsam durchkomponiertes literarisches Ganzes« mit einer klaren »poetologischen Struktur der einzelnen Erzählungen wie aller Zyklen« zu verstehen (Bd. 4, S. 582f.). Damit soll nicht suggeriert werden, dass ausgerechnet hier, in der Literatur des Überlebens, ästhetische Perfektion oder gar Totalität zu haben sei. Sehr deutlich macht die Verfasserin immer wieder auf das Fragmentarische und gleichsam Vernarbte von Schalamows Schreiben aufmerksam. Entscheidend ist der Befund des literarisch Komponierten vielmehr als Bestimmung einer Distanz zum Erlebten, die selbst eine historische Distanz ist. Wenn es eine Position Schalamows gibt, dann die der Komposition.

All das wird den Lesern der Gesamtausgabe nicht als gesicherte literaturwissenschaftliche Grundlage der jeweils eigenen Lektüre präsentiert, sondern eben im Nachgang, im Nachwort. »Der große Nachteil des Vorworts«, so Gérard Genette in seinem Buch über Paratexte, »liegt darin, daß es eine versetzte und sogar hinkende Kommunikationsinstanz ist, da der Autor darin dem Leser im Voraus den Kommentar zu einem Text anbietet, den dieser noch nicht kennt.« Wenn man hingegen ein Nachwort vorlege, dann könne »der Autor in beiderseitiger Kenntnis der Sache epilogieren […]: ›Jetzt wissen Sie genauso viel wie ich, also unterhalten wir uns.‹« (Gérard Genette: Paratexte, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 228) Das Nachwort richtet sich demnach »nicht mehr an einen potentiellen, sondern an den tatsächlichen Leser« (ebd., S. 229) – idealiter; denn natürlich kann man auch mit der Lektüre des Nachworts beginnen.

Von Franziska Thun-Hohensteins Nachworten zu den Werken Schalamows kann man sagen, dass sie Nachworte in einem starken Sinn sind: Nachworte, die nicht ebenso gut Vorworte sein könnten, sondern die, indem sie von der Nachträglichkeit der Texte handeln, ihrerseits Nachträglichkeit ausstellen. Sie wollen keine bestimmte Schalamow-Lektüre initiieren oder vorwegnehmen, sondern verstehen sich als Ergänzungen zu einer bereits begonnenen Lektüre – nicht zu einer bereits beendeten, denn sie sind als Anregungen, als Weiterführungen formuliert. Es sind Nachworte auch im Sinn der Allographie, so Genettes Kennzeichnung desjenigen Typus, bei dem das Nachwort nicht vom Autor selbst verfasst wurde, sondern von einem anderen. Das betrifft vor allem solche Fälle, in denen ein toter Autor postum benachwortet wird.

Dieser Befund mag für Werkausgaben trivial erscheinen, weil sie sich ja zumeist toten Autoren widmen. Schalamows Literatur des Überlebens operiert allerdings immer schon auf der Grenze des Todes. Thun-Hohenstein spricht durchaus emphatisch von seiner Fähigkeit, »ein Textgewebe zu schaffen, das der von Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit gekennzeichneten Situation des einzelnen Häftlings in der Lagerwelt adäquat ist und doch – thematisch wie durch die Formgebung – von der grundsätzlichen Überwindbarkeit des Todes kündet«. Darin sieht sie den »ästhetischen wie menschlichen Sieg Schalamows« (Bd. 4, S. 581). Ein solches literarisches Programm bewegt sich, mit Genettes Zitat einer Formulierung von J. Hillis Miller, »zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Rands« (Genette, S. 9, Anm. 2). Man kann Schalamow in dieser Hinsicht als einen paratextuellen Autor kennzeichnen. Indem Franziska Thun-Hohenstein ihm in immer neuen Anläufen nachschreibt, macht sie sich die paratextuelle Verfasstheit ihres Gegenstands auf subtile Weise zu eigen.

Der Literaturwissenschaftler Stefan Willer ist stellvertretender Direktor des ZfL. Der Text geht zurück auf seinen Beitrag zum Symposium »Schalamow. Lektüren« am 12.5.2016 im ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Stefan Willer: Die Kunst des Nachworts. (Ein Nachtrag zu »Schalamow. Lektüren«), in: ZfL BLOG, 23.7.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/07/23/stefan-willer-die-kunst-des-nachworts-ein-nachtrag-zu-schalamow-lektueren/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180723-01

Der Beitrag Stefan Willer: DIE KUNST DES NACHWORTS. (Ein Nachtrag zu »Schalamow. Lektüren«) erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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