Form Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/form/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 28 Nov 2022 15:45:08 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Form Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/form/ 32 32 Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/25/eva-geulen-distant-reading-up-close-moretti-zieht-bilanz/ Fri, 25 Nov 2022 13:25:08 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2783 Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen Weiterlesen

Der Beitrag Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen (Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz: Konstanz University Press 2022). Ausgerechnet der Autor, der uns 2009 in seinem Buch Kurven, Karten, Stammbäume mit originellen Anwendungsmöglichkeiten datengetriebener, messender Literaturwissenschaft die Augen geöffnet und Hoffnungen auf ganz andere Literaturgeschichten gemacht hatte,[1] bilanziert jetzt Verluste und »Illusions perdues«[2]: abgebrochen die Verbindung »zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts« (9), der erhoffte »intellektuelle[] Schlagabtausch« (164) zwischen close und distant reading, Hermeneutik des Einzelgebildes und quantitativer Analyse fand nicht statt. Die »Lawine kleinerer Studien« blieb »ohne jede geistige Synthese« (165). »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen« (ebd.). Und verloren ging auch ein Konzept der »Form« (9).

Bei der ›verlorenen Form‹ stutzt man erst einmal. Denn kaum einem Begriff wurde im vergangenen Jahrzehnt in den Literatur- und Kulturwissenschaften mehr Aufmerksamkeit geschenkt.[3] Die zahlreichen Ausprägungen dieser Form-Obsession sind sicher zu vielgestaltig, um sie auf einen Nenner zu bringen. Doch mit Blick auf die besonders intensiv und auch kontrovers rezipierte Studie Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network (2015) von Caroline Levine[4] kann man festhalten, dass sich das jüngere Interesse an der Form einem Ungenügen an der Reduktion von Literatur auf ihre Inhalte oder Themen verdankt. Gerade der gesellschaftlichen und sozialen Dimension der Kunst will man mit der Form auf neue Weise habhaft werden. Ein erweiterter Formbegriff soll den Königsweg zur sozialen und historischen Dimension des Kunstwerks bahnen. Diese Rückbesinnung auf die Form von Literatur ist überraschend und neu, weil die Beschäftigung mit Form lange als ahistorisch und unpolitisch galt.

Der Lukács- und Spitzer-Leser, Marxist und Morphologe Moretti hatte solche Rückbesinnung nie nötig. Lange vor ›Neuen Formalismen‹ und quantitativen Methoden war Form für ihn die zentrale Kategorie der Literaturwissenschaften, weil in ihr die »wahrhaft soziale Dimension der Literatur« (9) stecke: Künstlerische Form ist Arbeit an der Wirklichkeit, Kampf um Organisation und, mit einem Wort Aby Warburgs, »›antichaotisch[]‹« (89), sie unterwirft historisches Material der Umgestaltung. Aber die Widerstände, denen diese Intervention ausgesetzt ist, haben ebenfalls Anteil an der Form. Mit dem Biologen Wentworth D’Arcy Thompson, dessen Studie On Growth and Form (1917) Moretti immer schon gerne zitiert hat, ist jede Form auch ein Parallelogramm der auf sie einwirkenden Kräfte (vgl. 41). Die Form ist also die Schnittstelle zwischen historischen Kräften, die auf sie einwirken, und dem gestaltend-umwandelnden Eingriff: Schauplatz eines Kampfes zwischen Kräften und Gegenkräften. Diese »antagonistische Qualität« der Form (89), die aus ihr ein Indiz, einen »Fingerabdruck der Geschichte« macht,[5] gehe jedoch in den quantifizierenden Methoden des topic modelling und data mining, die Texte »wie ›Wortsäcke‹« analysieren (9 u.ö.), auf verschiedenen Ebenen verloren.

Diese Verfahren unterbrechen und suspendieren zunächst den Bezug zur Formerfahrung in der Lektüre eines Einzelgebildes. Und das ist für einen analog geschulten und brillanten Leser wie Moretti durchaus ein Problem (vgl. 157). Die Aufgabe, aber auch die Chance statistischer Verfahren besteht jedoch nun einmal darin, eine komplexe Struktur mit vielen Elementen und Beziehungen auf wenige Merkmale zu reduzieren, um so gleichsam synthetisch eine Form zweiter Ordnung zu generieren, die über große Textmengen und Zeiträume hinweg beobachtet werden kann. Mit anderen Worten: In den DH wird Hamlet nicht nur nicht gelesen, sondern Hamlet wird ›gemacht‹ (47), d.h. durch strategisch bestimmte Reduktion, Selektion und Abstraktion formaler Merkmale analysierbar und sogar simulierbar gemacht (vgl. das Kapitel zur »Simulation dramatischer Netzwerke«).

Neben der verführerischen Verfügbarkeit von immer mehr Daten spielen bei der Anwendung statistischer Verfahren die unverzichtbaren Visualisierungsstrategien häufig eine fatale Rolle. Das wird im fünften von insgesamt sechs Kapiteln anhand einer Metanalyse zu »Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften« gezeigt (verfasst gemeinsam mit Oleg Sobchuk). Auf den inzwischen vertrauten Wimmelbildern mit den vielen mehr oder weniger dicht geclusterten Punkten schafft der Trend in Gestalt der Trendlinie Klarheit. Deren Problematik erhellt eine Studie zur durchschnittlichen Einstellungslänge in Filmen der vergangenen hundert Jahre.[6] Der sichtbare Trend zur kürzeren Dauer ›beweist‹ schrumpfende Aufmerksamkeitsspannen. Verborgen bleibt der Umstand, dass die US-amerikanische Action-Film-Industrie andere Filmgattungen sukzessive vom Markt verdrängt hat. Die Dominanz dieses auf kurze Einstellungen abonnierten Genres steckt hinter dem Trend. Die schöne Linie kaschiert bzw. verleugnet überdies deutlich sichtbare Sprünge in der Entwicklung. Moretti fragt: »Sehen sie ihre eigenen Daten nicht? Natürlich sehen sie sie; Trendlinien haben aber verändert, wie wir sehen« (123). Mit der Trendlinie haben wir »eine Möglichkeit gefunden«, das zu »übersehen«, was »durch die Dominanz des Kanons« verdeckt wird (ebd.).

Natürlich weiß Moretti, dass nicht nur Datenvisualisierungen anfällig für solche Interpretationsfehler sind. Auch hermeneutische Interpretationen schießen beim Versuch, durch den interpretierenden Rückbau der Form – Moretti bezeichnet das Verfahren als »Reverse Engineering« (28) – die historische Welt (wieder) zu entdecken, der das Kunstwerk und seine Form entstammen, oft genug über ihre Daten hinaus und verlegen sich aufs Fabulieren. Dass hermeneutische und statistische Methode noch in ihren Irrtümern divergieren, liegt an der Inkompatibilität der Welten, in denen sie operieren: »Die Interpretation bewegt sich zwischen Form und Welt« (30), also in der Vertikalen. Die Quantifizierung bewegt sich immer nur zwischen Form und Form, also auf der Horizontalen: »Es sind entgegengesetzte Impulse. Dionysos, Apollo. […] Beides große Leidenschaften. Doch zu exklusiv, um ihre Kräfte auf ein gemeinsames Ziel hin zu bündeln« (30f.). Aber wie hieß es bei Nietzsche? »Und siehe! Apollon konnte nicht ohne Dionysus leben!«[7] Ergebnis ihrer Kollaboration war das Wunderwerk der attischen Tragödie. Und in der Tat, auch wenn die Königskinder der Hermeneutik und der statistisch-quantitativen Literaturwissenschaft »nicht wechselseitig in ihre jeweilige Arbeit eingreifen« (31) können, scheint ihre komplementäre Ergänzung zu wundersamen Zwecken möglich.[8]

***

Morettis Buch bilanziert also nicht nur Verluste, sondern macht auch eine Gegenrechnung auf. Die versammelten Best-of-Praktiken erheben den Anspruch, den dokumentierten Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre etwas entgegenzusetzen. Sie wollen Wege zu einer fruchtbaren Koexistenz von close und distant reading weisen. In einer im fünften Kapitel angeführten Dostojewski-Studie wurde beispielsweise die »Lautstärke« der Figuren ›gemessen‹ nach Maßgabe der ihren Aussagen von der Erzählstimme attribuierten Verben »schreien«, »sagen« und »flüstern«. Heraus kam eine Art Partitur von Dostojewskis Romanen, die Bachtins Formkonzept der Polyphonie eindrucksvoll bestätigt (vgl. 133). Morettis Begeisterungsfähigkeit für empirische Verifikation oder »Operationalisierung« (137 u.ö.) ästhetischer Kategorien ungeachtet, ist allein die Bestätigung dessen, was man schon vorher wusste, etwas dürftig. Gleichwohl erhellt das Beispiel sowohl die praxeologische Dimension von Morettis Auseinandersetzung mit Glanz und Elend der digitalen Methoden wie auch den hohen Stellenwert, den ästhetische Theoreme und Formkonzepte bei ihm genießen.

Das in dieser Beziehung vielleicht aufregendste, weil Theorie nicht bloß bestätigende, sondern sie erweiternde Beispiel für die Operationalisierung eines theoretischen Konzeptes liefert das vierte Kapitel zu Aby Warburg, das Moretti zusammen mit Leonardo Impett verfasst hat. Wie D’Arcy Thompson und Moretti selbst war auch Warburg ein passionierter Morphologe. Sein berühmter Bilderatlas Mnemosyne galt dem Versuch, über Zeiten, Gattungen und Formate hinweg wiederkehrende figürliche Bewegungsmuster zu identifizieren, die er Pathosformeln nannte. Was das sei, wollten Moretti und sein Team genauer wissen. Und warum Warburg von Formeln statt von Formen sprach, haben sie bei der Arbeit auch herausgefunden. Wenn Formen gelernt haben, sich zu replizieren, werden daraus Formeln, die von Menschen und Maschinen problemlos wiedererkannt werden, obwohl es weder den einen noch den anderen gelingt, die innere Logik der wahrgenommenen Familienähnlichkeiten verbindlich zu formulieren (vgl. 89).

Moretti und sein Team unternahmen also den abenteuerlichen Versuch, Pathosformeln zu ›messen‹. Zu diesem Zweck waren Hunderte bewegter Gestalten auf den 63 Tafeln von Warburgs Atlas in eine statistisch analysierbare Form mit für Algorithmen hinreichendem Abstraktionsgrad zu verwandeln. Heraus kamen zwölf Strichmännchen mit Armen, Beinen und Rumpf, die aber immerhin den Gliederpuppen glichen, die ältere Maler bekanntlich oft zur Hand hatten. Daraus ergaben sich insgesamt elf verschiedene Winkelformationen der einzelnen Körperteile, die den Algorithmus auf die Spur von Pathosformeln setzen sollten. Und siehe da, der Algorithmus clusterte richtig; er ›erkannte‹ die Pathosformeln, die Warburg auch schon erkannt hatte. Jetzt schien der Weg frei für einen Atlas von sehr viel größeren Ausmaßen.

Das gemeinsame morphologische Merkmal, das der Algorithmus zum Clustern verwendet hatte, war die gleichzeitige Bewegung der Arme und Beine. Erwin Panofskys Gegenüberstellung von Pathosformeln und der Technik des Kontrapost leistete klärende Amtshilfe. Die durch Symmetrisierung im Kontrapost erreichte Einheit wird vom Pathos aufgebrochen; unter seinem Einfluss machen sich Beine und Arme gewissermaßen gegeneinander selbständig: »Es geht hier um Körper, die zugleich an zwei Fronten kämpfen« (105). Von einem Biomechaniker lernte das Team, dass es sich dabei um hochgradig instabile Posen handelt, denen auch der beste Tänzer keine Dauer verleihen kann. (Deshalb sehen die der Pathosformel »Nymphe« zugehörigen Figuren stets so aus, als würden sie gleich stolpern oder ihre Last verlieren.) Die andernorts entwickelte »LifeForms«-Software vermag diese instabilen Posen so ins Bild zu setzen, wie es natürlichen Körpern nie gelingen könnte. Fazit: Pathosformeln zerbrechen die Einheit und sprengen die anatomisch-physischen Möglichkeiten eines natürlichen Körpers mithilfe einer Dissonanz, über die der Körper mit sich selbst in Konflikt gerät (vgl. 106).

Dass man zu diesem Ergebnis auch auf konventionelle Weise gelangen kann, zeigt der in diesem Kapitel von Anfang an mitlaufende Aufsatz der Kunsthistorikerin Maria Luisa Catoni, die anhand eines einzelnen Bildes einer »Verzweifelte[n] Frau in Bewegung« denselben Effekt festgestellt und im Register der Rhetorik als »Oxymoron« des Körpers bezeichnet hatte (107). Das von ihr analysierte Bild findet sich in Warburgs Atlas nicht. Aber die verzerrte Haltung der verzweifelten Frau ähnelt einer von Warburg aufgenommenen Mänade, die der Algorithmus im Schaubild weitab von den anderen Figuren mit Pathosformeln platziert hatte: ein »absolute[r] Ausreißer« (108). Aber gerade dieser Ausreißer ist der vorgeschobenste Posten – die Avantgarde – und gibt der »kleine[n] Armee« (109) auf dem Schaubild die Richtung vor: »dass der-Körper-als-Oxymoron keine singuläre Anomalie ist, sondern die logische Entfaltung der inneren Struktur der Pathosformeln« (109).

Man kann fast nicht anders, als in dem Pathosformeln charakterisierenden Widerstreit der Gliedmaßen ein Emblem der auseinanderstrebenden Vektoren von close und distant reading zu entdecken. Durch sie geht dieselbe Dissonanz, die im Begriff der Pathosformel quasi hegelianisch punktuell aufgehoben erscheint. Denn ohne Cantonis Exegese wäre die Mänade am äußersten Rand des Schaubildes eine Anomalie geblieben. Ohne die Arbeit des Algorithmus nach Maßgabe der Strichmännchen wäre Catonis Lektüre singulär geblieben. Das eine erhellt das andere, und gemeinsam enthüllen sie Logik und inneren Zusammenhang aller Pathosformeln: »Und das ist genug« (109). Wechselseitige Erhellung der Methoden und besondere Aufmerksamkeit für Ausreißer sind entscheidend.[9] Beides hatte schon im zweiten Kapitel »Ausnahmen, Normen, Extremfälle« zu Carlo Ginzburg eine Rolle gespielt. Und auch im dritten Kapitel erweisen sich gerade die Fehler der Simulationen als aufschlussreich, weil sie Interpretationen herausfordern, die das Verfahren nicht mitliefert. Auch eingefleischte DH-Skeptiker werden sich vom Potential der Methoden überzeugen lassen, wenn sie so theorieaffin und kenntnisreich eingesetzt werden, dass sie sogar ein paar Rätsel von Warburgs Pathosformeln lösen helfen.

***

Aber wo ist die Geschichte geblieben, der sich diese Formen und Formeln verdanken und der sie entstammen? Sie hat sich förmlich verflüchtigt. Hinter (oder auch: unter) dem so eindrücklich veranschaulichten Zusammenspiel (nicht: der Zusammenarbeit) von Hermeneutik und quantitativ-statistischen Methoden lauert jene Kluft, die Form und Geschichte trennt. Moretti schließt nicht aus, dass es sich dabei um eine »objektive Antinomie« handeln könnte (70). Denn auch als Kräftediagramm oder »Fingerabdruck der Geschichte« tendiert Form zur Statik; nur indem sie sich aus dem geschichtlichen Prozess herauslöst, wird sie überhaupt als Form erkennbar. Schon Goethe wollte schier daran verzweifeln, dass er die Übergänge von einer Form zur anderen nicht »rund herausbringen« konnte, weil wir die »unmerklichen Übergänge« weder wahrnehmen noch diskursiv darstellen können.[10] Bei Nietzsche heißt es: »[U]nser Intellekt ist zu stumpf, um die fortwährende Verwandlung wahrzunehmen: das ihm Erkennbare nennt er Form. In Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine Unendlichkeit sitzt.«[11] Und Moretti weiß ebenfalls, »wie radikal sich die Morphologie, wenn sie ihrem Dämon folgt – und was ist Forschung anderes, als dem eigenen Dämon zu folgen? – aus der Geschichte zurückziehen kann« (70). »Es gibt keine Formen ohne Geschichte« (142). Und es gibt auch keine Geschichte ohne Formen. Aber wie Formen und Geschichte aufeinander bezogen werden können, bleibt ein Rätsel.

Morphologie und Geschichte: Das ist ein sehr langes, sehr abwechslungsreiches, zuletzt – aber vielleicht geht es ja gar nicht um das Letzte – immer aporetisches und zuzeiten auch abgründiges Kapitel, insbesondere in den Literaturwissenschaften. In ihm spielt Goethe eine wichtige Rolle, viele Biologen vor und nach D’Arcy Thompson. Auch Außenseiter wie der Wiener Paul Kammerer mit seinem Gesetz der Serie (1919) kommen darin vor, die russischen Formalisten, Gestalttheoretiker, die Germanisten André Jolles, Günther Müller, Horst Oppel und Eberhard Lämmert, Kunsthistoriker wie Warburg, Panofsky und George Kubler, Architekten wie Gilbert Simondon, Filmtheoretiker wie Siegfried Kracauer, Philosophen wie Ernst Cassirer und Hans Blumenberg.[12] Sie alle waren auf der Suche nach dem Kreuzungs- und Konvergenzpunkt, an dem die Form in einem antagonistischen Prozess geschichtlich emergiert, und haben dabei entweder die Form oder die Geschichte verloren.

Moretti beschließt das Buch im sechsten und letzten Kapitel mit einem Selbstrückblick: seine frühe Begegnung mit Fernand Braudel, seine hoffnungsfrohen Erwartungen an die quantitativen Methoden, die Aussichten auf eine »Literaturgeschichte ohne Texte« (20) in Analogie zu Wölfflins »Kunstgeschichte ohne Namen« – und dann die Desillusionierung angesichts der stattgehabten Entwicklungen. Es fehle, so resümiert Moretti, an der »wissenschaftlichen Phantasie […], die den Naturwissenschaften ihre grandiose intellektuelle Verwegenheit verleiht. Wenn wir doch nur so schöne Theorien hätten …« (166).

Geblieben ist dem enttäuschten Moretti sein unerschütterliches Vertrauen in die Phantasie der Naturwissenschaften. Das ist beim Marxisten Moretti unter Umständen verständlich, mit dem Morphologen verträgt es sich schlecht. Die Morphologie zählte nämlich noch nie zu den anerkannten naturwissenschaftlichen Ideen oder Theorien. Allenfalls als Hilfsdisziplin wird sie in einem breiten Fächerspektrum sowohl natur- wie humanwissenschaftlicher Provenienzen geduldet. Morphologen wie der tendenziell anti-darwinistische D’Arcy Thompson (der allerdings die Computer-Technik des Morphing vorwegnahm und auch die später validierte Theorie der Constraints evolutionärer Entwicklung),[13] waren keineswegs wohlgelittene Mitglieder der naturwissenschaftlichen Zunft. Carlo Ginzburg, auch er ein Morphologe, der mit seiner Mikrostudie zu Menocchio an dem einen Ende der methodischen Formanalysen angesiedelt ist, an deren anderem die quantitativen Verfahren liegen, hat jüngst noch einmal die morphologische Intuition betont, die ihn geleitet habe und oft jahrzehntelang auf empirische Substanziierung warten musste.[14] Morphologische Intuition ist kein naturwissenschaftliches Verfahren. Und wenn Moretti angesichts des berühmten Darwin-Diagramms über den Ursprung der Arten drei quantitative Studien anführt, bei denen man fast »Zeuge der Entstehung einer neuen kulturellen Art« sei (146), dann ist das kein Beweis für die »Verwegenheit« der Naturwissenschaften, sondern für die Macht morphologischer Intuitionen.

Nicht nur zwischen Morphologie und Geschichte klafft ein Bruch. Schon durch die Morphologie selbst geht ein Schisma. Wie Warburgs Pathosformeln war Morphologie stets ein Oxymoron und in sich gespalten. Sie war einerseits methodisch kontrollierte Reihenbildung und daneben immer auch Intuition, morphologische Schau, wie sie Kracauer noch geltend machte für die Aufgabe des Historikers, wenn er aus den erhobenen Daten der Vergangenheit so etwas wie Geschichte machen wollte.[15] Die Morphologie ist wirklich ein Dämon: »janusköpfig mit einem Antlitz der Zeitlichkeit und einem der Struktur zugewandt«.[16]

Aber das sind ›letzte Dinge‹, über die man unweigerlich ins Fabulieren gerät. Vorläufig wäre dafür zu sorgen, dass Morettis jüngstes Buch Pflichtlektüre für alle wird, die weiterhin besinnungs- und geistlos in die digitale Wende in den Literatur- und Geisteswissenschaften investieren.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

[1] Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, übers. von Florian Kessler, Frankfurt a.M. 2009.

[2] Ders.: Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz 2022, S. 164. Weitere Zitate daraus werden durch Angabe der Seitenanzahl in Klammern im Fließtext nachgewiesen.

[3] Vgl. den Überblick im Einleitungskapitel von Eva Axer/Eva Geulen/Alexandra Heimes (Hg.): Aus dem Leben der Form. Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2021, S. 7–40.

[4] Caroline Levine: Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton 2015. Zur Diskussion vgl. Eva Axer: »›Einfache Formen‹: Eine doppelte Perspektive auf Form. André Jolles, Caroline Levine«, in: Axer/Geulen/Heimes (Hg.): Aus dem Leben der Form (Anm. 3), S. 235–270.

[5] Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume (Anm. 1), S. 71.

[6] Die Bevorzugung des Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum ist übrigens auch ein Zeichen dafür, dass sich die Literaturgeschichte »nicht merklich verändert« hat (8) und viele ältere Annahmen und Usancen die Umstellung auf neue Verfahren unbeschadet überlebt haben.

[7] Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, in: ders.: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, München 1988, S. 9–156, hier S. 40.

[8] In dem aus den Sozialwissenschaften importierten Jargon spricht man auch von mixed methods approaches. Ob der zu einem entangled methods approach erweitert werden kann, hat Rabea Kleymann untersucht in »Datendiffraktion: Von Mixed zu Entangled Methods in den Digital Humanities«, in: ZfDGZeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderband 5: Fabrikation von Erkenntnis – Experimente in den Digital Humanities (2021–2022). Über Formfragen habe ich mich mit Rabea Kleymann für den ZfL Podcast Bücher im Gespräch (Episode 9, 2022) unterhalten.

[9] Schon im Vorwort zu Morettis großer Studie über den Entwicklungsroman spielte das Motiv der imperfections eine wichtige Rolle; vgl. Franco Moretti: The Way of the World. The Bildungsroman in European Culture, London 2000, S. xii. Im Übergang zum distant reading zerfiel allerdings die im Zeichen der morphologischen Bricolage hergestellte Äquivalenz von Einzelwerk, Gattung und Geschichte. Vgl. dazu Eva Geulen: »Formen der Zeit in Geschichtstheorie und Literaturforschung. Wilhelm Dilthey, Siegfried Kracauer, Hans Jonas, Hans Blumenberg/Günther Müller, Horst Oppel, Eberhard Lämmert, Franco Moretti«, in: Axer/Geulen/Heimes: Aus dem Leben der Form (Anm. 3), S. 271–317, hier S. 316.

[10] Vgl. Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016.

[11] Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften, Bd. III, Schriften der Studenten- und Militärzeit 1864–1868, hg. von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta, München 1994, S. 387.

[12] Vgl. Axer/Geulen/Heimes: Aus dem Leben der Form (Anm. 3).

[13] Vgl. Stephen Jay Gould: »D’Arcy Thompson and the Science of Form«, in: New Literary History 2.2 (1971), S. 229–258.

[14] Vgl. Carlo Ginzburg: »Medals and Shells. On Morphology and History, Once again«, in: Critical Inquiry 45.2 (2019), S. 380–395.

[15] Vgl. Eva Geulen: »Morphologie in der Geschichtstheorie nach 1945. Zum Verhältnis von Epochen und Chronologie bei Kracauer, Kubler und Blumenberg«, in: Timothy Attanucci/Ulrich Breuer (Hg.): Leistungsbeschreibung/Describing Cultural Achievements. Literarische Strategien bei Hans Blumenberg/Hans Blumenberg’s Literary Strategies, Heidelberg 2020, S. 199–210.

[16] Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume (Anm. 1), S. 25.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Distant Reading Up Close: Moretti zieht Bilanz, in: ZfL Blog, 25.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/25/eva-geulen-distant-reading-up-close-moretti-zieht-bilanz/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221125-01

Der Beitrag Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Eva Axer, Werner Michler, Marjorie Levinson: DIE ›NEUEN FORMALISMEN‹ – FORM, GESCHICHTE, GESELLSCHAFT. Drei Beiträge https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/01/21/eva-axer-werner-michler-marjorie-levinson-die-neuen-formalismen-form-geschichte-gesellschaft-drei-beitraege/ Mon, 21 Jan 2019 08:21:17 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1012 Während man in Deutschland die Debatte um eine mögliche ›Rephilologisierung‹ der Literaturwissenschaft abermals zu entzünden sucht, ist in den USA der ebenfalls seit Ende der 1990er Jahre geführte Methodenstreit um die ›neuen Formalismen‹ in der Literaturtheorie bereits neuerlich entbrannt. Hier wie dort steht (nochmalig) zur Diskussion, wie Literatur als wissenschaftlicher Gegenstand konstituiert werden solle, was Weiterlesen

Der Beitrag Eva Axer, Werner Michler, Marjorie Levinson: DIE ›NEUEN FORMALISMEN‹ – FORM, GESCHICHTE, GESELLSCHAFT. Drei Beiträge erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Während man in Deutschland die Debatte um eine mögliche ›Rephilologisierung‹ der Literaturwissenschaft abermals zu entzünden sucht, ist in den USA der ebenfalls seit Ende der 1990er Jahre geführte Methodenstreit um die ›neuen Formalismen‹ in der Literaturtheorie bereits neuerlich entbrannt. Hier wie dort steht (nochmalig) zur Diskussion, wie Literatur als wissenschaftlicher Gegenstand konstituiert werden solle, was das ›Kerngeschäft‹ der Literaturwissenschaft sei und wie sie sich zu anderen Disziplinen ins Verhältnis zu setzen habe. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen sich eine immanent operierende, auf formale Aspekte fokussierte Lektürepraxis und eine historisch-kontextualisierende Herangehensweise so antagonistisch gegenüberstehen wie etwa im Fall von New Criticism und New Historicism. Gleichwohl bleibt der Stellenwert von Formfragen ein gewichtiges, vielleicht entscheidendes Moment der Debatten. Von Belang ist die aktuelle Diskussion in den USA zum einen, weil die neuen formalistischen Ansätze eben nicht mehr nur unter Ausschließung historischer oder kulturwissenschaftlicher Problemstellungen verfahren; zum anderen, weil dort eine (wissenschafts‑)politische Dimension dieser Fragen ins Licht rückt. In den folgenden Beiträgen, die im Anschluss an den ZfL-Workshop »Die ›neuen Formalismen‹ – Form, Geschichte, Gesellschaft« entstanden sind, diskutieren Eva Axer, Werner Michler und Marjorie Levinson die Konjunktur des Formbegriffs und der ›neuen Formalismen‹.

Eva Axer: Formsache? Wie eine neue formalistische Literaturtheorie über ihren Gegenstand debattiert

Die gegenwärtige Konjunktur des Formbegriffs in den Geistes- und Kulturwissenschaften hat verschiedene Gründe. Form ist zwar ein seit Langem etablierter, zugleich aber erstaunlich unbestimmter Begriff. Es können daher zwei divergierende Versprechen an ihn geknüpft werden: einerseits das Versprechen, über die Form genuin literaturwissenschaftliche Gegenstände zu identifizieren, womit auch korrespondierende Methoden verstärkt ins Zentrum der Praxis rücken; andererseits die Aussicht, über einen weiten Formbegriff die Kompetenzen der Literaturtheorie wenn nicht auszuweiten, so doch in Beziehung zu den Modellen, Problemen und Verfahren anderer Disziplinen zu setzen.

Beide Versprechen können als gegenläufige Reaktionen der Literaturwissenschaft auf einen gestiegenen Legitimationsdruck in einer veränderten Wissenschaftslandschaft interpretiert werden. Vor diesem Hintergrund geben gerade auch Neuerungen im eigenen Methodenrepertoire Anstoß zu einer intensiveren Reflexion der disziplinären Grundlagen. Die Frage, inwiefern Literatur sich von anderen sprachlichen Ausdrucksformen unterscheidet und ob sie gar einen besonderen ontologischen Status hat, steht wohl auch darum (nicht nur in den USA) wieder auf der Tagesordnung, weil die Digital Humanities Literatur als Untersuchungsgegenstand noch einmal ganz anders konstituieren. Die damit verbundenen Chancen auf eine Neugestaltung oder Erweiterung literaturwissenschaftlicher Methoden werden zum Teil argwöhnisch betrachtet, da den Digital Humanities immer wieder Theoriefeindlichkeit unterstellt wird.[1] Nicht zuletzt fürchtet man einen neuen Positivismus und eine damit möglicherweise verbundene Annäherung der Geisteswissenschaften an das nomothetische Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften.[2]

Die sogenannten ›neuen Formalismen‹ in den USA reagieren nun in unterschiedlicher Weise auf den Bedeutungsverlust großer Literaturtheorien, der sogenannten high theory, insbesondere der Dekonstruktion. Wie Marjorie Levinson bereits 2007 feststellte, lassen sich die im Einzelnen durchaus ungleichartigen ›neuen Formalismen‹ in zwei Lager aufteilen, die das Verhältnis von Form und Geschichte bzw. Form und Gesellschaft je anders begreifen. Dabei spielen zum einen die Demarkationen, die der New Criticism und der New Historicism in den USA etabliert haben, eine Rolle. Zum anderen hat die Debatte eine politische Dimension, denn es stehen sich Varianten eines konservativen ›backlash formalism‹ und eines progressiven ›activist formalism‹ gegenüber. Während es beiden Strömungen um eine Wiedergewinnung von ›Form‹ als Leitkategorie der Literaturwissenschaft geht, sucht das eine Lager formale Analysen gegen eine historische Perspektive auszuspielen, wohingegen das andere nach einer Vermittlung von Form und Geschichte, von Text und Kontext strebt.

In den letzten Jahren hat insbesondere Caroline Levines Buch Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network (2015) Aufmerksamkeit erregt. Levine versucht die widerstreitenden Positionen, die New Criticism und New Historicism hinterlassen haben, zu transzendieren, indem sie Formen zugleich als transhistorisch und als historisch situiert denkt. Formen ›wanderten‹ nicht nur zwischen Kulturen, sondern auch zwischen unterschiedlichen Sphären, zumal zwischen der ästhetischen und der sozialen Sphäre. Daraus folge auch, dass ästhetische Formen nicht einfach über gesellschaftliche Bedingungen und historische Kontexte erklärt werden können. Auf diese Weise werden indes nicht nur einseitige historische (und auch reduktive materialistische) Erklärungen von Form suspendiert. Vielmehr erlaubt Levines Setzung, die den Literaturwissenschaften eigenen Kompetenzen vermittels eines weiten Formbegriffs ›kulturtauglich‹ zu machen, d.h. auf soziale Formen auszuweiten. Levines Untersuchung beruht auf der Annahme, dass, wer einen lyrischen Rhythmus analysieren kann, auch Beobachtungen zur Rhythmisierung sozialer Zeit durch gesellschaftliche Ordnungen anzustellen vermag. Damit will Levine neue Denkmöglichkeiten und in letzter Instanz auch Möglichkeiten politischen Handelns eröffnen, die nicht bloß disruptive Wirkung zeitigen. Nicht nur die Abschaffung oder Zerschlagung von Formen, die soziale Ungerechtigkeit verursachen, soll denkbar werden, sondern auch deren Umgestaltung durch ein verändertes Arrangement der jetzigen Formenpluralität, die unser gesellschaftliches Leben bestimmt.[3] Doch wie lässt sich die Untersuchung eines Gedichts legimitieren, wenn es drängendere soziale und politische Probleme gibt, denen sich eine derart ermächtigte Literaturwissenschaft zuwenden könnte? Levine trägt so zu einer Politisierung der Debatte bei, die letztlich auch eine Beurteilung von Forschungsprojekten und -ergebnissen anhand fachfremder Kriterien zur Folge hat.

Im Rahmen des ZfL-Workshops »Die ›neuen Formalismen‹ – Form, Geschichte, Gesellschaft« fand eine Diskussion mit Gästen aus dem In- und Ausland statt, die von einem close reading einschlägiger literaturtheoretischer Positionen ausging. Ausgehend vom Kapitel »Lyric. The Idea of this Invention« aus Marjorie Levinsons neuem Buch Thinking Through Poetry: Field Reports on Romantic Lyric wurde mitunter heiß diskutiert, was die Bezugnahme auf andere Disziplinen (wie beispielsweise die Systembiologie und ihre Konzepte der Selbstorganisation) für die Literaturwissenschaft bedeutet. Handelt es sich um die Bankrotterklärung einer Wissenschaft, die ihre eigenen Methoden aufgibt und sich durch die Annäherung an die ›harten‹ Naturwissenschaften einen Prestigegewinn erhofft? Oder lassen sich über solche Anleihen neue Denkmodelle entwickeln, die eine Exploration auch genuin literaturwissenschaftlicher Probleme unterstützen können? In historischer Perspektive kann gezeigt werden, warum es (immer wieder) Affinitäten der Literaturwissenschaft zu bestimmten anderen Disziplinen, etwa der Biologie, gibt.[4] Aber im konkreten Einzelfall einer mehr oder weniger intensiven Bezugnahme auf Modelle anderer Disziplinen können letztendlich nur die argumentative Stringenz und die Evidenzeffekte des Textes beurteilt werden. Im Verlauf der Diskussion wurde deutlich, dass die solchen Denkexperimenten zugrunde liegenden methodischen Entscheidungen nicht unabhängig von ihren wissenschaftspolitischen Kontexten diskutiert werden können. Dies kam besonders klar zum Vorschein, da hier akademische Kulturen unterschiedlicher Länder und Fachbereiche aufeinandertrafen.

Die ersten Anzeichen einer erneuten öffentlichen Debatte über Gegenstand und Methodenwahl der Literaturwissenschaft zeigen sich auch in Deutschland. Melanie Möller fordert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine ›Rephilologisierung‹[5], um das philologische ›Kerngeschäft‹, die Arbeit am Einzeltext, zu retten, das durch die vielfältigen methodischen (und politisch interessierten oder gar politisch motivierten) Zugangsweisen der Kulturwissenschaften geschwächt erscheine. Dieser Lektürepraxis stellt Möller einen weiten Begriff von distant reading entgegen, der die von den Philologien präsupponierten formalen bzw. ästhetischen Spezifika von Literatur zugunsten thematischer Lesarten ausblende. Solche Absehung von der Form literarischer Texte sieht Möller auch in den „prekäre[n] Verhältnisse[n]“ begründet, die die Literaturwissenschaft (im Gegensatz zur Philologie) mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Philosophie eingehe. Claudia Dürr, Andrea Geier und Berit Glanz unterstreichen in ihrer Antwort auf Möller nicht nur die Errungenschaften (und auch das politische Provokationspotential) kulturwissenschaftlicher Ansätze, sondern verweisen zudem auf die veränderten Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens, etwa in großen, interdisziplinären Verbundprojekten. In dieser Hinsicht lässt sich ihre Aussage, dass alle Methodenfragen politisch seien, doppelt auslegen: einerseits als (implizite oder explizite) politische Selbstpositionierung einzelner Wissenschaftler/innen, andererseits als Hinweis auf wissenschaftspolitische Bedingungen, die nicht nur das individuelle Forschungsdesign beeinflussen. Mit Blick auf die Diskussion in den USA könnte man sagen, dass eine Politisierung der literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion im Sinne einer starken Polarisierung in Deutschland nicht zu wünschen ist. Eine Reflexion darüber, wie hochschulpolitische Rahmenentscheidungen das literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeiten beeinflussen, hingegen schon. Diese sind nämlich alles andere als bloße Formsache.

 

Werner Michler: Form und/oder Gattung

Der Formbegriff hat gegenwärtig eine erstaunliche Konjunktur. Es gibt keinen Grund, sie ihm zu missgönnen; vor allem dann nicht, wenn er nicht als polemische Alternative zum zuletzt dominanten Paradigma Kultur/Wissen aufgebaut wird. ›Form‹ ist so abstrakt und so breit, dass darin vieles Platz hat: die Kunst, das Kunstwerk, der Text, das Leben, die Dinge. Eben das könnte aber auch für ein gewisses Unbehagen sorgen. Man kann mit dem Formbegriff definitorisch immer neu beginnen und muss doch auf seine noble Vergangenheit, seine philosophische Dignität seit der Antike und seine dezent metaphysische Note nicht verzichten, auch wenn man ganz andere Semantiken aktualisiert, die technischen etwa oder die der ›Lebensform‹.

Es ist hier nicht der Ort für eine Untersuchung der Begriffsensembles und Vergemeinschaftungen, in denen ›Form‹ historisch aufgetreten ist und auftritt; auch nicht für eine ›bilaterale‹ Untersuchung der Beziehungen zwischen ›Form‹ und ihren Antonymen. Begriffsgeschichten sind ja Beziehungsgeschichten: In Brechts Flüchtlingsgesprächen wird vom Zusammenleben der Begriffe berichtet, dass sie »sozusagen paarweise« auftreten, und davon, »wie sie einander beschimpfen und mit dem Messer bekämpfen und sich dann zusammen zum Abendessen setzen, als sei nichts gewesen«.[6] »Form«, heißt es demgemäß auch in den Ästhetischen Grundbegriffen, steht zwischen Geist und Leib, Idee und Materie, sie »steht in einer unaufhebbaren Relation zu ›Materie‹, ›Material‹, ›Stoff‹, d.h. zu einem Nicht-Geformten (bzw. Formlosen)« – kann man bei so vielen Gegenübern nicht folgern, Form sei ein polemischer Begriff? – »und andererseits zu ›Zweck‹, ›Inhalt‹, ›Bedeutung‹, ›Idee‹, d.h. zu einem Geistigen, das die Formung verursacht, durch sie zur Existenz gebracht und durch die gestaltete (materialisierte) Form repräsentiert wird.«[7] ›Form‹ ist eben ein ›ästhetischer Grundbegriff‹, wie ›Stil‹, ›Symbol‹ oder ›Genie‹.

›Gattung‹ ist übrigens offenbar keiner; jedenfalls nicht nach dem Verständnis der Ästhetischen Grundbegriffe.[8] ›Gattung‹ lässt sich, einer aktuellen Arbeitsdefinition zufolge, als »recurring type or category of text, as defined by structural, thematic and/or functional criteria«[9] charakterisieren. Für die alte rhetorische Poetik gehörten res, verba und aptum zur Gattung und ihrem Gebrauch. ›Struktur‹ (Form) und ›Thema‹ (Inhalt) sind zusammen mit ›Funktion‹ – worunter sich eine ganze Reihe von pragmatischen Bestimmungen subsumieren lässt – Aspekte von Gattung, zur Gattung gehören also die ›Form‹ und ihre Antonyme.

Neuere Geschichten von ›Form‹ in den Künsten werden meistens mit dem 18. Jahrhundert begonnen.[10] Mit der ›Form‹ setzt dann auch umgekehrt die neuere Ästhetik ein. ›Form‹ tritt damit zu einem Zeitpunkt auf den Plan, als mit dem neuen Paradigma ästhetischer Autonomie die Gattungspoetik in eine Krise gerät – seither sind Gattungen heikel und problematisch, sie stehen metonymisch für selten näher definierte gesellschaftliche Ordnungen und sind nur in Vermischung oder Subversion statthaft; sie sind etwas für die Unterhaltungsindustrie (›Genres‹) oder für die Geschichtsphilosophie (mit ihrer abstrakten Rede vom ›Roman‹, zum Beispiel). Seit der Goethezeit gibt es einen verbreiteten Affekt gegen Gattungen in der Literatur, bei Autoren und in der Theorie, und zwar nicht nur gegen die ›reinen‹ (als hätte es jemals welche gegeben[11]).

Der Gedanke liegt nahe, dass der Formbegriff in der Moderne nicht zuletzt auf Kosten des Gattungsbegriffs Karriere gemacht hat. Wenn es einmal bei Raymond Williams heißt: »In the most substantial literary theory of the last two centuries, genre has in practice been replaced by form«,[12] dann muss man fragen, was damit verloren gegangen ist, oder anders: was aus dem Blick geraten ist, wenn die Rede von der Form die Rede von der Gattung ersetzt. Es könnte sich bei der Frage nach der Form also um eine historische Frage handeln, und hier wieder nicht primär um eine der Doxographie, sondern um eine der Strategien und des ästhetischen Regimes (Jacques Rancière). Die Gattungen sind, als Orte von Intertextualität, Orte der anderen im Eigenen; sie können nie bloß individuell oder idiosynkratisch sein und stehen mit Kunstwerken, die auf Basis von Werkindividualität konzipiert sind, in einem problematischen Verhältnis. (Der ›Stil‹, auch ein möglicher Kandidat für die Nachfolge von ›Gattung‹, war zu nahe an der Gattung, an der Rhetorik und am aptum, am Gebrauch und am Sozialen, an Distribution und Rezeption, als dass er nicht eine sehr gemischte Geschichte gehabt hätte.)

Wenn auch alle textuellen und extratextuellen Dimensionen von Texten und Artefakten generisch werden können (Struktur, Thema, Medienformat, Publikum), so koppeln Gattungsbegriffe doch häufig eine ›formale‹ (strukturelle) mit einer ›inhaltlichen‹ (thematischen) Bestimmung. Wenn dem so ist, dann lässt sich ›Form‹ als defizienter Modus von Gattung beschreiben. ›Form‹ erschiene an der Stelle von Gattung dann, wenn die thematischen, sozialen und infrastrukturellen Dimensionen von Literatur (Materialität, Institutionen) ausgeblendet werden, ein historisch ›spätes‹ Abstraktionsprodukt, das zugleich mit einer neuen Theorie der Künste über sich selbst auftritt. Damit ist aber die Frage nach dem Verhältnis Form/Gattung keine bloß terminologische oder bloß systematische. (Wenn man sich mit Gattungen befasst, wird man häufig nach dem ›korrekten‹ Gebrauch von [Groß-]Gattung/Genre/Modus gefragt, als handelte es sich um eine bloß technische Frage.) Es ist kein Wunder, dass eine der interessantesten Formulierungen der Moderne zur Form – Georg Lukács’ Diktum, »die Form« sei »[d]as wirklich Soziale […] in der Literatur«[13] – im Rahmen einer sowohl gattungstheoretischen wie dramenhistorischen Abhandlung fällt.

Ein latenter Idealismus (philosophisch) und ein gewisser Aristokratismus (ästhetisch) durchwehen nicht von ungefähr viele Arbeiten, die den Formbegriff ins Zentrum rücken.[14] Zur Neutralisierung des idealistischen Erbes scheint mir eine Strategie der Inflationierung, wie Caroline Levine sie in ihrem vielbeachteten Buch Forms unternimmt, nicht unplausibel.[15] Eine kritische Durcharbeitung des Begriffs und seiner Geschichte – und des je spezifischen Gebrauchs, der von ihm auch zeitgenössisch gemacht wird – wird allerdings dort nicht zu ersetzen sein, wo man es mit Artefakten und Kulturen zu tun hat, die selbst auf dem Komplex ›Form‹ beruhen und sein Abstraktionspotential, sofern es einem historischen Abstraktionsprozess entstammt, spezifisch einsetzen. Eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Formbegriff kann nicht anders als mit seiner kritischen Genealogie beginnen; erst dann wird ›Form‹ zu einem trennscharfen und konstruktiven Werkzeug und auch die Geschichte der ›Formen von Form‹ wird auf neue Weise interessant, wenn sie als agonale Geschichte der Investitionen in den Begriff gelesen wird. ›Gattung‹ hingegen, gerade auch in der sich gegenwärtig abzeichnenden produktionsästhetischen Perspektive, wird daran erinnern, dass Kunst Praxis ist, jedoch nicht »unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.

 

Marjorie Levinson: Thinking about Form – Forms of Thinking

In the US, discussions of form are overwhelmingly polarized. The debate turns on oppositions between formalism and historicism, art and cultural practice, genre study and historical poetics, and criticism and theory. The terms of the debate are themselves politicized into crude binaries (i.e., progressive vs. reactionary), thereby adding to the divisiveness of the discourse on form.

Caroline Levine’s book Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network (2015) claims to transcend these binaries by observing that all social, economic, and political practice and institutions are, like artworks, organized forms, or structures of enabling and sometimes disabling constraint with changing ratios between those effects. Instead of working through both the real and the conceptual polarities in the ways first developed by the Frankfurt School and carried on continuously in the US academy from Jameson’s Marxism and Form (1971) through the New Historicism, New Materialisms, etc., she reduces them to a unitary construct that is so abstract and all-inclusive as to have no analytic value for the study of artworks qua artworks or in their relation to history and politics. Nor do I see the value for students of sociology, history, economics, and politics, whose disciplines have their own highly developed models and metaphors for grasping the formal dynamics of their objects of inquiry and of their own analytic procedures. Moreover, in declaring her exercise as in the service of progressive politics, Levine amplifies the very rhetoric that she deplores, i.e., the language of ›for‹ and ›against.‹

At the ZfL conference »The ›New Formalisms‹ – Form, History, Society«, by contrast, the talk about form had a conceptually serious, reflective and above all, a syncretic cast, which I trace to the traditions of thought that several European colleagues brought to bear on the topic. The defining traditions included philosophy (Aristotle, Lucretius, Spinoza), critical theory (Marxist, Frankfurt School, psychoanalytic, post-structuralist), the natural and physical sciences (18th century through contemporary), and both Kant and Goethe, whom many of us read as concentrating within their oeuvres strains or anticipations of the traditions I just listed. I also read that cluster of traditions as singularly preoccupied with questions about part-whole relationships at micro- and macro-levels and with respect to both concrete and abstract entities (roughly, things and ideas).

The ideal for syncretic thinking is, I believe, the development of distinctions without divisions, or, where divisions emerge and subside, prompted by the stage of the thinking balanced against the abiding goal of many-sidedness in thought (right: this is undiluted Hegel). I saw this over and over again in my two days at ZfL and in surprisingly concrete ways. I refer in particular to our discussion on ›structure‹, which, at first, I took to be a strictly terminological (and therefore sterile) distinction between structure and form, and again, between genre and form. In the course of the debate, I realized that rather than forcing us into airtight taxonomic categories, discussion about our working concepts and their lineages brought out affinities and overlaps between seemingly exclusionary constructs. Instead of producing a melt-down effect, this way of proceeding generated a dynamic field of conceptual relations that operated like a Kuhnian paradigm—a shared sense of the whole—that enabled exploration rather than inhibiting it. I was especially intrigued by the question whether there would be a good antithesis to ›structure‹, comparable to form’s many contraries (such as ›content,‹ ›matter,‹ or ›formlessness‹). We had a hard time with this (would it be ›flow,‹ ›event,‹ ›history,‹ ›chaos,‹ ›entropy‹ …?). Putting a familiar term into a new set of family resemblances and differences, helps to estrange us from our default understanding of what form is.

The main reason I’d never considered structure as my working term is its associations to structuralism, which, with its foregrounding of the binary distinction as the model of relationality and as the motor of meaning, seemed antithetical to my interest in a dynamic, distributed systems theory approach to formal definition. Another reason for rejecting ›structure‹ is its connotation as static. (Note: Derrida’s revision of [binary] difference into generative différance does enter into my thinking.) My models—chiefly, Spinoza and the postclassical sciences—insist on shifting fields of relations as generating meaning and/or as giving rise, periodically, to formally determinate entities and meanings. Also, all of them work hard to integrate history (operating at many different levels) into formal process, whereas on my reading of Saussure, history seems to stand on the sidelines, watching the play of binaries enact its own independent logic.

That said, one participant’s linking of structure to D’Arcy Thompson’s emphasis in On Growth and Form (1905/1917)[16] on the physics of mechanical force determining formal development at key moments in the organism’s ontogeny, and creating cross-species homologies and analogies, plus her linking of that line of thought to Thomas Khurana’s essay on Force and Form[17], reminded me of what goes missing in accounts that strongly privilege relational dynamics over structural determinants. I decided to re-read Webster and Goodwin’s discussion of »meristic series« (also treated by D’Arcy Thompson)[18] for help in conceptualizing different kinds of constraint within formational processes, and, because they return to Cassirer to think about the form of the series, I’ll also start in on my reading of him.

Other participants put pressure on my choice of the term form over genre[19], and shared with us the usage history of these terms in the 18th and 19th century, with ›form‹ squeezing out ›genre‹ as literature sought to naturalize itself (viz., by making poetic form analogous to biological form) and, in that way, to obscure the contractual (i.e., public, institutional, historical, political) nature of literary production and reception.

Given that my forthcoming book Thinking Through Poetry makes strong claims for lyric as a self-organizing system, we discussed the question whether I am using the model of emergence, self-assembly, and so forth to make an ontic claim, putting poems and whirlpools, organisms, social network effects, etc. all on the same plane? I backed off from that strong claim, though some participants observed that through my adoption of Spinoza’s metaphysics elsewhere in the book, I could indeed place poems and whirlpools on a single (Deleuzian) »plane of immanence.« In other words, this remark opened up a plausible way to work analogy, metaphor, and model harder. Overall, the discussion raised important questions about models, metaphors, and analogies. Are they the same? Are they differentiated by their local usages? Are some limited to heuristic and/or explanatory purposes while others can function as exploratory devices? Can a source model at some point ›become‹ its target?

I hope to organize a conference at my home institution, the University of Michigan, to continue the discussion, bringing over ZfL members and pairing them with colleagues from our faculties in German, History, Comparative Literature, Romance Languages, and Philosophy, as well as with scholars from other U.S. universities. My own project going forward entails learning from contemporary philosophy’s sub-fields of ontology and metaphysics, and seeing if their ways of posing questions and fashioning answers help us in literature studies to talk in more precise and flexible ways about the singularity of the aesthetic objects that form our study-texts. It was one portion of the ZfL discussion that sent me down this path: namely, our probing of Robert Lehman’s essay[20] with its salutary reminder of the Kantian emphasis on the singularity of aesthetic judgments (e.g., ›this tulip is beautiful‹) as distinct from the generality of determinative, predicative, ›objective‹ judgments (e.g., ›tulips are beautiful flowers‹).

[1] Siehe z.B. Tom Eyers: »The Perils of the ›Digital Humanities‹: New Positivisms and the Fate of Literary Theory«, in: Postmodern Culture. Journal of Interdisciplinary Thoughts on Contemporary Culture 23.2 (2013).

[2] Siehe dazu auch Angus Nicholls’ Besprechung von Rens Bods New History of the Humanities: The Search for Principles and Patterns from Antiquity to the Present auf dem ZfL Blog.

[3] Vgl. Caroline Levine: »Three unresolved Debates«, in: PMLA 132.5 (2017), S. 1239–1243, hier S. 1239f.

[4] Siehe Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015.

[5] Vgl. dazu auch die Gespräche mit Hans Ulrich Gumbrecht und Jürgen Paul Schwindt im Herbst-Heft von eisodos. Zeitschrift für Literatur und Theorie (2018).

[6] Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u.a., Berlin/Frankfurt a.M. 1988–2000, Bd. 18, S. 263.

[7] Klaus Städtke: »Form«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Bd. 2, Stuttgart u.a. 2001, S. 462–494, hier S. 463f.

[8] Es gibt in dem siebenbändigen Standardwerk kein eigenes Lemma zur Gattung; sie wird hier einerseits vertreten durch »Form« und andererseits durch ein Lemma zur alten Gattungstrias, interessanterweise aber nicht z.B. als Lyrik – Epik – Dramatik, sondern im Adjektiv, als »Lyrisch – episch – dramatisch«, wie bei Emil Staiger (Grundbegriffe der Poetik, 1946), also mit Klaus W. Hempfer (Gattungstheorie, 1973) gesprochen: nicht als Gattung, sondern als Modus.

[9] David Duff: »Key Concepts«, in: ders.: Modern Genre Theory, Harlow u.a. 2000, S. x–xvi, hier S. xiii. Zu ähnlichen Definitionen vgl. Anders Petterson: »Conclusion: A Pragmatic Perspective on Genres and Theories of Genres«, in: Gunilla Lindberg-Wada (Hg.): Literary Genres. An Intercultural Approach, Berlin/New York 2006, S. 279–305.

[10] Vgl. etwa Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart/Weimar 2001.

[11] Zur bunten und immer schon hybriden Gattungslandschaft z.B. in der Renaissance vgl. Rosalie L. Colie: The Resources of Kind. Genre Theory in the Renaissance, hg. v. Barbara K. Lewalski, Berkeley 1973.

[12] Raymond Williams: Marxism and Literature, Oxford/New York 1977, S. 186 (Hvh. W.M.).

[13] Georg Lukács: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas [1909], hg. v. Frank Benseler, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 10.

[14] Vgl. dazu Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. B. Schwibs u. A. Russer, Frankfurt/M. 1999 (vgl. insb. »Die historische Genese der reinen Ästhetik«, S. 449–489).

[15] Caroline Levine: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford 2015. Form ist hier schlicht »an arrangement of elements – an ordering, patterning or shaping«, »all shapes and configurations, all ordering principles, all patterns of repetition and difference« (S. 3). Vgl. auch Verf.: »Form und Formung – Theorie und Praxis zwischen Kunst und Gesellschaft«, Rezension zu Caroline Levine: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford 2015, in: JLT online 2018, (13.07.2018).

[16] D’Arcy Wentworth Thompson: On Growth and Form (1917), ed. by John Tyler Bonner, Cambridge 1992.

[17] Thomas Khurana: »Force and Form. An Essay on the Dialectics of the Living«, in: Constellations 18.1 (2011), pp. 21–34.

[18] See Gerry Webster/Brian Goodwin: Form and Transformation: Generative and Relational Principles in Biology, Cambridge 1996.

[19] Werner Michler: Kulturen der Gattung, Göttingen 2015, and his contribution to this blogpost.

[20] Robert S. Lehman: »Formalism, Mere Form, and Judgment«, in: New Literary History 48.2 (2017), pp. 245-263.

Die Germanistin Eva Axer  leitet seit 2017 am ZfL das Forschungsprojekt Formen und Funktionen von WeltverhältnissenWerner Michler ist Universitätsprofessor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg, Marjorie Levinson F.L. Huetwell Professor of English an der University of Michigan.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Axer, Werner Michler, Marjorie Levinson: Die ›Neuen Formalisten‹ – Form, Geschichte, Gesellschaft. Drei Beiträge, in: ZfL BLOG, 21.1.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/01/21/eva-axer-werner-michler-marjorie-levinson-die-neuen-formalismen-form-geschichte-gesellschaft-drei-beitraege/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190121-01

Der Beitrag Eva Axer, Werner Michler, Marjorie Levinson: DIE ›NEUEN FORMALISMEN‹ – FORM, GESCHICHTE, GESELLSCHAFT. Drei Beiträge erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/01/16/eva-axer-kleineformen-ein-sammelband-eroeffnet-neue-medien-und-wissensgeschichtliche-perspektiven/ Tue, 16 Jan 2018 11:26:23 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=644 Als Blogeintrag darf man diesen Text zu den sogenannten kleinen Formen zählen, die Wert auf Kürze und Prägnanz legen. Allerdings beklagte bereits Alfred Polgar, der den Begriff der kleinen Form in den 1920er Jahren prägte, das folgenreiche Missverständnis, dass ein Text, der sich in fünf Minuten lesen lässt, eine geeignete Lektüre sei, wenn man nur Weiterlesen

Der Beitrag Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Als Blogeintrag darf man diesen Text zu den sogenannten kleinen Formen zählen, die Wert auf Kürze und Prägnanz legen. Allerdings beklagte bereits Alfred Polgar, der den Begriff der kleinen Form in den 1920er Jahren prägte, das folgenreiche Missverständnis, dass ein Text, der sich in fünf Minuten lesen lässt, eine geeignete Lektüre sei, wenn man nur fünf Minuten Zeit hat (in der Straßenbahn etwa oder in der Mittagspause). Kleine Formen seien, so Polgar, keineswegs literarische ›Leichtgewichte‹, sondern zeitgemäße Literatur für ein hektisches Zeitalter. Dass literarische Verfahren der Verkürzung gerade auch gegenteilige Effekte für die Rezeption haben können, die dann sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als die bloße Lektüre, war ihm natürlich bewusst.

Mittlerweile gehört der Begriff der kleinen Form (wie auch André Jolles’ ›Einfache Formen‹) ganz selbstverständlich zum Begriffsrepertoire der Literaturwissenschaften. Insofern hat eine wissenschaftliche Nobilitierung dieser Formen stattgefunden, die, wenn sie auch nicht alle Außenseiter eines lange behüteten disziplinären Kanons sind, doch eine Tendenz zur Randständigkeit haben. Kleine Formen sind eben keine etablierten Gattungen. Der Begriff erlaubt daher, ein weites Feld gerade auch neuer oder emergierender Formen zum Gegenstand der literatur-, medien- und kulturwissenschaftlichen Untersuchung zu machen. In diesem Sinne betrachtet der Sammelband Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (hg. v. Michael Gamper und Ruth Mayer, Bielefeld: Transcript 2017) nicht nur Apophthegmata, Aphorismen und Rätsel, sondern auch Tweets oder Smartphone-Videos.

Kürze gilt dabei als »exemplarische Figur der Moderne« (S. 9). Zwar hat sie mit der rhetorischen Kategorie der brevitas eine lange Tradition, und der Band greift bis in die Frühe Neuzeit zurück (vgl. Maren Jäger). Aber erst seit der Moderne steht Kürze im Zeichen einer krisenhaften Beziehung von Subjekt und Zeit, die aktuell unter dem Stichwort Beschleunigung verhandelt wird. Auf Zeitknappheit und Beschleunigung haben Literatur- und Kunstschaffende in sehr verschiedenen Formaten und Medien reagiert und so die damit verbundenen gesellschaftlichen Prozesse mitgestaltet. Es ist daher sinnvoll, die kleinen Formen, wie hier geschehen, in eine breitere literatur- wie mediengeschichtliche Perspektive zu rücken.

Verschiedene Beiträge zeigen dabei auf, dass in kleinen Formen häufig auch Praktiken anderer Medien oder anderer kultureller Bereiche in den Blick genommen wurden, um deren zeitsensible und zeitsensibilisierende Verfahren zu emulieren, zu affirmieren oder sich davon abzusetzen. So hatte etwa die Chronofotografie gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Segmentierung von (Bewegungs-)Prozessen in einzelne Phasen möglich gemacht (mit Auswirkungen u.a. auf die industrielle Produktion, die sich eine Rationalisierung der Arbeitsabläufe versprach). Die Prinzipien der Serialisierung und Wiederholung adaptierte auch Gertrude Stein für ihre Prosa (vgl. Heike Schäfer). Über die Reihung zumeist kurzer und minimal variierter Sätze rückte sie den gegenwärtigen Moment in den Fokus. Kürze tritt so in den Dienst eines gedehnten und erweiterten Augenblicks.

Gleich mehrere der 17 Beiträge verhandeln das Verhältnis bzw. die Konkurrenz von Literatur und dem sehr viel schneller zu rezipierenden Bild. Während im 18. Jahrhundert lange Debatten über die medialen Besonderheiten von Bild und Literatur geführt wurden (vgl. dazu Janine Firges), zeigt der Band, dass Verfahren wie die Serialisierung in sehr unterschiedlichen Medien Anwendung finden und nicht nur ästhetische, sondern auch gesellschaftliche Effekte erzeugen. Heutzutage spielen dabei vor allem die sozialen Medien und ihre Möglichkeiten zur Interaktion und Verknüpfung sowie zur weiten Verbreitung von schnell konsumierbaren Inhalten eine besondere Rolle, die uns zu ›rezipierenden Prosumern‹ machen (vgl. Elke Rentmeister).

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen aktuellen Formen ist zu begrüßen, und Ruth Mayer und Michael Gamper heben in ihrer erfreulich instruktiven Einleitung gerade auch auf die Frage ab, wie kleine Formen unsere kulturellen Wissensbestände erzeugen, verbinden oder trennen und distribuieren. Neben der mediengeschichtlichen Perspektive rücken Mayer und Gamper einen spezifischen Zusammenhang von Wissen und Erzählen in den Vordergrund. Der Begriff des Erzählens wird von ihnen einerseits recht weit gefasst, andererseits auf die Verfahren der Verknappung und Verdichtung verpflichtet, die zur »Wissenskondensation« (S. 12) beitragen. Besonders einleuchtend sind ihre Beobachtungen dazu, wie dies zu einer Verzeitlichung und Dynamisierung von Wissen in kleinen Formen beiträgt.

Dass allerdings die Untersuchung von Formen vor dem Hintergrund eines starken Formbegriffs in eine ganz andere Richtung führen kann als ausgehend von einem medienübergreifenden Begriff des Erzählens, zeigt der (gewiss angejahrte) Ansatz von André Jolles, der die je spezifischen formalen Eigenheiten seiner verschiedenen Gegenstände en détail zu beschreiben suchte. Anders gesagt: Es ist fraglich, ob der Fokus auf das Erzählen in allen Fällen geeignet ist, die literarische bzw. mediale Spezifik des jeweiligen Gegenstandes herauszustellen. Positiv vermerkt sei jedoch, dass der Fokus auf die Beziehung von Erzählen und Wissen einen roten Faden durch die Beiträge zieht, den man in vielen Sammelpublikationen vermisst.

Das Fazit (kurz & knapp): Der Band eröffnet sowohl in historischer wie in medialer Perspektive eine breitere Auseinandersetzung mit dem Feld der kleinen Formen und erweitert damit Gegenstandsbereich und methodischen Zugang.

Die Germanistin Eva Axer  leitet seit 2017 am ZfL das Forschungsprojekt Formen und Funktionen von Weltverhältnissen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven, in: ZfL BLOG, 16.1.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/01/16/eva-axer-kleineformen-ein-sammelband-eroeffnet-neue-medien-und-wissensgeschichtliche-perspektiven/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180116-01

Der Beitrag Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>