Gegenwartsliteratur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/gegenwartsliteratur/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 23 Mar 2022 09:28:03 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Gegenwartsliteratur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/gegenwartsliteratur/ 32 32 Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. High­smith und Houellebecq über Literatur https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/07/hanna-hamel-lizenz-zur-luege-im-angesicht-des-nahen-todes-highsmith-und-houellebecq-ueber-literatur/ Mon, 07 Feb 2022 11:57:50 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2472 Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre Weiterlesen

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Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre fast absehbar sind, bleibt die Neugier – denn das kann es nicht gewesen sein, nicht bei dieser Autorin, nicht bei diesem Autor. Ab einem gewissen Moment, eher im letzten Drittel der Texte, bricht die enge Alltäglichkeit des erzählten Lebens angesichts unerwarteter Geschehnisse dann auch tatsächlich zusammen. Spätestens mit den abschließenden Seiten müssen das gesamte Erzählgeschehen und seine zentralen Figuren neu bewertet werden. Bei den zwei Büchern handelt es sich um Patricia Highsmiths Ediths Tagebuch (engl. Edith’s Diary, 1977) und Michel Houellebecqs gerade erschienenes Vernichten (frz. Anéantir, 2022).[1]

Der Reiz, die Beziehungen zwischen diesen Texten zu ergründen, rührt nicht von einer direkten Referenz her. Paul, die Hauptfigur aus Vernichten, entdeckt zwar gegen Ende seines Lebens die Vorzüge von Krimiautoren wie Arthur Conan Doyle und Agatha Christie. Deren Texte erlauben es Paul, »seine Infusionen, seinen Krebs und alles andere etwa zehn Tage lang tatsächlich zu vergessen« (V, 571). Es geht auch nicht darum, dass im Roman »Conan Doyle« und »Christie« erwähnt werden, aber insgeheim eine ganz andere Suspense-Autorin, nämlich »Highsmith«, gemeint wäre. Die wesentlichen Beziehungen beider Bücher – in ihnen und zwischen ihnen – finden im Unausgesprochenen statt. Die Texte treten in eine stumme Korrespondenz, weil sie auf ähnliche Weise von den verschiedenen Zumutungen berichten, die jedes Individuum für sich selbst und die Mitmenschen ist. Beide Romane reflektieren mit hohem Bewusstsein für die Bedürfnisse der Lesenden und ohne jede Scheu, diese zeitweise unbefriedigt zu lassen, die Rolle der Literatur im Angesicht dieser Zumutungen.

Ediths Tagebuch beginnt mit dem Umzug der Hauptfigur Edith von New York nach Brunswick Corner in Pennsylvania. Dort lebt sie zunächst mit ihrem Sohn Cliffie, ihrem Mann Brett und dessen pflegebedürftigem Onkel George. Auch als ihr Mann sie verlässt, bleibt George in ihrer Obhut. Cliffie trinkt und macht beruflich den Eindruck eines Versagers. Edith beginnt in Tagebucheinträgen, die absatzweise wörtlich im Romantext wiedergegeben werden, eine andere Entwicklung ihres Lebens und ihrer Familie zu erfinden. In ihrer Phantasie studiert Cliffie, heiratet und sie bekommt Enkel. Außerdem beginnt sie, Skulpturen anzufertigen, darunter Büsten von Cliffie und der erfundenen Familie. Immer weniger gelingt es ihr, die Phantasien, die ihre Mitmenschen zunehmend als pathologisch einordnen, verborgen zu halten. Für ihre Umgebung sind der Tagebuchroman und die Skulpturen keine Kunst, sondern schädliche Verdrehungen der Realität.

In Houellebecqs Vernichten zieht die Hauptfigur Paul zwar nicht selbst aufs Land, aber seine Aufmerksamkeit verlagert sich von seinem Wohnort Paris in die Gegend von Lyon, wo sein Vater nach einem Hirnschlag im Koma liegt. Bis dahin ist Paul ein eher distanzierter Beobachter seiner Umwelt und sogar des eigenen Lebens. Zu seiner Ehefrau Prudence hat er, obwohl er mit ihr zusammenlebt, so viel Abstand, dass er »ihr Zimmer seit mindestens fünf Jahren nicht betreten« hat (V, 228). Ihr Verhältnis bessert sich im Lauf des Romans, die intime Liebesbeziehung zwischen ihnen kehrt zurück, mitausgelöst durch den schlechten gesundheitlichen Zustand von Pauls Vater und den Tod der Mutter von Prudence. Wie Edith ist Paul mit dem näher rückenden Tod konfrontiert. Während Edith sich ihm künstlerisch schaffend entgegenstellt, braucht Paul die Liebe seiner Frau und die intensive Rezeption von Literatur.

Diese knapp zusammengefassten Plots sind aber nur der eine, der private‹ Teil der beiden Romane. Die Hauptfiguren Paul und Edith sind von Anfang an auch intensiv in die politischen Geschehnisse ihrer jeweiligen Zeit involviert. Edith engagiert sich, indem sie Artikel schreibt und in Brunswick Corner mit ihrer Nachbarin Gert ein kleines Lokalblatt herausgibt. Vor allem der Vietnamkrieg beschäftigt sie zunehmend. Paul ist Mitarbeiter des französischen Wirtschafts- und Finanzministers und Teil des Wahlkampfteams bei der Präsidentschaftswahl 2027. Vor allem die ersten Kapitel von Vernichten drehen sich um eine Reihe schwer erklärbarer Anschläge und terroristischer Drohungen. Die Täter werden bis zum Ende des Buches nicht identifiziert. Ihre rätselhaft bleibenden Ideologien weisen aber Verbindungen zu den Biographien verschiedener Romanfiguren auf, unter anderem zur unbescholtenen Prudence, die dem »Wicca-Kult« anhängt (was ihr allerdings unwichtiger zu werden scheint, als sich die Beziehung zu Paul wieder intensiviert). Die Figuren werden immer stärker auf ihr direktes soziales Umfeld und das eigene Leben festgelegt, in dem die Auseinandersetzung mit größeren, teils ausweglosen politischen Zusammenhängen überfordernd oder unmöglich wird. Paul sieht sich am Tag der Entscheidung in der Wahlkabine außerstande, den Kandidaten der eigenen Partei zu wählen. Die ›politische‹ Energie von Paul und Edith richtet sich letztlich nur noch auf die Diplomatie und den Kampf in ihrem engsten privaten Umfeld.  

Die Verschränkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen mit den individuellen Figurenbeziehungen bleiben so inkonsistent wie die jeweils von den einzelnen Figuren vertretenen Haltungen. Das ist nicht die Folge von Konstruktionsfehlern der Romane, sondern vielmehr Ausdruck des Anliegens, das Erleben des Verlusts einer verlässlich urteilenden Instanz zu thematisieren. »Die Gesellschaft wird eben zunehmend komplexer«, lautet Ediths Diagnose (ET, 416). Die entscheidenden Konflikte bestehen aber nicht zwischen den Figuren, auch wenn sich aus politischen und familiären Gründen vielfach Anlass zu Streit ergibt. Maßgeblich sind die internalisierten und verschwiegenen Konflikte mit gesellschaftlichen Erwartungen, die Paul und Edith in erster Linie mit sich allein austragen und die sie ihren zentralen Bezugspersonen gegenüber nie aussprechen können. Das Aussprechen wird entweder sublimiert in Kunst (Edith) oder anderen in der Literatur überlassen (Paul).

An vielen Stellen der Romane sind Edith und Paul auch blind für die Inkonsistenz ihrer eigenen Handlungen und Haltungen. Die beobachtet allein die Leserin im zeitlichen Verlauf von Buch und erzähltem Leben und ist dabei die meiste Zeit auf der Seite der zentralen Figuren, auch wenn bei Highsmith der Fokus nach und nach von Edith zu Cliffie wechselt. Edith fordert von scheinbar fürsorglichen Mitmenschen, die in ihr Privatleben eindringen, die »nackte Wahrheit« (ET, 457) ein, vermischt aber selbst die eigenen Erfindungen heillos mit ihrem Leben. Dennoch führt sie weiter politische Diskussionen mit ihrer Freundin Gert und kritisiert »diesen ganzen Schrott im Fernsehen« (ET, 417). Sie »verlernt« die »Sprache« der »Welt« ihres Ehemanns (ET, 404); ihre eigene Situation treibt sie in eine Lebenslüge, die der mitfühlende Leser ihr als überlebensnotwendigen Ausweg zugestehen muss. Paul wiederum betrachtet seinen vollständig gelähmten Vater, der noch in der Lage ist, zu lesen und mit seiner Partnerin nonverbal zu kommunizieren: »Wenn sein Vater Erektionen haben konnte, wenn er lesen und die sich im Wind wiegenden Blätter betrachten konnte, dann, dachte Paul, fehlte es ihm im Leben an rein gar nichts« (V, 404). Gut hundert Seiten später vor die Wahl gestellt, lehnt er ein solches (Über-)Leben für sich selbst ab. Die Leserin ist auch in diesem Perspektivenwechsel auf seiner Seite: Sie gesteht es Paul zu, seiner ehrlichen Frau den eigenen gesundheitlichen Zustand zu verschweigen, weil er sonst vor der Wahl stünde, ein Leben zu wählen, in dem er nicht einmal mehr physisch dazu imstande wäre, zu lügen. (Wer wissen will, warum, lese den Roman.)

In Houellebecqs Roman gibt es eine einzige Fußnote. Die hochgestellte Ziffer steht am Ende eines Satzes, in dem Paul seine Schwester Cécile als »ein menschliches Wesen von höherer Qualität« (V, 134) beschreibt, das von seinem Vater stets bevorzugt wurde. In der erläuternden Anmerkung steht dazu, dass man sich bei »dieser Art Fragen […] bewusst machen« müsse, »dass man sich selbst immer mitten ins Zentrum der moralischen Welt stellt, dass man sich selbst immer als ein weder gutes noch schlechtes, als ein moralisch neutrales Wesen betrachtet« (V, 620), auch wenn es sich dabei nur um die inoffizielle Variante der Selbstbeschreibung handele. Diese Selbsteinschätzung führe »zu einer methodologischen Verzerrung der Beobachtung, und so gut wie jedes Mal ist ein Übersetzungsvorgang notwendig [un biais méthodologique se crée dans l’observation, et une opération de translation s’avère presque à chaque fois nécessaire]« (ebd.; A, 164). Eine solche Übersetzungsoperation leistet der Roman: zwischen den Figuren, die im Angesicht ihres Todes trotz ihrer divergierenden Überzeugungen für den Roman alle gleich sind, aber auch zwischen ihren jeweiligen moralischen Haltungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Biographie. Die Fußnote markiert die Standpunktlosigkeit des Romans, dessen Position nicht mit den Haltungen Pauls gleichzusetzen ist. Gerade weil der Roman sich der Indifferenz des Todes stellt, kann er keine Haltung bevorzugen – und so lässt sich auch keine direkt aus ihm ableiten.

Im Verlauf der Lektüre ist der Leser geneigt, den Figuren in ihren widersprüchlichen Positionen zu folgen. In beiden Romanen schleicht sich der Tod thematisch über pflegebedürftige Nebenfiguren ein. Man betrachtet ihn teilnahmslos von außen, sieht die Zumutungen für diejenigen, die sich den Sterbenden widmen oder sie zurückweisen, bewertet ihre Meinungen dazu, was erträglich und was unerträglich ist, und blickt schließlich mit den Hauptfiguren selbst der Ausweglosigkeit ihres Todes entgegen. Der Tod ist der stumme Übersetzer zwischen den Figuren, zwischen den beiden Büchern, zwischen der Lesenden und der erfundenen Handlung und zwischen den wechselhaften, problematischen moralischen Standpunkten.

Ediths Tagebuch und Vernichten kommen schließlich darin überein, dass die Kunst den Menschen in die Lage versetzen könnte, sich dem Tod zu stellen. Houellebecq zieht dabei deutliche Grenzen zu anderen Formen von alternativen Visionen, insbesondere zu denjenigen des Terrors. Einige der terroristischen Anschläge werden detailgetreu und ohne Opfer antizipiert, quasi von den Terroristen öffentlich geprobt, ohne dass dabei zunächst jemand zu Schaden käme. Bei der terroristischen Vision spielt die (brutale) Phantasie ähnlich wie bei der Kunst eine entscheidende Rolle, allerdings unterscheidet sich der Terror von der Kunst darin, dass er seine Visionen zu ›Realität‹ macht. Edith wiederum wird durch die urteilenden Mitmenschen, durch den Verlust von Zufluchtsorten (die wohlgesinnte Tante Melanie stirbt), dazu getrieben, ihre Kunst für Realität zu halten. Daran trägt nicht sie selbst die Schuld, sondern vielmehr ihre Umgebung, die ihren Erfindungen den Kunstcharakter abspricht. »Eine Vernunft, die Kunst nicht mehr respektiert, muß krank sein, ohne es zu ahnen«, lautet Paul Ingendaays Deutung im Nachwort der deutschen Übersetzung von Ediths Tagebuch (ET, 505). In dieser Deutung wird der Roman zu einer »auf den Kopf« gestellten Krankengeschichte (ebd.). Sogar zwischen Cliffie und Edith, die sich im Roman bis zur Komplizenschaft in einem Mord solidarisieren, bleibt am Ende ein Missverständnis über den fiktionalen Charakter ihres Tagebuchs zurück: Cliffie entscheidet, es nicht zu lesen, weil er darin Notizen über »all die kleinen üblen Sachen« ihres gemeinsamen Alltags vermutet (ET, 481). Und auch bei Houellebecq haben manche Figuren Schwierigkeiten, die Existenz der Kunst (und mit ihr den Tod) zu akzeptieren: Paul verlässt die Scheune des Elternhauses, ohne »auch nur eine einzige Arbeit seiner Mutter angesehen zu haben« (V, 150). In der Scheune werden die Skulpturen, die Pauls verstorbene Mutter seit ihrem 45. Lebensjahr angefertigt hat, aufbewahrt und gleichzeitig vor Blicken verborgen.

Würde man die vergleichende Lektüre fortsetzen, fänden sich an vielen weiteren Stellen aussagekräftige Spuren der stummen Korrespondenz zwischen beiden Büchern. Wenn man sich näher mit den historischen Kontexten der 1970er und der nahzukünftigen 2020er Jahre, der weiblichen Protagonistin von Highsmith und dem männlichen Protagonisten von Houellebecq auseinandersetzen würde, dann käme man ohne Zweifel auch auf eine Reihe deutlicher Differenzen. Verbunden sind die Texte allerdings in der literarischen Kraft, die sie nur in ihrer Bezugnahme auf den Tod entfalten und die sie über die Zeiten und Kontexte ihrer Entstehung hinweg in Korrespondenz treten lässt.  

Um es mit etwas mehr Pathos zu formulieren: Die Literatur blickt dem Tod ins Auge, indem sie die Lügen derjenigen (Figuren) entlarvt, die es sich außerhalb der Kunst in einer verlogenen Realität eingerichtet haben. Verlogen ist diese Realität, weil sie die Augen vor dem Tod verschließt, indem sie Erfindungskraft und künstlerischen Ausdruck – als Weg, der tödlichen Realität entgegenzutreten – zur Krankheit stilisiert. Zugleich sind beide Texte sanft und solidarisch mit ihren zentralen Figuren, da sie nicht abschließend urteilen. Das ist konsequenterweise literarisch auch gar nicht anders möglich, denn vor dem Tod sind alle gleich. Die Romane selbst dürfen für diesen Effekt gerade nicht Realität sein. »[D]ie Realität ist nur das Ausgangsmaterial [la réalité n’est qu’un matériau de départ]« (V, 617; A, 733), heißt es im Houellebecqs Roman nachgestellten Dank. Um bei der Bewältigung der Schrecken des Sterbens zu helfen, müssen Romane wie auch die intradiegetischen literarisch erwähnten Texte »erfunden [inventées]« und »anders [autres]« sein (V, 559; A, 667). Vor dem Tod sind deshalb doch nicht alle Bücher gleich: einige sind »wunderbar [merveilleux]« (V, 616).

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das ZfL-Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«.

 

[1] Michel Houellebecq: Vernichten, übers. von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, Köln 2022 (im Folgenden zitiert mit der Sigle V, die an einigen Stellen eingefügten französischen Originalzitate in Klammern entstammen der französischen Originalausgabe, Michel Houellebecq: Anéantir, Paris 2022, Sigle A); Patricia Highsmith: Ediths Tagebuch, übers. von Irene Rumler, mit einem Nachwort von Paul Ingendaay, Zürich 2021 (zitiert mit der Sigle ET).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Lizenz zur Lüge im Angesicht des nahen Todes. Highsmith und Houellebecq über Literatur, in: ZfL BLOG, 7.2.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/07/hanna-hamel-lizenz-zur-luege-im-angesicht-des-nahen-todes-highsmith-und-houellebecq-ueber-literatur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220207-01

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Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? STIL UND SOCIAL MEDIA IN DER GEGENWARTSLITERATUR https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/18/pola-gross-hanna-hamel-neue-nachbarschaften-stil-und-social-media-in-der-gegenwartsliteratur/ Wed, 18 Mar 2020 12:51:48 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1388 »Manchmal entstehen große Textteile auf Twitter. Ich kommentiere dort, woran ich gerade arbeite, und probiere aus«, beschreibt Buchpreis-Gewinner Saša Stanišić in einem Interview seinen Umgang mit Twitter, »aber ich würde nie versuchen, Twitter in meinen Texten zu imitieren.«[1] Der Autor weist auf eine intrikate Verbindung von Social Media mit dem Prozess des literarischen Schreibens hin. Weiterlesen

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»Manchmal entstehen große Textteile auf Twitter. Ich kommentiere dort, woran ich gerade arbeite, und probiere aus«, beschreibt Buchpreis-Gewinner Saša Stanišić in einem Interview seinen Umgang mit Twitter, »aber ich würde nie versuchen, Twitter in meinen Texten zu imitieren.«[1] Der Autor weist auf eine intrikate Verbindung von Social Media mit dem Prozess des literarischen Schreibens hin. Denn wenn, wie Stanišić angibt, »große Textteile« auf Twitter entstehen, haben soziale Medien von Beginn an einen wesentlichen Anteil an der Textproduktion – unabhängig davon, ob der spätere Roman Tweets mimetisch abbildet oder nicht. Das Phänomen der so genannten »Twitteratur« ist zwar bereits seit einiger Zeit bekannt, vielleicht sogar schon wieder überholt.[2] Was allerdings geblieben ist, das ist Twitter als Notizbuch, als Bühne für die literarische Selbstinszenierung und als Ort der sozialen – und möglicherweise auch stilistischen – Kontrolle.

Bei einer ganzen Generation jüngerer Autor*innen lässt sich ein ähnlicher Umgang mit Facebook, Twitter, Instagram oder Blogs beobachten. Neu ist im Zusammenhang dieser Literaturproduktion die Rolle der mehr oder weniger anonymen Öffentlichkeit. Nicht nur die Autorenkolleg*innen, auch die Leser*innen können ihren Lieblingsschriftsteller*innen quasi schon während des Schreibprozesses auf die Finger schauen. Es steht ihnen frei, durch Likes, Kommentare und Retweets jedes einzelnen literarischen Postings dessen Erfolg mitzusteuern. Auch wenn es den Anschein hat, dass dadurch traditionelle Gatekeeper wie Verlage, Feuilleton und Literaturhäuser für den Veröffentlichungsprozess an Bedeutung verlieren, bringt die Internetöffentlichkeit doch auch Nachteile mit sich. Die Erstlektüre erfolgt dann nicht mehr im intimen Austausch von Autor*in und Lektor*in, sondern in aller Öffentlichkeit von potentiellen Fans und/oder Hass-Poster*innen. Es lässt sich also eine neue Nahbeziehung zwischen Leser*innen und Autor*innen beobachten, die sich im virtuellen Raum des Web 2.0 entwickelt – mit Auswirkungen auf die klassischen Publikationsorte von Literatur.

Der wohl bekannteste Fall einer im Netz aktiven Autorin, deren Facebook-Posts nachträglich in Buchform veröffentlicht wurden, ist Stefanie Sargnagel: »19.2.2016 Das wird nichts mit dem Bachmanntext heuer«, kann man in der leinengebundenen Rowohlt-Ausgabe ihrer Statusmeldungen nachlesen, und vier Posts später: »19.2.2016 Die Schreibschulenstreber haben ihre Texte sicher alle schon vor einem Monat abgeschickt.«[3] Es fiele schwer, hier auf den ersten Blick auszumachen, welche Anteile Medienschelte, Kritik am Literaturbetrieb, Selbstinszenierung oder bloße Befindlichkeitsäußerungen an den Posts haben. In weiteren Einträgen des gleichen Tages ist die Selbstironie allerdings kaum zu überhören: »19.2.2016 Schreiben ist eigentlich voll lustig, sollte ich öfter machen.« Ebenso in der netzneurotischen Frage: »Kann man an zu vielen E-Mails sterben?« Selbstinszenierung und Medienreflexion gehen hier ebenso Hand in Hand wie Selbstbeobachtung und kommunikative Kollektivpraxis – bei den Leser*innen hat sie damit Erfolg, im Netz wie auch in klassischen Formaten des Literaturbetriebs: Beim besagten Bachmannpreis 2016 gewann Stefanie Sargnagel den Publikumspreis.

Zur Beschreibung der Spannungen zwischen individueller Autorschaft und kollektiver Praxis, zwischen Selbstinszenierung und Selbstironie liegt es nahe, sich auf eine klassische Kategorie der Literaturbetrachtung zu besinnen: auf die des Stils. Denn die Stilfrage war stets verbunden mit der Spannung von Individual- und Kollektivstil, von Originalität und Regel, von Norm und Abweichung, von Authentizität und Inszenierung. Seit der Stilbegriff sich von der Rhetorik emanzipiert hat, ist sein Anwendungsbereich nicht mehr allein auf sprachliche Äußerungen oder künstlerische Artefakte beschränkt, sondern wird spätestens seit 1900 auch auf Handlungen und damit auf nahezu alle Lebensbereiche übertragen. Unter dem Gesichtspunkt des Stils lässt sich deshalb nicht nur die Frage nach möglichen kollektiven »Denkstilen« (Ludwik Fleck) stellen. Stilanalysen könnten auch dabei helfen, den Einfluss von kollektiven Wahrnehmungs- und Handlungsweisen der Social-Media-Kommunikation und deren charakteristischen Schreibweisen in der Literatur zu entdecken: Finden etwa gängige Anglizismen wie »nice« und auffällige Abbreviaturen wie »Was ist das für 1 Life« oder unidiomatische Übersetzungen wie »gönn dir« Eingang in die publizierten Texte? Und wie verhält sich die Literatur zu Eigenheiten der Social-Media-Kommunikation wie der Selbstkommentierung des Textes oder der mitunter vollständigen Ersetzung von Schrift durch Emojis oder Bilder? Zu fragen ist auch nach dem Verhältnis, in dem netzaffine Schreibweisen, die häufig auf Interpunktion gänzlich verzichten sowie umgangssprachliche Wendungen mit standardsprachlichen kombinieren, zu formal hochgradig durchkomponierten Textteilen stehen – wie etwa im Fall von Enis Macis 2018 uraufgeführtem Theaterstück Mitwisser, das von der Presse als »das erste wirkliche Internetdrama« gefeiert wurde. Es finde eine Sprache, in der die »Veränderungen der Wahrnehmung durch das Digitalzeitalter nicht nur wie üblich konstatiert werden, sondern in der sie sich stilistisch wirklich niederschlagen«.[4] Gendersensible Neuinterpretationen der griechischen Mythologie wie »nur wenige glauben an diejenige variation des mythos die also besagt / klytaimnestra habe agamemnon nicht getötet als wütende mutter / sie habe ihn getötet als frau« werden hier mit modernen Liebesgeschichten in Zeiten von »emojis« und »heimliche[n] selfie[s]« kombiniert. Ebenso treffen klassische, chorische Elemente auf umgangssprachliche und von der Interpunktion befreite Redensarten wie »und bei dir muss ne ja muss«.[5]

Wenn man sich allerdings an die Frage eines möglicherweise spezifischen Schreibstils der sozialen Medien und seiner Auswirkungen auf Literatur heranwagt, sollte man nicht nur das ›Endprodukt‹, also den fertigen (Buch-)Text untersuchen, sondern vor allem auch die Bedingungen seiner Hervorbringung. Denn für das Entstehen eines neuen Stils der sozialen Medien spielt die Funktion des Kollektivs eine zentrale Rolle. In Analogie zur soziologischen Beschreibung aktueller urbaner Entwicklungen lassen sich die Beziehungen im Social-Media-Kollektiv als eine Form neuer Nachbarschaft beschreiben: Über die beschleunigte und intensivierte Interaktion in sozialen Netzwerken entstehen neue Geflechte und (virtuelle) Orte, an denen sich dieselben Personengruppen wiedertreffen, lesen und rezensieren – auch wenn sie in völlig unterschiedlichen Stadt- oder Weltteilen leben. Entsprechend können selbstverstärkende und selbstreferentielle Effekte durch Social Media auch für die Literaturproduktion und -rezeption untersucht werden: Markieren Retweets, angeheftete Posts und Hashtags neue Interessen- oder ›Stilgemeinschaften‹[6], die eigene Formen, aber auch Regeln und Zwänge ausbilden?

Nun sind kollektive Produktions- und damit Kontrollmechanismen aus der Literaturproduktion der letzten Jahrzehnte durchaus bekannt – etwa aus den von Stefanie Sargnagel spöttisch erwähnten »Schreibschulen«, d.h. den Studiengängen Literarisches bzw. Szenisches Schreiben an den Hochschulen Leipzig, Hildesheim und Berlin oder Sprachkunst in Wien. Aber geht es in den sozialen Medien so viel freier zu? Welche Kontroll- und Sanktionsmechanismen greifen hier und welchen Gestaltungsspielraum haben die Individuen, sich und ihre Texte nach eigenem Ermessen zu präsentieren?

Die Praxis der sozialen Medien birgt nicht zuletzt das Risiko, Selbstreferentialität und Vorurteile zu verstärken. Das hat nicht nur Konsequenzen für den Schreibstil, sondern auch für den Umgangston. Darauf hat vor kurzem der Autor Thomas Melle in der FAZ aufmerksam gemacht:

»Twitter, das den Puls der Meinungsmache vorgibt, richtet die Inhalte einfach auf diese Weise zu, formatiert sie in toxische Fetzen und süffisante Häppchen. Analogien und Pointen ersetzen Argumente und schaffen mit zunehmender Unschärfe eine Atmosphäre der Intellektuellenfeindlichkeit. Durch Blockierfunktion und ewige Verlinkung ergibt sich immer wieder und fast wie von selbst ein abgezirkelter Konsens, der einen fatalen Hang zum Ausschluss, zur Identität und zur Aburteilung hat. Beleg, Beleg, Witz, Socke, Beleg, Urteil.«

Damit kritisiert er einen Twitter-Stil der Demontage, der nicht mehr den Gegenstand selbst – nämlich die Literatur – in den Vordergrund stellt, sondern vor allem auf Selbstprofilierung und Abgrenzung setzt.

Der Einfluss von Social Media auf den Literaturbetrieb ist damit zumindest ambivalent. Allerdings reflektieren das die aktiv postenden Autor*innen von Beginn an mit, häufig mit Gesten ironischer Selbstüberschätzung, etwa wenn Stefanie Sargnagel fragt: »Bin ich schuld am postfaktischen Zeitalter?«[7] Im Kontext von Social-Media-Literatur lassen sich so zwei gegenläufige Tendenzen erkennen, die die Funktion und Stellung von Autorschaft betreffen. Deutlich wird zunächst, dass die Person des Schriftstellers und der Schriftstellerin erneut im Fokus steht. Denn kaum eine Autorin, kaum ein Autor kommt heute umhin, soziale Medien in irgendeiner Form zu bespielen oder sich zu ihnen zu verhalten. So wird Autor*innen immer stärkere Selbst- und Informationskontrolle abverlangt; gerade auch, weil sie potentiellen Angriffen im Netz häufiger ausgesetzt sind. Andererseits verliert die Person des Autors, der Autorin aber auch an Bedeutung, weil die sozialen Medien kollaborative Schreibpraktiken begünstigen. Kommentare und die direkte Einflussnahme der Leser*innen könnten bereits als Ko-Autorschaft gedeutet werden – ein Umstand, der von Autor*innen gerne ausgeblendet wird, wenn sie mit der Publikation ihrer Literatur auf den Buchmarkt zurückkehren oder dort reüssieren wollen. Zur Frage der Autorschaft im Netz gehört deshalb wesentlich auch die Frage nach der Funktion der Rezipient*innen, die über Bewerten und Teilen der Posts oder Tweets den Erfolg – und den Stil – der Schriftsteller*innen mitsteuern.[8]

 

Die Literaturwissenschaftlerinnen Pola Groß und Hanna Hamel werden diese und weitere Fragen am 19. und 20. November 2020 gemeinsam mit Autor*innen und Wissenschaftler*innen auf der von ihnen organisierten Veranstaltung zum Thema »Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur« im Literaturforum im Brecht-Haus und im ZfL diskutieren.

 

 

[1] »Saša Stanišić über Erinnerungen. Gespräch mit Karin Janker«, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16.6.2019, S. 56.

[2] Vgl. Elias Kreuzmair: »Was war Twitteratur?«, in: Merkur-Blog, 4.2.2016.

[3] Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen. Mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Reinbek 2017, S. 132–133.

[4] Christine Wahl: »Dramatische Analysen«, in: Republik, 5.4.2019.

[5] Enis Maci: Mitwisser, Berlin 2018, S. 37, 62, 27.

[6] Nach Jochen Venus entstehen Stilgemeinschaften in der zeitgenössischen Kulturproduktion folgendermaßen: »Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert sich an diesem Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels.« Ihre Mitglieder finden sich nicht über soziale Rollen zusammen, sondern primär über ihren Status als ›Fans‹, »die vor allem ihre stilistische Vorliebe, darüber hinaus aber nichts Bestimmtes teilen«; vgl. Jochen Venus: »Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie«, in: Marcus S. Kleiner/Tobias Wilke (Hg.): Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden 2013, S. 49–74, hier S. 67, 69.  

[7] Sargnagel: Statusmeldungen, S. 255.

[8] In der aktuellen Situation entfalten sich neue Formen von Nachbarschaft in den Social Media, etwa in Aufrufen zum Zuhausebleiben, digitalen Verabredungen oder Hilfsangeboten und übernehmen dabei wichtige soziale Funktionen. Auch die Auswirkungen auf die Literaturproduktion und den Literaturbetrieb sind in diesem Zusammenhang deutlich zu beobachten, wenn zum Beispiel das Literaturhaus Graz zu einem Corona-Tagebuchprojekt aufruft, an dem eine Reihe von Autorinnen und Autoren beteiligt sind oder Lesungen als Livestreams im Netz stattfinden.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur, in: ZfL BLOG, 18.3.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/18/pola-gross-hanna-hamel-neue-nachbarschaften-stil-und-social-media-in-der-gegenwartsliteratur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200318-01

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