Germanistik Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/germanistik/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Tue, 05 Dec 2023 11:24:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Germanistik Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/germanistik/ 32 32 Patrick Eiden-Offe: EDITIONSPHILOLOGIE ALS AKTIVISMUS: Der umkämpfte Hölderlin https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/ Tue, 05 Dec 2023 09:10:23 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3175 In Erinnerung an Marianne Schuller Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren Weiterlesen

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In Erinnerung an Marianne Schuller

Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren ab­geschlossen sein; tatsächlich erscheint der letzte Band 2008. Aufsehen­erregend war die neue Ausgabe vor allem wegen ihrer Editionsprinzipien: Alle Handschriften werden im Faksimile wiedergegeben, eine »typographische Umschrift« bildet die Schrift­bildlichkeit der Handschriftenblätter ab, eine »Phasenanalyse« macht den zeitlichen Charakter des Entwurfsprozesses nach­vollziehbar. Aufsehenerregend war aber auch, dass die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) von Anfang an unter einem politisch-aktivistischen Stern stand: »Roter Stern über Hölderlin« oder »Liest Marx jetzt Hölderlin?« lauteten einschlägige Überschriften in der Presse.

Vom Verlag hatte Sattler »einen allgemein zugaenglichen besseren text« gefordert, und eine Ausgabe, die die »trennung von wissenschaftlichen und populaeren ausgaben« aufhebt, um damit ein größeres Publikum zu erreichen. Die komplizierten Editionsprinzipien und die spektakuläre Druckgestaltung dienten dem aufklärerischen Ziel, den Leser:innen eine Ausgabe an die Hand zu geben, die es ihnen er­laubte, editorische Entscheidungen selbst zu überprüfen. Die FHA, so hieß es, »bleibt nicht bei der utopie des idealen lesers stehen, sondern unternimmt es, ihn zu bilden«.[1]

Dieser Anspruch schließt zwei Annahmen ein: Erstens Hölderlin geht alle an! und zweitens Es gibt Leute, die das verhindern wollen. Die erste Annahme speist sich aus den Debatten um einen »neuen Hölderlin«, die seit den 1960er Jahren geführt wurden. Gegen die restaurative Vereinnahmung des Autors etwa durch Martin Heidegger hatten schon Theodor W. Adorno und Peter Szondi Einspruch erhoben.[2] Pierre Bertaux hatte den »Jakobiner Hölderlin« entdeckt, der zugleich zur Ikone der Antipsychiatrie avancierte.[3] Dieser neue Hölderlin wurde nun von der FHA editorisch unterstützt.

Das führt zur zweiten Annahme: Die FHA wendet sich explizit gegen die große Stutt­garter Ausgabe (StA), die 1974 gerade ab­geschlossen worden war. Diese war 1943 von dem Tübinger Germanisten Friedrich Beißner begründet worden und galt im Fach als mustergültig. Die Herausgeber der FHA erhoben nun schwere Vorwürfe. In der StA fänden sich massenhaft »falsche[] Entzifferungen und Textzusammenstellungen«, die absichtlich vorgenommen und »ästhetisch motiviert« seien. Die ästhetische »Vorliebe fürs ›Vollendete‹« sei aber eigentlich politisch zu verstehen, als Votum für eine geschlossene Gemeinschaft, die sich im vollendeten Werk wiederfinden solle.[4] Hier schließt sich der Kreis: Denn Beißner war NSDAP- und SA-Mitglied und hatte 1943, parallel zum Start der StA, eine »Feldausgabe« Hölderlins besorgt. Der philologische Einsatz für den unverstellten Hölderlin wurde für die Frank­furter so zu einem buchstäblich antifaschistischen Kampf dafür,

»daß gepfleget werde /
Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet«.[5]

Das Hölderlin-Imperium schlägt umgehend zurück. Das ganze Unternehmen der FHA sei rein politisch motiviert und schon des­wegen wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, der Herausgeber Sattler ein fach­fremder Autodidakt. Die Auseinander­setzung zog sich lange hin und ist mittler­weile Gegenstand einer »historischen Kontroversenforschung« geworden.[6] Das Ergebnis der Auseinandersetzung lässt sich mit dem Titel eines Büchleins aus dem Merve Verlag, ebenfalls aus dem Jahr 1975, zusammenfassen: Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt. Die FHA löste eine editions­philologische Revolution aus, hinter die es kein Zurück gab. Sie etablierte einen neuen Standard, der nicht zuletzt in den großen Editionsprojekten zu Kleist und Kafka bekräftigt wurde, die in der Folge bei Roter Stern erscheinen sollten.

Wissenschaftshistorisch könnte man die Geschichte der FHA also als Lehrstück darüber lesen, wie ein wenigstens zum Teil von außerhalb der Wissenschaft kommender politisch-aktivistischer Impuls ein wissenschaftliches Feld aufmischt und neu sortiert, bis sich dort schließlich ein Paradigmenwechsel vollzieht. Eine solche Erfolgsgeschichte atmet indes wenig Hölderlin’schen Geist. Denn ihm waren immer auch die Verluste und die »Narben« wichtig, die der Gang der Geschichte schlägt.[7] Vielleicht müssen wir, gerade wenn es um den Zusammenhang von Aktivismus und Wissenschaft geht, auch danach fragen, was aus den initialen politischen Impulsen wird, wenn sich der »rationale Kern« der wissenschaftlichen Debatte herausschält und der Aktivismus überflüssig zu werden droht.

Zur politischen Dimension der FHA gehörte eine Provokation, die aufs eigene Lager zielte: Gekämpft wurde nicht nur gegen die Verfälschung Hölderlins, sondern auch gegen eine Linke, die diese nicht durchschaut und sich deshalb für Hölderlin gar nicht erst interessiert. Dieser Konflikt wird gleich im ersten Heft von Le pauvre Holterling offengelegt, einer Schriftenreihe, die die FHA als Organ einer wissenschaftlichen und politischen Selbstverständigung und Gegenöffentlichkeit von Anfang an begleitet hat. In einem »offenen Brief« mokieren sich hier »ehemalige Mitarbeiter« des Verlags über die FHA, die sie unter Verweis auf die portugiesische Revolution, die »Obdachlosen«, die »arbeitslosen Jugendlichen«, das »tapfer kämpfende Volk der Palästinenser« und schließlich »die Genossen im Knast« als politisch überflüssig verwerfen. Eigentlich gehe es wohl darum, als »linke[r] Verlag« in der Krise zu überleben, »indem man bürgerliche Dichter, die begriffs- und gefühlsduselig antikapitalistisch waren, verlegt und den Linken als links und revolutionär, den Bürgern als ›nichtradikale Neueinschätzung‹ (FAZ) verkauft«.[8]

Darauf antwortet im gleichen Heft der selbst »im Knast« einsitzende Schriftsteller Peter Paul Zahl. Der hält zunächst fest, dass er nicht »für revolutionäre Portugiesen, Obdachlose, Jugendliche und Palästinenser« sprechen könne, wohl aber vielleicht für die »Genossen im Knast« – und als ein solcher brauche er persönlich den unverfälschten Hölderlin unbedingt, um im Gefängnis zu überleben. Zahl mahnt einen kulturrevolutio­nären Kampf an, der sich nicht ausschließlich an »konkreten Tageszielen« orientieren dürfe, sondern auch eine »Rekonstruktion von Sinnlichkeit und Sprache, von Kommunikation« im Blick haben müsse – und dabei »kann Hölderlin uns helfen«.[9] Zahls Intervention verdeutlicht, dass die FHA auch zur kulturellen Aufklärung einer kulturbanau­sischen Linken beigetragen hat. Die ehemaligen Mitarbeiter aber haben vielleicht auch einen Punkt, wenn sie danach fragen, was von einer revolutionären Edition bleibt, wenn das übergreifende politische Projekt verloren geht.

In der politischen Ernüchterung und Depression, die nach 1975 bald eintrat, kehrte sich der polemisch-aktivistische Impuls der FHA gewissermaßen nach innen. Im Verbund von Verlag und Herausgebern kommt es nun zu Friktionen, die mitunter beklemmende Züge annehmen. Die Herausgeber etwa werfen dem Verlag vor, auf seinen Rechten zu beharren und so die Verbreitung des »echten« Hölderlin zu verhindern. Und Sattler, der als überzeugter Antiakademiker die FHA immer auch als Einspruch gegen eine »szientifisch verkürzte« Literaturwissenschaft verstanden hat, kann es nur als Verrat werten, wenn einzelne seiner Mitherausgeber mit ihrer editorischen Kompetenz bald akademische Karriere machen.[10] Vom einst kämpferischen Kollektiv bleiben schließlich nur verfeindete Einzelne übrig, die sich verraten fühlen.

Wenn wir heute über Wissenschaft und Aktivismus debattieren, dann geht es schnell um die Gefahren des Aktivismus für die Wissenschaft. Die Geschichte der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe lehrt hier Gelassen­heit: Mitunter speisen sich die großen wissen­schaftlichen Innovationen genau aus den aktivistischen Impulsen, die den Zeitgenoss:innen völlig überspannt oder sogar verrückt erscheinen. Die Geschichte der FHA lehrt aber auch, nach den Kosten solcher Erfolge für die Aktivist:innen und ihr politisches Anliegen zu fragen. Denn unter dem Zwang des wissenschaftlichen Fortschritts werden diejenigen, die sich nicht anpassen wollen oder können, schnell zu den »Untergetretenen« und »Irregeführten«, von denen die Geschichte voll ist und denen wir – den letzten Sätzen von Sattlers Nachwort zum letzten Band der FHA folgend – beizustehen haben:

»Zornlos, kraft tieferer Einsicht.«[11]

 

Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle der DFG mit dem Projekt Georg Lukács: eine intellektuelle Biographie. Außerdem leitet er das Projekt Kartographie des politischen Romans in Europa. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

 

[1] D. E. Sattler: »Persönlicher Bericht. VII« auf der persönlichen Homepage hoelderlin.de unter »d e sattler – entwuerfe editionen«.

[2] Vgl. Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins« [1963], in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 447–491; Peter Szondi: »Hölderlin-Studien« [1967], in: ders.: Schriften I, Berlin 2011, S. 261–366.

[3] Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, Frankfurt a.M. 1969, und ders.: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1978.

[4] Michel Leiner/D. E. Sattler/KD Wolff: »Vorwort«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 10–19, hier S. 17.

[5] So heißt es im Schluss von Hölderlins Patmos.

[6] Vgl. Gideon Stiening: »Editionsphilologie und ›Politik‹. Die Kontroverse um die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe«, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007, S. 265–298.

[7] »ein Ärgerniß aber ist Tempel und Bild, // Narben gleichbar zu Ephesus. Auch Geistiges leidet« – so die späte, selbst tief vernarbte Überarbeitung von Brod und Wein.

[8] Sechs Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter: »Liebe Mitarbeiter des Verlags Roter Stern! Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 1, 1976, S. 22.

[9] Peter Paul Zahl: »An ehemalige Mitarbeiter des Verlags Roter Stern. Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling (Anm. 8), S. 23–25, hier S. 23f.

[10] Leiner/Sattler/Wolff: »Vorwort« (Anm. 4), S. 17.

[11] D. E. Sattler: »Zur Edition«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 20, Frankfurt a.M. 2008, S. 8.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe: Editionsphilologie als Aktivismus: Der umkämpfte Hölderlin, in: ZfL Blog, 5.12.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231205-01

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Petra Boden: AMBIVALENZEN DES ZWISCHENRAUMS. Ein Nachruf auf Rainer Rosenberg https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/01/03/petra-boden-ambivalenzen-des-zwischenraums-ein-nachruf-auf-rainer-rosenberg/ Mon, 03 Jan 2022 08:05:40 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2422 Als das ZfL 1996 unter dem Namen Zentrum für Literaturforschung seine Arbeit aufnahm, gehörte der jüngst verstorbene Rainer Rosenberg zu den ersten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Bis zu seiner Pensionierung 2001 leitete er das Projekt »Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945 – Veränderungen des Literaturbegriffs«, an dem auch Petra Boden mitarbeitete. In ihrem Nachruf erinnert sie Weiterlesen

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Als das ZfL 1996 unter dem Namen Zentrum für Literaturforschung seine Arbeit aufnahm, gehörte der jüngst verstorbene Rainer Rosenberg zu den ersten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Bis zu seiner Pensionierung 2001 leitete er das Projekt »Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945 – Veränderungen des Literaturbegriffs«, an dem auch Petra Boden mitarbeitete. In ihrem Nachruf erinnert sie an einen in der DDR sozialisierten Germanisten, der besonders mit seinen Arbeiten zur Literatur des Vormärz und zur Geschichte der Germanistik bekannt geworden ist.

Die akademische Karriere von Rainer Rosenberg (24.4.1936 – 30.11.2021) begann erst, als viele Angehörige seiner Generation längst auf den germanistischen Lehrstühlen saßen, die Ende der 1950er Jahre in der DDR frei geworden waren, weil ihre einstigen Inhaber sich ihre Zukunft nur noch an westdeutschen Universitäten hatten vorstellen können. Rosenberg führte es hingegen an die Akademie der Wissenschaften in Berlin, wo er sich 1965 erfolgreich bei der Arbeitsstelle Georg Herwegh am dortigen Institut für deutsche Sprache und Literatur beworben hatte. Unter der Leitung des Remigranten Bruno Kaiser sollte sie zu einer Forschungsstelle für sozialistische Literatur ausgebaut werden.

Bereits als Schüler hatte Rosenberg sich einem leidenschaftlichen Interesse für Geschichte, Literatur und Sprachen verschrieben. Russisch und Englisch beherrschte er schnell; entsprechende Kenntnisse des Französischen hatte er sich als Autodidakt angeeignet, so dass er schon früh die großen Werke der Weltliteratur im Original lesen konnte. Hätte es an der Jenaer Universität eine Komparatistik gegeben, hätte er sich sicher dafür immatrikuliert. So aber fiel die Wahl des 17-Jährigen 1953 auf das Fach Germanistik. Trotz des engen Studienplans besuchte er regelmäßig auch Seminare und Vorlesungen in Geschichte, Kunstgeschichte und Slawistik. Sein Lehrer Joachim Müller bemerkte früh die Begabung des ehrgeizigen Studenten. In der Staatsexamensarbeit, die Rosenberg über Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie geschrieben hatte, erkannte Müller ein überdurchschnittliches Potenzial an philologischem Sachverstand. Er gab nur wenige Hinweise zur Überarbeitung und nahm die Arbeit 1957 als Dissertation an. Damit hätte dem erst 21-Jährigen eigentlich der Wechsel auf eine Stelle als Assistent seines Doktorvaters offen gestanden – wenn ihm nicht die Politik dazwischengekommen wäre.

1955 hatten seine Eltern zusammen mit den jüngeren Geschwistern der DDR den Rücken gekehrt und lebten in der Bundesrepublik. Rainer blieb – wegen seiner zukünftigen Frau Johanna, aber auch wegen der Distanz, die er zur politischen Realität der frühen Bundesrepublik empfand. Allerdings wurde ihm das Stipendium gestrichen. Nur dem Einsatz von Joachim Müller war es zu verdanken, dass diese Sanktion zurückgenommen wurde. Dagegen, dass Rosenberg bei den politisch engagierten Studenten und Lehrkräften nicht gut angesehen war, konnte jedoch auch Müller nichts ausrichten. Neben Hans Mayer der einzige ›bürgerliche‹ Germanist, der noch an einer Universität in der DDR lehrte, war Müller dem orthodoxen Marxisten und linientreuen SED-Mitglied Georg Mende, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, längst selbst ein Dorn im Auge. Mende ließ keine Gelegenheit ungenutzt, Müller mit ideologischen Kampagnen unter Druck zu setzen und war ohnehin dafür verantwortlich, dass der politische Druck auf Lehrpersonal und Studenten der Universität Jena um einiges schwerer lastete als an anderen Hochschulen in der DDR. Aus der Distanz zu den in Jena besonders aktiven SED-Anhängern unter seinen Kommilitonen hat Rosenberg trotzdem kein Geheimnis gemacht und sich Gleichgesinnten höherer Semester angeschlossen. Dieser Distanz und seiner Vorliebe für Literatur, die als dekadent verpönt war – etwa Beckett, Benn, Yvan Goll oder Proust – Nachdruck verleihend, trug er seinen Schnurbart schwarz gefärbt und den Nagel am kleinen Finger der linken Hand rot. In der Konsequenz blieb ihm dann nur noch eine Zukunft als Redakteur bei der National-Zeitung in Berlin, wofür ihm allerdings jede journalistische Begabung fehlte. Auch im zugehörigen Verlag der Nation, bei dem ihm eine wohlwollende Kollegin nach zwei Jahren ermüdender Redakteursarbeit eine Stelle als Lektor verschaffen konnte, wurde Rosenberg nicht glücklich, selbst wenn er dort noch die Zeit fand, Romane aus dem Russischen zu übersetzen.

Der Wechsel vom Verlag der Nation zur Akademie der Wissenschaften, an der er sich nach einem Hinweis seiner dort schon angestellten Frau Johanna beworben hatte, setzte nun aber alle seine wissenschaftlichen Energien frei. Dies umso mehr, als dort eine Reform auf den Weg gebracht worden war, die 1969 zur Gründung des Zentralinstituts für Literaturgeschichte (ZIL) führte. Was an den Universitäten mit ihren nach Nationalsprachen und -literaturen organisierten Instituten nicht möglich war, wurde hier zum wissenschaftlichen Alltag: die Zusammenarbeit der Philologien unter einem Dach. Allerdings waren Rosenbergs Kapazitäten auf Jahre hinaus durch das große Projekt der zwölfbändigen Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart[1] gebunden. Als Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Georg Herwegh hatte er sich das nötige Expertenwissen zum Vormärz angeeignet, um die beiden umfangreichen Abschnitte zur Literatur zwischen 1830 und 1848 schreiben zu können. Der entsprechende Band 8.1 erschien 1975. Im Zuge dieser Arbeit verfasste er sein erstes Buch, mit dem er 1974 – nach sowjetischer Nomenklatur – zum Dr.sc. promoviert wurde, sich also habilitierte. Unter dem Titel Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz erschien es 1975 im Akademie-Verlag Berlin und – durchaus nicht üblich – zugleich im Damnitz Verlag München. Dieses Buch fand so auch in Westdeutschland zahlreiche Leser, weil sich dort linksorientierte Germanisten für eine Literatur zu interessieren begannen, deren gesellschaftskritisches, ja politisch-revolutionäres Programm durch den im Westen gängigen Begriff ›Biedermeier‹ – just zu dieser Zeit von Friedrich Sengle erneut autorisiert – verdeckt bleiben musste. Auch methodisch und theoretisch war Rosenberg für die sich in Westdeutschland etablierende Sozial-, Kommunikations- und Rezeptionsgeschichte der Literatur anschlussfähig. Seine Texte zum Vormärz, zu Heine und Büchner – die ihm besonders am Herzen lagen – wurden dort weithin rezipiert.

Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen in der DDR schockierte ihn die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976. Die Philosophen Wolfgang Heise und Heinz Pepperle, mit denen er sich ebenso freundschaftlich verbunden fühlte wie mit seiner unmittelbaren Kollegin Ingrid Pepperle, waren ihm als vertraute Gesprächspartner jetzt umso wichtiger. Schon 1968 hatte der Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrags in Prag seine politischen Hoffnungen ernüchtert, aber diese Erfahrung war vorerst hinter die allgemeine Aufbruchsstimmung am neu gegründeten ZIL zurückgetreten. Jetzt aber ging Rosenberg auf Distanz zur politischen Realität der DDR. Am Institut merkte man das an seiner konsequenten Weigerung, sich politisch zu engagieren, also eine gesellschaftliche Funktion – wie man dies nannte – zu übernehmen. Diese Haltung trug ihm im Kollegenkreis viel Missbilligung ein. Seine Reputation als Wissenschaftler in- und außerhalb des Instituts blieb davon jedoch unberührt. Als der Germanist Claus Träger 1980 endlich die Gründung der Zeitschrift für Germanistik durchsetzen konnte, lud er Rosenberg in das Herausgebergremium ein, dem er bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2001 angehörte.

Ab Mitte der 1970er Jahre leitete Rosenberg am ZIL eine Gruppe, die zur Literatur zwischen 1830 und 1870 geforscht hat; auch war ihm der Professorentitel verliehen worden. Seine eigentlichen Interessen richteten sich in jener Zeit jedoch zunehmend auf die Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Seine kritische Distanz zum Weltanschauungsmarxismus ging nunmehr auch in seine wissenschaftliche Arbeit ein. Die Borniertheit der Teleologie marxistischen Fortschrittsdenkens, nach der die Geschichte gesetzmäßig auf den Sieg der Vernunft und die Befreiung der Menschheit zulaufen und von der Literatur zu beglaubigen sein musste, hatte sich ihm in seiner bisherigen literaturgeschichtlichen Arbeit überdeutlich gezeigt. Umso mehr trieb ihn nun die Frage um, wie sich Generationen von Literaturhistorikern früherer Zeiten zum jeweilig geltenden Geschichtsdenken verhalten hatten. Theorie- und Methodengeschichte der Literaturwissenschaft wurden fortan seine Arbeitsschwerpunkte. Hierbei kamen ihm seine Sprachkenntnisse erneut zu Hilfe, denn nun las er auch die internationalen Neuerscheinungen namentlich aus dem französischen und englischen Sprachraum, soweit sie ihm zugänglich waren, im Original, wie er es bislang schon mit Texten des osteuropäischen Strukturalismus und Formalismus gehalten hatte. Die bald zirkulierenden poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Theorieangebote nahm er zwar neugierig, vor allem aber mit wohlwollender Distanz zur Kenntnis. Er blieb der ideologiekritischen Perspektive, mit der sich seit Mitte der 1970er Jahre auch Kolleginnen und Kollegen in der Bundesrepublik der Geschichte der Germanistik zugewandt hatten, treu und damit auch an der Ost-Berliner Akademie anschlussfähig.

In einem Punkt aber war Rosenberg singulär: Er war der erste und für lange Zeit der einzige Germanist in der DDR, der zur Geschichte seines Fachs geforscht und publiziert hat. Für den wissenschaftsgeschichtlich interessierten Nachwuchs in der DDR war er daher die Autorität. Aber auch wenn er entsprechende Dissertationsvorhaben engagiert begleitet hat, sah er sich nie in der Rolle eines Lehrers. Die hat er strikt von sich gewiesen. Da seine Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik von 1981 und der ihnen 1989 folgende Band Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe erneut auch von der westdeutschen Forschung wahrgenommen wurden, konnte Rosenberg nicht nur einer jüngeren Generation grenzüberschreitende Kontakte vermitteln. Er schrieb auch für die großen einschlägigen Lexika Artikel zu den Begriffen ›Epoche‹, ›Kanon‹, ›Klassiker‹, ›Literatur‹ und ›Stil‹.

Obwohl die Hermeneutik in der DDR als ›bürgerliche‹ Wissenschaft weithin verpönt war, hatte Rosenberg sich schon früh mit den Schriften Wilhelm Diltheys auseinandergesetzt. Gelegentlichen Kollegenspott, ob er etwa eine ›marxistische Hermeneutik‹ begründen wolle, hat er konsequent ignoriert oder ironisch kommentiert. An Dilthey faszinierte ihn, was er auch an anderen Autoren als intellektuelle Redlichkeit schätzte. Schon 1987 lag seine Neuausgabe von Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung druckfertig vor; erscheinen konnte sie aber erst, nachdem die Zensoren entmachtet worden waren. Der Reclam Verlag Leipzig brachte das Buch 1991 auf den Markt.

Um diese Zeit war Rosenberg längst ein auch international bekannter und geschätzter Experte für die Literatur des 19. Jahrhunderts und die Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft. Seine Arbeiten waren über die Jahre auf breite Resonanz gestoßen, etliches war auch in Übersetzungen erschienen. Nach vielen Reisen zu Tagungen im sozialistischen Ausland durfte er ab Beginn der 1980er Jahre auch den immer wieder ergangenen Einladungen ins westliche Ausland folgen. Damit war er einer der ganz wenigen Geisteswissenschaftler, die das Privileg eines ›Reisekaders‹ in Anspruch nehmen konnten, ohne die diesem Status förderliche Mitgliedschaft in der SED vorweisen zu können. Zu vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen stand er deshalb 1989 bereits in freundschaftlicher Beziehung, so etwa zu Klaus Scherpe, der ihn Mitte der 1980er Jahre bei einem Arbeitsaufenthalt in der Germanistik-Bibliothek der Freien Universität mit seinem Lehrer Eberhard Lämmert bekannt gemacht hatte. Die gemeinsamen fachgeschichtlichen Interessen waren ab dann Gegenstand eines intensiven persönlichen Austauschs. So hat Lämmert Rosenberg zur Mitarbeit an dem 1989 von ihm gegründeten Marbacher Arbeitskreis zur Geschichte der Germanistik eingeladen, an dessen Sitzungen und internationalen Tagungen er fortan aktiv beteiligt gewesen ist.

Diese Kontakte waren auch 1990/91 bei der Evaluation der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft von Bedeutung. Denn als die Akademie der Wissenschaften der DDR vor ihrer Abwicklung stand und der Institutsrat des ZIL in mehreren Sitzungen fieberhaft überlegte, wen man denn als Leiter einer immerhin in Aussicht stehenden Neukonstitution dieses Instituts ins Auge fassen und den neuen Administratoren vorschlagen könne, brachte Rosenberg das Gespräch auf Eberhard Lämmert. Verblüfft habe er feststellen müssen, dass kaum jemand von seinen Ost-Berliner Kollegen den ehemaligen Präsidenten der Freien Universität Berlin kannte oder von ihm gehört hatte – so erzählte er später. Die Argumente, die Rosenberg für diesen auch in Dingen der Wissenschaftsorganisation sehr erfahrenen Germanisten vorbrachte, haben die Beteiligten jedoch überzeugt. Eberhard Lämmert wurde vom Institutsrat vorgeschlagen; dieser Vorschlag wurde ohne Widerspruch akzeptiert und Lämmert damit 1991 kommissarischer Leiter des vorerst so genannten Forschungsschwerpunkts Literaturforschung, 1996 umbenannt in Zentrum für Literaturforschung.

Seit eine kleine Minderheit ehemaliger ZIL-Kolleginnen und -Kollegen unter dem Dach der Max-Planck-Gesellschaft, später durch Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Gelegenheit hatte, weiterhin wissenschaftlich zu arbeiten, war dies an die Voraussetzung bewilligter Forschungsanträge gebunden. Ein Projekt zur Literatur des Vormärz, in welchem theoretischen Design auch immer, kam Rosenberg nicht in den Sinn. Seine Vermutung, dass mit Forschungen zur Geschichte der Germanistik in der DDR jedoch Neuland betreten werden konnte, für das unter den westdeutschen Gutachtern Interesse vorausgesetzt werden könnte, erwies sich als zutreffend. Neben dem bereits angelaufenen und im Nachhinein wohl prominentesten Projekt des Historischen Wörterbuchs Ästhetische Grundbegriffe sollte das neue Institut weitere Stützpfeiler erhalten. Dass die Grundlagenforschung zur Geschichte der Geisteswissenschaften deshalb fest in dessen Programm verankert sein müsste, war für Lämmert eine Conditio sine qua non; ein kluger Schachzug, denn für derartige Forschungsprogramme bestanden an keiner der deutschen Universitäten – weder im Osten, noch im Westen – die nötigen Voraussetzungen.

Aus drei aufeinanderfolgenden von Rosenberg geleiteten Projekten zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945, ihren Theorien, Institutionen, Methoden und Grundbegriffen gingen zahlreiche gewichtige Bücher und Aufsätze hervor. Die Erfahrung, dass er sich darüber mit seinen Publikationen selbst historisch werden, dass er auch Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen, zuweilen Freunden, beurteilen musste, hat ihm gelegentlich Unbehagen bereitet. Was letztlich aber zählte, war sein Widerstand gegen den verbreiteten Vorbehalt, er sei als Beteiligter nicht fähig, diesen Teil der Fachgeschichte zu erforschen. Als sei historische Distanz ein Garant für Objektivität! Rosenbergs Respekt vor den wissenschaftlichen Leistungen Dritter und die Berücksichtigung ihrer jeweiligen Ermöglichungs- und Erfolgsbedingungen kennt, wer seine Arbeiten gelesen hat. Es zeichnet seinen Stil aus, Wissenschaftsgeschichte nicht mit wohlfeiler Kollegenschelte zu verwechseln, eine Verführung, der sich nicht jeder hat entziehen können, der nach 1989 über die Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft vor 1989 geschrieben hat. Balance gehalten zu haben auf dem – wie Rosenberg ihn nannte – »schmalen Grat zwischen Selbstdenunziation und Selbstapologie« wird man ihm bestätigen müssen. Seine anfangs nur zögernde Zustimmung zum letzten unter seiner Leitung durchgeführten Projekt, in dem es um 1968 als sowohl wissenschaftspolitische wie auch theorie- und institutionengeschichtliche Zäsur gehen sollte, hatte genau damit zu tun. Es war ein Eisen, das 1996 noch bzw. wieder heiß war, weil etliche der mit ihm befreundeten westdeutschen Linken inzwischen auf Lehrstühlen saßen und sich einem politischen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sahen. Rosenberg hat professionelle Distanz eingehalten, auch zu sich selbst. Einmal mehr bewohnte er den institutionellen und politischen Zwischenraum, in dem er seit Langem schon lebte.

Aber war diese Distanz wirklich nur eine professionelle? Waren die Ambivalenzen, die er in diesem Zwischenraum erfahren hat, so einfach lebbar? Diese Frage stellt sich mit beklemmender Dringlichkeit, wenn man sein letztes Buch zur Hand nimmt. Unter dem Titel Innenansichten zur Wissenschaftsgeschichte. Vorläufige Bilanz eines Literaturwissenschaftlers ist es 2014 in der Reihe Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte erschienen. In dieser Autobiographie ist Rosenberg nun öffentlich auch zu sich selbst auf Distanz gegangen: Sie ist durchgängig in der dritten Person geschrieben, abgekürzt mit dem Initial R. Im Vorwort identifiziert R. als einen der Beweggründe autobiographischen Schreibens zwar ausdrücklich das Motiv, dass man seinen Verfasser »so im Gedächtnis behält, wie er es gern hätte«, aber mit dieser Selbstauskunft hat er das Gedächtnis seiner Freunde und Kollegen wohl erst einmal verunsichert. Hinter dem zurückhaltenden Mann, den sie kannten, wird nun eine Person sichtbar, die sich Zeit ihres Lebens mit Zweifeln an ihrer Rolle und Identität gequält hat und darüber jetzt mehr Auskunft gibt, als nötig erscheinen mag.

Warum aber diese über weite Strecken bedrückend zu lesende öffentliche Rechenschaft? Zwar musste auch Rainer Rosenberg am Ende seiner beruflichen Laufbahn die Erfahrung machen, dass die Erforschung der Geschichte der Germanistik kein karrierefördernder Gegenstand mehr war, aber das war für ihn, der sich aus der aktiven Teilnahme am Wissenschaftsbetrieb zurückzuziehen begann, ohnehin nicht mehr von Belang. Was er bis dahin erreicht hatte, kann man durchaus als eine Erfolgsgeschichte begreifen.

Was für ihn, wie sich nun zeigt, aber nie ohne Belang war und wohl auch nicht sein konnte, war er sich selbst. Seiner Selbstbeobachtung nach spielen Erfahrungen, die er in Kindheit und Jugend gemacht hat, für sein späteres Leben eine gravierende Rolle. Rainer Rosenberg war in Verhältnisse hineingeboren worden, die ihn offenbar zeitlebens belastet haben. Sein Vater war ein uneheliches Kind und in der Terminologie des Nationalsozialismus durch die Abstammung seines Vaters ein ›Halbjude‹. Dessen Herkunft wurde allerdings verschwiegen, indem man offiziell einen anderen als Vater ausgab. Davon zu sprechen war dem Sohn streng untersagt worden. Und daran hielt sich auch noch dessen Sohn, Rainer Rosenberg. In der DDR spielte eine jüdische Herkunft ja nur dann eine Rolle, wenn sie von den Nazis verfolgte und ermordete Antifaschisten betraf, zu denen aber niemand aus Rosenbergs Familie gehörte. Wann diese Familie erfahren hat, dass Rosenbergs Großvater über einen spitzfindigen Trick von einigem anekdotischen Wert seine Identität gefälscht hatte, um einen ›Ariernachweis‹ zu besitzen, erzählt die Person R. nicht.

Rosenbergs Herkunft war aber noch von einem zweiten Tabu belastet. Die Familie stammte aus der böhmischen Stadt Braunau (Broumov), die nach dem Münchner Abkommen von 1938 zusammen mit dem neugegründeten Reichsgau Sudetenland ins Deutsche Reich eingegliedert worden war. Als Sudentendeutsche wurden sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben und hatten zunächst versucht, in Thüringen wieder Fuß zu fassen. Über das Schicksal von Vertriebenen wurde in der DDR jedoch bis weit in die 1980er Jahre nicht gesprochen. Erst mit der Veröffentlichung des Romans Wir Flüchtlingskinder von Ursula Höntsch, der 1985 erschien, war öffentlich eine Stimme zu diesem Thema vernehmbar.

In den in seiner Familiengeschichte wurzelnden Gewissheiten, nicht richtig dazu zu gehören, hat Rainer Rosenberg sich immer wieder bestätigt gefunden und eingerichtet. Sie haben ihn dazu getrieben, nicht nur zu den ihn umgebenden Verhältnissen die Distanz eines Beobachters einzunehmen, sondern auch zu sich selbst. So schmerzhaft das gewesen sein mag und so sehr ihn das auch immer wieder in Unruhe versetzt haben wird, so sehr haben ihn dieser Schmerz und diese Unruhe auch hellsichtig und produktiv gemacht. Meine Erinnerung an 17 Jahre anregender Zusammenarbeit, in denen eine enge Freundschaft mit Johanna und Rainer Rosenberg gewachsen ist, weiß davon.

Die Germanistin Petra Boden war bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL. Aktuell erforscht sie an der Humboldt-Universität zu Berlin in einem von der DFG geförderten Projekt »Interdisziplinarität als Praxisform Die Debatten um den epistemischen Status des Erzählens als exemplarischer Fall (19701990)«.

[1] Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 10 Bände in 12 Büchern, hg. von Klaus Gysi u.a., Berlin (DDR) 1961–1983.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Petra Boden: Ambivalenzen des Zwischenraums. Ein Nachruf auf Rainer Rosenberg, in: ZfL BLOG, 3.1.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/01/03/petra-boden-ambivalenzen-des-zwischenraums-ein-nachruf-auf-rainer-rosenberg/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220103-01

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Ernst Müller: WIEDERGELESEN: Werner Mittenzweis Brecht-Biographie https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/07/05/ernst-mueller-wiedergelesen-werner-mittenzweis-brecht-biographie/ Wed, 05 Jul 2017 14:10:37 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=457 Die zweibändige Brecht-Biographie »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln« des DDR-Germanisten Werner Mittenzwei (1927–2014) gilt bis heute als Standardwerk. Seit ihrem Erscheinen 1986 im Aufbau-Verlag und ein Jahr später im westlichen Suhrkamp Verlag erlebte sie mehrere Auflagen. In der zeitgenössischen bundesrepublikanischen Kritik fand sie ein eher verhaltenes Echo. Das hatte Weiterlesen

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Die zweibändige Brecht-Biographie »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln« des DDR-Germanisten Werner Mittenzwei (1927–2014) gilt bis heute als Standardwerk. Seit ihrem Erscheinen 1986 im Aufbau-Verlag und ein Jahr später im westlichen Suhrkamp Verlag erlebte sie mehrere Auflagen. In der zeitgenössischen bundesrepublikanischen Kritik fand sie ein eher verhaltenes Echo. Das hatte politische und wissenschaftsgeschichtliche Gründe. Mittenzweis Werk, das bis dahin in der DDR Unerhörtes zu Brecht und der marxistischen Intellektuellengeschichte aus den Archiven zutage gefördert und kritisch dargestellt hatte, geriet schnell in den Schatten der von der Sowjetunion ausgehenden radikaleren Umwertungen während der Perestroika- und Glasnost-Politik. Das Echo war aber sicher auch deswegen verhalten, weil Mittenzweis biographische Methode weder traditionellen noch zeitgenössischen Erwartungen – etwa der Diskurstheorie, des Strukturalismus oder der Dekonstruktion – entsprach, denen Kategorien wie Autor und Werk und damit auch das Genre der Biographie überhaupt fragwürdig geworden waren.

Liest man dreißig Jahre später Mittenzweis bedeutendstes Werk wieder, so relativieren sich beide Vorwürfe. Heute erscheint das Buch als der nur kurzzeitig mögliche Versuch, Brecht kritisch aus einer Epoche, einer Bewegung heraus zu verstehen, welcher der Biograph selbst noch angehörte. Brecht ist fast noch Zeitgenosse. Bevor der kalte Krieg mit der überraschenden Erkenntnis geendet hat, dass die bessere, auch moralisch überlegene Seite gesiegt habe und in den 1990er Jahren oftmals die Gauck-Behörde die Deutungshoheit auch der DDR-Literaturgeschichte übernahm, diskutierte Mittenzwei mit Brecht Fragen, die zu stellen wenige Jahre später kaum noch möglich war: »Alles ist streng historisch und doch zugleich gegenwärtig« heißt es dort über Brechts Galilei, und das gilt auch für die Biographie. Der Leser wird konfrontiert mit Begriffen wie Sozialismus, Klassenkampf und revolutionäre Arbeiterklasse oder mit der Frage, ob und wie Sozialismus möglich sei – starker Tobak, zweifellos. Das eröffnet Perspektiven, verschließt natürlich andere. Brechts sieben Jahre in der DDR nehmen ein Viertel in Mittenzweis Biographie ein, und sie sind vielleicht die stärksten Teile des Buches. Über die Konkurrenz zwischen der klassizistischen Theorie von Georg Lukács und der modernistischen ästhetischen Praxis Brechts, über die heterogenen Schichten in Brechts Galilei (die Problematik des Faschismus, der sowjetischen Prozesse, der entdeckten Kernspaltung) oder über Brechts Agieren am 17. Juni 1953 ist wohl kaum noch einmal so detailliert und differenziert geschrieben worden.

Zum anderen erscheint die biographische Methode Mittenzweis, dem vorgeworfen wurde, Synthesen zu vermeiden, heute vielleicht gerade dadurch modern. Methodisch hochreflektiert, wenn auch in der Biographie selbst nicht expliziert, kritisiert Mittenzwei bewusst jede zweckgerichtete Bewegung und übergreifende Kohärenz in Biographien als bürgerliche Ausprägung des Genres und betont stattdessen Brüche. Gesellschaft steht im Mittelpunkt, aber nicht als abstraktes Hintergrundgebilde, sondern mit zum Teil glänzenden Porträts der Protagonisten im Geflecht von Beziehungen und Freundschaften, die für Brecht die konkreten Vermittlungsglieder zur Gesellschaft waren. Dadurch konnten zudem kritische Urteile über die bis in die Gegenwart reichende Geschichte der kommunistischen Bewegung die DDR-Zensur passieren. Hier kam Mittenzwei, dem Germanisten und Theaterwissenschaftler, der nicht nur Gründungsdirektor des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR war, sondern in den 1970er und 1980er Jahren als dramaturgischer Mitarbeiter am Berliner Ensemble über Einsichten in die Praxis des Brechtschen Theaters verfügte, zugute, dass er neben dreißigjähriger Brechtforschung auch mit dem Umfeld, der Exilliteratur oder der weiteren Intellektuellen-und Theatergeschichte, bestens vertraut war und seinerseits auf die sozialkritische Potenz des Marxismus setzte.

Indem Mittenzwei Brechts Leben als den Versuch einer eingreifenden dialektischen Praxis, eines »Umgang mit den Welträtseln«, wie der Untertitel heißt, zu begreifen sucht, ist seine Darstellung ebenso fern der Heroisierung – welche etwa Jan Knopfs Biographie von 2012 vorgeworfen wurde (Jan Knopf: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie. München 2012) – wie einer entlarvenden Schlüssellochperspektive (John Fuegi: Brecht and Company. Sex, Politics, and the Making of the Modern Drama. New York 1994). Auf 1.500 Seiten gelingt Mittenzwei eine von Theoriemoden freie, sehr lebendige Darstellung, die nichts ausspart: weder Brechts komplexes Arbeits-und Liebesverhältnis zu Frauen noch Brechts politische Kompromisse noch seinen stilisierten Lebensstil.

Der Philosoph Ernst Müller leitet am ZfL das Forschungsprojekt »Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte«. Sein Text wurde erstmals in einem Themenheft der »Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes« (64. Jg., 2017, H. 2) veröffentlicht: »Germanistik in der DDR«, hg. v. Hendrikje Schauer u. Marcel Lepper. Dort erschien er gemeinsam mit sieben weiteren Kurzbeiträgen unter dem Titel »Wiedergelesen: acht germanistische Studien aus der DDR«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Ernst Müller: Wiedergelesen: Werner Mittenzweis Brecht-Biographie, in: ZfL BLOG, 5.7.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/07/05/ernst-mueller-wiedergelesen-werner-mittenzweis-brecht-biographie/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170705-01

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Germanistik in der Kontroverse https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/03/01/germanistik-in-der-kontroverse/ Wed, 01 Mar 2017 15:38:25 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=310 Drei Promovendinnen des ZfL beziehen Stellung: Maria Kuberg: DEUTELEIEN ZUR KRISE DER GERMANISTIK Hanna Hamel: ENTUNTERWERFUNG. Zum Verhältnis von Literatur und Kritik in Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« anlässlich einer »Krise der Germanistik« Insa Braun: DIE UNFÜGSAMKEIT, ICH ZU SAGEN  

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Drei Promovendinnen des ZfL beziehen Stellung:

Maria Kuberg: DEUTELEIEN ZUR KRISE DER GERMANISTIK

Hanna Hamel: ENTUNTERWERFUNG. Zum Verhältnis von Literatur und Kritik in Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« anlässlich einer »Krise der Germanistik«

Insa Braun: DIE UNFÜGSAMKEIT, ICH ZU SAGEN

 

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Hanna Hamel: ENTUNTERWERFUNG. Zum Verhältnis von Literatur und Kritik in Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« anlässlich einer »Krise der Germanistik« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/03/01/hanna-hamel-entunterwerfung-zum-verhaeltnis-von-literatur-und-kritik-in-michel-houellebecqs-roman-unterwerfung-anlaesslich-einer-krise-der-germanistik/ Wed, 01 Mar 2017 15:36:42 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=294 Die kürzlich entflammte Diskussion über eine »Krise der Germanistik« hat einen ihrer Funken aus Michel Houellebecqs jüngstem Roman Unterwerfung (Soumission, 2015) geschlagen.[1] Roman und Autor sind als Auslöser kontroverser und polemischer Diskussionen bekannt, wenn auch bislang nicht unbedingt über gesellschaftliche Funktion und Strahlkraft der Deutschen Philologie. Aber tatsächlich geht es schon auf Seite 13 der Weiterlesen

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Die kürzlich entflammte Diskussion über eine »Krise der Germanistik« hat einen ihrer Funken aus Michel Houellebecqs jüngstem Roman Unterwerfung (Soumission, 2015) geschlagen.[1] Roman und Autor sind als Auslöser kontroverser und polemischer Diskussionen bekannt, wenn auch bislang nicht unbedingt über gesellschaftliche Funktion und Strahlkraft der Deutschen Philologie. Aber tatsächlich geht es schon auf Seite 13 der deutschen Übersetzung um die Literaturwissenschaft:

»Ein Studium im Fachbereich Literaturwissenschaften führt bekanntermaßen zu so ziemlich gar nichts außer – für die begabtesten Studenten – zu einer Hochschulkarriere im Fachbereich Literaturwissenschaften. Wir haben es hier mit einem sehr ulkigen System zu tun, das kein anderes Ziel hat, als sich selbst zu erhalten; die über 95 Prozent Ausschuss nimmt man in Kauf.«[2]

Die Textstelle, die Martin Doerry als Aufhänger für seinen Artikel ausgewählt hat, ist bemerkenswert, weil sie – deutlich geradliniger als in die vieldiskutierte Auseinandersetzung mit einem vordergründig islamisierten Frankreich – zur zentralen Voraussetzung der fiktionalen Welt des Romans führt: dem Ende der Kritik. Der Blick durch die Augen des Protagonisten und Erzählers François, Professor für französische Literatur und Huysmans-Experte an der Universität Paris III, ist ein unkritischer. »[B]erufliche Eingliederung« (Houellebecq, S. 12), Convenience-Food und pornographische Stereotype bestimmen sein Leben. Der politische und gesellschaftliche Umschwung im Roman (u.a. illustriert durch Legalisierung der Polygamie für Männer und radikale Beschneidung der beruflichen Möglichkeiten für Frauen) erscheint lediglich als äußere Manifestation eines bereits lange korrumpierten aufklärerischen Potentials von Kritik und Widerstand. Verfolgt wird die in der nahen Zukunft angesiedelte politische und soziale Entwicklung am Beispiel der opportunistischen Figur François’ und dessen zwangloser Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse.

Das ist einer der Eindrücke, die man sich in den letzten Wochen – vor Erscheinen des Artikels im Spiegel – in den Sitzungen der Lektüregruppe des ZfL von dem Roman verschaffen konnte. Unterwerfung bedarf der literaturwissenschaftlichen Diskussion, fordert sie geradezu ein – und zwar über eine doppelte, widersprüchlich anmutende Setzung: Der Roman macht zum einen die reale Literatur der französischen Literaturgeschichte zum Teil seiner fiktionalen Welt und wählt andererseits einen fiktionalen literaturwissenschaftlichen Blick auf diese Literatur (und die fiktionale Welt) als Erzählperspektive. Damit eignet er sich die Literaturwissenschaft doppelt an: über ihren Gegenstand wie über ihre Perspektive.

Unterwerfung ist aber keine Literaturwissenschaft, und das Verfahren des Romans kein literaturgeschichtliches Novum. Auch Joris-Karl Huysmans, dessen Literatur in Houellebecqs Roman zum Thema wird, nimmt historische Literatur und ihre Analysen, vermittelt durch die Perspektiven der Figuren, in seine Romane auf. Was Huysmans dabei in erster Linie vorführt, ist das Versagen der produktiven Bezugnahme einer individuellen Lebensform auf Entwürfe der Literatur: Exemplarisch geschieht das in seinem berühmtesten Roman Gegen den Strich (A rebours, 1884), dessen Protagonist Des Esseintes über die Literatur unterschiedlicher Epochen eine Ausflucht aus »der Existenzform seiner Zeit«[3] sucht. Diese Bezugnahme ist auf simple und distanzlose Weise reproduktiv: Die literarische Erfahrung der historischen Texte wird kritiklos zum Vorbild für die Wirklichkeitswahrnehmung und -gestaltung der Protagonisten bei Huysmans wie auch bei Houellebecq. Während die literarisch imaginierte Gegenwelt in Gegen den Strich Des Esseintes letztlich nicht vor dem Pariser Alltag der Zeit retten kann, gelingt Houellebecqs François die reuefreie und kritiklose Beschäftigung mit der französischen Dekadenz: Sie führt ihn zu finanziellem und sozialem Erfolg. Offensichtlich hat er die richtigen Texte ausgewählt – oder sie schlecht gelesen.

Houellebecqs Roman ist kein Text, auf den man sich als Literaturwissenschaftler in einer solchen reproduktiven Weise mit Erfolg beziehen könnte. Er antizipiert die Möglichkeiten einer schlechten, weil kritiklosen Lektüre, indem er sie vorführt. Man kann das als essayistischen Zug des Romans deuten: Die Beschäftigung mit Literatur, nach Lukács und Adorno der bevorzugte Gegenstand der Gattung der Kritik, des Essays,[4] führt im Roman gerade nicht dorthin, wohin sie führen könnte: Anstatt eine streitbare, kritische Lektüre der Texte von Huysmans zu entwickeln, wird François selbst zur fantasielosen Kopie einer Huysmans-Figur. Damit bricht der fiktionale Literaturwissenschaftler mit der Tradition seines Faches, dessen historische Wurzeln Michel Foucault in »Was ist Kritik?« im »Spiel zwischen der Regierungsintensivierung und der Kritik«[5], genauer: der alternativen Bibelexegese ausgräbt. In seinem Vortrag definiert Foucault die Funktion von Kritik als »Entunterwerfung« (»désassujettissement«) (Foucault, S. 15). Damit stellt sich der Romantitel – zumindest in der deutschen Übersetzung – einer ursprünglichen Definition der Aufgabe von Literaturwissenschaft diametral entgegen und fordert sie negativ heraus. Im Französischen wird die Tragweite der Darstellung eines Endes der Kritik über die Literaturwissenschaften hinaus umso deutlicher: Unterworfen ist nicht nur der Literaturwissenschaftler, die »soumission« ist definitorisch Teil jeder Subjektwerdung, denn das »sujet« ist laut Petit Robert zumeist »soumis«, welcher Autorität auch immer.

Subjektwerdung ist stets Unterwerfung: »Keine Selbst-Bildung« findet, wie Judith Butler in Auseinandersetzung mit Foucaults Vortrag darlegt, »außerhalb einer Weise der Unterwerfung/Subjektwerdung« statt.[6] Entsprechend kann sich eine Praxis der kritischen Subjektbildung auch nicht radikal von bestimmenden Normen und Praktiken abheben, sondern nur »eine Selbst-Transformation in Beziehung auf die Verhaltensregeln« sein (ebd.). Das Selbst entgeht dabei nie dem »Zwang«, »sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind« (ebd.). Ausgehend von herrschenden, regelhaften oder normativen Praktiken verstehen sowohl Foucault als auch Butler die kritische Praxis als eine »Kunst«, die sich im »Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist«, äußert (ebd.). Eine solche kritische Praxis läuft dem Mechanismus des universitären Systems zuwider, von dem Houellebecqs Protagonist sagt, es habe »kein anderes Ziel, als sich selbst zu erhalten« (Houellebecq, S. 13). Ausschließlicher Selbsterhalt des Systems und Selbst-Bildung des Subjekts geraten in der kritischen Praxis in Widerspruch zueinander. Die anerkennbare Subjektposition, die nur innerhalb bereits bestehender Praktiken ausgebildet werden kann, setzt sich in der Kritik selbst aufs Spiel.

Ein solches existentielles Risiko geht François nicht ein. Er perpetuiert stattdessen kritiklos die Praxis einer Wissenschaft, die sich gerade nicht erhält, indem sie institutionell überlebt. Der Roman stellt dies dar und nimmt dabei selbst ein formales Risiko auf sich: Unterwerfung verzichtet auf ein emanzipatives und moralisierendes Narrativ, dem man neue Normen des Handelns und Kritisierens bereits entnehmen könnte. Viel mehr als zur Reinszenierung seiner fiktionalen Welt mithilfe von Realität verbürgenden Statistiken und Statisten fordert der Roman also zu Entunterwerfung auf, in der das wissenschaftliche System und seine Rollenbilder, seien es die des männlichen Großordinarius, der begabten Studentin oder des anonymen Ausschuss-Mobs im Massenstudium nicht nur reproduziert werden. Als ein geeigneter Gegenstand und konkreter Anlass eines Streits gibt Unterwerfung ein misslungenes Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft der (literaturwissenschaftlichen) Kritik preis: Der Roman behauptet jedoch weder für die Situation der Literaturwissenschaft noch für das neopatriarchale Frankreich den Anspruch auf Abbildrealismus. Abzutun ist das Szenario deshalb nicht; in der Möglichkeit des Endes der Kritik ist der Roman realistisch.

Hanna Hamel arbeitet im Rahmen des Doktorandenprogramms am ZfL an ihrer Dissertation zu »Klimatologien der beginnenden Moderne«.

[1] Losgetreten hat die Diskussion Martin Doerry: »Schiller war Komponist«, in: Spiegel 6 (2017), S. 104-109.

[2] Michel Houellebecq: Unterwerfung. Übers. v. Norma Cassau u. Bernd Wilczek, Köln 2015, S. 13.

[3] Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, übers. v. Brigitta Restorff, München 2015, S. 68.

[4] Vgl. Theodor W. Adorno: »Der Essay als Form«, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 11, Noten zur Literatur., hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 9–33; Georg Lukács: »Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper«, in: Ders.: Die Seele und die Formen. Essays, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1971, S. 7–31.

[5] Michel Foucault: Was ist Kritik?, übers. v. Walter Seitter, Berlin 1992, S. 14.

[6] Judith Butler: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, übers. v. Jürgen Brenner, 2001, http://eipcp.net/transversal/0806/butler/de, aufgerufen am 23.02.17.

 

Der Beitrag von Hanna Hamel gehört zu einer Gruppe von Texten, die unter dem Titel »Germanistik in der Kontroverse« auf dem ZfL Blog erschienen sind. Hier geht es zu den anderen Beiträgen:

Maria Kuberg: DEUTELEIEN ZUR KRISE DER GERMANISTIK

Insa Braun: DIE UNFÜGSAMKEIT, ICH ZU SAGEN

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Entunterwerfung. Zum Verhältnis von Literatur und Kritik in Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« anlässlich einer »Krise der Germanistik«, in: ZfL BLOG, 1.3.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/03/01/hanna-hamel-entunterwerfung-zum-verhaeltnis-von-literatur-und-kritik-in-michel-houellebecqs-roman-unterwerfung-anlaesslich-einer-krise-der-germanistik/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170301-02

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Insa Braun: DIE UNFÜGSAMKEIT, ICH ZU SAGEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/03/01/insa-braun-die-unfuegsamkeit-ich-zu-sagen/ Wed, 01 Mar 2017 15:35:09 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=292 Nachdem Martin Doerry im Spiegel die Krise der Germanistik wiederbelebt hat,[1] bleibt unklar, ob es diese jemals gegeben hat, immer schon gab oder ob wir es hier mit einem Zombie des Feuilletons zu tun haben. Der Artikel zeugt zunächst einmal von einer enttäuschten Erwartung an die Germanistik, die dem Fach eine merkwürdige Potenz zuschreibt. Nur Weiterlesen

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Nachdem Martin Doerry im Spiegel die Krise der Germanistik wiederbelebt hat,[1] bleibt unklar, ob es diese jemals gegeben hat, immer schon gab oder ob wir es hier mit einem Zombie des Feuilletons zu tun haben. Der Artikel zeugt zunächst einmal von einer enttäuschten Erwartung an die Germanistik, die dem Fach eine merkwürdige Potenz zuschreibt. Nur gut, dass die Historiker dieser Erwartung nachkommen, denn bei ihnen werden noch »die großen Fragen der Zeit diskutiert«.[2] Doerry hat sich offensichtlich mehr von den Literaturwissenschaftlern erwartet.

Eva Geulen mag recht haben, dass weltpolitische Krisen kein Grund sind, sich nicht auch mit dem Stand der Germanistik zu beschäftigen. Aber man hätte sich von Doerrys Artikel doch gewünscht, dass der Begriff der Krise etwas differenzierter behandelt worden wäre: hinsichtlich des kritischen Potentials der Krise und der echten Krise aller Humanities in den USA. Dort müssen sich schließlich seit Donald Trumps Amtsantritt ganze Departments Sorgen um ihre Abschaffung und Einschmelzung machen. Die von Doerry angeführte Forderung von Richard David Precht, nach der die »durchfiktionalisierte Welt« (Doerry, S. 109) von heute doch Erklärungen bedürfe, zeugt indes von einer ebenso merkwürdigen Erwartung an die Germanistik. Wir sollen Politikberater spielen, für moralische Werte einstehen und uns mit dem »Jargon der Populisten« (ebd.) beschäftigen? Dann könnte es ja im Angesicht einer immer stärker werdenden AfD, eines Front National und eines Donald Trump gar nicht genug Germanisten geben. Aber: Germanisten sind keine Welterklärer und die Methoden des Fachs sind nicht unmittelbar auf die Welt anwendbar, wie Precht es sich wünscht.

Was Literaturwissenschaftler wirklich gut können, ist, Darstellungsformen zu analysieren und Texte kritisch zu hinterfragen. Die Reaktionen auf Doerrys Artikel zeigen, dass die Germanistik noch kein angepasster, kritikloser Zirkel im Houellebecq’schen Sinne ist. Erfreulich ist an dieser Debatte, dass nicht geschwiegen, sondern Position bezogen wird. Gegeneinander, miteinander, aneinander. Kontroversen setzen immerhin die Freiheit zur Positionierung voraus. Die Textgattungen, die uns in solchen Debatten zur Verfügung stehen, sind zuvorderst der Kommentar und der Essay. Im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Studiums kommt man mit diesen Textsorten vielfach in Berührung, in Form des philologischen Stellenkommentars in kritischen Werkausgaben, in der Beschäftigung mit Denkern wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Georg Lukács und nicht zuletzt beim Schreiben einer Hausarbeit. Die soll allerdings, bitte schön, nicht wie der Essay oder der Kommentar aussehen, und so versuchen Studierende artig, das »Ich«, das einem seit Schulzeiten doch als Marker des Essays gilt, in der wissenschaftlichen Arbeit zu tilgen.

Mit dem studentischen Ich hat es eine eigenartige Bewandtnis: Während des Studiums reift es idealiter zu einem kritischen Geist heran und lernt, wissenschaftliche Texte zu verfassen, deren Anspruch es sein muss, immer präzise am Gegenstand zu arbeiten und eigene Erkenntnisse an selbigem festzumachen. Auf dem Weg zu diesem Ziel macht es zwangsweise einige Krisen durch. Es erfährt, dass das »Ich« aus dem Deutschunterricht nun eher verspottet wird und wirft dieses »Ich« deshalb mitsamt alten Lektüreschlüsseln aus der Oberstufe weg. Gegenwind spürt es auch aus anwendungsbezogenen Fächern, die die Legitimität der Germanistik generell infrage stellen. Aus der Masse hervorheben kann sich das »Ich« schließlich in einer Form der Selbstverleugnung. Denn wer als Germanistikstudent in höherem Semester in einer Hausarbeit noch »Ich« sagt und sich – noch schlimmer – sogar zu einem Geschmacksurteil hinreißen lässt, gilt eher als Mitglied einer tumben Masse, die sich laut Doerry in den Hörsälen der Germanistik tummelt, denn als reflektiertes »Ich«. Ob es hilfreich ist, sich zu profilieren, indem man sich einer elitären Gruppe zugehörig zeigt und sich öffentlich über desinteressierte Studierende ausspricht, sei dahingestellt.

Vielleicht hat uns das die amerikanische Germanistik letztlich voraus: Dort wird öfter Meinung und Methodik miteinander verhandelt, ohne dass dies in Unwissenschaftlichkeit münden würde. In Anbetracht der politischen Lage und des grundsätzlichen Drucks, der auf den Humanities in den USA lastet, ist das nicht nur ein Vorzug der amerikanischen Germanistik, sondern auch eine Notwendigkeit.

Nicht zufällig ist der Essay eine Form, die an amerikanischen Universitäten häufiger als an deutschen gefragt ist. Beim Schreiben eines Essays darf experimentiert, darf die eigene Perspektive ausprobiert werden. Der Essay darf in medias res beginnen und ist nicht verpflichtet, einen Forschungsüberblick oder einen historischen Rückblick zu liefern. Die Form des Essays zwingt den Autor, eine Entscheidung zu treffen für das eine und gegen das andere. Studierende der Germanistik aus Deutschland, die eine Zeit lang im amerikanischen System studiert haben, tauschen sich gern darüber aus, dass es amerikanischen Studierenden viel leichter falle, am Ende des Semesters innerhalb einer Woche zehn bis fünfzehn Seiten aufs Papier zu bringen. Aus Gründen der Selbstaffirmation tröstet man sich, dass die Arbeit dann ja aber nicht so gründlich und durchdacht, stilistisch bis auf die Spitze getrieben sein könne wie eine Hausarbeit an einer deutschen Universität. Das mag in einzelnen Fällen stimmen, aber eines lehrt die Aufforderung zum Schreiben von Essays jedenfalls: Mut zur Lücke und Mut zur eigenen Meinung.

Max Bense schreibt über den Essay, dass »[e]ssayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verantwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.«[3] Für Adorno ist der Essay gar »die kritische Form par excellence«[4], die eine Tendenz »zur Liquidation der Meinung« hat, »auch der, mit der er selbst anhebt« (Adorno, S. 27). Darin konvergieren Kritik und die Form des Essays. Michel Foucault definiert in einem Vortrag, dessen Titel bereits eine Frage ist, »Was ist Kritik?«, die Kritik als »Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit.«[5]

Ich erwarte von einem Germanistikstudium ebendies: dass das Fach anhand der ihm eigenen Gegenstände zu reflektierter Unfügsamkeit ermutigt. Das kritische Potential des Germanistikstudiums liegt nicht darin, die Welt zu erklären, sondern neue Fragen zu stellen, Zusammenhänge zu hinterfragen, Fragen neu zu formulieren, in der Hoffnung, »Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht.«[6]

Insa Braun arbeitet als Elsa-Neumann-Stipendiatin des Landes Berlin an einer Dissertation mit dem Titel Reden über Lyrik.

[1] Vgl. Ulrich Greiner: »Die Krise der Germanistik – vorbei«, in: Die Zeit 14 (1997), http://www.zeit.de/1997/14/Die_Krise_der_Germanistik_-_vorbei/komplettansicht (zuletzt aufgerufen am 22.02.2017).

[2] Martin Doerry: »Schiller war Komponist«, in: Der Spiegel 6 (2017), S. 104–109, hier S. 104.

[3] Max Bense: »Über den Essay und seine Prosa«, in: Merkur 1 (1947), hier S. 418.

[4] Theodor W. Adorno: »Der Essay als Form«, in: Ders.: Noten zur Literatur, GS 11, hg. v. Rolf Tiedemann et al., Frankfurt am Main 1974, S. 27.

[5] Michel Foucault: Was ist Kritik?, übersetzt v. Walter Seitter, Berlin 1992, S. 15.

[6] Adorno zitiert zu Beginn seines Essays aus Goethes Pandora; Adorno: »Der Essay als Form«, S. 9.

 

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Maria Kuberg: DEUTELEIEN ZUR KRISE DER GERMANISTIK

Hanna Hamel: ENTUNTERWERFUNG. Zum Verhältnis von Literatur und Kritik in Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« anlässlich einer »Krise der Germanistik«

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Insa Braun: Die Unfügsamkeit, Ich zu sagen, in: ZfL BLOG, 1.3.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/03/01/insa-braun-die-unfuegsamkeit-ich-zu-sagen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170301-01

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Eva Geulen: FÜR DIE EINZELSPRACHLICHKEIT DER LITERATUR. Nebenbemerkung zum jüngsten Streit um die Germanistik https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/02/17/eva-geulen-fuer-die-einzelsprachlichkeit-der-literatur-nebenbemerkung-zum-juengsten-streit-um-die-germanistik/ https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/02/17/eva-geulen-fuer-die-einzelsprachlichkeit-der-literatur-nebenbemerkung-zum-juengsten-streit-um-die-germanistik/#comments Fri, 17 Feb 2017 09:48:02 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=270 Daß gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes gut / Gedeutet. Das ist aus der letzten Strophe von Hölderlins »Patmos« (Nah ist / und schwer zu fassen … etc.). Die Hymne schließt mit: Dem folgt deutscher Gesang. Was daraus zu Zeiten gemacht wurde und wie schlecht es gedeutet wurde, ist bekannt. Es gibt also Weiterlesen

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Daß gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes gut / Gedeutet. Das ist aus der letzten Strophe von Hölderlins »Patmos« (Nah ist / und schwer zu fassen … etc.). Die Hymne schließt mit: Dem folgt deutscher Gesang. Was daraus zu Zeiten gemacht wurde und wie schlecht es gedeutet wurde, ist bekannt. Es gibt also gute Gründe zu fragen: Hat das irgendetwas mit uns heute, unseren politischen und medialen Umwelten und Umbrüchen zu tun? Darf man so anfangen, oder auch: so weitermachen? Haben wir Germanisten, vor allem die der vorangegangenen Generation, nicht hart an der Befreiung unseres Faches aus den Verstrickungen der Nationalphilologie einschließlich aller Idealismen, Romantizismen, Nationalismen gearbeitet? Und ist Hölderlin nicht auch irgendso’n Toter und so überforscht wie die Nordsee überfischt?

Dass soeben eine Welt in Stücke geht, ist kein hinreichender Grund, sich nicht mit dem Stand der Germanistik zu beschäftigen. Vielleicht hat den Autor des sechsseitigen Spiegel-Artikels Trumps Tweet-Taktung bewogen, sich vorübergehend der Germanistik als vertrautem Gegenstand einer Dauerempörung zuzuwenden, dem man im Unterschied zum Präsidenten der USA routiniert zu Leibe rücken kann.[1] Warum nun ausgerechnet Germanisten zum öffentlichen Protest gegen Rechtspopulismus und einen unsäglichen US-Präsidenten berufen sein sollen, erschließt sich allerdings nicht so leicht. Die Absetzung des (männlichen) Großordinarius als Hüter des Wissens und Gewissens der Nation gehört doch zu den Errungenschaften erfolgreicher Distanzierung von der Germanistik als Nationalphilologie. Die Kolleginnen und Kollegen sind der Aufforderung des Spiegel-Redakteurs, sich bemerkbar zu machen, jedenfalls nachgekommen.

Steffen Martus hat die im Artikel allzu rasch abgeurteilten Digital Humanities in Schutz genommen und dem Autor die Unvereinbarkeit der an eine eierlegende Wollmilchsau gestellten Ansprüche gelassen vor Augen geführt.[2] Die drei interviewten Kollegen (Albrecht Koschorke, Susanne Komfort-Hein und Heinz Drügh) haben sich etwas lauter gewehrt mit einer gemeinsamen Gegendarstellung in der FAZ. Unter der Überschrift Wir Todgeweihten grüßen euch haben sie Einspruch erhoben gegen die Diagnose eines sterbenskranken Faches, das nur drastisch gesundgeschrumpft Überlebenschancen habe.[3] Albrecht Koschorke, der den Leichenbestatter geben sollte, hat mit einem Radiointerview im Deutschlandfunk nachgelegt.[4] Und in der NZZ hat Frauke Berndt das Fach verteidigt. Der sich regende Unmut ist gewiss berechtigt. Man kann sich denken, was der Spiegel-Redakteur aus den Aussagen seiner Interviewpartner und dem übrigen Material gemacht hat. Nun ja, der Spiegel wäre nicht der Spiegel, wenn er anders verführe. Es waren übrigens Germanisten, Helmut Arntzen und Winfried Nolting, die einer Spiegel-Nummer des Jahres 1972 eine Analyse gewidmet haben, die sich noch heute sehen lassen kann, weil sich die journalistischen Darstellungspraktiken dieser Zeitschrift nicht wesentlich geändert haben.[5] Deshalb hat sie überlebt, und wir möchten sie nicht missen. Was dem Spiegel recht ist, sollte der Germanistik und ihren Praktiken billig sein. Doch im ungebremsten Affekt gegen die Nationalphilologie wird ohne Not an dem Ast gesägt, auf dem alle Literaturwissenschaften sitzen. Die Nationalphilologie ist das Feindbild, auf das man sich offenbar rasch einigen kann. Und wo die Geschichte der heroischen Selbstbefreiung der Germanistik aus ihren politischen Desastern nicht ausreicht,[6] ist das Argument ihrer Obsoleszenz im Zeitalter der Globalisierung rasch zur Stelle.

Zu den Besonderheiten aller Literatur (im Unterschied zur Malerei oder zur Musik) gehört jedoch unverzichtbar ihre jeweilige Einzelsprachlichkeit, was Experimente mit innertextueller Mehrsprachigkeit nicht in Frage stellen, sondern markieren und unterstreichen. Nationalphilologien gibt es, weil es deutschsprachige, englischsprachige, französischsprachige, russischsprachige Literaturen gibt. Wenn dieser Umstand ideologisch instrumentalisiert werden konnte (etwa im übrigens gescheiterten Projekt einer deutschen Nationalliteraturgeschichtsschreibung[7]), ist das noch kein Einwand gegen die Nationalphilologien als separate Fächer, deren Existenzberechtigung die Sprache und nicht die Nation ist. Zur deutschen Nation hat die Schweiz niemals gehört, aber auch dort gibt es seit langem Institute für deutsche Philologie. Die Literatursprache existiert nicht nur räumlich jenseits der Nation, sondern auch zeitlich. Auch wenn der Ungeübte das Mittelhochdeutsche wie eine fremde Sprache erlernen muss, wird niemand bezweifeln, dass es sich beim Iwein, bei Parzival oder dem Nibelungenlied um deutschsprachige Texte handelt. Auch derjenige, dem afroamerikanischer Slang, Tennisjargon und (fiktives) Quebecer Englisch unvertraut sind, wird Foster Wallaces Infinite Jest als einen englischsprachigen Text behandeln. Bei den anderen Nationalphilologien tritt die territoriale Zerstreuung und innere Vielsprachigkeit der einen Sprache häufig offensichtlicher hervor; die Anglistik etwa kennt nicht nur das Englische, sondern auch das US-Amerikanische und die Anglophonie. Andere Nationalphilologien wie Romanistik oder Slawistik vereinen verschiedene Sprachen zu einem Fach.

Die Einsprachigkeit aller Literatur ist natürlich gar nicht denkbar ohne die Vielfalt der Sprachen, von denen die eine sich unterscheiden muss, damit das endlose Feld der Verflechtungen, der Übersetzungen und Absetzungen, der wechselseitigen Beeinflussungen, intertextuellen Bezüge und der Plastizität einer jeden Sprache überhaupt beobachtbar wird. Gerade auf diesem Gebiet ist seit Deleuzes und Guattaris Studie zu den »kleinen Literaturen«, seit Saids Orientalismus-Arbeit viel geforscht worden[8] – und noch immer reichlich zu tun, wie etwa das Berliner Projekt »Zukunftsphilologien« deutlich macht.[9] Das alles gerät aber nicht in den Blick, wenn man so tut, als gäbe es irgendwo eine Literatursprache, die nicht einzelsprachlich ist, oder als gäbe es eine Existenzberechtigung der Literaturwissenschaften jenseits der jeweiligen Einzelsprachlichkeit. Wenn Geschichte und Deutung der sprachlichen Formen und Verfahren unser Geschäft ist, dann muss es weiterhin deutsche und andere Philologien geben. Dass die Sprachen, die in ihnen abgefassten literarischen Gebilde und auch die ihnen gewidmeten Wissenschaften der Zeit und damit dem Wandel unterworfen sind, schützt sie vor Überforschung. Bestehendes ist immer neu gut zu deuten. Aber nicht alles Bestehende ist beständig. Die Prüfung des Bestandes des Bestehenden, seine Reduktion und seine Erweiterung, ist auch unsere Aufgabe. Das heißt Kanonbildung. Der Überdruss, der sich im Vorwurf der Überforschung ausdrückt, hat wohl eher mit dem Ungenügen an Moden und Maschen, Trends und Turns des Betriebs zu tun, der wir auch sind.

Zur bitteren Ironie der Attacken auf den bösen Buben der Germanistik als Nationalphilologie gehört ihre Blindheit für die Situation unserer Kolleginnen und Kollegen der sogenannten Auslandsgermanistik, ohne die wir ein gutes Stück ärmer wären. Nicht erst seit Trump die Parole »America First« ausgegeben hat, droht den German Departments der USA wie allen dortigen Humanities eine wirkliche Krise. Nur zu gerne würden die Administrationen der Universitäten der USA die Nationalphilologien abschaffen und gleich alle Literaturen in einem einzigen Department versammeln, vielleicht für Weltliteratur oder europäische Literaturen, was es vielerorts bereits gibt. So wichtig und bereichernd die Bemühungen um das Konzept der Weltliteratur wie übrigens auch alle anderen jüngeren Gegenstandserweiterungen in den Geisteswissenschaften (einschließlich neuer Fächer wie Medien- oder Kulturwissenschaften) sind, so wenig dürfen und können die Philologien von der Einzelsprachlichkeit ihrer Gegenstände absehen. Wer sich von der polyglotten Lebendigkeit der (National-)Philologien überzeugen möchte, lese den soeben im Journal of the History of Ideas erschienen Rezensionsessay von Andrew Hui, »The Many Returns of Philology. A State of the Field Report«.[10] Mit dem dort versammelten Material könnte man einige Lehrveranstaltungen bestücken. Es müssen ja nicht immer Netflix-Serien sein.

Gerade weil die Wissenschaftspolitik derzeit eine Katastrophe ist (was die Kollegin Komfort-Hein sehr deutlich gesagt und der Spiegel auch gedruckt hat) und die Verschulung im BA ein Fehler bleibt, gerade weil die ›digital disruption‹ auch uns betrifft und gerade weil derzeit eine politische Welt in Stücke geht, dürfen wir die selbstverständlichen Voraussetzungen unserer Fächer, in diesem Fall: der Germanistik, nicht preisgeben.

Vielleicht ist die Unverzichtbarkeit der vielen verschiedenen ›Nationalphilologien‹, einschließlich noch gar nicht entdeckter, geschweige denn institutionalisierter ›Zukunftsphilologien‹, auch ein Lehrstück über Interdisziplinarität im Allgemeinen. Inter- und Transdisziplinarität darf nicht heißen, die jeweilige Einzelsprachlichkeit als Voraussetzung unserer Arbeit zu negieren. Auch Fachsprachen sind zunächst Einzelsprachen. Interdisziplinarität kann sich nur entfalten, solange es Disziplinen und die Konkurrenz unter ihnen gibt. Alles andere wäre entweder vormoderne Universalwissenschaft oder fiele unter das bereits erreichte wissenschaftliche Niveau. Im Unterschied zu anderen sehr viel stärker ausdifferenzierten Wissenschaften verfügen die Philologien mit der jeweiligen Einzelsprachlichkeit bereits über ein Fundament. Nationalphilologie heißt: Wir sind Legion. Das ist nicht wenig, und wir dürfen es umso weniger aufgeben, als derzeit um das Überleben kleinerer philologischer Fächer gerungen wird (etwa der Germanistik in den USA oder einzelner osteuropäischer Philologien hierzulande).

Ja, die Germanistik ist in Deutschland ein sehr großes Fach. Aber auch ein viel gebrauchtes, ein gerade jetzt notwendiges, wenn man endlich einmal darüber nachzudenken anfinge, was Integration heißt und welche Rolle dabei, weit über den Spracherwerb hinaus, die Literatur spielt, wenn die Unterfinanzierung der Hochschulen aufhörte, die zur Eskalation von Drittmittelanträgen führt, was einerseits die zunehmende Geringschätzung der Lehre und andererseits den bottleneck in der Postdoc-Phase zur Folge hat. Allerdings gibt es auch heute, auch jenseits von Schule und Universität, weiterhin eine Fülle von Berufsfeldern für Germanistikabsolventen. Was wären denn die Feuilletons der großen Zeitungen, die Radiosender, die Onlinemagazine ohne sie? Auch der Autor des Spiegel-Artikels ist (oder war) vom Fach.

Den drei vom Spiegel auch befragten Frankfurter Studierenden scheint es trotz schwieriger Studienbedingungen weder an Mut und Zuversicht noch an Begeisterung für ihr Studium zu mangeln. Solange die nicht verzagen, können wir auch selbstbewusster sein und sollten uns vor allem hüten, das Kind der einzelsprachlichen Literatur mit dem Bade der Nationalphilologie auszuschütten.

Die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

[1] Martin Doerry: »Wer war Goethe? Keine Ahnung, irgendso’n Toter«, in: Spiegel 6 (2017), S. 104ff. (aufgerufen am 14.02.2017).

[2] Steffen Martus: »Der eierlegende Wollmilchgermanist wird dringend gesucht«, in: FAZ, 08.02.2017 (aufgerufen am 14.02.2017).

[3] Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke: »Wir Todgeweihten grüßen euch«, FAZ, 09.02.2017 (aufgerufen am 14.02.2017).

[4] Albrecht Koschorke im Gespräch mit Britta Fecke: »Präsenz von Germanisten im öffentlichen Raum ist groß«, Deutschlandfunk, 09.02.2017 (aufgerufen am 14.02.2017).

[5] Helmut Arntzen und Winfried Nolting (Hg.): »Der Spiegel« 28 (1972). Analyse, Interpretation, Kritik, München 1977.

[6] Die einschlägigen Bände liegen schon etwas länger zurück und fallen in die Zeit der Spiegel-Analysen von Arntzen und Nolting. Vgl. Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eberhard Lämmert, Walter Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz, Frankfurt a.M. 1967; Ansichten einer künftigen Germanistik, hg. Jürgen Kolbe, München 1969; Wie, warum und zu welchem Ende wurde ich Literarhistoriker, hg. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1972. Die Aufarbeitung dieser Geschichte der Aufarbeiten dann in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hg. Wilfried Barner u. Christoph König, Frankfurt a.M. 1997.

[7] Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989; vgl. auch Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003 (zuerst München 1989).

[8] Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt a.M. 1976; Edward W. Said: Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt a.M. 2009.

[9] Aufgerufen am 14.02.2017.

[10] Andrew Hui: »The Many Returns of Philology. A State of the Field Report«, in: Journal of the History of Ideas 78.1 (2017), S. 137–156.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Für die Einzelsprachlichkeit der Literatur. Nebenbemerkung zum jüngsten Streit um die Germanistik, in: ZfL BLOG, 17.2.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/02/17/eva-geulen-fuer-die-einzelsprachlichkeit-der-literatur-nebenbemerkung-zum-juengsten-streit-um-die-germanistik/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170217-01

Der Beitrag Eva Geulen: FÜR DIE EINZELSPRACHLICHKEIT DER LITERATUR. Nebenbemerkung zum jüngsten Streit um die Germanistik erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/02/17/eva-geulen-fuer-die-einzelsprachlichkeit-der-literatur-nebenbemerkung-zum-juengsten-streit-um-die-germanistik/feed/ 2