Goethe Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/goethe/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 24 May 2024 08:53:55 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Goethe Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/goethe/ 32 32 Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/ Fri, 24 May 2024 08:22:47 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3300 Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Weiterlesen

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Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt.[3] Obwohl das Wort »dämonisch« nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren.

Gemäß Goethes berüchtigter Antidefinition in Dichtung und Wahrheit (1831) manifestiert sich das Dämonische nur als Widerspruch. Seine Struktur ist ein Weder-noch: weder göttlich noch menschlich, weder teuflisch noch engelhaft, weder unvernünftig noch verständig, weder Zufall noch Vorsehung. Während die Dämonen von Anbeginn von Dämonologien eingehegt wurden, zelebriert das Dämonische einen Bruch mit dem Logos. Deshalb wandert es aus dem Bereich der Theologie und Philosophie in ästhetisch-existenzielle Zusammenhänge: Goethe, der das Dämonische in einer Entscheidungskrise erlebte, flüchtet sich gegen Ende seiner gescheiterten Definition »hinter ein Bild«, womit er die literarische Figur seines Egmont meint.[4] Bei Georg Lukács fließt das Dämonische schließlich in die Theorie des Romans ein.[5] Das Dämonische streift die Phantastik ab und wird zum Signum der Moderne.[6]

Auch Benjamin assoziiert das Dämonische mit der Moderne. Er nähert sich der ambivalenten Kategorie in mehreren Texten und aus unterschiedlichen Richtungen: von Goethe in seinem großen Wahlverwandtschaften-Aufsatz (1924/25), von Karl Kraus, den Benjamin als dämonische Gestalt einer unerlösten Moderne porträtiert,[7] oder vonseiten der jüdischen Dämonologie – wie nicht zuletzt Giorgio Agamben (der Partei für die Engel ergreift) auf den Spuren von Gershom Scholem betont.[8] Aus diesen Blickwinkeln zeigt sich das Dämonische tief in Benjamins Geschichts- und Sprachphilosophie eingebettet. Dagegen nimmt Das dämonische Berlin, das in der Forschung kaum Beachtung fand, eine scheinbar naive, kindliche Perspektive ein. Das Dämonische offenbart sich ausgerechnet in »einer klaren prosaischen Stadt«, die dem Aberglauben und Ominösen abschwören will.[9]

Die Wendung »dämonisches Berlin« stammt von dem Germanisten und Museumsdirektor des Märkischen Museums Otto Pniower, der in einem Aufsatz historische Berliner Schauplätze in Hoffmanns Erzählungen identifizierte.[10] Benjamin, der Pniowers Ansatz folgt, eröffnet Das dämonische Berlin mit einer Kindheitserinnerung: Als er vierzehn Jahre alt war, kam der Komponist und Musikschriftsteller August Halm in seine Schule, um Hoffmann vorzulesen. Wozu jemand solche unerklärlichen Geschichten schreibe, wollte Halm bei einem späteren Besuch erklären. Dazu kam es nicht, und so versuchte Benjamin, die Frage selbst zu beantworten. In einem ersten Schritt ersetzte er das Wozu durch ein Warum: Warum schreibt einer so bizarre Geschichten? Seine Antwort: Hoffmann gehört zu denjenigen Schriftstellern, die »von ihren Figuren besessen sind«, von phantastischen Visionen heimgesucht werden und sich erst beruhigen, wenn sie diese niederschreiben.[11]

Einen Monat nach Ausstrahlung von Das dämonische Berlin, im März 1930, führte Benjamin seine Antwort in dem Vortrag E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza für den Frankfurter Rundfunk weiter aus: Hoffmann erzähle Geschichten, »um die Figuren, Arabesken, Ornamente festzuhalten, in denen alte Geister- und Naturdämonen ihr Wirken in der Tageshelle des neuen Jahrhunderts […] einzuzeichnen suchen«.[12] Er verleihe archaischen Naturmächten, die in der Moderne verdrängt wurden, ein Sprachrohr. Das Dämonische wird zur Wiederkehr der vorgeschichtlichen Dämonen in der »Tageshelle«. Der Dichter erscheint folglich als ein von besessenen Figuren Besessener, als dämonisches Medium. Sein Schreiben ist ein Exorzismus.

In einem zweiten Schritt thematisiert Benjamin die Wirkung von Hoffmanns Texten: Die dämonischen Mächte, von denen sich der Dichter schreibend befreit, fahren in die Leserinnen und Leser seiner Geschichten. Benjamin erinnert sich, wie er, als seine Eltern einmal nicht zu Hause waren, als Kind heimlich Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) las und plötzlich »alle Schrecken wie Fische mit stumpfen Mäulern sich allmählich in der umgebenden Dunkelheit um die Tischkanten sammelten, so dass meine Augen wie an einer rettenden Insel sich auf die Buchseiten hefteten, aus denen doch alle diese Schrecken kamen«.[13] Das Dämonische verwandelt sich von einer Naturmacht in eine literarische Überwältigung. Das Medium Schrift wird zum Ursprung der dämonischen Versuchungen, vor denen es uns zugleich zu retten verspricht. Nicht mehr der Autor oder der Text, sondern die Lesenden sind nun dämonisch.[14]

Die »Fische mit stumpfen Mäulern« sind ein Echo der Bergwerke zu Falun, deren Protagonist Elis Fröbom vom Meeresgrund träumt, um in der Dunkelheit eines Stollens zu verschwinden. Doch zugleich erinnern sie an die Dämonen, die den Heiligen Antonius auf zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Darstellungen aus der Dunkelheit bedrängen. So bildet sich etwa auf einem Gemälde von Jan Brueghel d. Ä. (1603/04), das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet, ein dämonischer Lesekreis um den Heiligen, der sich in einer grotesken nächtlichen Landschaft in ein Buch vertieft. Die Dämonen werden von dem Licht und der Lektüre angelockt, die sie seltsamerweise selbst erst ermöglichen: ein Frosch-Dämon leuchtet dem lesenden Antonius mit der Fackel. Das Dämonische offenbart sich im hermeneutischen Drama von Dunkelheit und rettendem Licht der Schrift.[15]

Nach dieser Lektüreszene kommt Benjamin in einem dritten Schritt wieder auf den Dichter zurück, dem er ein erzählerisches »satanisches« Wissen attestiert, das »die Geister unter ihrer raffiniertesten Verkleidung aufspürt«.[16] Eine solche Gabe hätte man früher in der monastisch-mystischen Tradition, die Antonius repräsentiert, als »Unterscheidung der Geister« bezeichnet.[17] Bei Benjamin erscheint sie in einem profanen urbanen Licht: Hoffmann erfinde seine Gestalten nicht, er erspähe sie in der Großstadt (nicht in der Wüste). Er entdecke sie hinter der Fassade des preußischen Bürger- und Beamtentums, dem der Autor selbst angehört. Für ihn sei immer »Geisterstunde«, auch »in diesem vernünftigen Berlin am hellen Mittag« begegne ihm das Dämonische.[18] Daher sei er »weniger ein Seher, als ein Anseher«; ein genauer Beobachter, ein »Physiognomiker von Berlin«, der eine Tradition gründet, die laut Benjamin in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) kulminiert.[19]

Die alte »Unterscheidung der Geister« wird zur Physiognomie. Man könnte mit Georg Friedrich Lichtenberg – dem Benjamin sein letztes Hörspiel Lichtenberg. Ein Querschnitt (1933) widmete – von einer Pathognomik sprechen, der Beobachtung der affektiven Regungen und Bewegungen. Das ist die »Kunst zu schauen«, wie wir sie insbesondere in Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) finden: Das Alltagstreiben auf dem Berliner Gendarmenmarkt wird aus diesem »Eckfenster der Moderne«[20] zu einem Wimmelbild in »Callots Manier« – man denke an Jacques Callots Radierung Die Versuchungen des Hl. Antonius (zweite Version 1635), die Hoffmann in der Einleitung seiner Fantasiestücke (1814/15) erwähnt (und die später über Gustave Flauberts Arbeitstisch hing). Das Phantastische konvergiert bei Hoffmann mit dem Realistischen, den Versuchungen des Marktes. Das Dämonische äußert sich in den anonymen urbanen »Figuren, Arabesken, Ornamenten«, die die individuellen Schicksale bestimmen und deren historische Schichtungen Benjamin in seinen eigenen Berlin-Texten untersucht.[21] Damit wird endlich das Wozu geklärt – nicht das Wozu des Dichters, sondern das des Lesens: Wir sollen Hoffmanns Texte lesen, als ob ihr Zweck darin bestünde, die affektiven, sozialen, ökonomischen Zwänge aufzudecken, die sich hinter der scheinbaren Tageshelle unsrer eigenen Gegenwart immer noch verbergen. So endet Das dämonische Berlin mit einer Lektüreanweisung.

Abschließend möchte ich eine weitere Ebene andeuten, die Benjamin nicht dezidiert anspricht: 25 Jahre nach seiner Begegnung mit Halm, der 1929 starb, schlüpft Benjamin in dessen Rolle, um lauschenden Kindern eine Antwort zu geben. Der Vortrag ist damit selbst eine dämonische Wiederkehr; die Radiostunde eine Geisterstunde. Das junge Medium des Radios, das den mesmeristischen Phantasien und unheimlichen Automaten Hoffmanns entgegenkommt, musste zwangsläufig als dämonisch empfunden werden. Das »Stimmenhören« wird zur elektromagnetischen Technik. Benjamin, der in einem Brief an Scholem erwähnt, dass er ein »Hörfunkspiel über Spiritismus« plant,[22] ist sich der spiritistischen Anklänge des Medienbegriffs bewusst. Im Vortrag über Hoffmann und Panizza betont er – unter Rückgriff auf die Erzählung Die Automate (1814) –, dass Hoffmann Musiker, nicht bloß Physiognomiker war. Als solcher habe er »wirkende Zusammenhänge mit der fernsten Urzeit« im »Hörbaren« erkannt.[23] Dies gilt für den Gesang und die Musik, in der die Romantik einen verzerrten Nachhall einer natürlichen pantheistischen Harmonie erkennen will. In der Maschinenmusik, die in Die Automate verdammt wird (man denke an den aktuellen Widerstand gegen KI in der Musikindustrie), äußert sich hingegen das dämonische Prinzip der Moderne, welche das Radio mit der lebendigen Stimme versöhnen wird. Für Benjamin überwindet das Radio diesen »manichäischen« Dualismus von »Schein und Leben«, Technik und Liebe, den Hoffmann verficht.[24] Das Radio ermöglicht eine Chance, die dämonische Moderne mit dämonischen Mitteln zu überwinden.

Jakob Moser ist Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Philosophie der Universität Wien und forscht zur Geschichte und Theorie dämonischer Trugbilder. Im Sommersemester 2024 ist er Gastwissenschaftler am ZfL.

[1] Siehe hierzu den grundlegenden Sammelband: Eva Geulen/Kirk Wetters/Lars Friedrich (Hg.): Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014.

[2] Goethe schreibt in seiner polemisch zugespitzten Übersetzung von Walter Scotts Essay über Hoffmann: »Es ist unmöglich, Märchen dieser Art irgendeiner Kritik zu unterwerfen; […] es sind fieberhafte Träume eines leichtbeweglichen kranken Gehirns.« Zit. nach: Hartmut Steinecke: »Kommentar«, in: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 3, hg. v. dems., Frankfurt a.M. 2009, S. 949.

[3] Vgl. Walter Benjamin: »Das dämonische Berlin«, in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Christoph Göde/Henri Lonitz, Bd. 9.1: Rundfunkarbeiten. Texte, hg. von Thomas Küpper/Anja Nowak, Berlin 2017, S. 206–212, hier S. 206-212.

[4] Dies betont Martina Wagner-Egelhaaf: Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020, S. 170ff.

[5] Vgl. Kirk Wetters: »The Luciferian and the Demonic in Georg Lukácsʼ ›Die Theorie des Romans‹«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 243–266. Siehe auch das Projekt von Patrick Eiden-Offe am ZfL.

[6] Dies verhindert freilich nicht, wie Martina Wagner-Egelhaaf kürzlich in einem Vortrag im Warburg-Haus in Hamburg demonstrierte, dass Dämonen als metaphorische Kräfte in Gegenwartsliteratur und ‑theater Hochkonjunktur haben.

[7] Vgl. Eva Axer: »Alldeutig, mehrdeutig, undeutig. Walter Benjamins ›Bezwingung‹ dämonischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 325–343.

[8] Vgl. Giorgio Agamben: »Walter Benjamin und das Dämonische«, in: ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. von Francesca Raimondi, Frankfurt a.M. 2013, S. 237–273.

[9] So der Philosoph Fritz Mauthner, der über Goethes »Aberglauben« bezüglich des Dämonischen schreibt: »je höher ein Mensch, desto mehr stehe er unter dem Einfluß der Dämonen; Raphael, Mozart, Napoleon, auch Lord Byron, werden dämonisch genannt; das Dämonische werfe sich gern an bedeutende Figuren; in einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren.« Zit. nach Cornelia Zumbusch: »Dämonische Texturen. Der Durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 79–95, hier S. 79.

[10] Vgl. Otto Pniower: »E. T. A. Hoffmanns Berlinische Erzählungen«, in: Archiv der Brandenburgia. Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin 12.II (1907), S. 6–25. Vgl. auch Michael Bienert: E. T. A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze, Berlin 2015.

[11] Vgl. Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 207.

[12] Walter Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza«, in: ders.: Rundfunkarbeiten (Anm. 3), S. 458–467, hier S. 461.

[13] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 208.

[14] Dies argumentiere ich ausführlich in meinem Buch Lesende Dämonen. Schrift als Versuchung, Wien/Berlin 2022.

[15] Zu Brueghels Bild ebd., S. 42–47.

[16] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[17] Zu diesem Begriff siehe z.B. Niklaus Largier: »Rhetorik des Begehrens. Die ›Unterscheidung der Geister‹ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität«, in: Martin Baisch u.a. (Hg.): Inszenierung von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein i. Ts. 2005, S. 249–270.

[18] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[19] Vgl. ebd., S. 210.

[20] Ich übernehme diesen Ausdruck von Helmut Lethen: »Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann«, in: ders.: Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg. i. Br. 2009, S. 9–42.

[21] Zu Benjamins Straßen-Literatur vgl. Gerhard H. Hommer: Attraktionen der Straße. Eine Berliner Literaturgeschichte 19271932, Göttingen 2021.

[22] Dies bemerkt Reinhard Döhl: »Walter Benjamins Rundfunkarbeit«, in: Stuttgarter Schule.

[23] Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza« (Anm. 12), S. 461.

[24] Vgl. ebd., S. 462.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Jakob Moser: »Das Dämonische Berlin«: Walter Benjamin über E. T. A. Hoffmann, in: ZfL Blog, 24.5.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240524-01

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Elisa Ronzheimer: »Poetischer Polyp« – ZUR FORM DES EPOS https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/04/23/elisa-ronzheimer-poetischer-polyp-zur-form-des-epos/ Mon, 23 Apr 2018 08:20:08 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=740 Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer (1795) waren in der intellektuellen Welt des späten 18. Jahrhunderts eine kleine Sensation. Wolf zeigte in seiner Schrift, dass die großen Epen der Antike – die Ilias und die Odyssee – nicht Produkt eines einzigen genialen Schöpfers waren, sondern »dieser kunstvolle Aufbau erst das Werk späterer Jahrhunderte« war.[1] Er Weiterlesen

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Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer (1795) waren in der intellektuellen Welt des späten 18. Jahrhunderts eine kleine Sensation. Wolf zeigte in seiner Schrift, dass die großen Epen der Antike – die Ilias und die Odyssee – nicht Produkt eines einzigen genialen Schöpfers waren, sondern »dieser kunstvolle Aufbau erst das Werk späterer Jahrhunderte« war.[1] Er konnte nachweisen, dass einzelne Gesänge und ihre Anordnung aus der Zeit nach Homer stammten, womit die Prolegomena einen Angriff auf die Identität des poetischen Übervaters Homer und darüber hinaus auf die einheitliche Form der antiken Epen bedeuteten.

Die Frage der ursprünglichen Formeinheit des Epos wurde von den Zeitgenossen heiß diskutiert, und bis weit ins 19. Jahrhundert spalteten sich die Leser der Prolegomena in die zwei Lager der »Kleinliederjäger« und der »Einheitshirten«.[2] Dass das Problem der epischen Formeinheit die Gemüter er­­hitzte, ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es beim »Epos als einheitsvoller Totalität«[3] (Hegel) um nichts Geringeres geht als einen Gründungsmythos der modernen Literatur. Denn der Roman, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur dominanten literarischen Gattung entwickelte, bezog sich auf das Epos als seinen Fluchtpunkt. Dabei definierte sich der Roman als heterogenes Gebilde durch den Gegensatz zu der vermeintlich homogenen Formeinheit des Epos. Diese Gegenüberstellung wurde durch Wolfs Zweifel an der ursprünglichen Einheit des Epos radikal infrage gestellt.

Die Zweifel waren freilich nicht neu, denn die formale Einheit des Epos ist seit jeher umstritten gewesen. So beantwortet Aristoteles in seiner Poetik die Frage, ob die epische oder die tragische Nachahmung vorzuziehen sei, mit dem Hinweis, dass die Nachahmung im Epos weniger einheitlich sei als in der Tragödie und daher auch weniger vollkommen. Zwar bildeten sowohl Epos als auch Tragödie eine geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende ab, doch sei das epische Handlungsgefüge, anders als das tragische, durch ›Handlungsvielfalt‹ bestimmt.

Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich das Epos zum Inbegriff formaler Einheit. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik definiert Hegel den Roman als »moderne bürgerliche Epopöe« im Gegensatz zum antiken Epos. Dessen einheitliche Form setze eine »Totalität der Weltanschauung« voraus, die für den modernen Schriftsteller, der sich einer »zur Prosa geordneten Wirklichkeit« konfrontiert sieht, nicht mehr einzuholen sei.[4] Dieses Eposverständnis prägt die Literaturgeschichte bis in 20. Jahrhundert. Ein prominentes und einflussreiches Beispiel ist Georg Lukács’ Theorie des Romans von 1916. Lukács argumentiert, dass Totalität für das Epos eine unzweifelhafte Gegebenheit sei, der Roman sie hingegen erst konstruieren müsse:

»Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen.«[5]

Vor diesem Hintergrund wird die Sprengkraft von Wolfs These erst recht deutlich: Begreift man das Epos als »Flickwerk« (so Goethe in einem Gedicht mit dem Titel »Homer wieder Homer«, in dem er sich von Wolfs Arbeit distanziert), dann ist es eigentlich immer schon Roman gewesen.[6] Die prototypische ›Form des Ganzen‹ entpuppt sich als poetologische Phantasmagorie der Moderne. Diese Diagnose ist dem Epos auch in jüngerer Zeit gestellt worden,[7] sie beantwortet die Frage nach den Formen des Ganzen aber nur zum Teil. Wolfs Pro­legomena entlarven die Vorstellung von der einheitlichen Form des Epos als Fiktion. Offen bleibt aber, ob Formen des Ganzen auch ohne ›ganze Formen‹ möglich sind. Anders gefragt: Lässt sich das Ganze umfassend darstellen ohne einen – spätestens im 20. Jahrhundert fragwürdig gewordenen – Anspruch auf Totalität?

Der junge Friedrich Schlegel war ein be­geisterter Leser von Wolfs Prolegomena und griff in seinen Studien des klassischen Altertums die Idee des vielgestaltigen Epos auf.[8] In einem Text Über die homerische Poesie (1796), der auf Wolfs Prolegomena ausdrücklich Bezug nimmt, entwirft er das Epos als ein Ganzes, das aus Teilen besteht, die wiederum in sich geschlossene Einheiten bilden. In der Diskussion von Aristoteles’ Poetik vergleicht Schlegel das Epos mit einem Polypen, d.h. mit einem Tier, das durch die Spaltung seines Körpers zwei neue Individuen hervorbringt:

»Sehr fein bemerkt er [Aristoteles], daß die ILIADE und die ODYSSEE viele Teile enthalten, welche für sich bestehende Ganze sind; denn das epische Gedicht ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein poetischer Polyp, wo jedes kleinere oder größere Glied […] für sich eignes Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat.«[9]

Eine unendliche Teilbarkeit des Ganzen in Glieder, die wiederum ein Ganzes bilden: Die Autonomie der Einzelepisoden lässt an aktuelle Formen von Serialität, etwa in Fernsehserien, denken, bei denen die zu einem größeren Zusammenhang geordneten Episoden ihre Eigenständigkeit wahren.

Goethes Haltung zu den Thesen Wolfs war weitaus ambivalenter als die Friedrich Schlegels. Er zollte Wolfs Arbeit großen Respekt und wollte sich doch von der Idee eines umfassenden Formzusammenhangs nicht ganz lösen. Im Briefwechsel mit Schiller schreibt er dazu:

»Denn daraus daß jene großen Gedichte erst nach und nach entstanden sind, und zu keiner vollständigen und vollkommenen Einheit haben gebracht werden können (obgleich beide vielleicht weit vollkommner organisiert sind als man denkt) folgt noch nicht: daß ein solches Gedicht auf keine Weise vollständig, vollkommen und Eins werden könne noch solle.«[10]

Ein uneinheitlicher Entstehungsprozess, so Goethe, bedeute nicht, dass ein Gedicht selbst keine Einheit bilde. So lassen sich auch viele von Goethes Texten als eine Arbeit an umfassenden Formzusammenhängen verstehen, die sich aber der Formtotalität zu entziehen versuchen, etwa das Versepos Reineke Fuchs von 1793. Die Adaption der mittelalterlichen Tierfabel vom listigen Reineke Fuchs und seinem Aufstieg am Hofe des Löwenkönigs Nobel ist in Hexametern verfasst, dem Metrum der antiken Epen, und, ähnlich wie die Ilias und die Odyssee, die aus 24 Gesängen bestehen, in 12 Gesänge gegliedert. Auch die zahlreichen Binnenerzählungen im Reineke Fuchs lesen sich wie Formzitate aus den homerischen Epen. Reinekes Erzählungen sind aber allesamt Lügengeschichten, die ihm helfen, seine Verbrechen zu vertuschen. Mit seinen Listen und Lügen gleicht Reineke Fuchs dem epischen Helden Odysseus. Anders als in der Odyssee dienen die Lügen hier jedoch nicht dem Überleben und dem Schutz der Identität des Helden, sondern dem Verbergen seiner Boshaftigkeit und der Förderung seiner Karriere. Die Listigkeit des homerischen Odysseus wird durch Reineke Fuchs entstellt, wobei Goethes Versepos mehr ist als eine einfache Parodie des homerischen Modells. Es greift auf die Formstruktur der antiken Epen zurück, um Kritik an Hof und Klerus zu üben und zugleich eine moderne Form der Volkslegende zu entwerfen.

Die Auseinandersetzung mit dem Epischen vollzieht sich im Reineke Fuchs als in sich gebrochene Aktualisierung der Form; daneben gibt es aber auch den Versuch einer Überschreitung der epischen Form im Rückgriff auf andere Formtotalitäten, etwa in Goethes Projekt eines kosmologischen Romans. Goethe fasste den Plan für einen ›neuen Roman über das Weltall‹ bereits in den 1780er Jahren, hat ihn aber nie umgesetzt. Dennoch lässt sich vermuten, dass das Vorhaben einer Verbindung von offener Romanform mit einer kosmologischen Ordnung sich in Goethes spätem Roman, Wilhelm Meisters Wanderjahre, niedergeschlagen hat. Darin steht die Figur Makarie in einer übernatürlichen Beziehung zum Kosmos, indem sie »nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern […] sich vielmehr geistig als integrierender Teil darin bewege«.[11] Makaries unmittelbare Einblicke in die Ordnung des Kosmos bleiben dem Leser zwar verborgen, doch werden sie in ihrem Archiv zur Darstellung gebracht, in einer losen Sammlung aus Bemerkungen und Aphorismen. Makaries Archiv wird mit Quecksilber verglichen. Beim Lesen der Fragmente würden

»auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt.«[12]

Im Quecksilber, dem einzigen bei Raum­temperatur flüssigen Metall, fallen, indem es verdampft, unterschiedliche Aggregatzustände zusammen. Hinzu kommt seine große Oberflächenspannung: Quecksilber zerfließt nicht, sondern behält, auch bei der Zersprengung in »tausend Einzelnheiten«, seine Gestalt. Damit wird die Verbindung von offener Romanform und kosmologischer Ordnung als eine Form beschrieben, die in der Synthese verschiedener Aggregate fassbare Umrisse bewahrt. Die Subversion des Epos im Reineke Fuchs und die Kreuzung von Kosmos und Roman in den Wanderjahren sind zwei mögliche Antworten auf das Hadern mit der Formtotalität.

[1] Wolf: Prolegomena zu Homer. Ins Deutsche übertragen von Hermann Muchau, Leipzig 1908, S. 154.

[2]  So Hermann Muchau in seinem Vorwort zu der Übersetzung der Prolegomena aus dem Lateinischen, ebd., S. 15.

[3] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, Bd. II, Berlin/Weimar 1976, S. 452.

[4] Ebd., S. 450, 452.

[5] Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 49f.

[6] Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2: Gedichte 1800-1832, hg.v. Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1988, S. 536.

[7] Vgl. Heiko Christians: Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland, Freiburg i.Br. 2004; Charlton Payne: The Epic Imaginary. Political Power and its Legitimations in Eighteenth-Century German Literature, Berlin/Boston 2012.

[8] Vgl. Joachim Wohlleben: Friedrich August Wolfs »Prolegomena ad Homerum« in der literarischen Szene der Zeit, in: Poetica 28/1–2 (1996), S. 154–170.

[9] Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe, Abt. I, Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, eingel. u. hg. v. Ernst Behler, Paderborn u.a. 1979, S. 131.

[10] Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 31: Goethe mit Schiller, Teil 1, hg. v. Volker C. Dörr/Norbert Oellers, Frankfurt a.M. 1998, S. 327.

[11] Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 10: Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. v. Gerhard Neumann/Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a.M. 1989, S. 391.

[12] Ebd., S. 388.

Die Literaturwissenschaftlerin Elisa Ronzheimer arbeitet als Stipendiatin der Yale Graduate School of Arts and Sciences mit dem Projekt Poetischer Rhythmus um 1800 am ZfL. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2018/19, »Formen des Ganzen«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Elisa Ronzheimer: »Poetischer Polyp« – Zur Form des Epos, in: ZfL BLOG, 23.4.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/04/23/elisa-ronzheimer-poetischer-polyp-zur-form-des-epos/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180423-01

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