Heroismus Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/heroismus/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 24 Nov 2021 10:11:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Heroismus Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/heroismus/ 32 32 Clara Fischer: HEIMELIGES HELDINNENTUM. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/10/05/clara-fischer-heimeliges-heldinnentum-anne-webers-annette-ein-heldinnenepos/ Mon, 05 Oct 2020 08:44:09 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1565 Das Epos ist ein fruchtbares Klischee: irgendetwas mit Siegfried, Drachen, Odysseus oder Troja. Eine alte Heldengeschichte, die an sich womöglich sogar spannend ist, die man aber nicht gelesen hat und auch nicht lesen möchte. Denn das Epos ist dick und sperrig. Diese Vorannahmen sitzen tief. Mit Leichtigkeit lässt sich ein ganzes Germanistikstudium eposfrei absolvieren und Weiterlesen

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Das Epos ist ein fruchtbares Klischee: irgendetwas mit Siegfried, Drachen, Odysseus oder Troja. Eine alte Heldengeschichte, die an sich womöglich sogar spannend ist, die man aber nicht gelesen hat und auch nicht lesen möchte. Denn das Epos ist dick und sperrig. Diese Vorannahmen sitzen tief. Mit Leichtigkeit lässt sich ein ganzes Germanistikstudium eposfrei absolvieren und selbst unter den wenigen Gattungsfreundinnen und -freunden beschränkt sich das Interesse meist auf die kanonischen Werke der Antike und des Mittelalters. Man mag die Versepik daher für tot erklären; das Klischee hat aber an Lebendigkeit nicht eingebüßt und ist heute, da Namen und Taten der Besungenen zwar zitiert, sogar verfilmt, aber jenseits der Fachgelehrtenstube nicht mehr gelesen werden, vielleicht munterer denn je. Ein Versepos zu schreiben und zu veröffentlichen scheint allerdings regelrecht töricht.

Wenn man Anne Weber nun Mut bescheinigen möchte dafür, mit Annette, ein Heldinnenepos die Form des Versepos gewählt zu haben, so bedient man sich damit einer weiteren gängigen Floskel, die im Fahrwasser dieser gleichermaßen verehrten wie gefürchteten Gattung schwimmt (Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz, Berlin 2020). Mut brauchen Versepiker und Versepikerinnen (und besonders ihre Verlage) tatsächlich seit jeher, denn jenseits der Aufmerksamkeit gewählter Kreise ist mit Versepik für gewöhnlich keine breitere Leserschaft zu erreichen. Bereits im frühen 19. Jahrhundert, das dieser Form noch äußerst aufgeschlossen gegenüberstand, ertönte die Warnung:

»Wer sicher vor Gelesenwerden seyn will, schreibe jetzt ein Heldengedicht.«[1]

Der Mut, den Wortschaffende damals aufbringen mussten, war allerdings von besonderer Art, denn Homers Ilias und Odyssee, Dantes Göttliche Komödie oder, als große Entdeckung des späten 18. Jahrhunderts, das Nibelungenlied gehörten zum bildungsbürgerlichen Kanon. Sie wurden an den höheren Schulen gelesen, aus ihnen wurden Definitionskriterien destilliert und neuzeitliche Rhapsoden mussten sich einen direkten Vergleich mit Homer gefallen lassen, an dem sie fast zwangsläufig scheiterten. Den Nimbus höchster Dichtkunst hat das Epos sich zwar bewahrt, wirklich ernst nimmt ihn allerdings niemand mehr. Auch die Jurys von Deutschem Buchpreis und Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, auf deren Shortlists Annette es in diesem Herbst geschafft hat, werden kaum mit überzogenen Erwartungen an das Werk herangetreten sein, denn die Heldenepik, auf die der Titel anspielt, ist eben nur noch als Klischee kanonisch.

Dieses Klischee hat auch seine finsteren Ecken, die sich trefflich ausleuchten lassen. In der Tat erfindet Anne Weber mit ihrem »Heldinnenepos« quasi eine neue Gattung, denn die Heldendichtung rühmt klassischerweise den Mann und nicht das Weib. Doch selbst die Zeit des Mannes scheint abgelaufen zu sein. Der ›echte‹, schwertschwingende Held ist, wie verschiedentlich festgestellt wurde, als Spezies so tot wie die Gattung, die ihn besingt.[2] Der Klischeebruch ist es also, dem Anne Weber sich vom Titel an verschreibt. Entgegen dem Klischee legt sie keinen Wälzer, sondern ein recht schmales Bändchen vor, entgegen dem Klischee bedient sie sich keines komplizierten Metrums wie des Hexameters, sondern schreibt in freien Versen, die sich über weite Strecken wie Prosa lesen. Und entgegen dem Klischee hebt Weber eine Frau in den Stand der Heldin.

»Es gibt also noch wirkliche Heldinnen«, fragt der Buchumschlag, »ganz ohne Anführungszeichen, denen man auf der Straße begegnen, mit denen man reden, die man kennenlernen kann?« Die Heldin, die Anne Weber besingt, ist – auch dies recht ungewöhnlich für ein Epos – die höchst lebendige Anne Beaumanoir, genannt Annette. Erzählt wird von ihrer glücklichen Kindheit als Tochter armer, aber aufrechter Leute, vom Engagement der Siebzehnjährigen in der Résistance und der späteren Ärztin und Mutter dreier Kinder im Algerienkrieg, von ihrer Verurteilung zu Gefängnishaft, der Flucht aus Frankreich und ihrer Trennung von der Familie.

Die erste Heldentat Annettes ist ihre einzige. Im Alleingang entschließt sich die junge Frau, eine versteckte jüdische Familie vor einer bevorstehenden Razzia zu warnen. In einer Dachkammer findet sie fünf Personen vor. Wenn der Vater nach einigem Zweifeln seine beiden Kinder mit Annette, »selbst noch halb Kind«, fortschickt und die drei Halbwüchsigen einen beschwerlichen Weg durch die Nacht antreten, so gelingt Weber damit eine sehr innige und beklemmende Szene, die sich durch ihre Länge und den Verzicht auf jegliche Ironie auszeichnet. Es wird hier mit einem leisen Pathos gesprochen, vielleicht, weil die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer der NS-Zeit die letzten Heldenfiguren sind, die die Geschichte zu bieten hat und deren Taten in unserer Kultur ohne Augenzwinkern gerühmt werden dürfen.

In den vorhergehenden und in den folgenden äußerst kurzen Episoden – vornehmlich über Annettes Engagement für die Unabhängigkeit Algeriens – wird dieser für die Heldenepik typische ›hohe Stil‹ allerdings weitgehend gemieden. Weber bedient sich zumeist einer dezidiert unpoetischen, mündlich-saloppen Sprache. Bereits in der Schilderung von Annettes Kindheit erfahren wir beispielsweise, dass sie »Tochter eines Fahrradchampions, / also gut, Champions ist zu viel gesagt, / aber doch eines Sportlers, der bei der / Tour de France teilgenommen hat«, ist. Mit diesem ironischen und bisweilen etwas spöttischen Ton entkommt die Autorin dem legendären epischen Leiergesang. Ihrer Heldin wird er allerdings zum Verhängnis. Denn was man in der Erzählung einer idyllischen Kindheit noch nett finden mag, durchzieht als Grundton das gesamte Epos.

Weber übt sich wiederholt in einer Kontrastierung des Großen mit dem Kleinen, der Weltpolitik mit privaten Ängsten und Nöten. Während der Weltwirtschaftskrise haben die Eltern »ihre eigne Große Depression«, denn Annette leidet unter einer Hirnhautentzündung. Während »die Alliierten in die Normandie einfallen […] / pflückt sie Aprikosen.« Und wenn sie als angeklagte Terroristin in Frankreich den Gerichtssaal betritt, in dem sie wegen Staatsgefährdung zu zehnjähriger Haftstrafe verurteilt werden wird, begrüßt ihr Mitangeklagter sie mit Handkuss. »(Für eine Verfilmung ihres Lebens raten wir sehr / zu dieser Szene.)«

Die beklemmendsten Situationen werden dergestalt, durch latente Ironie und launige Erzählerinnenkommentare, einer unterschwelligen Verniedlichung unterzogen. Niedlich sind häufig auch die Heldinnen, die an Annettes Seite kämpfen, so eine Mitstreiterin in der Résistance, die zwar »nicht besonders helle« ist, aber »wer das Herz / auf dem rechten Fleck, also zum Beispiel nicht in / der Hose hat, dem gerät auch der Kopf, so leer er / sein mag, nicht so schnell aus der rechten Bahn«. Wenn sich eine algerische Widerstandskämpferin wirklich einmal selbst zur Heldin erklärt, honoriert die Erzählung dies mit ein paar spöttischen Kommentaren, um versöhnlich zu schließen, die Hoffärtige sei immerhin »gescheit und eine gute Gefängniskameradin«.

Es wäre diese Verniedlichung ein erträgliches Stilmittel, wenn es etwas sparsamer eingesetzt würde und wenn es nicht so typisch gerade für das weibliche Sprechen wäre. Die Extreme, sei es das der Hinterhältigkeit oder das des Leidens, bleiben in diesem Epos seltsamerweise vornehmlich wieder den Männern vorbehalten. Die Frauen versuchen ihr Bestes und nehmen sich selbst und ihre Taten nicht allzu ernst. Zum Heldinnentum gehört anscheinend die Verschleierung desselbigen.

So ungewöhnlich dieses ironisch-putzige Sprechen für ein Epos zunächst wirken mag – es gibt durchaus eine Tradition, in der sich Weber damit bewegt: die der Biedermeierepik. Diese Spielart, die auf geringen Umfang, freiere Verse, idyllische Szenerien und das Heldentum des Heimeligen setzt, feierte zeitweise große Erfolge. Auch Weber übt sich in einer wiederholten Verkleinerung und Verhäuslichung der Geschehnisse und Empfindungen. Da wird der Inhaftierten von einer muslimischen Gefängnisinsassin das Verspeisen einer Weihnachtsgans verboten, Konsequenz: »Alles schläft, einsam wacht und heult Annette.«

Für die Heldin geht es natürlich nicht so lustig zu wie für die Erzählerin. Von deren Ängsten, Zweifeln und Nöten erfahren wir immer wieder, allerdings in einem reportagehaften Stil, der selbst existentielle Sorgen zum kleinen Intermezzo macht. Obgleich uns versichert wird, das Epos schildere nur eine Auswahl von Annettes spektakulärsten »Weltverbesserungsversuchen«, hätte ein noch größerer Mut zur Lücke vermutlich nicht geschadet, denn im Bestreben, möglichst umfassend von ihren Taten zu erzählen, reiht die Autorin stakkatoartig kurze Szenen aneinander, von denen nur wenige eine Intensität erreichen wie die der Judenrettung. Weber beschränkt sich meist auf ein abstraktes Berichten, das von Respekt und zugleich einer Ironisierung alles Respektheischenden getragen ist. Durch diesen Stil erfahren wir zwar, was Annette erlebt und fühlt. Nachvollziehen, mitempfinden können wir es aber nicht.

Wichtiger als Nachvollziehbarkeit scheint der Erzählerin die Rechtfertigung ihrer Heldin zu sein. Das Engagement Annettes im Algerienkrieg erschöpft sich eben nicht in einer Heldentat, mit der ganz konkret zwei Menschenleben gerettet werden, sondern in der Unterstützung der Widerstandskämpfer als »Kofferträgerin« in Frankreich, später als Mitarbeiterin des algerischen Gesundheitsministeriums. Ihre Aktionen dienen höheren politischen Zielen und entbehren damit einer unmittelbaren Wirksamkeit. Ein solches Handeln als Heldentum zu verkaufen, ist um einiges komplizierter, denn ob und wie Menschen davon zukünftig profitieren und wieviel Schaden Annette, wenn auch unwissentlich, mit ihrem Engagement anrichten mag, bleibt im Moment des Handelns ungewiss und wird im historischen Rückblick hier und da fragwürdig. So ergeht sich das Epos über weite Strecken nicht allein darin, von Annettes Erlebnissen zu berichten, sondern vor allem, sie zu rechtfertigen.

Eine Heldin braucht eine Sache, für die sie streitet. Wofür kämpft die moderne Heldin? Eine Nation ist es natürlich nicht, auch kein König, keine Partei, es sind »Prinzipien« und »Ideale«, von denen im Text schon früh die Rede ist, die aber bis zuletzt merkwürdig hohl und schwammig bleiben: Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung. Von diesen Wörtern, einem Minimalkonsens dessen, was derzeit als heldentatenwürdig gelten könnte, wird der allzu hartnäckige und nicht selten in offensichtliche Naivität abdriftende sozialistische Traum der Heldin beschirmt. Falsch scheinen nicht die Ideale Annettes zu sein, sondern die Realität:

»Annette träumt noch den
Traum eines sozialistischen, gerechten Landes und
ahnt nicht – will vielleicht nicht ahnen,
sondern hoffen –, was diese Männer später mal
draus machen.«

Der Held der Heldenepik bekümmert sich nicht darum, ob eine weltliche Moralinstanz seine Taten gutheißt. Die Figur Annette hingegen leidet unter einem latenten Rechtfertigungsdruck, den die Erzählerin selbst heraufbeschwört. Dass alle Einwände, die man gegen bestimmte politische Aktionen einbringen könnte, artig ausformuliert und unentwegt die Dilemmata der Annette geschildert werden, schadet der Heldin mehr, als es ihr nützt. Es geht viel Raum darauf, uns Annettes guten Willen glaubhaft zu machen, statt die Sinnhaftigkeit ihres Tuns im Handeln selbst zu zeigen. Reflexion folgt auf Reflexion, die Leserin gerät unter den Dauerbeschuss einer expliziten Fragerei danach, was zum Engagement treibt, ob es richtig oder falsch ist, ob man anders handeln könnte. In summa laufen diese Bemühungen auf eine ausgedehnte Apologie hinaus: Diese Heldin soll allen gefallen. Uns wird erzählt von einer Frau, die »alles richtig machen [will]« und »vielleicht nicht jedem, aber vielen ein / Bett anbietet und ein Essen reicht«. Wenn eines ihrer Kinder unter den Umständen leidet, beruhigt uns die Erzählerin: »Schlimmere Vorwürfe als sie, / Annette, sich selber macht, kann keiner leicht erheben.« Und wenn es noch etwas heikler wird, wenn Annette nach der Befreiung Algeriens sich unguten Entwicklungen nicht entgegenstellt, dann

»vielleicht, weil sie es gar nicht merken will, es wär ja
nicht das erste Mal, dass jemand das nicht sieht, was er
nicht sehen will, weil es nicht passt in das Tableau,
das ging doch jedem schon mal so.«

Ja, das ging jeder schon mal so, und deswegen sind Heldinnen so selten.

***

Das Klischee des Heldenepos hat Weber erfolgreich unterlaufen. Allerdings um den Preis, ein anderes Klischee zu bedienen: das der selbst in ihren großen Taten durch ihr schieres Weiblichsein irgendwie putzigen Frau. Durch einen doppelten Klischeebruch – Weber verweiblicht den Helden, um sogleich den Heldengesang zu verabschieden – gerät die Heldin zur Totgeburt. Was bleibt, ist ein Epos über eine Frau, die das Herz am rechten Fleck hat. Die Biedermeierepik hat damit gut anderthalb Jahrhunderte nach ihrem Niedergang eine würdige Nachfolge gefunden.

Gibt es wirkliche Heldinnen, ganz ohne Anführungszeichen? Nach Lektüre von Annette muss man sagen: Offenbar nicht. Es mag von der Autorin (und vor allem von ihrem Verlag) mutig sein, sich an ein Versepos zu wagen. Der Mut beschränkt sich in diesem Falle allerdings auf ein etwas kokettes Spiel mit einschlägigen Gattungsklischees. Man hätte sich noch mehr Mut gewünscht, nämlich den, uns eine Heldin zu präsentieren, ohne Rücksicht darauf, ob deren Heldentaten allen Moralaposteln gefallen. Ein wenig mehr Mut zum Gestalten – ein Text muss Fragen nicht stellen, um sie aufzuwerfen – und zum Vertrauen in die Leserin, der durch die vorgefertigten Dauerreflexionen wenig Möglichkeiten bleiben, eigene Gedanken aus Annettes Lebensgeschichte zu entspinnen.

Man hätte sich auch Mut gewünscht zu dem, was in Epostheorien ›Anschaulichkeit‹ und ›Pathos‹ heißt. Der Verzicht auf Letzteres gilt in der Gegenwartsliteratur gemeinhin als rühmlich, was auch daran liegen dürfte, dass es sich um eine komplizierte Tonart handelt, in der man intonatorisch schlimm danebenliegen kann. Doch auch die Ironie will wohldosiert sein. Es ist gewiss riskant, in einem hohen Stil zu singen. Aber einen Versuch wäre es wert und einer Heldin würdig.

 

Die Germanistin Clara Fischer war bis 2019 Mitarbeiterin am ZfL. Ihr Dissertationsprojekt »Experimentierfeld Versepos (1918–1933)« wird seit August 2019 vom Cusanuswerk gefördert.

 

[1] Ignaz Jeitteles: »Roman«, in: ders.: Aesthetisches Lexikon. Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der schönen Künste. Nebst Erklärung der Kunstausdrücke aller ästhetischen Zweige, als: Poesie, Poetik, Rhetorik, Musik, Plastik, Graphik, Architektur, Malerei, Theater etc., Bd. 2, Wien 1837, S. 263–269, hier S. 264.

[2] Vgl. dazu auf dem ZfL BLOG Claude Haas: »Heldenpandemie oder Pandemiehelden? Bemerkungen zur neuesten Heroismusforschung«, 14.4.2020.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Clara Fischer: Heimeliges Heldinnentum. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos«, in: ZfL BLOG, 5.10.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/10/05/clara-fischer-heimeliges-heldinnentum-anne-webers-annette-ein-heldinnenepos/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201005-01

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Claude Haas: Heldenpandemie oder Pandemiehelden? BEMERKUNGEN ZUR NEUESTEN HEROISMUSFORSCHUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/04/14/claude-haas-heldenpandemie-oder-pandemiehelden-bemerkungen-zur-neuesten-heroismusforschung/ Tue, 14 Apr 2020 09:50:25 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1435 ›Corona-Helden‹: Sinn und Unsinn Wie in trüben Zeiten üblich, schießen Helden*innen im Augenblick wie Pilze aus dem Boden. Vor allem die Bild-Zeitung ruft seit Wochen unablässig neue »Corona-Helden« aus. In ihrer Onlineausgabe mitunter mehrmals täglich. Die restliche Presse zog bald nach. Der Verbreitung des Virus konnten die vielen Helden und die sie kürenden Instanzen freilich Weiterlesen

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›Corona-Helden‹: Sinn und Unsinn

Wie in trüben Zeiten üblich, schießen Helden*innen im Augenblick wie Pilze aus dem Boden. Vor allem die Bild-Zeitung ruft seit Wochen unablässig neue »Corona-Helden« aus. In ihrer Onlineausgabe mitunter mehrmals täglich. Die restliche Presse zog bald nach. Der Verbreitung des Virus konnten die vielen Helden und die sie kürenden Instanzen freilich von Anfang an nicht hinterherkommen. Das ist schlecht. Denn Helden sind herkömmlichen Vorstellungen zufolge eher zu schnell als zu langsam und ihre Wirkmacht hängt davon ab, dass es nur wenige von ihnen gibt. Zwar ist die Inflation des Heldentitels eine feste Signatur der Moderne, doch verrät sie stets, dass die Zeit der ›echten‹ Helden und ihrer weltbewegenden Taten schon lange vorbei ist – wenn es sie außerhalb der Literatur denn überhaupt je gegeben hat. Je mehr Helden man in nächster Zeit ans Licht zerrt, desto weniger werden sie am Ende ausgerichtet haben.

Es kommt nicht von ungefähr, dass die Seuchenbekämpfung traditionell kein heroisches Terrain gewesen ist. Denn sie setzt ein Maß an Umsicht und Organisationsfähigkeit voraus, das Helden chronisch abgeht. Helden können Staaten vielleicht gründen. Regieren oder auch nur verwalten können sie diese in der Regel nicht. Wenn jetzt allerorten zu hören ist, in der Krise schlage politisch gesehen die Stunde der Exekutive, dann täten Regierungen und ihre Apparate gut daran, auch kerngesunde Helden umgehend in Quarantäne zu schicken.

Das gilt ebenso für die Medizin. Zwar gehört die Lebensrettung zum heroischen Kernbestand, aber nicht mit Mundschutz. Davon abgesehen mussten Helden sich seit alters her auf das Töten besser noch als auf das Bewahren von Leben verstehen. Die Herrschaft über Leben und Tod scheint derzeit jedoch einem ohnmächtigen Sterbenlassen im Verfahren der Triage gewichen. Was immer dazu eines Tages sonst noch zu sagen sein wird: Die Triage bildet die Nullstufe des Heroischen, und zwar weit über konkrete Entscheidungsträger in Kliniken hinaus.[1] Diese leisten Unerhörtes. Das Aussortieren von Todkranken zieht aber selbst noch heroisierbare Restbestände des derzeitigen Geschehens in den Abgrund.

Dass die Präsidenten insbesondere Frankreichs und der USA den Kampf gegen das Virus relativ zügig zum ›Krieg‹ umzudeuten versuchten, dürfte nicht zuletzt dem Bemühen geschuldet sein, über intellektuelle Zumutungen dieser und anderer Art hinwegzusehen und eine imaginäre Referenz zu bemühen, die das Heroische notdürftig intakt zu halten erlaubt. Und das ist verständlicher als es zunächst scheinen mag. Obwohl die Kriegsbehauptung in dieser Form in Deutschland aufgrund der NS-Vergangenheit nach wie vor unzulässig wäre und man sich eine bewährte Krisenkanzlerin als Kriegskanzlerin auch metaphorisch partout nicht vorstellen will, dürfte sich hierzulande kaum jemand finden, der den jüngst zu Helden promovierten Krankenpfleger*innen, Ärzt*innen, Supermarktkassierer*innen, Busfahrer*innen und vereinzelt sogar Politiker*innen ihren Status leichtfertig, geschweige denn öffentlich abspenstig machen wollte. Shitstorms wären jedenfalls vorprogrammiert, und sie kämen ausnahmsweise sogar zu Recht.

Der Heldenbegriff ist nämlich weit geschmeidiger als die Helden selbst. Dies gilt zumal für die moderne Tradition, die dem Helden die Definitionshoheit über seinesgleichen kategorisch entziehen musste. Aus diesem Grund dürfen sich Helden schon seit geraumer Zeit nicht mehr selbst Helden nennen, wenn sie als solche Bestand haben sollen. ›Held‹ ist zu einer Fremdzuschreibung geworden, und als solche ist sie bis heute weder zu ersetzen noch leicht zu kontrollieren. Wenn massiver Heldenbedarf besteht, müssen Helden überall dort rekrutiert werden, wo sie diesen Bedarf decken.

Man hat heroische Attribute wie ›Mut‹ längst zur ›Zivilcourage‹ domestiziert, aber für den ›Helden‹ oder die ›Heldin‹ lässt sich Vergleichbares nicht beobachten. Selbst den strengsten Ideologiekritikern dürfte ein irgendwie tragbares Synonym für die »Corona-Helden« kaum einfallen. Sie müssten entweder kompletten Verzicht anmahnen oder den Helden konzeptionell so beflissen zurechtstutzen, dass in dem Wort von der jahrtausendealten Geschichte des Phänomens kaum etwas übrig bliebe.

Man kann diese – wie jede – Geschichte aber nicht einfach abschütteln. Sie hat viele düstere Seiten und sie ist mit aufklärerischen, demokratischen oder humanen Werten nur unter Aufwand in Einklang zu bringen. Schon Hegel, der die Helden konsequent der Vergangenheit überantworten wollte, aber zugleich ein viel zu großes Faible für sie hatte, um sie aus der eigenen Gegenwart vollständig zu verbannen, wusste, dass »große Gestalt[en] manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.«[2] Mit »unschuldigen Blumen« war es in den seltensten Fällen getan.

Es sind jedoch exakt diese Schwierigkeiten, die den Heroismus gerade heute theoretisch so faszinierend machen. Wie rettet man etwas, das unrettbar verloren scheint und das man in Reinform womöglich gar nicht wiederhaben will?

›Postheroismus‹ oder ›demokratischer‹ Heroismus?

Um diese Frage kreisen indirekt zwei neuere Bücher zur aktuellen Lage des Heroismus: Ulrich Bröcklings soziologische Studie mit dem Titel Postheroische Helden. Ein Zeitbild (Berlin: Suhrkamp, 2020) und Dieter Thomäs philosophische Tour de Force Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus (Berlin: Ullstein, 2019).[3] Beide Bücher sind vor dem Ausbruch des Virus erschienen, können aber aufgrund ihres Gegenstands unabhängig von diesem vorerst nicht mehr gelesen werden.[4] Das ist ihren Verfassern gegenüber ungerecht und es geht an deren Intentionen zwangsläufig vorbei, aber ein ähnliches Schicksal dürfte in den nächsten Wochen und Monaten noch manch andere geisteswissenschaftliche Studie ereilen.

Auf den ersten Blick sind Bröckling und Thomä Kontrahenten wie aus dem Bilderbuch. Während Bröckling das Heroische »kaputtdenken« (17 u.ö.) will, versucht sich Thomä in einer Apologie der Helden angesichts der Krise – ausgerechnet – der Demokratie. Damit waren vor wenigen Monaten freilich nicht die derzeit staatlich eingefrorenen Bürgerrechte, sondern der beklemmende Boom des Populismus gemeint.

Thomä zufolge wurden Helden und Demokratie in der Vergangenheit weitgehend irrtümlich in Opposition zueinander gerückt, denn die Rettung der Demokratie ist nach seiner Überzeugung von den für sie kämpfenden Helden sogar direkt abhängig. Dort, wo Bröckling die westliche Welt wie unzählige andere Soziolog*innen und Politolog*innen sichtlich beruhigt als eine ›postheroische‹ begreift, hält Thomä die Vorsilbe post– für eine »der erfolgreichsten und schlechtesten Erfindungen der neueren Geistesgeschichte« (13). Damit würden sich insbesondere Intellektuelle gerne »in eine Nachzeit […] versetzen« (ebd.) und sich freiwillig in die »Knechtschaft der Geschichte« (14) begeben.

Demokratische Helden oder Helden in der Demokratie?

Den Vorwurf einer solchen »freiwilligen Knechtschaft« kann man gegen Dieter Thomäs Buch in der Tat nicht erheben. In dieser Hinsicht bleibt er ganz Philosoph. Dafür zahlt er allerdings einen exorbitant hohen Preis. Über die kulturhistorische Tradition des Heldentums sieht er größtenteils hinweg oder greift aus ihr lediglich bruchstückhaft solche Momente heraus, die eine Art Demokratieanmutung haben. Man erkennt das schon an seinem Personal. Ein Loblied stimmt er etwa auf Odysseus an, der Name Achills geht ihm (sehe ich recht) kein einziges Mal über die Lippen. Das hat gute Gründe, denn um die Helden fit für die Demokratie zu machen, bestreitet Thomä unter anderem, dass es »beim Heldentum immer um Leben und Tod gehen muss« (20). Auch vom Krieg will er den Heroismus folgerichtig am liebsten so weit wie möglich »lösen« (40). Sein Anliegen könnte radikaler kaum sein:

»Es gibt durchaus Soldaten, die Anerkennung als Helden verdient haben. Aber sie besetzen nicht von Berufs wegen den Spitzenplatz in Sachen Heldentum. Dieser Platz gebührt den unbestrittensten Helden der Weltgeschichte, nämlich denjenigen, die Widerstand gegen ein totalitäres Regime leisten.« (41)

Nun gehören Steigerungen und Superlative traditionell eher in den Heldenkatalog als in die Heldenanalyse. Und tatsächlich läuft Thomäs Plädoyer eher auf eine neue Kanon- oder Katalogbildung als auf eine tiefschürfende Untersuchung des Heroischen hinaus. Die »unbestrittensten Helden der Weltgeschichte« sind die, die er für solche hält. Thomä interessiert sich nicht für die politischen oder gesellschaftlichen Mechanismen, die wirksam werden, wenn bestimmte historische, literarische oder filmische Figuren zu Helden proklamiert werden, er übernimmt solche Proklamationen schlankerhand selbst.

Damit begibt er sich auf dünnes Eis. Seine Untersuchung stellt über weite Strecken eine reine Setzung dar. Schon aus der soeben zitierten Definition dürften die meisten »Helden der Weltgeschichte« aufgrund ihrer politischen Indifferenz nämlich schlicht und ergreifend herausfallen. Wollte man den das Heroische angeblich konstituierenden »Widerstand gegen ein totalitäres Regime« beim Wort nehmen, hätte es vor dem 20. Jahrhundert streng genommen überhaupt keine Helden gegeben.

Wenn Thomäs Buch die Lektüre gleichwohl lohnt, hat dies insbesondere zwei Gründe. Erstens gelingen dem Autor solide Einsichten in die Verfassung der westlichen Demokratien vor der Corona-Krise. Vor allem die kategorische Verwechslung von Kapitalismus und Demokratie und die noch verhängnisvollere Verwechslung von Bürokratie und Demokratie sind fabelhaft analysiert. Zweitens muss Thomä sein eigenes Heldenverständnis so nachdrücklich gegen etablierte Heldenvorstellungen in Schutz nehmen, dass ihm gerade zu diesen ungewollt und indirekt wesentliche Erkenntnisse gelingen.

Das lässt sich etwa seinen Darlegungen zu der wissenschaftlich oft übersehenen Temporalität des Helden ablesen. Thomä ist der Meinung, dass demokratische Helden einen »Prozess der inneren Selbstverwandlung« (82) durchlaufen müssen, sie würden »nicht schon im Bereitschaftsmodus geboren« (ebd.) und seien folglich eher »Gelegenheitshelden« als »Fertig-« oder »Dauerhelden« (83). In meinen Augen ist ›Gelegenheitsheld‹ ein Oxymoron, das das traditionelle Verständnis des Zusammenhangs von Held und Zeit mustergültig exemplifiziert. Helden sind immer schon fertig und sie sind immer Held. Aus dem Grund dürfen sie beispielsweise weder eine Steuererklärung ausfüllen noch alt werden. Wenn man Helden partout an die Demokratie binden will, ist es zwar konsequent, mit solchen das Heroische ehemals begründenden Merkmalen zu brechen. Nur dürfte dann auch von Helden keine Rede mehr sein.

Zumindest nicht von solchen Helden, die strukturell die Bedingungen des ›demokratischen‹ Helden erfüllen, die also eine substanzielle Einheit von Held und Demokratie vorführen sollen. Zwar weist Thomä wiederholt darauf hin, dass nicht jeder Held demokratisch sei, aber mit der Möglichkeit dieses (Sonder-)Falls stehen und fallen seine gesamten Überlegungen. Im Verlauf der Lektüre und im Verlauf vor allem der vielen Definitions- und Typologieversuche, die er aufbietet (»holistische Helden«, »altruistische Helden«, »Helden der Überwindung«, »Helden der Übererfüllung« etc.), fragt man sich allerdings, ob sein Buch tatsächlich von demokratischen Helden oder nicht vielleicht eher von Helden in der Demokratie handelt. Dieser gewichtige Unterschied wäre in unzähligen seiner Fallstudien – von Odysseus über Galilei bis hin zu John McCain und Carola Rackete – systematisch in Rechnung zu stellen gewesen. Übrigens auch mit Blick auf die ›Gelegenheit‹. Wenn der demokratische Held gelegentlich ein Held ist, ist er als Held dann tatsächlich noch demokratisch? Oder ist der Gelegenheitsheld etwa auch ein Gelegenheitsdemokrat?
Thomäs Buch dreht sich mehr um ein synkretistisches und hybrides Überleben der Helden in der Demokratie als um eine demokratische Veranlagung oder Verfassung der Helden. Und das führt in der neuesten Heroismusforschung zu einer bemerkenswerten Konstellation. Denn Thomä und Bröckling stellen sich damit als Kontrahenten heraus, die unfreiwillig in großen Teilen das gleiche Buch geschrieben haben. Der Nachweis, dass die ›postheroischen‹ Demokratien nach 1989 Helden am Fließband produzierten, bildet nämlich das Kernanliegen Bröcklings. Was Bröckling ›postheroisch‹ nennt, heißt bei Thomä ›demokratisch‹.
Thomä hält gleich zu Beginn seiner Studie apodiktisch fest:

»Die Vorstellung von einer postheroischen Zeit, die bei Bedarf ein bisschen heroisch agiert, ist fast so absurd wie das postnatale Bild einer jungen Mutter, die noch ein bisschen schwanger ist. […] Man kann nicht die Helden zugleich abschaffen und für sich anschaffen lassen.« (15f.)

Dass man dies sehr wohl kann und dass abgeschmackte Bonmots die Schärfe auch und gerade eigener Einsichten oft zu verspielen drohen, verrät eine Gegenüberstellung beider Bücher. Trotz sehr unterschiedlicher Wege erreichen sie am Ende das gleiche Ziel.

Von Helden und Kuchenglasuren im Postheroismus

Bröckling macht keinen Hehl daraus, dass er sich als Soziologe eher für die »kleinen Leute« als für Helden interessiert (9). Auch lässt er für all die Theorien, die im Heroismus ein probates Mittel gegen »Mediokrität und Stillstand« (228) sehen, nur wenig Sympathie erkennen. Alles in allem handelt es sich beim Heldentum in seinen Augen um eine überaus problematische »Entpolitisierungsstrategie« (230).

Anders als unzählige Kulturhistoriker*innen vor ihm unternimmt Bröckling gar nicht erst den Versuch, eine linear verlaufende (Verfalls-)Geschichte des Heroismus zu schreiben. Eher ist es ihm um den Aufweis einer »Gleichzeitigkeit von Heroisierungen und Deheroisierungen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart« (75) zu tun. Der postheroische Held ist demnach keiner, der auf den heroischen Helden historisch folgen könnte, er ist eine »paradoxe Figur«, die sich vor allem »durch ihr Geschick« auszeichnet, »flexibel zwischen On- und Off-Modus hin- und herzuwechseln« (16). Bei Thomä war dies der »Gelegenheitsheld«.

Der Typus scheint mir bei Bröckling aber insofern überzeugender analysiert, als er auf der Paradoxie einer heroischen ›Flexibilität‹ von vornherein beharrt und diese nicht als großen ›demokratischen‹ Imperativ begreift. Vielmehr spürt er unaufgeregt ihrer Ausbreitung etwa in der Subjektbildung, im modernen Management und in der zeitgenössischen Kriegsführung nach. Den Helden begreift er dabei konsequent als »Fremdzuschreibung« (56). Sein Ansatz bleibt streng funktional. Bröckling feiert keine heroische Leistung, sondern fragt nach den soziopolitischen Leistungen dieser (vermeintlichen) Leistung.

Im Zuge dessen spricht er sich zu Recht dagegen aus, »das Heroische […] von all seinen dunklen Bestandteilen zu reinigen« (202). Solche entdeckt Bröckling stringenterweise nicht exklusiv bei den Helden selbst, sondern auch bei denen, die Helden überhaupt erst zu Helden emporheben. Derartige »Bewunderungsclans« (206) arbeiteten mit der Heldenverehrung stets auch ihrer eigenen »Selbstverkleinerung« (25) zu: »Wer gehorchen will, wird nach Gründen dafür suchen und denjenigen, dem er nachläuft, auch zum Heros küren.« (26)

Ähnlich wie Thomä, der in einer Multiplikation der Helden nicht etwa eine egalitäre Nivellierung, sondern Indizien einer grundlegenden Demokratisierung des Heroischen zu erkennen meint, deutet auch Bröckling Tendenzen der Vermehrung und Trivialisierung von Helden als »heilsame Entgiftung« (19). Als beispielhaft dient ihm eine zum »Helden des Alltags« ausgerufene Kuchenglasur von Aldi Süd. Prinzipiell gilt:

»Wenn wir die Helden schon nicht ganz loswerden können, dann lebt es sich besser mit vielen als mit nur einem.« (66)

Es ist die schiere Heldenvermehrung, in deren Einschätzung beide Bücher sich voll und ganz treffen. Sie stellt das Remedium gegen die finsteren Seiten des Heroismus bereit. Wo Thomä Morgenluft wittert, bleibt Bröckling zwar auf der Hut. Das kann über die tiefen Affinitäten ihrer Bücher indes nicht hinwegtäuschen.

Corona II

Fragt sich nur, ob ihre vor wenigen Monaten erschienenen Bestandsaufnahmen jetzt überhaupt noch Bestand haben. Es wäre sicher naheliegend, in der medialen Explosion der ›Corona-Helden‹ jene Verfahren eines postheroischen Heroismus am Werk zu sehen, die insbesondere Bröckling eindringlich analysiert hat. Sind die vielen neuen Helden also Sendboten einer »heilsamen Entgiftung«? Sind sie so heroisch wie eine Kuchenglasur von Aldi Süd? Die Frage zeigt den Abgrund, der uns von den Studien von Bröckling und Thomä zwangsläufig bereits trennt. Allerdings ist in Sachen Heroismus mit solchen Schlüssen äußerste Vorsicht geboten. Denn Helden lassen sich auf den ersten Blick nie einfach in eine etablierte Heroismusgeschichte einfügen, auch nicht in eine postheroische. Helden suggerieren immer, dass die Heldengeschichte mit ihnen überhaupt erst beginnt. Mit jedem Helden muss diese Geschichte neu geschrieben werden. Darin liegt die tiefe Paradoxie einer ihrer wichtigsten Konventionen.

Es könnte demnach sein, dass Helden mit Blick auf Corona unmittelbar Trost spenden. Und zwar vornehmlich dadurch, dass sie das derzeitige Geschehen unabhängig von jeder heroischen oder paraheroischen Tat schlicht einer (neuen alten) Heldengeschichte assimilieren. Damit würden ›Corona-Helden‹ die gesamte Rede von ›Bruch‹ oder ›Krise‹ unterschwellig als business as usual imaginieren lassen.

Für ein auch nur annähernd zuverlässiges Inventar der ›Corona-Helden‹ ist es aber zu früh. Das ändert nichts daran, dass insbesondere zwei Einsichten Bröcklings sich jetzt schon visionär lesen:

1. »Krisenzeiten steigern den Heldenbedarf, aber Heldenkonjunkturen erzeugen auch Krisenbedarf. Heroen operieren im Modus permanenter Mobilmachung und brauchen den Notstand wie die Polizei das Verbrechen.« (232)

2. »Heldenurkunden zu verteilen, ist billiger, als zusätzliches Personal einzustellen.« (198)

An beides werden Medien und Politik hoffentlich bald zu erinnern sein.
»Scholz denkt über Steuerbonus für Corona-Helden nach« – so titelte Bild am 24. März. Solange die Corona-Helden über ihren Steuerbonus auch ihrerseits nachdenken, dürfte zumindest die Demokratie allzu viel nicht zu befürchten haben. Sicher scheint derzeit aber noch nicht einmal das.

 

[1] Vgl. hierzu Henning Trüper: »Unsouveränität in der Pandemie«, in: ZfL Blog, 24.3.2020.

[2] G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke 12, Frankfurt a. M. 1986, S. 49.

[3] Beide Bücher werden im Folgenden nach diesen Ausgaben im laufenden Text zitiert.

[4] Vgl. zu einer Gegenüberstellung beider Bücher auch Julika Griem: »Wer sind Helden?«, in: KWI-Blog, 6.4.2020.

 

Der Literaturwissenschaftler Claude Haas ist stellvertretender Direktor des ZfL und Ko-Leiter des Programmbereichs Theoriegeschichte.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Claude Haas: Heldenpandemie oder Pandemiehelden? Bemerkungen zur neuesten Heroismusforschung, in: ZfL BLOG, 14.4.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/04/14/claude-haas-heldenpandemie-oder-pandemiehelden-bemerkungen-zur-neuesten-heroismusforschung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200414-01

Der Beitrag Claude Haas: Heldenpandemie oder Pandemiehelden? BEMERKUNGEN ZUR NEUESTEN HEROISMUSFORSCHUNG erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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