Historisierung Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/historisierung/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 24 Nov 2021 09:45:07 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Historisierung Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/historisierung/ 32 32 Eva Geulen: Jahresthema 2020/21, EPOCHENWENDEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/11/10/eva-geulen-jahresthema-2020-21-epochenwenden/ Tue, 10 Nov 2020 10:48:24 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1596 Einer bekannten Redensart zufolge soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Zynisch könnte man fragen: Gilt das auch für Epochenwenden? Sind die auch hinzunehmen wie wiederkehrende Feiertage, Grippewellen oder unerwartete Naturkatastrophen? Dass die Covid-19-Pandemie schon jetzt in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen als Epochenwende verstanden wird, merkt man nicht nur an der Häufung des vordem eher Weiterlesen

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Einer bekannten Redensart zufolge soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Zynisch könnte man fragen: Gilt das auch für Epochenwenden? Sind die auch hinzunehmen wie wiederkehrende Feiertage, Grippewellen oder unerwartete Naturkatastrophen? Dass die Covid-19-Pandemie schon jetzt in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen als Epochenwende verstanden wird, merkt man nicht nur an der Häufung des vordem eher vermiedenen Epochenbegriffs, sondern auch am Gebrauch der Formel ›vor und nach Corona‹ – obwohl doch ein Ende der Pandemie derzeit nicht in Sicht ist und deshalb auch und gerade Feste nicht wie üblich begangen werden können (oder sollten).

Eigentlich wissen wir aber alle, dass diese Pandemie weder eine Grippewelle ist (obwohl US-Präsident Trump und andere Verschwörungstheoretiker das hartnäckig und wider alle Fakten behaupten) noch ein Schicksalsschlag oder eine Naturkatastrophe. Covid-19 hängt sehr direkt mit der Globalisierung zusammen, und die wieder mit dem Klima, dessen Wandel nach Wende und Wandel im Handel und Wandel aller verlangt. Wie genau sich hier eins aufs andere reimt, wissen wir vorläufig nicht. Das zuzugeben, wäre ein Gebot der Redlichkeit. Aber es gilt derzeit nicht viel, weder in der Politik noch in der Zeitgeschichtsschreibung, von manchen Intellektuellenkreisen ganz zu schweigen. In seinem ZfL-Blogbeitrag zur »Unsouveränität in der Pandemie« hat Henning Trüper auf das Paradoxe aller Versuche hingewiesen, unter diesen Umständen Orientierung zu gewinnen oder zu stiften.

Jedenfalls gehört diese Pandemie, ob sie nun tatsächlich eine Epochenwende schon gezeitigt hat oder ob eine solche erst noch einzuläuten ist, chronologisch der 2016 von der Wissenschaft aus der Taufe gehobenen Epoche des Anthropozäns an: Die geläufige Unterscheidung zwischen historischen Epochen und solchen der Natur- bzw. Erdgeschichte findet hier keine Anwendung mehr. Dass wir nicht wissen, ob wir mitten in einer Epochenwende sind oder gerade jetzt eine solche brauchen, ist jedenfalls nichts Neues. Solche Ungewissheiten und Doppeldeutigkeiten stecken im Konzept der Epochenwenden. Sie können einerseits als sich quasi eigengesetzlich vollziehende (aber meistens ex post erst zugeschriebene) Veränderungen verstanden werden. Sie können andererseits aber auch als zu vollbringende Aktion für die Zukunft eingefordert werden. Im einen wie im anderen Fall sind aktuelle (Herrschafts-)Absichten, ist Zukunftsplanung im Spiel. Aber auch Altes klingt nach, denn Metaphern wie die des Einläutens oder des Zeitigens entstammen dem religiösen Register. Sie bergen mindestens so viele erhellende wie verdunkelnde Deutungspotentiale. Das ist ein Dilemma.

Statt zu entscheiden, was für oder gegen eine Epochenwende in dem einen oder anderen Sinne spricht, treten wir daher einen Schritt zurück. Die aktuellen Ereignisse, Debatten und Spekulationen sind uns Anlass für die Erprobung des Konzepts der Epochenwenden in unterschiedlichen Kontexten und unter verschiedenen Bedingungen. In diesem Sinne adressieren die Beiträge von Pola Groß, Ernst Müller und Henning Trüper für das Faltblatt zum Jahresthema den Gegenstand aus ihren jeweiligen Forschungsperspektiven. Nicht zufällig geht es in allen drei Beiträgen um Epochenwenden in der Moderne, die als Epochenbegriff besonders umstritten ist.

Dass Epochen stets provisorische Konstrukte sind, die manches verschatten und anderes hervorheben, ist kein hinreichender Grund, ihnen jede Berechtigung abzusprechen. Gerade der Konstruktcharakter sorgt ja dafür, dass es eine wechselvolle und immer wieder offene Geschichte der Epochenzuschreibungen, Epochenbegriffe, Periodisierungen – und gegenwärtig einen Kampf um die Deutungshoheit über die Pandemie – geben kann. Die überlieferte Dreiteilung Antike, Mittelalter und Moderne ist durch das ›lange Mittelalter‹ und das Einrücken der ›Frühen Neuzeit‹ in Bewegung gekommen. Auch bei abgeschlossenen Epochen stellt die Frage nach Epochenwenden, Epochenumbrüchen und Epochenwandel eine dauernde Herausforderung dar. So haben Historiker*innen im 20. Jahrhundert vor allem Übergangszeiten und Epochenschwellen in den Blick genommen. Kosellecks ›Sattelzeit‹ ist mit einer Spanne von 100 Jahren (1750–1850) selbst zu einer Epoche geworden. Dass es für die Zeit danach, je näher man unserer Gegenwart rückt, mit der Bestimmung von Epochenbegriffen und Epochenwenden zunehmend schwieriger wird, bezeugen Behelfskonstruktionen wie das ›lange 19. Jahrhundert‹, das ›kurze 20. Jahrhundert‹ oder Früh-, Hoch-, Spät-, Post- und Postpostmoderne ebenso wie das bis zur Jahrtausendwende vielfach bemühte Posthistoire. Mit diesen und weiteren Fragen wollen wir uns in den kommenden Semestern beschäftigen.

Was wir jetzt, nicht nur für unsere wissenschaftlichen Tätigkeiten, brauchen, ist jedenfalls Gelassenheit, Umsicht, Solidarität und: Abstand. (»Abstand« lautet das Thema der mit dem Literaturhaus Berlin organisierten ZfL-Literaturtage für den Sommer 2021.)

In diesem Jahr hatten Hegel und Hölderlin 250. Geburtstag. Die fälligen Feierlichkeiten konnten nicht in der erwarteten Weise begangen werden. Für Hölderlin waren Fest und Zeitenwende nach 1789 lange eins. Seine spätesten Gedichte kreisen um die Jahreszeiten. Eines mit dem Titel »Frühling« aus der Zeit seiner sogenannten Umnachtung beginnt mit den Versen:

Wie selig ists, zu sehen, wenn Stunden wieder tagen,
Wo sich vergnügt der Mensch umsieht in den Gefilden,
Wenn Menschen sich um das Befinden fragen,
Wenn Menschen sich zum frohen Leben bilden.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. Dieser Beitrag erschien erstmals als Editorial auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2020/21, »Epochenwenden«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Jahresthema 2020/21, Epochenwenden, in: ZfL BLOG, 10.11.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/11/10/eva-geulen-jahresthema-2020-21-epochenwenden/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201011-01

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Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/09/07/eva-geulen-altes-und-neues-aus-den-literaturwissenschaften/ Mon, 07 Sep 2020 07:00:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1538 Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Weiterlesen

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Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Geschichtslektion: Die große Zeit der Geisteswissenschaften lag in dem Jahrhundert zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg. Danach ging es etappenweise bergab, mit verzweifelter, auch vor schlimmsten Ideologien nicht Halt machender Anbiederung an die sogenannte Öffentlichkeit; aber auch Rückzug in den Elfenbeinturm und zunehmende Verwissenschaftlichung trugen zur Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften bei.

Schließlich der Silberstreif einer neuen Aufgabe der Geisteswissenschaften heute, in außerakademischen Kontexten, wo man Leute mit Erfahrung in ästhetischer Erfahrung offenbar gut gebrauchen kann, weil sie die Fähigkeit besäßen, »die Welt komplexer aussehen zu lassen«. Eine entsprechende Praxis könne jedenfalls »zurückführen zu einem säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation« – im Unterschied zur abgehobenen Kunstreligion der vorigen Jahrhundertwende –, »in dem schon immer die eigentliche Stärke, ja der spezifische gesellschaftliche Beitrag der sogenannten Geistes-›Wissenschaften‹ gelegen hatte«. Da ist was dran.

Andreas Kablitz mochte dazu aber nicht schweigen, gab den Gegenspieler und korrigierte am 4. November 2019 in der FAZ erst einmal Gumbrechts Festlegung der Geisteswissenschaften auf Expertise in ästhetischer Erfahrung. Geisteswissenschaftliches Kerngeschäft sei vielmehr »die Rationalisierung einer schon vorausgesetzten ästhetischen Wirkung«. (»Begreifen, was uns ergreift«, hieß das bei Emil Staiger.) Und ihre vornehmste wie wichtigste Aufgabe fänden die Geisteswissenschaften immer noch in der Lehre. Die heute sträflich vernachlässigte Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sorge automatisch und hinreichend für die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften. Da ist auch was dran.[1]

Dass beide Positionen dennoch harmonisch zusammenstimmen, liegt auch an ihren geteilten Prämissen. Es hat nämlich seit dem 18. Jahrhundert keinen Bildungsbegriff gegeben, der ohne ästhetische Erfahrung gedacht werden könnte, wie es umgekehrt seither auch kein von (Aus-)Bildung ganz entkoppeltes Konzept ästhetischer Erfahrung gegeben hat. Beider Widerstreit gehört konstitutiv zur deutschen Bildungstradition Humboldt’scher Prägung und bestimmt die Diskussion von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794) bis zu Adorno, der in der »Frühen Einleitung« zu seiner Ästhetischen Theorie (1970) bemerkt: »Wer nicht weiß, was er sieht oder hört, genießt nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondern ist unfähig, sie wahrzunehmen«. Auch und gerade wo versucht wird, das eine gegen das andere auszuspielen, erweisen sich ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung als aufeinander bezogen. Deshalb konnte aus dem Schlagabtausch der beiden Romanisten kein Streit werden.

Aber wie steht es mit Kablitzens Tadel von Gumbrechts Geschichtsvergessenheit? Habe der doch verschwiegen, dass die Geisteswissenschaften deshalb und nur dann entstanden, als sich »in der Folge der Aufklärung« die Beschäftigung mit menschlichen Belangen »nicht mehr auf eine für alle Menschen gleiche natura hominis […] zurückführen ließ«. Der Erfinder der Formel von der ›breiten Gegenwart‹ braucht sich da nicht belehren zu lassen, denn er verfährt ja seinerseits gut historisch, was Kablitz auch nicht unerwähnt lässt, der dieselbe Geschichte mit etwas anderen Akzenten erzählt. Vor allem in Deutschland ist die historische Perspektive spätestens seit Dilthey erste (akademische) Bürgerpflicht und Inbegriff von Geisteswissenschaftlichkeit überhaupt.

Strategische Historisierung

Erfrischend und gründlicher provozierend ist deshalb der Blick in das Buch eines jungen Anglisten der Yale University, das auch in den USA, wo die Humanities von jeher nicht so eng an den Primat der Geschichte gekoppelt waren, für einige Aufregung gesorgt hat. Im Alleingang, abseits geläufiger Periodisierungen und Selbstbeschreibungen, hat Joseph North eine – eingestandenermaßen tendenziöse – Geschichte seines Fachs vorgelegt.[2]

Das Ganze ist in der Tat sehr lokal auf die Anglistik in den USA (und Großbritannien) bezogen. Unbekümmert äußert der Autor überdies seine politischen Überzeugungen. Den Ansprüchen der Fachgeschichte, wie sie etwa in Deutschland vielbändig und in eigens dafür reservierten Zeitschriften gepflegt wird,[3] entspricht er gewiss nicht, will es aber auch gar nicht. Die praktische Indienstnahme von Fachgeschichtsschreibung als Gegenwartsintervention ist die Pointe seiner ›strategischen Historisierung‹.[4] Die Provokation: Frontal greift der sich als links identifizierende Autor den berühmten Imperativ des Übervaters der US-amerikanischen akademischen Linken, Fredric Jameson, an: »Always historicize!« Daran zweifeln zu wollen, kommt schon einem Affront gleich, besonders im linken Spektrum. Rechts steht, wer überzeitliche Ideale beschwört und an ewige Klassiker glaubt.

Uns allen ist der Imperativ »Always historicize!« so in Fleisch und Blut übergegangen, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, noch mal extra zu fragen, worin denn eigentlich genau der beschworene Nexus zwischen Historisierung und (linker) Politik besteht. Erlaubt es historisches Wissen um die Kontexte von Literatur schon, über vergangene oder gegenwärtige Phänomene und Fragen politisch verlässliche oder gar Wege weisende Auskunft zu erhalten? Oder muss man dazu, mit Franco Moretti zu reden, ›die Kräfte‹ und Gesetze der Geschichte unter dem Kapitalismus schon kennen? Wozu bedarf es dann aber der Historisierung? Oder ist der Begriff, sofern er streng genommen den Vorgang bezeichnet, mit dem ein vordem historischen Prozessen als entzogen wahrgenommenes Phänomen zu einem geschichtlichen wird,[5] ein weniger belastetes Wort für ›Ideologiekritik‹, die ja auch die Geschichtlichkeit des scheinbar Naturwüchsigen herausarbeitet?[6] Das ist ein weites und in den Geisteswissenschaften auch hierzulande weitgehend unbefragtes Feld, eben weil das historistische Paradigma, wie man an Gumbrecht und Kablitz sieht, zu den Hintergrundannahmen unseres geisteswissenschaftlichen Tuns und Lassens zählt.

Genau in dieser unbefragten Selbstverständlichkeit liege ein Problem, meint Joseph North. Seit den 70er Jahren habe sich das im Jameson’schen Imperativ geronnene »historicist/contextualist paradigm« in seinem Fach flächendeckend durchgesetzt, ohne als herrschendes Paradigma durchschaut worden zu sein. Was viele politisch engagierte Kolleginnen und Kollegen in den USA, von Konservativen in den 80er Jahren als »tenured radicals«[7] denunziert, als erfolgreiche Überwindung verkrusteter akademischer Strukturen und konservativer Wissenschaftstraditionen feiern, sei ein Pyrrhussieg gewesen und laufe spätestens unter den seit 2008 drastisch veränderten sozio-ökonomischen Verhältnissen auf den Ausverkauf des Fachs an den herrschenden Neoliberalismus hinaus: »a local break on the left then dragged to the right«. Die historische Lektion lautet hier, dass auch linke Positionen historischen Prozessen ausgesetzt sind, die ihrem Wert und ihrer Wahrheit zusetzen können. Hier mangelt es offenbar an genau der Historisierung, die man mit Jamesons Parole so gern im Munde führt.

In Parenthese kann man sich fragen, ob denn der Historisierungsschub dergleichen leistet, der gegenwärtig die ab den späten 1970er Jahren als Avantgarde und Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaften begriffene Theoriebildung im Zeichen ihres allerorten ausgerufenen Endes ereilt.[8] Überlegungen jedenfalls, die beispielsweise Michel Foucault oder Bruno Latour geradewegs verantwortlich machen für die Nöte unseres post-faktischen Zeitalters,[9] verzeichnen die Interaktionen zwischen innerakademischen und außerakademischen Entwicklungen zugunsten ersterer. Die Vorstellung, dass ein paar Bücher die weltpolitische Lage verändert haben, ist eine abwegige Selbstüberschätzung von Elfenbeinturmbewohnern. Selbstkritik dient hier dem Zweck der Selbstbehauptung einst mächtiger Fächer, die sich nicht abfinden können mit ihrer Zukunft als Orchideenfächer, in die manch einer die Germanistik ganz unpolemisch (und entlastend) entlassen wollte.[10]

North, der an die politische Wirksamkeit seines Fachs weiterhin enthusiastisch glaubt, macht es umgekehrt. Er lässt die Puppen der ›Verhältnisse‹ in Gestalt des außerakademischen Neoliberalismus tanzen und verlangt von seinen Kolleginnen und Kollegen bloß, ihre vermeintlichen Errungenschaften und Widerstände als Effekte dieser Umstände zu begreifen und daraus, wenn möglich, Konsequenzen zu ziehen. North behauptet also, dass von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, über Terry Eagleton und Fredric Jameson bis Gayatri Spivak und darüber hinaus alle jüngere Theorie und Praxis in den Literatur- und Geisteswissenschaften unter den Bedingungen einer, wenn nicht geradewegs einverstandenen, so doch letztlich passiven historistischen Gelehrsamkeit operieren.

Man müsse sich eben fragen, ob beispielsweise die den doppelten Standard des Westens unermüdlich thematisierenden Postcolonial Studies die herrschende Ordnung tatsächlich aktiv herausgefordert hätten und nicht vielmehr Ausdruck und Ausfluss der herrschenden Ordnung »in its new diverse and multicultural, US-expansionist forms« seien. Auch jüngere Kurskorrekturen nach 2000, die ihrer Verwechselbarkeit mit älteren und als konservativ begriffenen geisteswissenschaftlichen Traditionen und Begriffen durch das vorangestellte Adjektiv ›neu‹ zuvorkommen möchten, wie New Aesthetics und New Formalism,[11] partizipierten an dieser praxisfernen, historistischen Grundhaltung.

Eine Blütenlese des Anliegens wichtiger Bücher seines Fachs der letzten zwei Jahrzehnte wird bei North zum Symptomkatalog dafür, dass sich die Hegemonie des historistischen Paradigmas von den späten 70ern bis heute wölbt. Dabei waren der Literaturwissenschaft eigentlich – und das heißt auch bei North: historisch betrachtet – Alternativen schon an der Wiege gesungen worden. Seit den 70er Jahren ganz vergessen wurde der alte Widersacher der Gelehrsamkeit: der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von britischen Amateuren und Ästheten gegen die Philologenzunft in Stellung gebrachte und von den seit Langem nur noch als Feindbilder (eigentlich: Pappkameraden) überhaupt zur Kenntnis genommenen Altvorderen I. A. Richards und F. R. Leavis systematisch entwickelte Practical Criticism.

Das historistische/kontextualisierende Paradigma, das bei North auch »scholarly« heißt, beschränkt sich auf die Analyse von Kultur. Dem Practical Criticism sei es dagegen darum gegangen, »to intervene in culture«. Und solche Intervention, die Widerstand gegen ökonomische und politische Zwänge nicht bloß predigt (oder sie facettenreich analysiert und diagnostiziert), sondern tatsächlich praktiziert und therapeutisch dagegen vorgeht, sei vor allem durch die Ausbildung von Leserinnen und Lesern (wie bei Kablitz) zu erzielen und über den Weg einer »cultivation of aesthetic sensibilities« (wie bei Gumbrecht).

Im ersten Kapitel seines Buchs zeichnet North den Streit der jungen Amateur-Ästheten mit den professionellen Philologen zu Beginn des Jahrhunderts in England nach. Die antiakademischen underdogs setzten sich schließlich mithilfe einer methodischen Revolution durch: dem sogenannten close reading. Von linksliberalen Autoren wie I. A. Richards und William Empson – dessen 1930 erschienenes Buch Seven Types of Ambiguity eine Ikone des close reading ist – für radikalpädagogische Zwecke entwickelt, wurde die neue Methode beim Übersetzen in die USA von den reaktionären evangelikalen Südstaatlern der New Critics (allen voran T. S. Eliot) für ihre christlichen Zwecke gekapert und dabei so verfälscht, dass sich die Ansicht durchsetzen konnte, close reading sei eine christliche hermeneutische Praxis, mit der man als Linker lieber nichts zu tun haben möchte.

Mit den Worten von Jane Gallop, die schon 2007 zaghaft die Kerbe andeutete, in die North nun mächtig schlägt: close reading »is being thrown out with the dirty bathwater of timeless universals«. Und damit, so North, wurden auch die Ideale, die diese Methode überhaupt erst gezeitigt hatten, einer radikalen, von einer utilitaristischen und pragmatischen Ästhetik inspirierten Pädagogik preisgegeben. Nur einer trotz und wegen ihres historistischen Paradigmas geschichtsvergessenen Literaturwissenschaft konnte close reading zum Zerrbild Geschichte ignorierender Lektürepraktiken von Klassikern werden. North ist nicht so naiv, dass er das Paradigma der Gelehrsamkeit durch den ja auch in die Jahre gekommenen Practical Criticsm handstreichartig ersetzen möchte. Aber er glaubt, dass der alte Widerstreit zwischen beiden Modellen den amerikanischen und britischen Literaturwissenschaften besser bekommen sei als die alternativlose Alleinherrschaft des seit etwa 1970 fragwürdigen Konsens stiftenden Historismus.

Norths Kronzeuge für das Potential der über dem Feindbild des New Criticism vergessenen Vorgeschichte ist der marxistische Begründer der Cultural Studies, Raymond Williams, Autor der berühmten Keywords: A Vocabulary of Culture and Society (1976), ausgebildet in Cambridge, Schüler von Richards und Nachfolger von Leavis. Als Williams 1977 schrieb, ästhetische Theorie sei »the main instrument of evasion« der sozialen Prozesse, in die alle Kunst verstrickt sei, habe er sich nicht gegen Ästhetik oder deren Theoretisierung überhaupt gewandt, sondern bloß gegen die auch schon von Richards und Leavis kritisierte ›kontinentale‹ Ästhetiktradition mit ihrem seit Kant dominanten Motiv desinteressierter Kontemplation, das im Desinteresse historistischer Betrachtung fortlebe.

Dagegen hatten Richards, Empson und in der Folge eben auch Williams im Namen einer utilitaristischen und materialistischen Ästhetik polemisiert. (Für Spezialisten der ziemlich komplizierten Diskussion über die ›kontinentale‹ Ästhetik im Allgemeinen und Adorno-Leser im Besonderen ist so etwas natürlich schwere Kost! Und es ist auch keinesfalls ausgemacht, ob Williams bei North wirklich adäquat rekonstruiert wurde. Aber man muss seiner Erzählung nicht in allen Details folgen, um die Stoßrichtung seines Affronts zu würdigen.)

Wo es um die Gründe für die heutige Alleinherrschaft des historistischen Paradigmas geht, wird es allerdings ziemlich unerträglich holzschnittartig. Den Ton gibt die jüngere Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts an: Schuld am ungewollten Ausverkauf der Literaturwissenschaft trägt der auf die Krise des Keynesianismus Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre folgende Neoliberalismus. Dass damals eine neue neoliberale Ära anbrach, hätten die Geisteswissenschaften nicht wahrgenommen und sich stattdessen in ihrem allmählich anachronistisch werdenden Paradigma häuslich eingerichtet. Das ist freilich sehr allgemein und schwammig obendrein. (Ist Neoliberalismus dasselbe wie Globalisierung?) Auch der offenbar auf maximale Reichweite setzenden Zusammenziehung von ›historistisch‹ und ›kontextualisierend‹ im »historicist/contextualist paradigm« mangelt es an Trennschärfe. Diese und andere Einwände sind inzwischen vielfach erhoben worden, denn das Buch wurde im englischsprachigen Kontext dutzendfach rezensiert.[12]

Wichtiger als eine Analyse seiner Schwächen ist die Frage nach den Alternativen, die North durchaus beantwortet, auch wenn er auf Prognosen über ihre Durchsetzbarkeit verzichtet. Diese Alternativen haben mit Gumbrechts Ehrenrettung der Geisteswissenschaften als Kompetenzzentrum für ästhetische Erfahrung manches gemein, allerdings nicht den gelassenen Ton. Mit wuchtigem Pathos wendet sich North am Ende seiner Einleitung an seine »friends on the left«: »the struggle is being fought, must be fought, on the terrain of sensibility.«

Und nicht weniger emphatisch wird am Schluss das kritische Geschäft der Literaturwissenschaften in der Ausbildung von »new methods for cultivating subjectivities and collectivities« gesehen. Im Kapitel »The Critical Unconscious« – Kontrafaktur von Fredric Jamesons berühmtem Buch The Political Unconscious (1981) – prüft North jüngere ästhetikfreundliche Ansätze aus dem Bereich des New Formalism, der New Aesthetics und der Affekttheorie. Eve Sedgwick, D. A. Miller und Lauren Berlant figurieren als Hoffnungsträger, die das verschüttete revolutionäre (muss man schon so sagen!) Potential praktischer Kritik tendenziell wiederentdecken.

North zufolge soll Literaturwissenschaft (wieder) bereit sein, »to use the literary as a means of ethical (or political?) education; have its emphasis on therapeutic rather than mere diagnostic uses of the literary«, und natürlich hat sie künftig auch »committed […] to a public role« zu sein. Ähnliche humanistisch-ästhetische Selbstbesinnungen verfolgen Martha Nussbaum in Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities (2010, ausführlich kommentiert bei North) und Gayatri Spivak in An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012).

Aber ist es für eine Wiederbelebung der von North ausgegrabenen materialistischen Ästhetik der britischen Altvorderen nicht längst zu spät? Und zwar nicht aufgrund uneinsichtiger Historisten, sondern gerade aufgrund der mit Neoliberalismus nur verkürzt wiedergegebenen ›Verhältnisse‹? Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Norths Lokalgeschichte nicht vorkommen, haben gegenläufig zu Norths (und Gumbrechts) Aktualisierungsversuchen den Sieg der Ästhetik unter der Ägide des Neoliberalismus dokumentiert, indem sie ihren triumphalen Einzug in die Managementliteratur seit den 90ern aufgezeigt haben.[13] Der Soziologe Andreas Reckwitz hat das in seinen Studien zum kreativen Selbst und der Kultur der Singularitäten vertieft.[14] Vielleicht speist sich das überzeugte Pathos von North, Nussbaum und anderen aus Quellen, die längst nicht mehr so frisch sprudeln, wie Norths tapfere Aktualisierung von Richards, Leavis und Empson glauben machen will. Ist das alles doch nur die Nachhut einer Welt, die sich so uneinholbar und unwiderruflich gewandelt hat wie das Klima?

Die deutsche Tradition

Bevor man in gegenwärtig besonders wohlfeile Melancholie versinkt, sollte man sich vorläufig, wie North selbst, auf lokale Kontexte konzentrieren.[15] Was wäre denn von seiner »Concise Political History« der US-amerikanischen Anglistik hierzulande zu lernen? In der deutschen Wissenschaftstradition ist Norths Entgegensetzung von kontemplativ-distanzierter und materialistisch-utilitaristischer Ästhetik tendenziell so wenig anschlussfähig wie die von Gelehrsamkeit und Praxis (sei es als Bildung, sei es als ästhetische Erfahrung).[16]

Folglich führt Peter Szondi Richards und Empson in seinem kanonischen Essay »Über philologische Erkenntnis« (1962) nicht als materialistische Ästhetiker, sondern als mit Grundsatzfragen der Hermeneutik beschäftigte Text-Theoretiker an. Für das, was im Englischen close reading heißt und von Peter Szondi vorbildlich gelehrt wie praktiziert wurde, ist Ästhetik keine Referenz. Gleichwohl ist sein Versuch, die Methodik der Literaturwissenschaft »aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs« der Werke zu gewinnen, aus dem also, was Adorno die »Logik ihres Produziertseins« nannte, Norths Überlegungen in mindestens einer Hinsicht affin.

Dessen bemerkenswerteste und für hiesige Diskussionszusammenhänge interessanteste Leistung besteht in der Tat im geschärften Blick für close reading als Methode eigenen Rechts. In den Literaturwissenschaften ist Lesen eben nicht bloß soft skill oder Kulturtechnik, sondern eine Kunst, wie Nabokov seine 1982 erschienenen Überlegungen zur europäischen Literatur seit Cervantes überschrieben hat. Dabei geht es nicht um Mimikry ans Objekt – obwohl zum Sonderfall der Literatur- im Unterschied zur Kunst- und Musikwissenschaft als besondere Herausforderung die Überschneidungen von Objekt- und Metasprache gehören –, sondern um kontrollierbare Verfahren. Szondi schrieb: »es gibt keine ›Überinterpretation‹, die nicht auch schon falsch wäre«.

Einen solchen sowohl emphatischen wie methodisch gehegten Lektürebegriff findet man nach Szondi eigentlich nur noch bei Paul de Man. Seine radikal anti-hermeneutischen Allegorien des Lesens (1979) trieben das Lesen allerdings nüchtern und kontrolliert in die Aporie der Unlesbarkeit und damit in seine eigene Unmöglichkeit. Angeschlossen hat daran, ebenfalls aporetisch, in Deutschland wohl nur Werner Hamacher, in erbitterter Auseinandersetzung mit dem hermeneutischen Sinn- und Verstehensbegriff in den Aufsätzen seiner Sammlung Entferntes Verstehen (1998) und etwa zehn Jahre später im Zeichen einer eigenwilligen Inanspruchnahme der Philologie in Für – die Philologie (2009).

Obwohl North sich unter ganz anderen fachgeschichtlichen Prämissen für die Lektüre als Praxis einsetzt, klingt es wie ein Echo auf Norths Abrechnung mit seinem Fach, wenn man bei Hamacher über die Philologie liest, sie sei »zu einer Hilfsbranche der Historiographie, der Soziologie, der Psychologie, der Kulturanthropologie und der Technikgeschichte geworden« und habe »sich den von ihnen diktierten Aufmerksamkeiten, Perspektiven und methodologischen Imperativen gefügt«. Mit für diesen Autor eigentlich nicht typischer Großzügigkeit fügte Hamacher hinzu, solches sei »nicht immer zu ihrem Schaden, aber selten zugunsten ihrer kritischen Kraft« geschehen.

Diese Haltung wurde jüngst gestärkt. Die Berliner Altphilologin Melanie Möller nahm das Erscheinen des von Luisa Banki und Michael Scheffel herausgegebenen Bands Lektüren: Positionen zeitgenössischer Philologie (2017) in der FAZ vom 28. Mai 2018 zum Anlass, eine »Renaissance der Philologie« teils zu verkünden, teils zu fordern. Vehement plädierte sie dafür, »die Texte wieder zu ihrem Recht kommen« zu lassen, »während die Literaturwissenschaft prekäre Verhältnisse mit Kultur- und Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Philosophie eingeht«. Und darüber entbrannte sogleich ein Streit, den dieses Mal erfreulicherweise keine Herren, sondern Damen bestritten. Im Namen des Methodenpluralismus und seiner Errungenschaften widersprachen Claudia Dürr, Andrea Geier und Berit Glanz am 6. August 2018 ebenfalls in der FAZ. Der in Kopenhagen lehrende Literaturwissenschaftler Christian Benne sprang Melanie Möller bei und trat seinerseits für close reading ein: »Arbeit am Text« erschöpfe sich eben nicht in »textimmanenter Versenkung«, wie die Autorinnen unterstellt hatten.

Was diese eigentlich begrüßenswerte Wiederentdeckung der genauen Lektüre problematisch macht und von Autoren wie Szondi oder Hamacher unterscheidet, ist ihr immer wieder neu umschriebenes Telos. Der Nachvollzug der Eigenbewegung des Texts, den der Heidelberger Philologe Jürgen Paul Schwindt etwas irreführend auf den Namen einer »athematischen Lektüre« getauft hat[17] – irreführend, weil, um es mit einem Satz Adornos zu sagen, »Sprache […] ihr semantisches Element nicht abschütteln, nicht rein mimetisch oder gestisch werden kann« –, mündet nämlich stets verlässlich in der »Reflexivität des Textes« (Möller): Der »sich selbst kommentierende« (Benne) und »die eigene Gemachtheit« (Möller) mitreflektierende Text, das sind alles Relikte einer subjektphilosophischen Gedankenfigur, die gerade Hamacher zeitlebens bekämpft hat.

Traut man dem Verfahren des close reading als auf die Eigenlogik der Texte bezogener Erkenntnisleistung so wenig zu, dass dabei immer nur eine modernistisch prämierte Selbstreferenzialität herauskommt, die stets Gefahr läuft, den Hermeneuten nur ihre eigene Reflexivität widerzuspiegeln? Freilich hat Benne recht, dass es »ohne Anerkennung von Subjektivität […] in den Geisteswissenschaften keine Objektivität« gibt. Szondi sah das auch so, aber von Selbstreflexion des Texts oder der mit ihm beschäftigten Subjekte ist auch bei ihm die Rede nicht.

Close reading kann doch viel mehr! Wo die Lektüren gelungen sind (und nur diese Fälle zählen), treten Theoreme (Ästhetik, Affekt, Hermeneutik und Philologie) in den Hintergrund und die vexatorischen Fragen nach Text vs. Kontext, thematischer vs. athematischer Lektüre, Literatur vs. Kultur etc. stellen sich in dieser Form nicht mehr. Vorgemacht hat das der New Historicism, dem es auch programmatisch um die Überwindung solcher Gegensätze ging: Stephen Greenblatts Shakespeare-Bücher in den USA oder Moritz Baßlers Verfahrensstudien zur Popliteratur und zum Realismus hierzulande.

Das Schöne an gelungenen Lektüren ist ihre überragende Evidenz. Man weiß sofort, ob gelesen wurde – oder eben nicht. Und dass das nicht bloß einmal und endgültig geschieht, sondern immer wieder neu und anders möglich ist, dafür sorgt der Unterschied zwischen der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft als Kunstwissenschaft:

»Während die Geschichtswissenschaft ihren Gegenstand, das vergangene Geschehen, aus der Ferne der Zeiten in die Gegenwart des Wissens, außerhalb dessen es nicht gegenwärtig ist, hereinholen muß und kann, ist dem philologischen Wissen immer schon die Gegenwart des Kunstwerks vorgegeben, an dem es sich stets von neuem zu bewähren hat. […] Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen, nicht bloß weil es sich, wie jedes andere Wissen, durch neue Gesichtspunkte und neue Erkenntnisse ständig verändert, sondern weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann« (Szondi)

Das bedarf des immer strittigen und streitbaren Vollzugs der Lektüre. Auf die Herausforderung durch andere Disziplinen, Verfahren und Gesichtspunkte, einschließlich der Geschichtswissenschaft, wollen wir dabei ebenso wenig verzichten wie auf die Erweiterung der Gegenstandsfelder.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. Ihr Beitrag erschien erstmals in »Merkur«, Nr. 855, August 2020, S. 55-65.

[1] Gumbrecht hat inzwischen nachgelegt und sich unter dem Titel »Gelenke des Lichts« in der FAZ vom 22. April 2020 genauer erklärt.

[2] Joseph North, Literary Criticism. A Concise Political History. Cambridge, MA: Harvard University Press 2017.

[3] Vgl. etwa Christoph König et al. (Hrsg.), Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien.

[4] Eine andere Art der ›strategischen Historisierung‹ hat jüngst Patrick Eiden-Offe im Anschluss an Jacques Rancière erörtert: »Verrufenes Historisieren«, ZfL BLOG, 29. April 2019.

[5] Vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, »Um die ›Historisierung des Nationalsozialismus‹. Ein Briefwechsel«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36, 1988, S. 339–372.

[6] Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964.

[7] Vgl. Roger Kimball, Tenured Radicals. New York: Harper & Row 1990.

[8] Vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. München: Beck 2015; Achim Geisenhanslüke, Textkulturen. Literaturtheorie nach dem Ende der Theorie. Paderborn: Fink 2015.

[9] Vgl. Albrecht Koschorke, »Die akademische Linke hat sich selbst dekonstruiert. Es ist Zeit, die Begriffe neu zu justieren«, in: NZZ, 18. April 2018 sowie die als Kooperationsveranstaltung des Konstanzer Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne« mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt veranstaltete Konferenz »Concerning Matters and Truth. Postmodernism’s Shift and the Left-Right-Divide«, 4. bis 6. Oktober 2018.

[10] Vgl. Christoph Möllers, »Disziplinbegrenzung zwischen Historismus und Relevanzbedürfnis«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (4), 2015, S. 485–493.

[11] Hinzufügen könnte man noch den New Historicism und den New Materialism. Über Ersteren informiert luzide Moritz Baßlers Einleitung in dem von ihm herausgegebenen Band New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen: Francke 2001; Letzteren kennt man auch unter dem Begriff Spekulativer Realismus. Vgl. Armen Avanessian (Hrsg.), Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert. Berlin: Merve 2013.

[12] Dermot Ryan, Autor einer Rezension in boundary 2 von 29. Januar 2018, begnügte sich damit, Norths wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Argumente als ›romantische Antikapitalismuskritik‹ abzutun. Zu den lesenswerteren, weil gelasseneren, Besprechungen gehört die von Bruce Robbins in Los Angeles Review of Books, 14. Mai 2017.

[13] Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2003.

[14] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 2012, und Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017.

[15] Und sich überdies an den Artikel von Justin Stover (»Warum es keine guten Gründe zur Verteidigung der Geisteswissenschaften gibt«, in: Merkur 72, Heft 828, Mai 2018, S. 25–39) erinnern, mit dem auch Gumbrecht schließt, um zu versichern: »Sollten Universitäten und Bildungspolitik ihnen [den Geisteswissenschaften] die finanzielle Unterstützung entziehen, wird ihr Leben außerhalb dieses Rahmens weitergehen, der ihnen in der Vergangenheit eine Form gegeben hat, aber keinesfalls ihr Ursprung war.«

[16] Etwas anders sieht es wohl in der Fachgeschichte der DDR auch über den Mauerfall hinaus aus. Vgl. Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990.

[17] Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Heidelberg: Winter 2016.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Altes und Neues aus den Literaturwissenschaften, in: ZfL BLOG, 7.9.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/09/07/eva-geulen-altes-und-neues-aus-den-literaturwissenschaften/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200907-01

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Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/01/27/pola-gross-stilisierung-zum-kuschel-philosophen-zur-rezeption-von-adornos-aspekte-des-neuen-rechtsradikalismus/ Mon, 27 Jan 2020 14:14:23 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1336 Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf Weiterlesen

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Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf »erstaunliche Parallelen« zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den »gegenwärtigen Entwicklungen«.[2] Die meisten Rezensionen, von der Süddeutschen Zeitung über die Welt bis zur ZEIT, konstatieren in eben diesem Sinne eine verblüffende Aktualität von Adornos Vortrag, die Redaktion von Spiegel Online attestiert Adorno gar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie titelt: »Was Adorno 1967 schon über die Neue Rechte wusste

Angeregt wurde diese Rezeption durch das clevere Marketing des Suhrkamp-Verlags, der den Vortrag im Klappentext der handlichen Ausgabe als »Flaschenpost an die Zukunft« bewirbt. Bekräftigt wird diese Analogie zwischen heute und den 1960er Jahren durch den Hinweis auf das Nachwort des Historikers und Publizisten Volker Weiß, der den »Wert« von Adornos Überlegungen »für unsere Gegenwart« herausarbeite.[3] Dieses Nachwort beginnt tatsächlich mit der Feststellung, dass sich Adornos Vortrag »passagenweise wie ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen« lesen lasse.[4] Damit ist es dem Verlag geschickt gelungen, die Dringlichkeit des schmalen Bändchens zu behaupten – in kaum einer Buchhandlung, die etwas auf sich hielt, stand es letzten Sommer nicht an verkaufsstrategisch prominenter Stelle.

Magnus Klaue ist einer der wenigen Rezensenten, der in die Jubelrufe nicht einstimmt. In seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisiert er nicht Adornos Vortrag selbst, sondern die aus seiner Sicht »um den Preis der Enthistorisierung« allzu munter betriebene Parallelisierung der damaligen mit aktuellen politischen Entwicklungen. Klaue plädiert für die Einordnung von Adornos Vortrag in seinen zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, da sich die Situation Ende der 1960er Jahre von der heutigen deutlich unterscheide. Insbesondere kritisiert er eine tatsächlich recht lapidar anmutende Formulierung aus dem Nachwort:

»Zu einer Historisierung Kritischer Theorie besteht also kein Anlass« (S. 86).[5]

Ausgehend von dieser Formulierung weist Klaue Weiß in durchaus polemischem Ton eine enthistorisierende Lektüre und falsche historische Gleichsetzungen wie beispielsweise die zwischen Rechtsradikalismus und Nationalsozialismus nach. In weitaus weniger polemischer Manier verdeutlicht er jedoch den Punkt, um den es ihm dabei geht: Gerade wenn Adornos kritische Theorie und Thesen heute noch etwas ausrichten sollen, müssten sie historisiert werden. Es gelte »ihren Zeitkern zu entfalten, um im Licht der Differenz zur Gegenwart die Frage aufzuwerfen, was sie heute erhellen können.« Eine »forcierte Aktualisierung« dagegen, wie Weiß und der Großteil des Feuilletons sie betrieben, hebt nach Klaue »wider Willen jene Momente hervor, in denen ein Denken wirklich historisch geworden ist«, und verfehlt damit das eigentliche Anliegen, nämlich Antworten auf die drängenden Fragen nach dem Umgang mit und der Bekämpfung von rechten Bewegungen und Parteien zu finden.

Wie berechtigt ist die Kritik an Weiß? Zunächst möchte man ihr vorbehaltlos zustimmen, denn tatsächlich kommt sein Nachwort ein wenig zu leichtfüßig daher, wenn er gegen Adornos Kritik an der Reproduktion mündlicher Vorträge, in denen dieser »ein Symptom jener Verhaltensweise der verwalteten Welt« sieht, »welche noch das ephemere Wort, das seine Wahrheit an der eigenen Vergänglichkeit hat, festnagelt, um den Redenden darauf zu vereidigen«,[6] lediglich einwendet, dass der Inhalt von Adornos Rede eben nicht von flüchtigem Charakter sei (S. 60). Stattdessen hätte Weiß auf die sorgfältig edierte, zwei Monate später erscheinende Gesamtausgabe von Adornos Vorträgen 1949–1968 verweisen können, die der von Adorno benannten Gefahr durch eine ausführliche Kontextualisierung zu begegnen versucht. Auch scheint Klaues Kritik an einer Einebnung der historischen Differenzen berechtigt, wenn man Stellen wie die folgende bei Weiß betrachtet: »Zu seinem [Adornos, PG] historischen Fluchtpunkt, dem Nationalsozialismus, und dem unmittelbaren Redekontext, den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, tritt nun eine Gegenwart, in der sich eine äußerste Rechte erneut zur einflussreichen politischen Kraft entwickelt. Das verleiht Adornos Worten ihre Aktualität.« (S. 61) Kurz darauf betont allerdings auch Weiß, dass Adornos Überlegungen nicht unumwunden auf heute zu übertragen und die »Unterschiede zu beachten« seien (S. 74). Unter Rückgriff auf Adornos berühmte Formulierung vom Zeitkern der Wahrheit [7] fordert Weiß in durchaus ähnlicher Formulierung wie Klaue: »Die hellsichtig wirkende Aktualität ist mit dem historischen Zeitkern ihrer Wahrheit ins Verhältnis zu setzen.« (S. 62) Solche Formulierungen deuten darauf hin, dass die wie in obigem Zitat mitunter etwas vorschnell gezogenen Parallelen zwischen den 1930ern, 1960ern und 2010ern wohl vor allem dem Zweck geschuldet sind, das Nachwort für die sommerliche Ausgabe schnell fertigzustellen. Denn bei allen tatsächlich zu leichtfertigen Vergleichen (wie zum Beispiel von Adornos Erörterungen der Propagandatechnik der NPD mit heutigen medialen Erscheinungsformen wie Bots, Trollen und Fake News), die einer differenzierteren Analyse bedurft hätten, geht es Weiß vor allem darum zu zeigen, dass in einer Gegenwart, in der Politiker*innen, Intellektuelle, Journalist*innen und große Teile der Öffentlichkeit gleichermaßen mit Rat- und Hilflosigkeit auf den Erfolg rechter Parteien blicken, die Texte der Kritischen Theorie wertvolle Einsichten und Analyseinstrumente bereithalten könnten, um der zunehmenden Gefahr von rechts zu begegnen.

Unter diesem Blickwinkel betrachtet scheint es so, als ob Klaue und Weiß grundsätzlich gar nicht so weit voneinander entfernt sind, jedoch gänzlich Unterschiedliches unter Historisierung verstehen: Was Weiß als Historisierung der Kritischen Theorie ablehnt, ist vor allem eine Relativierung ihrer Einsichten und Positionen. Gegen den relativistischen Vorwurf des Veraltetseins hebt er daher bewusst hervor, dass die Arbeiten der Kritischen Theorie für aktuelle gesellschaftstheoretische und -politische Analysen »unverzichtbar« seien (S. 87). Klaue dagegen versteht unter Historisierung die Einbettung von Adornos Überlegungen in ihre jeweiligen historischen und theoretischen Kontexte. Nur aus diesen heraus und mitunter im Widerspruch zur heutigen Situation können sie ihre Sprengkraft entfalten: »Nur ein Denken, das nicht zu jeder Zeit zu allem passt, ist lebendig.« Wollen Klaue und Weiß also letztlich dasselbe, haben aber unterschiedliche Begriffe von Historisierung?

Wie auch immer man diese Frage beantwortet, festzuhalten bleibt, dass Klaue kritischer und deutlicher als die meisten Rezensent*innen darauf hingewiesen hat, dass Adornos Thesen nicht umstandslos auf die Gegenwart zu übertragen sind, wenn sie wirksam sein sollen. Die Einbettung seiner Argumentation in ihren ursprünglichen Kontext ist wichtig, um die heutige Situation nicht herunterzuspielen. Adorno attestiert der NPD beispielsweise Diskursfeindlichkeit und »Theorielosigkeit« (S. 448); beides kann von der Neuen Rechten heute (leider) nicht mehr behauptet werden. Auch Weiß’ Feststellung, dass im Nationalsozialismus »der Rechtsradikalismus […] Staatsraison gewesen« sei (S. 67f.), setzt nicht nur beide Phänomene fälschlich in eins, sondern macht es sich – und vor allem der Neuen Rechten – entschieden zu einfach. Denn genau diese Argumente kennt Letztere mittlerweile nur zu gut und hat gelernt, sie etwa durch den knappen Hinweis, eine demokratische Bewegung zu sein, abzutun. Erst das genaue Auseinanderhalten der historisch unterschiedlichen Zeiten und Sachverhalte ermöglicht eine treffende Analyse der jeweiligen Phänomene. Ansonsten verkennt man, was sich geschichtlich geändert hat: Die Kritik sitzt besser, wenn man unterscheidet.[9]

Eine Enthistorisierung von Adornos Vortrag im Sinne einer vorschnellen Aktualisierung dagegen trägt dazu bei, seine Thesen zu entschärfen und Adorno selbst zu einer Art Kuschel-Philosophen zu degradieren. Auf einmal macht man es sich mit dem guten alten Adorno (wer hätte das gedacht?) auf dem Sofa gemütlich, nickt zustimmend zu den so aktuell anmutenden Thesen, legt das Bändchen weg und wähnt sich selbst schon recht widerständig. Einer solchen Rezeption leistet auch die handliche Ausgabe Vorschub, die vor allem die Aktualität des Vortrags betont und dadurch verpasst, die historischen und theoretischen Voraussetzungen und Anlässe von Adornos Denken zu klären.

Kurzum: Trägt nicht gerade die Herauslösung von Adornos Vortrag aus seinem historisch-theoretischen Kontext dazu bei, sich mit der scheinbar so gut aufgehenden Analogie zu begnügen und dabei das (Weiter-)Denken einzustellen? Damit gerät man dann allerdings erst recht in jenes »schlecht zuschauerhafte[] Verhältnis zur Wirklichkeit« (S. 467), vor dem Adorno am Ende von Aspekte des neuen Rechtsradikalismus warnt. Eine Lektüre, die die historischen Differenzen allzu schnell beiseite wischt, stilisiert Adorno zu einem Klassiker (der er nie gewesen ist), dessen einzig kritisches Potential darin besteht, der Gegenwart nahezu prophetisch die politische Analyse abzunehmen. Dass dies genau nicht sein Anliegen war, stellt Adorno selbst am Ende seines Vortrags durch die Weigerung klar, Prognosen über die Zukunft des Rechtsradikalismus zu geben:

»Ich halte diese Frage für falsch, denn sie ist viel zu kontemplativ. In dieser Art des Denkens, die solche Dinge von vornherein ansieht wie Naturkatastrophen, über die man Voraussagen macht wie über Wirbelwinde oder über Wetterkatastrophen, da steckt bereits eine Art von Resignation drin, durch die man sich selbst als politisches Subjekt eigentlich ausschaltet […].« (S. 466f.)

Mit Adorno selbst muss man daher Einspruch erheben gegen die Verklärung seines Vortrags als »Flaschenpost an die Zukunft«.

 

[1] Der Vorabdruck ging dem von Michael Schwarz edierten Band Theodor W. Adorno. Vorträge 1949–1968 voraus, der innerhalb der vom Theodor W. Adorno Archiv herausgegebenen Nachgelassenen Schriften im September 2019 erschien und insgesamt zwanzig bisher unveröffentlichte Vorträge versammelt. Umfassend und ausführlich werden die Vorträge in ihren theoretischen wie zeithistorischen Kontext eingeordnet. Im Folgenden zitiere ich Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus aus diesem Band unter Angabe der Seitenzahl im Text.

[2] Raphael Schmaroch: »Theodor W. Adorno. ›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‹«, Deutschlandfunk, 2.9.2019 (zuletzt abgerufen am 16.1.2020).

[3] Klappentext zu: Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag, Berlin 2019.

[4] Volker Weiß: »Nachwort«, in: ebd., S. 59–87, hier S. 59. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl im Text.

[5] Diese Aussage zweifelt auch Rudolf Walther in der taz an, allerdings weniger aufgrund einer problematischen Enthistorisierung von Adornos Thesen, sondern weil ihn diese in ihrer Skizzenhaftigkeit enttäuschten; vgl. Rudolf Walther: »Drastische Namen für Propaganda«, in: Die Tageszeitung, 15.7.2019 (zuletzt abgerufen am 16.1.2020).

[6] Theodor W. Adorno: »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«, in: ders.: Gesammelte Schriften 20.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 360, Fußnote.

[7] Adorno spricht an vielen Stellen in seinem Werk vom Zeitkern der Wahrheit; vgl. exemplarisch Adorno: Der Essay als Form, GS 11, S. 18.

[8] Vgl. hierzu auch die bisherigen Beiträge des ZfL zum Jahresthema »Historisieren heute«.

[9] Diese Formulierung verdanke ich Hendrik Gehlmann.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL. In diesem Jahr erscheint bei De Gruyter ihre Dissertation unter dem Titel »Adornos Lächeln: Das ›Glück am Ästhetischen‹ in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Pola Groß: Stilisierung zum Kuschel-Philosophen. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, in: ZfL BLOG, 27.1.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/01/27/pola-gross-stilisierung-zum-kuschel-philosophen-zur-rezeption-von-adornos-aspekte-des-neuen-rechtsradikalismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200127-01

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Maria Kuberg: DRAMA, NACH DER HISTORISIERUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/06/11/maria-kuberg-drama-nach-der-historisierung/ Tue, 11 Jun 2019 08:47:50 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1077 Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht – bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik – Lyrik – Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Weiterlesen

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Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht – bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik – Lyrik – Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Konstrukte zu beschreiben, haben nicht selten zum Verschwinden der Gegenstände geführt. So ist etwa das Epos, das freilich ohnehin bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht recht floriert hatte, mit F. A. Wolffs Annahmen über die historischen Entstehungsbedingungen der antiken Epen und endgültig mit Hegels Bemerkungen über die Archaik und Ursprünglichkeit der epischen Dichtung zu einer Gattung der fernen Vergangenheit degradiert und das Verfassen von modernen Epen zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt worden.[1] Ähnlich ist es, wenn auch wesentlich später, dem modernen Drama ergangen. Das Drama ist besonders schwer zu historisieren, weil es einerseits eine Gattungstradition hat, die bis zu den Tragödien der griechischen Antike zurückreicht, es aber andererseits stärker als andere Gattungen permanent aktualisiert werden muss, nämlich auf der Bühne. Damit pendelt die Gattung zwischen dem Anspruch überzeitlicher Gültigkeit und einer Wandelbarkeit, die gleichermaßen die Möglichkeit der Historisierung infrage zu stellen scheinen.

Diese Herausforderung nimmt Peter Szondi mit seiner Dissertation Theorie des modernen Dramas (1880–1950) an, die er 1954 bei Emil Staiger in Zürich einreicht. Anstatt das ontologische Gattungsverständnis seines Lehrers zu übernehmen, geht Szondi, wie seine Vorbilder Benjamin, Lukács und Adorno, von der Annahme eines dialektischen Form-Inhalt-Verhältnisses aus. »Wahrhafte Kunstwerke«, zitiert Szondi Hegel, »sind eben nur solche, deren Inhalt und Form sich als durchaus identisch erweisen.«[2] Wenn nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass in der Literatur geschichtliche Inhalte in zeitlose Formen gegossen werden, sondern der Inhalt in die Form und diese umgekehrt in den Inhalt umschlägt, habe das »die Historisierung des Formbegriffs zur Folge, letztlich die Historisierung der Gattungspoetik selbst« (S. 12). Aus diesem Paradigmenwechsel zieht Szondi Konsequenzen für sein Verständnis literarischer Gattungen. Anders als für Benedetto Croce, der die Konstruktion der Gattungstrias grundsätzlich ablehne, oder für Staiger, der die Gattungsbegriffe als zeitlose Seinsweisen auffasse, bleibt für Szondi nur das »Ausharren auf historisiertem Boden« (S. 13): Wenn Inhalt und Form in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, dann, so der Schluss, hat die Form selbst ihre eigene, vom Inhalt zunächst unabhängige »Aussagefähigkeit« (ebd.), die mitunter auch zur inhaltlichen Aussage in Widerspruch geraten kann. Von dieser hegelianischen Grundannahme ausgehend leistet nun Szondi für das Drama, was Lukács 1916 für den Roman unternommen hatte: die Historisierung der Gattung vor dem Hintergrund der Modernekrise.

Für Szondi entsteht das Drama der Neuzeit in der Renaissance und ist Ausdruck des neuen Welt- und Menschenbildes. In Szene gesetzt wird das Individuum als handelndes Subjekt, das sich »im zwischenmenschlichen Bezug[ ] allein« (S. 16) konstituiert. Dazu muss das Drama Szondi zufolge »absolut« sein, und zwar in dreifacher Weise, nämlich erstens als Absolutheit der Gegenwart, indem es auf die Montage von Vorgriffen auf Zukünftiges oder Erinnerungen an Vergangenes verzichtet und stattdessen seine Handlung als reine »Gegenwartsfolge« (S. 19) vorführt; zweitens als Absolutheit des Zwischenmenschlichen, indem es seine Handlung aus dem Dialog und der Interaktion der Figuren entwickelt; und drittens als Absolutheit des Geschehens, indem es nicht erzählend, erläuternd oder beschreibend verfährt, sondern in der direkten Darstellung seiner Handlung besteht (18, 70). Diese dreifach absolute Form sieht Szondi bereits für das Theater der 1880er Jahre in einer Krise, weil sie sich immer weniger mit der Welterfahrung der Moderne deckt. Nicht mehr als autonomes Subjekt, sondern als durch seine Vergangenheit und Zukunft, durch seine Umwelt, seine Kontexte und vor allem durch den Zufall bestimmte Entität erlebt sich der Mensch der Moderne – die auf das handelnde Subjekt abstellende Form des Dramas wird problematisch. Die Dramen der Moderne reagieren auf diese Krise mit Versuchen, die alte Form zu retten (dafür stehen bei Szondi der Naturalismus, das Konversationsstück, der Einakter oder das existentialistische Drama), oder aber mit dem Versuch, die Formkrise durch Anpassung der dramatischen Gattung, genauer: durch ihre Episierung, zu lösen. Die Episierung, deren prominentester Vertreter natürlich Brecht ist, bedeutet dabei übrigens auch eine Historisierung der Form in einem ganz anderen Sinne: Sie markiert den Einbruch von Vergangenheit und Zukunft in die reine Gegenwart des Dramas, insofern nun, wie bei Ibsen, vergangenes Geschehen von den Figuren erinnernd vergegenwärtigt (S. 30), oder zukünftige Ereignisse, wie bei Tschechow, sehnsüchtig antizipiert werden können (S. 34).

Szondis Historisierungsprojekt hat aus heutiger Perspektive einen Haken. Die ihm zugrunde liegende quasihegelianische Geschichtsauffassung, nach der verschiedene Zeiten verschiedene Kunstformen hervorbringen, welche mit dem Ende ihrer Epochen obsolet werden, setzt letztlich dazu an, das Drama wegzuhistorisieren. Was bei Szondi aber allenfalls den Horizont bildet, entfaltet seine fatalen Konsequenzen erst in der Rezeptionsgeschichte der Theorie des modernen Dramas. Während Szondi zur Lösung der Krise des Dramas den Schwerpunkt vom Dramatischen hin zum Epischen verlagerte, lässt sein Schüler Hans-Thies Lehmann auch noch die Episierung des Dramas hinter sich, die, so Lehmann, mit Figuration und Narration selbst noch gewissen zu überwindenden Kategorien verhaftet bleibe.[3] Lehmann kehrt sich von der literarischen Gattungstrias vollständig ab und versteht das postdramatische Theater als überhaupt nicht mehr literarische, sondern rein theatrale Gattung, deren Charakteristika in der Performanz der Aufführung auszumachen sind. Mit der »Aufhebung« noch der Gegenbegriffe des Dramatischen vollzieht Lehmann, so Peter Boenisch, eine »Aufhebung der Aufhebung«: »Das postdramatische Theater (Lehmanns Studie wie auch die darin untersuchte Theaterästhetik) hebt somit Szondi mit Szondi selbst auf.«[4]

So wird in der von Szondi inspirierten Forschung der 1990er Jahre das Drama als literarische Gattung ausgeixt. Mit der Ablehnung des literarischen Gattungsparadigmas, das nicht nur für historisch bedingt und wandelbar, sondern als für das Theater der Gegenwart ungültig erklärt wird, scheinen die Literaturwissenschaften die Zugriffsmöglichkeit auf diese Texte zu verlieren. Jedenfalls werden aktuelle, für das Theater geschriebene Texte kaum noch literaturwissenschaftlich rezipiert. Das macht die Disziplin blind für eine gesellschaftlich noch lange nicht irrelevante Form der Produktion, Rezeption und mitunter lebhaften Diskussion von Literatur, die umgekehrt weder die Kritik noch die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient und die sie braucht.

Von literaturwissenschaftlicher Seite ist dieses Problem indes bislang so wenig zur Kenntnis genommen worden, dass selbst noch die daraus resultierenden begrifflichen Schwierigkeiten einer Lösung harren. Kann man etwa Texte wie Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen oder Izutsu, ein Nō-Stück von Zeami Motokiyo aus dem Japan des 15. Jahrhunderts, als Drama bezeichnen? Wenn ›Drama‹ schlechthin alle Texte meint, die auf eine mögliche Aufführung hin geschrieben wurden,[5] erweitert das den Begriff bis zur Aussagelosigkeit und verkennt den Einschnitt, den die von Szondi zuerst diagnostizierte Krise des Dramas markiert. ›Drama‹, so heißt seit Szondi eine historisch gewordene Form abendländischen Theaters, das mit der Moderne in eine Krise geraten und aus ihr verändert herausgegangen ist. Hingegen von »nicht mehr dramatischen Theatertexten«[6] zu sprechen, berücksichtigt diesen Einschnitt, reduziert aber die durch diesen Begriff bezeichnete Literatur auf ein epigonales Verhältnis zum Drama, das so als historisch überholte, aber nach wie vor paradigmatische Gattung im Hintergrund bleibt.

Die von Szondi gestellte Diagnose der Krise des Dramas bleibt unhintergehbar. Die geschichtsteleologischen Prämissen seiner Theorie sind aber zu hinterfragen.[7] Eine Historisierung der dramatischen Gattungen müsste in der Lage sein, »die kontinuierliche Weiterentwicklung theatraler Formen auch jenseits der dramatischen Dominanten nicht als linear verlaufende historische Progression zu lesen (nun etwa als ›Überwindung‹ des Dramas im Postdramatischen Theater), sondern besonders auf jene Manifestationen zu achten, die sich solcher Geradlinigkeit widersetzen.«[8] Das erfordert letztlich, Gattungen nicht als statische Formen, sondern als performativ laufend neu hervorgebrachte Konstrukte aufzufassen, oder als habitualisierte Klassifikationshandlungen.[9] Ein solches Gattungsverständnis könnte der spezifischen Medialität von Theatertexten gerecht werden und zugleich der Literaturwissenschaft, die das Feld zeitgenössischer Theatertexte beinahe vollständig den Theaterwissenschaften geräumt hat, einen neuen Zugang zu diesen Texten ermöglichen. Und es böte schließlich eine Grundlage, um über die Bedeutung der Gattungstrias für die literaturwissenschaftliche Arbeit zu diskutieren, die allem Anschein nach so machtvoll unsere Wahrnehmung beherrscht, dass in den Schatten tritt, was sich aus dieser Trias herausbegibt.

[1] Auch in der Moderne wurden allerdings weiterhin Epen geschrieben, hierzu arbeitet derzeit am ZfL Clara Fischer in ihrem Dissertationsprojekt »Experimentierfeld Versepos (1918–1933)«.

[2] Peter Szondi: »Theorie des modernen Dramas, 1880–1950«, in: ders.: Schriften, hg. v. Jean Bollack, Bd. I, Frankfurt a. M. 31989, S. 9–148, hier S. 12. Nachweise im Folgenden in Klammern im Text. Bei Hegel findet sich das Zitat in: G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 265 f.

[3] »Das postdramatische Theater ist ein post-brechtsches Theater.« Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 42008, S. 48.

[4] Peter Boenisch: Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell, in: Peter Marx (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 157–161, hier S. 160.

[5] Für einen sehr weiten Dramenbegriff plädiert etwa Kai Bremer: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956, Bielefeld 2017, S. 29.

[6] Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997.

[7] Vgl. dazu Marita Tatari: Zur Einführung. Theater nach der Geschichtsteleologie, in: dies. (Hg.): Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich, Berlin 2014, S. 7–21.

[8] Boenisch: Die »Absolutheit des Dramas«, S. 161.

[9] Vgl. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, S. 21.

Die Literaturwissenschaftlerin Maria Kuberg arbeitet am ZfL mit dem Projekt Einheit und Vielfalt. Epospoetiken des Späthumanismus und der Frühaufklärung. Ihr Beitrag erschien zuerst auf dem Faltplakat zum ZfL-Jahresthema 2019/2020, »Historisieren heute«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Maria Kuberg: Drama, nach der Historisierung, in: ZfL BLOG, 11.6.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/06/11/maria-kuberg-drama-nach-der-historisierung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190611-01

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Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/13/mareike-schildmann-patrick-hohlweck-auf-dem-boden-der-tatsachen/ Mon, 13 May 2019 07:49:54 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1118 Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Weiterlesen

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Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Sie greift damit eine bereits in Heft 9/1 geführte Diskussion um den Verlust sicher geglaubter Kriterien für die Bestimmung von Objektivität auf, dessen politische Brisanz Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway im Januar 2017 medienwirksam vorführte: Sie hatte bekanntlich erklärt, der Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, habe mit der Behauptung, bei der Amtseinführung Trumps seien mehr Zuschauer zugegen gewesen als bei derjenigen Barack Obamas, nicht etwa die Unwahrheit gesagt, sondern ›alternative Fakten‹ dargestellt. Im Kontext einer Selbstreflexion der Geistes- und Kulturwissenschaften ist diese Debatte von Bruno Latour bereits 2004 angestoßen worden; sein Aufsatz »Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern«[1] gehört in den fünf Beiträgen des Heftschwerpunkts dann auch zu den am häufigsten zitierten.

Dramatisch – vielleicht sogar »elend«, wie es der Titel der deutschen Übersetzung von Latours Text will [2] – ist die gegenwärtige Lage, weil die großzügige Ausweitung der Kriterien dessen, was als gesicherte oder belastbare Tatsache gelten kann, bekanntlich nicht nur die Leugnung unliebsamer Sachverhalte wie etwa des Klimawandels erlaubt, sondern auch die Verunmöglichung einer Diskussionskultur als Kern demokratischer Praxis bedeutet. Wenn wirklich nichts an sich wahr sein kann, weil – wie es eben der Begriff der ›alternativen Fakten‹ nahelegt – Wahrheit immer nur eine Frage der Perspektive oder des Glaubens ist, zielen Argumente und Kritik per se ins Leere. Dramatisch ist die Lage daher auch speziell für die Geisteswissenschaften, die ihre Rolle in der Öffentlichkeit traditionell in jenem Modus der Kritik ausgefüllt haben, der seit Latours Intervention selbst in Verdacht steht, die derzeitige Krise ausgelöst zu haben. Nach Latours Einschätzung – deren polemische Zuspitzung in Form eines veritablen ›Postmoderne‹-Bashings in jüngerer Zeit geneigtes Gehör gefunden hat – sind es dabei vor allem durch französische Denker*innen popularisierte Spielarten des Konstruktivismus, die eine massive Skepsis gegenüber scheinbar ideologisch gefärbtem wissenschaftlichem Wissen bewirkt und damit Wissenschaftsskepsis und Verschwörungstheorien verschiedenster Provenienz ein Einfallstor geboten haben.

Man kann es als Einsatz des Themenschwerpunkts der ZMK begreifen, auf dieses Problem eine Antwort zu finden. Strategisch nicht ungeschickt geschieht dies, indem mit Albrecht Koschorkes Aufsatz Linksruck der Fakten dem (Selbst-)Vorwurf an die ›Postmoderne‹ (und einen äußerst schwach konturierten Postkolonialismus)[3] zunächst einmal Raum gegeben wird. Im Zeichen einer Theoriegeschichte, die sich – wie zuletzt etwa auch bei Philipp Felsch und Ulrich Raulff – zunehmend der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuwendet, widmet sich Koschorke nicht nur jenen historischen wie politischen Möglichkeitsbedingungen, unter denen die Prämissen des Poststrukturalismus überhaupt erst formuliert werden und reüssieren konnten, sondern auch deren vermeintlich immanenten Aporien. Neben bekannten Argumenten, die bereits in einer publizierten Kurzform des vorliegenden Aufsatzes in der Neuen Zürcher Zeitung diskutiert wurden, findet sich hierbei auch durchaus Überraschendes: Etwa wenn Koschorke die Herausbildung isolierter communities und der Echokammern des Internets nicht nur mit dessen neuer techno-kommunikativer Ordnung in Verbindung bringt, sondern auch mit dem durch ein antizentralistisches und antiinstitutionelles Gemeindeprinzip charakterisierten Protestantismus seit Luther. Indem Koschorke schließlich darauf besteht, das »emanzipatorische Potential und die Erkenntnisleistungen der poststrukturalistischen Theorien mitsamt ihren globalen Fortentwicklungen« nicht »preiszugeben« (S. 118), formuliert er gleichsam den Auftakt für die folgenden Beiträge, die als kritische Reflexion wie auch als Weiterführung dieses Anliegens verstanden werden können.

Koschorkes nicht unstrittige Annahme, beim französischen Poststrukturalismus habe es sich um ein genuin ›linkes‹ Projekt gehandelt (das folglich auch als solches zur Rechenschaft zu ziehen wäre), spielt in den folgenden Beiträgen freilich keine Rolle. Gemeinsam ist diesen vielmehr das Bestreben, die ›Postmoderne‹ von dem – den Einfluss geisteswissenschaftlicher Theorie zweifelsohne überschätzenden – Vorwurf freizusprechen, verantwortlich für die Misere eines vermeintlich postfaktischen Zeitalters zu sein. Gemeinsam ist ihnen zugleich das Verfahren, mit dem sie diese Freisprechung zu bewerkstelligen versuchen, nämlich das der Historisierung. Wenn damit eine Kernkompetenz der Geistes- und Kulturwissenschaften zum Zuge kommt, wird zugleich die Leistungsfähigkeit der (nicht nur) postkritisch in Legitimationskrisen geratenen Disziplinen performativ und, wie vorwegzunehmen ist, überzeugend vorgeführt. So historisieren die Autor*innen das laxe Wahrheitsverständnis, das derzeit sowohl dies- als auch jenseits des Atlantiks von Politiker*innen populistischer Couleur in Anspruch genommen wird, bzw., unmissverständlicher formuliert, jenes Verhältnis von Politik und Lüge, das Ethel Matala de Mazza als Grundelement einer Politik der Staatsräson seit der Frühen Neuzeit beschreibt. Historisch kontextualisiert wird aber auch der Umstand, dass Fakten – wie es ihre in den Beiträgen immer wieder leicht variiert herangezogene Etymologie (lat. das Gemachte‹) vor Augen führt – keineswegs eine vorgängige, neutrale, selbstevidente Entität darstellen, sondern immer schon, in den Worten Cornelius Borcks, als »sozial konstruiert, technisch hergestellt und medial vermittelt« (S. 167) verstanden und damit auf menschliches wie nichtmenschliches Handeln unter konkreten historischen Bedingungen zurückbezogen werden müssen.

Speziell für den deutschsprachigen Kontext ließe sich dies um die begriffsgeschichtlichen Erläuterungen von Johannes F. Lehmann ergänzen [4], der im Anschluss an Lorraine Daston auf den genuin erzählenden Charakter des Fakts hingewiesen hat. Damit ist die inhärente Verbindung von Fiktion und Narration adressiert, die schon die aktenförmigen Darstellungen der species facti seit dem späten 17. Jahrhundert, aber auch die kuriosen Faktensammlungen in den Zeitungen am Ende des 19. Jahrhundert auszeichnete und die Personalunion von Literat und Journalist in der realistischen Literatur verbürgte. Narrativ organisierte Medien verfügen über keinen Begriff des Faktums, der einem Verständnis von der unverrückbaren Objektivität von Informationen und Tatsachen das Wort reden würde: Fiktion und Fakt stehen vielmehr, wie Eva Geulen jüngst mit Seitenblick auf den Fall Relotius im ZfL BLOG gezeigt hat, stets in einem intrikaten Verhältnis, das des analytischen Supplements bedarf.

Ebenso wenig wie eine Rückkehr zu einem Wahrheitsbegriff wünschenswert wäre, der auf die unbezweifelbare Evidenz und Alternativlosigkeit von Faktizität pocht, wie ihn der »March for Science« eingeklagt hat, ist allerdings die derzeitige Diskussion über ›alternative Fakten‹ lediglich als populistisches Bedrohungsszenario abzutun. Die finstere politische Großwetterlage sollte vielmehr, so stellen es insbesondere Borck und Oliver Fahle heraus, als Anlass zu einer Reflexion über den epistemischen Rang und die Legitimations- wie Vermittlungsstrategien von wissenschaftlichen Aussagen angenommen werden. In diesem Sinne wäre das Verhältnis von Wahrheit, Wissen und Objektivität unter den Bedingungen einer ebenso drastischen wie irreversiblen Transformationen der Wissens- und Informationszirkulation im Kontext neuer Kommunikationsmedien zu bedenken. Dass eine solche Reflexion auf veränderte Medienumwelten produktive Horizonte erschließen kann, machen die in allen Beiträgen vorgestellten mediengeschichtlichen Perspektiven deutlich. Dabei werden nicht nur die Operationsweisen und die Entwicklungsgeschichte neuerer Medien in den Blick genommen, die gemeinhin für die derzeitige Legitimationskrise als mitverantwortlich identifiziert werden – nämlich Computer (Vagt) und Internet (Fahle, Borck) –, sondern auch ältere mediale Transformationsprozesse herangezogen, wie die Verbreitung des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit, die Popularisierung (und Politisierung) des Zeitungswesens im 19. Jahrhundert und die Theorie des frühen Dokumentarfilms am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Selbst wenn man also darauf bestehen wollte, dass uns die ›postmoderne‹ Theoriearbeit den Boden der Tatsachen unter den Füßen weggezogen hat, ruft der Themenschwerpunkt des Heftes in Erinnerung, dass mit dem »Säurebad der Historisierung«, dem die vermeintlich »überzeitlich gültigen Entitäten«[5] zu unterziehen sind, ein probates Gegenmittel vorliegt. Dass mit derlei historischen Kontextualisierungen keineswegs die Notwendigkeit einer kritischen Selbstreflexion ausgeräumt ist, daran erinnert speziell für die Geisteswissenschaften der Beitrag von Borck. Diese Selbstreflexion führt allerdings weniger in historische Gefilde als in die zeitgenössischen der Politik. Wenn nämlich, wie Vagt zeigt, das gegenwärtige Misstrauen in Faktizität auch einer Auslagerung des Intellekts in technisch-ökonomische Systeme geschuldet ist, deren algorithmische Logik ganz dem Kosten-Nutzen-Kalkül verpflichtet ist, dann hat dies auch immanente Konsequenzen für das Vertrauen in Wissenschaft: Denn eine im Namen von ›Fördern und Fordern‹ vorangetriebene Kommerzialisierung, Ökonomisierung und Prekarisierung der Wissenschaft wird dieser zwangsläufig ein »Qualitätsproblem« einhandeln, das »ihre gesellschaftliche Anerkennung weit mehr gefährdet als populistische Wissenschaftsskepsis« (S. 181).

 

[1] Bruno Latour: Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 225–248; dt. Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich/Berlin 2007.

[2] Auf einen ebenso eklatanten wie unfreiwillig aussagekräftigen Fehler in der 2007 erschienen deutschen Übersetzung macht der Beitrag von Christina Vagt aufmerksam.

[3] Vgl. dazu aktuell kenntnisreich Vivek Chibber: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Berlin 2019.

[4] Johannes F. Lehmann: Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsgeschichte der ›Thatsache‹ und Kleists Berliner Abendblättern, in: DVjs 89 (2015), S. 307–322.

[5] Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essays zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016, S. 201.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Mareike Schildmann und der Literaturwissenschaftler Patrick Hohlweck arbeiten in dem ZfL-Forschungsprojekt »Lebenslehre – Lebensweisheit – Lebenskunst«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: Auf dem Boden der Tatsachen, in: ZfL BLOG, 13.5.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/13/mareike-schildmann-patrick-hohlweck-auf-dem-boden-der-tatsachen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190513-01

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Hannes Bajohr: BLUMENBERGS MÖGLICHKEITSGESCHICHTEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/07/hannes-bajohr-blumenbergs-moeglichkeitsgeschichten/ Tue, 07 May 2019 08:22:29 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1069 Als Hans Blumenberg 1974 den Kuno-Fischer-Preis für Philosophiegeschichte erhält, fällt in seiner Dankesrede der Satz: »Ich habe den Vorwurf des ›Historismus‹ immer als ehrenvoll empfunden.«[1] Aus dem Mund eines Philosophen muss diese Aussage verwundern, denn polemisch verwendet meint ›Historismus‹ schließlich das glatte Gegenteil von Philosophie: reines positivistisches Faktensammeln ohne alle Wertung. Die Genese der Phänomene Weiterlesen

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Als Hans Blumenberg 1974 den Kuno-Fischer-Preis für Philosophiegeschichte erhält, fällt in seiner Dankesrede der Satz: »Ich habe den Vorwurf des ›Historismus‹ immer als ehrenvoll empfunden.«[1] Aus dem Mund eines Philosophen muss diese Aussage verwundern, denn polemisch verwendet meint ›Historismus‹ schließlich das glatte Gegenteil von Philosophie: reines positivistisches Faktensammeln ohne alle Wertung. Die Genese der Phänomene klären zu wollen, ohne ihre Geltung bestimmen zu können – so ließe sich der »Vorwurf« zusammenfassen –, endet in einem aussagefreien Relativismus. Als philosophische Haltung löst der Historismus Philosophie in Geschichte auf. Dass er dennoch »ehrenvoll« sein kann, lässt sich für Blumenberg aber durchaus philosophisch begründen. Verstanden als Korrektur falscher Geschichtsverständnisse nämlich ist der Historismus für ein ganzes geschichtstheoretisches Programm nutzbar zu machen: Blumenberg nannte es einmal die »Destruktion der Historie«.[2]

Welche Art der Historie destruiert werden soll, verdeutlicht Blumenberg an verschiedenen Stellen seines Werks, zentral aber in Die Genesis der kopernikanischen Welt. Dort polemisiert er gegen etwas, das er »temporale Nostrozentrik« nennt, eine ›Wir-Zentriertheit‹ in der Zeit.[3] Er meint damit die Neigung, die Geschichte allein vom Heute her zu betrachten und ihrem wie auch immer gewundenen Verlauf eine Notwendigkeit zu verleihen, die alle Abzweigungen, die sie auch hätte nehmen können, willentlich ignoriert. Die Vergangenheit wird so zu einer Reihe von Durchgangsstadien auf dem Weg zur Gegenwart, die entweder ihr Ziel ist oder selbst wieder nur eine Zwischenstation hin zu einer als Telos gesetzten Zukunft. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist sowohl der Sinn für die Komplexität von Geschichte als auch der Eigenwert des derart Durchschrittenen. Die Chiffre »Historismus« dient Blumenberg also vor allem zur Korrektur allzu gradliniger und allzu gegenwartsbezogener Geschichtstheorien. Als Gegenstrategie fordert er, die Geschichte der Vergangenheit als Geschichte von Möglichkeiten zu schreiben, und plädiert für einen nichtlinearen Geschichtsverlauf, der Sprünge und Ungleichzeitigkeiten zulässt. Beides schließlich – und das ist erstaunlich für einen Philosophen, der nicht eben für normative Einlassungen bekannt ist – ist eng an ein historistisches Ethos geknüpft.

In der Genesis der kopernikanischen Welt richtet sich Blumenbergs Kritik am nichthistoristischen Denken gegen die Annahme, Kopernikus’ Entdeckung wäre zu jeder Zeit möglich gewesen. Diese Sicht argumentiere nämlich schon aus dem Bewusstsein der kopernikanischen Welt, für die das Band zwischen dem Jetzt und dem Vergangenen nur über andere Stationen gespannt werden muss, um zum selben Ergebnis zu gelangen. Doch nicht nur Kopernikus’ These selbst, sondern vor allem die Bereitschaft zu ihrer Rezeption sei »eingebaut und eingebettet in einen Zusammenhang von Prämissen« (165). Dass die Erde sich um die Sonne drehe, habe schließlich bereits Aristarch von Samos im vierten vorchristlichen Jahrhundert postuliert, der damit aber keine bleibende Wirkung erzielte, weil eine solche Kosmologie nicht mit dem antiken Weltbild vereinbar war (24). Zu untersuchen sei also weniger, welche Vorläufer das kopernikanische System hatte, sondern grundsätzlicher die »Bedingung der Möglichkeit, dass es überhaupt eine Wirkungsgeschichte des Kopernikus gibt.« Statt um die Rekonstruktion des Kopernikus geht es Blumenbergs Analyse also um die »Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus« (158).[4]

Diese Möglichkeitsgeschichte setzt die Verwobenheit der philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Elemente eines Weltbildes voraus. Nicht allein die kopernikanische Theorie, vielmehr ihre Welt soll das Untersuchungsobjekt sein, und anstatt »geschichtlich insulare Phänomene« in den Blick zu nehmen, müsse man »die Frage nach ihrem Rhizom« stellen (159). Das Wurzelnetzwerk ist, fünf Jahre bevor Deleuze und Guattari mit diesem Begriff ein Emblem postmodernen Denkens schaffen, Blumenbergs Bild für jenen »Zusammenhang von Prämissen« einer historischen Epoche, die immer nur im Ganzen zu behandeln sind. Blumenbergs methodischer Anspruch ist, in diesem Netzwerk den je denkbaren »Spielraum« an Möglichkeiten auszumessen, die »Variationsbreite, innerhalb deren bestimmte theoretische Handlungen möglich und andere ausgeschlossen sind« (158). Damit ist diese Möglichkeitsgeschichte eine Absage an bloß kausal-progressivistische Geschichtsmodelle, die in den Stufen Vorgeschichte, Phänomen, Wirkungsgeschichte denken. Gegen die Neigung, jeden historischen Moment als Station auf dem Weg zum nächsten anzusehen, mahnt Blumenberg an, das Möglichkeitspotential einer jeden Zeit selbst und für sich zu kartieren – so, wie auch der Historismus jede Epoche ›für sich‹ betrachten will.

Ist die Rekonstruktion von historischen Möglichkeiten die eine Strategie zur »Destruktion der Historie«, liegt die andere in der Abkehr von einem strikt linearen Fluss der Zeit:

»Die Geschichte verläuft nicht vor allem in diachronen Sequenzen dessen, was noch nicht ist, was ist und was nicht mehr ist, sondern in synchronen Parataxen und Hypotaxen.«[5]

Blumenberg gibt ein Beispiel einer solchen Ungleichzeitigkeit, indem er die kopernikanische Revolution in einem für sie wesentlichen Element als paradoxe Schleife beschreibt – als ein Ergebnis, das sich selbst zur Voraussetzung hat. Dazu bezieht er sich auf das erst von Newton formulierte Trägheitsprinzip, dem zufolge Körper ihre gradlinige und gleichförmige Bewegung beibehalten, sofern keine Kraft auf sie ausgeübt wird. Während das kopernikanische System gemeinhin als Voraussetzung für die Entdeckung der Trägheit betrachtet wird, besteht Blumenberg darauf, dass Kopernikus ohne eine ihr äquivalente Idee seine Theorie gar nicht hätte formulieren können.

Blumenberg rekonstruiert diese merkwürdige Schleife detailliert: Kopernikus griff, um die kontinuierliche Erddrehung ohne die ständige Zufuhr von Energie beschreiben zu können, auf den scholastischen Begriff des impetus zurück. Ursprünglich war er gedacht, den Effekt der Sakramente in Abwesenheit einer direkten Einwirkung Gottes zu erklären, implizierte also metaphorisch bereits die Erhaltung von Energie. Kopernikus zweckentfremdete die »übertragene Kausalität« des impetus und wandte sie auf die Physik der Himmelsobjekte an. Diese »Umbesetzung mittelalterlicher Systemstellen« (182) hatte,[6] so Blumenberg, einerseits die »Lockerung der Systemstruktur« der Scholastik zur Folge, die den Weg zum Bau der kopernikanischen Welt freigab; andererseits gelang Kopernikus damit die »Eröffnung der theoretischen Freiheit« (158), die nicht nur seine Theorie, sondern auch die Newton’sche Formalisierung erst erlaubte. An dieser Stelle ist bei Blumenberg die strikte Unterscheidung zwischen Vor- und Wirkungsgeschichte vollends destruiert und macht einer Temporalität Platz, die Latenzen zulässt. Mit der Idee linearer Geschichtsverläufe und mit allzu unproblematischen, antihistoristischen Fortschrittsannahmen hat das nichts mehr zu tun.

Historist zu sein, das heißt für Blumenberg also, in komplexen Potentialitäten zu denken und Eigenzeiten ernst zu nehmen. Damit geht er weit über die bloße Faktenakkumulation hinaus, die dem Historismus des 19. Jahrhunderts vorgeworfen wird – mehr noch, er widerspricht der narrativen Konstruktion einer einzigen Historie, stellt sich gegen die »Verdrängung der Geschichte durch eine Geschichte«.[7] Dazu setzt er auf die Konstruktion von Möglichkeitsräumen und auf einen Sinn für historische Ungleichzeitigkeiten. Das ist zunächst eine historiographisch-methodische Überlegung, die verlangt, den Blick für jene Hintergrundtransformationen zu schärfen, mit denen sich das Verständnis historischer Phänomene ändert, und ihre Kontingenz in ihren Spielräumen zu erkennen und ernst zu nehmen. Sie richtet sich gegen Geschichte als Erzählung »teils interessanter, teils wenigstens liebenswürdiger, wenn auch kaum noch begreiflicher Irrtümer« (272).

Doch Blumenbergs Möglichkeitsgeschichten gehen über die Kritik an der Historie noch hinaus. In ihnen steckt auch ein ethischer Appell, der in seinem Werk eine echte Seltenheit ist. Die Abkehr von der Nostrozentrik und die Entselbstverständlichung der Gegenwart nämlich restituieren jeder Zeit-Raum-Position ihre Würde, die ihr die »Arroganz der Gleichzeitigen« (200) abgesprochen hat. Gegen diese Anmaßung betont Blumenbergs Historismus, »daß alle geschichtlichen Zeitpunkte nach dem je gegenwärtigen hinsichtlich der radikalen Möglichkeiten des Menschen wieder äquivalent sind« (202). In der Rede zum Kuno-Fischer-Preis nennt er die Konsequenz seines Historismus mit einigem Pathos die »elementare Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben.« So verstanden wird Historismus zu einem Ethos, das fordert, auch »den obskur Gewordenen Respekt zu erweisen«.[8]

 

[1] Hans Blumenberg: »Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg 1974«, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 163–172, hier S. 170.

[2] Hans Blumenberg: »Paul Valérys möglicher Leonardo da Vinci«, in: Forschungen zu Paul Valéry/Recherches Valéryennes 25 (2012), S. 193–227, hier S. 224.

[3] Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, S. 201. Seitennachweise im Folgenden in Klammern im laufenden Text.

[4] Meine Hervorhebung. – Karin Krauthausen hat gezeigt, wie Blumenberg dieses Modell transzendentaler Geschichtsspekulation aus Paul Valérys Essays über Leonardo da Vinci gewinnt und mit der phänomenologischen Methode der ›freien Variation‹ kurzschließt, vgl. Karin Krauthausen: »Hans Blumenbergs möglicher Valéry«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 6, 1 (2012), S. 39–63.

[5] Hans Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M. 2001, S. 327–405, hier S. 345.

[6] Blumenberg formuliert seine Theorie der »Umbesetzung« in Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1988, S. 57–60.

[7] Blumenberg: »Ernst Cassirers gedenkend«, S. 171.

[8] Ebd., S. 170.

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr arbeitet am ZfL im Forschungsprojekt Negative Anthropologie. Geschichte und Potential einer Diskursfigur. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum ZfL-Jahresthema 2019/2020, »Historisieren heute«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hannes Bajohr: Blumenbergs Möglichkeitsgeschichten, in: ZfL BLOG, 7.5.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/07/hannes-bajohr-blumenbergs-moeglichkeitsgeschichten/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190507-01

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Patrick Eiden-Offe: VERRUFENES HISTORISIEREN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/04/29/patrick-eiden-offe-verrufenes-historisieren/ Mon, 29 Apr 2019 07:39:48 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1066 In Das Elend der Philosophie seziert Marx das Vorgehen der »bürgerlichen« Ökonomen in wenigen Sätzen: »Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Weiterlesen

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In Das Elend der Philosophie seziert Marx das Vorgehen der »bürgerlichen« Ökonomen in wenigen Sätzen:

»Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, daß es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst von dem Einfluß der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und demgemäß ewige angesehen wissen wollen.«[1]

Demnach basiert das bürgerliche Verfahren der Historisierung auf einem System von Entgegensetzungen: Das Künstliche und Erfundene steht dem Natürlichen und Naturgegebenen gegenüber, das Zeitliche und Veränderliche dem Ewigen und Unveränderlichen. Die Grundannahme, dass alles Menschliche historisch wandelbar ist und deshalb wissenschaftlich historisiert werden muss – das historische Apriori des 19. Jahrhunderts, das zum Historismus führen wird –, basiert auf einer scharfen Markierung der Grenzen von Historisierung. Und diese Grenzen sind politisch motiviert, sie präsentieren sich aber (vielleicht wie alle Grenzen) als natürliche und unwandelbare. Für die von Marx kritisierte Ideologie des Historischen ist die Gegenwart als End- und Zielpunkt der Geschichte dieser gerade nicht unterworfen, sondern erscheint ins Überzeitlich-Ewige entrückt. Das Bestehende sichert sich dadurch ab, dass alles Vergangene historisch eingeordnet wird als Hinführung zur Gegenwart.

Marx’ Kritik weist indes auch eine Rückseite auf. Denn die Marx’sche Geschichtskonstruktion entkommt der kritisierten Ideologie keineswegs (und die spätere marxistische Konstruktion noch viel weniger); sie installiert vielmehr selbst eine Ideologie, die umso wirksamer ist, als sie die bürgerliche in sich »aufhebt« und damit in gesteigerter logischer Konsistenz fortsetzt. Zugespitzt: Dem Heute, das dem historisch gewordenen (und historisierbaren) Gestern in der bürgerlichen Ideologie als ewig und überzeitlich gegenübergestellt wird, entspricht in der marxistischen das Morgen. Das Heute gilt im Marxismus bloß als Transitorium, das erst im Morgen endgültig überwunden sein wird: Somit wird es eine Geschichte gegeben haben … Auch im Marxismus bleibt somit eine Hintergrundideologie wirksam, in der das 19. Jahrhundert gleichsam zu sich selbst kommt: Die Ideologie des Historischen in Reinform ist die des Fortschritts.

Idee und Ideologie des Fortschritts wurden im 19. Jahrhundert nicht zuletzt von den historischen Wissenschaften hervorgebracht und durch die enormen Fortschritte der Wissenschaften ungemein plausibilisiert. Nach einer These Walter Benjamins liegt die Voraussetzung jedes konkreten Begriffs von Fortschritt in der Vorstellung einer »homogene[n] und leere[n] Zeit«, die von den Menschen in der Geschichte durchlaufen wird.[2] Genau diese Zeitvorstellung liegt auch jener Ideologie des Historischen zugrunde, wie sie Marx kritisiert und fortgesetzt hat.

Vielleicht müssen wir rabiat werden, wenn wir den uns immer noch selbstverständlichen ideologischen Komplex von Fortschritt, Zeit und Historisierung verstehen und überwinden wollen; Immanuel Wallerstein hat dafür einmal die sprachlich gewöhnungsbedürftige Formel eines »Unthinking the 19th Century« ins Spiel gebracht.[3] Vielleicht müssen wir unsere begrifflichen und rhetorischen Routinen – die auch in Deckbegriffen wie der Moderne, der Gesellschaft oder der Wissenschaft noch wirksam sind – irritieren, etwa durch ›illegitime‹, ›unwissenschaftliche‹ oder verrufene Formen des Historisierens.

Einen unfreiwilligen Hinweis darauf, wo solche Verfahren zu finden wären, hat Lucien Febvre gegeben, als er den Anachronismus als »die schlimmste, die unverzeihlichste aller Sünden« identifiziert hat, deren ein Historiker sich schuldig machen kann.[4] Von dieser Todsünde haben sich Nicole Loraux und Jacques Rancière willig locken lassen. Gegen die Vorstellung einer determinierenden Epochentotalität, die den Rahmen aller möglichen Handlungs- und Reflexionsweisen der historischen Akteur*innen absteckt, setzt Loraux eine »kontrollierte Praxis des Anachronismus«.[5] Nur wer etwa die anachronistische Frage nach dem modernen Konzept der öffentlichen Meinung in den Poleis der griechischen Antike nicht von vornherein ausschließt, kann in der Differenz antike Formen kollektiver Willens- und Urteilsbildung entziffern, die umso schärfer gefasst werden, je länger und sturer man am (unpassenden) modernen Vergleichskonzept festhält. Das historistische Vorurteil, dass damals alles ganz anders war, wird so auf eine strenge Probe gestellt – und womöglich punktuell auch widerlegt. Vor allem aber wird durch das anachronistische Verfahren schließlich die Identität der Historikerin mit ihrer eigenen Epoche aufgebrochen.

Für Rancière ist der Anachronismus nicht nur eine historische Methode, sondern ein Moment der untersuchten Objektebene selbst. Der Anachronismus erscheint bei ihm als Handlungsoption der historischen Akteur*innen; ja, Handlung im emphatischen Sinn verändernder Praxis kann es überhaupt nur geben, wenn die Akteur*innen einen Anachronismus zwischen sich und ihrer Epoche aufbrechen lassen;[6] wenn, nach einem schönen Wort Jakob Tanners, »Menschen sich der Zumutung widersetzen, mit der Zeit, in der sie leben, ›ähnlich‹ zu werden«.[7]

Neben den Anachronismus treten andere, durchaus traditionsreiche Todsünden, etwa Romantik, Melancholie und Nostalgie: So, wie Michael Löwy das despektierlich gemeinte Urteil Georg Lukács’ vom »romantischen Antikapitalismus« umkehrt und zum positiven Beweggrund der meisten antikapitalistischen Bewegungen und Theorieprojekte der letzten zweihundert Jahre erklärt,[8] so wendet Enzo Traverso die von Walter Benjamin lancierte Polemik gegen die »linke Melancholie«, um diese zu einer imaginativen Ressource linker Zukunftsaussichten zu machen.[9]

In seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte hat Benjamin die Vergangenheitsseligkeit des bürgerlichen Historismus genauso angegriffen wie die sozialdemokratische und stalinistische Fortschrittsgläubigkeit. Er zielte dabei auf das Zentrum jeder Geschichtsideologie: die Vorstellung einer stabilen Gegenwart, die bloßer Übergangspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft sein soll. Gegen diese Vorstellung will Benjamin die Gegenwart aus dem »Kontinuum der Geschichte« heraussprengen; er konzipiert eine (»messianisch« aufgeladene) »Jetztzeit«, in der über alles Vergangene je neu entschieden werden muss.[10] Benjamins historischer Messianismus zielt, ebenso wie Anachronismus, Nostalgie oder Utopismus, auf eine Kritik der eigenen Gegenwart.

Wenn wir aus Marx’ Spott über die Unfähigkeit der »bürgerlichen« Wissenschaft zur Historisierung ihrer eigenen Gegenwart heute eine radikale Konsequenz ziehen wollen, dann bestünde die vielleicht darin, diese Unfähigkeit zu verallgemeinern: Weder die Vergangenheit noch die Zukunft, geschweige denn die Gegenwart, lassen sich historisieren im Sinne einer einfachen Einordnung in eine kontinuierlich ablaufende Geschichte, in der alles seinen Ort hat. Historisierung muss vielmehr immer auch zeigen, wie Ereignisse, Handlungen, Wörter und Akteur*innen nicht in ihrer Zeit aufgehen, wie sie über diese hinausweisen und hinter ihr zurückbleiben, untergründige Verbindungen über die Zeiten hinweg eingehen, sich in Wiederholungsschlaufen verfangen oder Fixierungen reproduzieren.

Eine Kritik der Ideologie des Historischen mit ihren fixen Zeit- und Geschichtsvorstellungen kann schließlich auch als produktive Irritation verstanden werden: als Anregung, mit verschiedenen Verfahren und Darstellungsweisen der Historisierung zu experimentieren. Indem wir ein »Spiel von heterogenen Zeitreihen« eröffnen,[11] können unsere ›unwissenschaftlichen‹, verrufenen Formen des Historisierens dazu führen, das wissenschaftliche Feld des Historischen genauer zu vermessen und zu erweitern.

[1] Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends«, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 4, Berlin/DDR 1974, S. 63–182, hier S. 139 f.

[2] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2: Abhandlungen, Frankfurt a. M. 1991, S. 691–704, hier These XIII, S. 701.

[3] Immanuel Wallerstein: »Should we unthink nineteenth-century social science?“, in: International Social Science Journal 118 (1988), S. 525–531.

[4] Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert: Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002, S. 17.

[5] Vgl. Nicole Loraux: »Éloge de l’anachronisme en histoire«, in: Le genre humain 27 (1993), S. 23–38, hier S. 28. Vgl. auch Caroline Arni: »Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive“, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 18.2 (2007), S. 53–76, hier S. 59.

[6] Jacques Rancière: »Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers«, in: Eva Kernbauer (Hg.): Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn 2015, S. 33–50.

[7] Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, S. 69.

[8] Michael Löwy/Robert Sayre: Romanticism against the Tide of Modernity, Durham 2001.

[9] Enzo Traverso: Mélancolie de gauche: La force d’une tradition cachée, Paris 2016. Vgl. dazu auch S.D. Chrostowska/James D. Ingram (Hg.): Political Uses of Utopia. New Marxist, Anarchist, and Radical Democratic Perspectives, New York 2017.

[10] Benjamin: Thesen, S. 701 und 704.

[11] Rancière: Anachronismus, S. 49.

Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe leitet am ZfL das Forschungsprojekt »Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik«. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum ZfL-Jahresthema 2019/2020, »Historisieren heute«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe: Verrufenes historisieren, in: ZfL BLOG, 29.4.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/04/29/patrick-eiden-offe-verrufenes-historisieren/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190429-01

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