Literatur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/literatur/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Tue, 09 May 2023 07:45:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Literatur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/literatur/ 32 32 Yoko Tawada: ARIADNEFÄDEN ALS HARFENSAITEN DES DENKENS https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/04/19/yoko-tawada-ariadnefaeden-als-harfensaiten-des-denkens/ Wed, 19 Apr 2023 07:34:30 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2970 Die Ausgabe Nr. 17 vom Oktober 2022 der chilenischen Kulturzeitschrift Papel Máquina ist der Arbeit der ehemaligen Direktorin des ZfL Sigrid Weigel gewidmet. Wir danken der Schriftstellerin Yoko Tawada für die Erlaubnis, ihren dort in spanischer Übersetzung erschienenen Beitrag im ZfL BLOG erstmals in der deutschen Originalfassung veröffentlichen zu dürfen. Neulich nahm ich ein Buch Weiterlesen

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Die Ausgabe Nr. 17 vom Oktober 2022 der chilenischen Kulturzeitschrift Papel Máquina ist der Arbeit der ehemaligen Direktorin des ZfL Sigrid Weigel gewidmet. Wir danken der Schriftstellerin Yoko Tawada für die Erlaubnis, ihren dort in spanischer Übersetzung erschienenen Beitrag im ZfL BLOG erstmals in der deutschen Originalfassung veröffentlichen zu dürfen.

Neulich nahm ich ein Buch von Sigrid Weigel in die Hand, das 1982 erschienen ist. Normalerweise bleiben alle Buchtitel auf einer Publikationsliste brav in einer chronologischen Reihe, und selbst wenn die Schlange sehr lang ist, was bei Weigel zweifellos der Fall ist, springt keiner von ihnen aus der Reihe und rennt nach vorne, in Richtung Zukunft. Aber es kommt doch vor, dass man, zum Beispiel bei einem Umzug, eines der Frühwerke in die Hand nimmt und darin blättert. Man wird überrascht von schillernden Denkbildern, die von heute sein könnten. Ansätze und Zusammenhänge, die man einer späteren Phase zugeordnet hätte, oder solche, die man jetzt erst begreift, stehen bereits in den älteren Büchern schwarz auf weiß. Gerade im digitalen Zeitalter, in dem die historischen Rahmen verschwimmen, gefällt mir die Unbestechlichkeit des Papiers, das die Zeit nie schleichend verfälscht.

In der Forschung gibt es stets Fortschritt, aber wenn ich mir erlaube, Weigels Schriften nicht nur als wissenschaftliche Texte, sondern als Texte in ihrer gattungsfreien Nacktheit zu lesen, gibt es keinen Satz darin, der überholt ist. Die zeitliche Ordnung bleibt, verliert aber ihren hierarchischen Charakter. Wo ich eine alte Erinnerung erwarte, entdecke ich eine neue Möglichkeit, die Gegenwart zu verstehen. So entstand in mir der Wunsch, die jüngere Vergangenheit durch das Fenster der älteren zu betrachten. Ich rede hier nicht von der magischen Glaskugel einer Wahrsagerin, sondern von einer soliden Relektüre.

Das Buch, das ich in der Hand hielt, trug den Titel ›Und selbst im Kerker frei …!‹ Schreiben im Gefängnis. Ich starrte wie gebannt auf das geheimnisvolle Schwarzweißfoto einer Gefängniszelle, das auf dem Umschlag abgebildet war. Benjamins Kleine Geschichte der Photographie kam mir in den Sinn, besonders der dort erwähnte Fotograf Eugène Atget. Benjamins Worte über ihn – »beispielloses Aufgehen in der Sache, verbunden mit der höchsten Präzision«[1] – könnte man leihen, um Weigels Arbeit zu charakterisieren. Aber das war nicht der erste Grund, warum diese Fotografie, die übrigens nicht von Atget stammte, sondern Bakunins Beichte entnommen war, mich nicht losließ. Die Zelle, in die durch ein vergittertes Fenster Licht hineinströmt, ist menschenleer. Das schlichte Bettgestell sowie eine Tischplatte sind kurz davor, vom Häftling, der nicht mehr da ist, zu erzählen, aber sie haben weder eine Stimme noch eine Sprache. Sie strahlen in ihrer Sprachlosigkeit, ein wichtiges Thema, dem man in Weigels weiteren Arbeiten begegnen wird. Es muss einen Zeugen geben, der noch an der Schwelle zwischen der Zelle und dem Flur oder zwischen dem Objekt und seinem Beobachter steht. Ohne diese Schwelle würde dieses Foto nicht existieren. Sie zu finden und zu versuchen, dort zu stehen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Wissenschaft.

Die Voraussetzung für diese Fotografie ist die Abwesenheit des Häftlings. Eigentlich steht dieser menschenleere Raum im krassen Widerspruch zu Weigels Arbeit, in der zahlreiche Autoren der Gefängnisliteratur untersucht werden.

Die Rolle der Autoren, die darin behandelt oder erwähnt werden, ist heterogen. Zum ersten Mal denke ich über die Präsenz und die Rolle der Autoren in einer Forschungsarbeit nach.

Ich möchte mit einer eher ungewöhnlichen Rolle des Autors beginnen, und zwar der Rolle des Negativs. Gemeint ist hier nicht ein Autor, der negativ bewertet wird, sondern, dass er als Forschungsobjekt aussortiert wird, damit der Umriss der Forschung deutlicher wird.

Der erste Autorname, der im Vorwort des Gefängnis-Buches auftaucht, ist erstaunlicherweise Dostojewski, ein Autor, der meine Jugend prägte, aber in Weigels Forschung kaum eine Rolle spielt. Als ein Autor, der den Freud’schen Ödipuskomplex mitschreibt, steht er im Schatten von Sophokles. Als russischer Gefängnis-Autor steht er weit hinter Warlam Schalamow, dessen Werke ich übrigens dank Weigel kennenlernte und schätze.

Dostojewski war mein Sibirien, wo die europäische Aufklärung aufhört und der Schamanismus beginnt. Sibirien ist ein Riesengebiet zwischen Europa und Japan, das ich nicht ignorieren kann, egal wie lange ich schon in Westeuropa arbeite und außerhalb Japans lebe. Es bietet jedem, der dort in der Kultur gräbt, einen einmaligen Bodenschatz, besitzt eine starke Anziehungskraft. Man kann dort aber verloren gehen.

Wenn Weigel mir nicht immer wieder aufs Neue einen facettenreichen, humanen und intellektuellen Umgang mit Geistern, Rausch, Obsession, Krankheiten oder Traumata gezeigt hätte, hätte meine lange Bindung zu Dostojewski meine Sicht eher beengt als beflügelt.

Das Gefängnis-Buch erschien in dem Jahr, in dem ich aus Tokio nach Hamburg übersiedelte. Wenn ich mir Weigels Arbeit als eine Metropole vorstelle, sehe ich mehrstöckige Gebäude nebeneinander stehen, die mit Straßen und durch die Kanalisation miteinander verbunden sind. Man könnte über jedes Gebäude oder jede Straße einen Aufsatz verfassen, wozu ich nicht fähig bin. So beschloss ich, in dieser Großstadt zu flanieren wie ein Surrealist in Paris. Und wenn ich schon mit meinen Gedanken nicht mehr in Sibirien, sondern in Frankreich bin, kann ich darauf aufmerksam machen, dass die Namen, die in jenem Vorwort Dostojewski folgen, Genet und de Sade sind. Sie spielen hier auch die Rolle des Negativs. Neben den beiden Franzosen gibt es einen dritten, der eine ganz andere Rolle spielt: Michel Foucault, der den Blick der Geisteswissenschaft auf das Gefängnis lenkte. Seine Rolle in Weigels Arbeit ist vielleicht die eines Stadtplaners, der nicht an der Gestaltung der einzelnen Gebäude beteiligt war, aber beim großen Entwurf mitgewirkt hat.

Im Zeitalter der transnationalen Literaturwissenschaft ist es unangemessen, von ›Franzosen‹ zu sprechen. Die Autoren können wie Jacques Derrida in Nordafrika geboren sein oder ihre Muttersprache ist – wie bei Julia Kristeva und Tzvetan Todorov – Bulgarisch. Ich nenne sie trotzdem ›Franzosen‹, weil sie auf Französisch gedacht und geschrieben haben. Jede Sprache hat ihre eigene Kanalisation, die das Geschriebene und das Vergessene unterirdisch weitertransportiert.

Im Wintersemester 1986 besuchte ich zum ersten Mal ein Seminar von Weigel. Das Thema war »Theorien der Fremde/des Fremden«, und wir diskutierten Kristeva und Todorov, also die ›Franzosen‹, auch Roland Barthes und zwar sein Japan-Buch Das Reich der Zeichen, das mir eine produktiv-spielerische Art zeigte, mit einer fremden oder ›unlesbaren‹ Kultur als Schrift umzugehen. Damals kam mir die Arbeitsweise von Barthes singulär und neu vor. Später erfuhr ich, dass es in Frankreich schon eine Tradition (oder besser: eine Kanalisation) gab, eine fremde Kultur als ›Schriftoberfläche‹ wahrzunehmen und damit frei umzugehen. Henri Michaux, Victor Segalen oder Michel Leiris haben auf unkonventionelle Weise eine ›unlesbare‹ Kultur in Asien und Afrika ›gelesen‹ und dadurch ihre eigene Literatur geschaffen. Das Japan-Buch von Barthes gehörte nicht zum neuen Reich der Postmoderne. Er führte die eigene Tradition weiter.

Damals fragte ich mich ab und zu, warum ich in der deutschen Sprache gelandet war und nicht in der französischen. Vor allem gefiel mir eine französische, essayistische Schreibweise, die zugleich literarisch und theoretisch ist. Wenn man im deutschsprachigen Raum die enge Zwangsjacke der Wissenschaftlichkeit auszieht, steht man in einem verwaschenen, ausgeleierten Pullover da. Warum gibt es keinen schicken Pullover wie jenen, mit dem man in Paris flanieren kann?

Ich bereue es schon lange gar nicht mehr, Deutsch und nicht Französisch als meine zweite literarische Sprache gelernt zu haben, und das habe ich der Walter-Benjamin-Forscherin Weigel zu verdanken.

Gleichzeitig mit dem Studium bei ihr begann ich mit der Veröffentlichung eigener literarischer Texte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine sehr schlichte Landkarte der Theorielandschaften in Westdeutschland: Es gab ein profranzösisches und ein antifranzösisches Ufer wie zwei Truppen auf den beiden Seiten des mythologisch sowie historisch belasteten Flusses Rhein. Der Verlag in Tübingen, der meine Texte von Anfang an verlegte und heute noch verlegt, trägt nicht zufällig den Namen konkursbuch Verlag. Als Gegengewicht zur linken Zeitschrift Kursbuch, die damals viel gelesen wurde, wollte die Zeitschrift Konkursbuch neue französische Theorien in Deutschland bekannter machen und dafür den ›profranzösischen‹ deutschen Autoren eine Plattform bieten.

Ich vermutete damals, dass Weigel auf dem französischen Ufer stehe, weil sie in ihrem Seminar oft die französische Theorie behandelte. Aber ich war mir nicht sicher, denn anders als bei den Autoren, die den französischen Stil nachahmten, blieb Weigels Sprache stets klar. Auf der Tanzbühne der ›Postmodernen‹ beobachtete ich damals Epigonen, die Gesten und Mimik der ›Franzosen‹ imitierten. Im schlimmsten Fall legten sie absichtlich einen Kabelsalat in den Aufsatz, der an Stelle der Freiheit des Schreibens einen Kurzschluss produzierte.

Dahingegen behielt Weigels Schreiben durchgehend etwas Ruhiges, Beständiges. Reichliche Materialien für die Fragestellungen standen im Vordergrund und die Forscherin arbeitete von der Seiten- und Hinterbühne die komplexen Zusammenhänge heraus. Ihre Fingerbewegung war feinmotorisch, ihr Schritt leise und selbstsicher. In jedem Bühnenstück war eine große Lust an der Wissenschaft zu spüren, und damit zog Weigel viele junge und alte Menschen mit und an sich.

Nachdem ich die ›Franzosen‹ kennengelernt hatte, belegte ich weitere Seminare bei Weigel. Eine Flut von neuen Themen – Körper, Gedächtnis, Tod, Trauer, Mythologie, Revolution, Übersetzung, Allegorie, Stadt – kam innerhalb eines Jahres über mich.

Im Wintersemester 1987 hielt Weigel zusammen mit Klaus Briegleb eine Vorlesung zu Walter Benjamin, und ab diesem Zeitpunkt verbrachte ich viel Zeit mit der Lektüre dieses Autors, den ich in erster Linie als literarischen Autor aufnahm. Dabei vergaß ich Roland Barthes, und selbst wenn ich in jener Zeit weitere ›Franzosen‹, etwa Derrida oder Lacan, mit Interesse las, war Benjamin der einzige ›Theoretiker‹, der mich eine unmittelbare Nähe zur Sprache spüren ließ. Durch Weigels Vermittlung zeigte er mir die Möglichkeit einer literarischen Sprache, die sich mitten in der arbiträren Kluft zwischen dem Gegenstand und dem Wort bewegt und somit einen großen Bogen zum magischen Ursprung der Wörter zeichnet, ohne die historische Zeit zu leugnen.

Zehn Jahre später las ich in Weigels Benjamin-Buch Entstellte Ähnlichkeiten (1997) einen Versuch, das Verhältnis zwischen den beiden Ufern mit dem Bild der Relektüre zu erklären: »Im Lichte der sogenannten französischen Theorie gewinnen die Schriften Benjamins eine neue Lesbarkeit«.[2] Durch die Relektüre werde eine neue Erkennbarkeit eher möglich als in einem Nach-68-Diskurs.

Weigel erwähnt auch, dass die sogenannten französischen Theorien zum Teil auf der Lektüre von deutschsprachigen Autoren wie Heidegger, Husserl, Freud, Hölderlin oder Kafka basierten.[3] Ein Ufer liest das andere Ufer, und dann wechselt die Leserichtung wieder. Im Spiegelkabinett der gegenseitigen Relektüren erweitern sich permanent die Denkräume, die keiner Nation, aber allen Menschen gehören.

Die Zeiten der Kriege zwischen den Nationen waren damals in Europa längst vorbei. Die Kanalisationen blieben, aber die Ländergrenzen wurden geöffnet, und das Thema Europa wurde immer aktueller. Ostdeutsche Städte bekamen an Stelle des Buchstabens ›O‹ von ›Ost‹ die Zahl Null an den Anfang ihrer Postleitzahl gesetzt. Aus der Sowjetunion wurde das neue Russland, das hauptsächlich aus Sibirien besteht, und viele bunte Republiken. Der japanische Kaiser, der den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, starb, und mit dem Auftritt Chinas auf der Weltbühne wurden die unverarbeiteten historischen Konflikte in Ostasien sichtbar. Der ›Eiserne Vorhang‹ wurde geöffnet, und somit verschwand die alte Aufteilung in Hauptbühne, Hinterbühne und Zuschauerraum. Der Kalte Krieg sollte vorbei sein, aber aus Angst vor der unbekannten Wärme blieb die Welt eingefroren wie der Bildschirm eines Computers, der damals noch keine große Datenmengen verarbeiten konnte.

Eins war sicher. Weigel ging weiter. Damit meine ich nicht, dass sie nicht mehr in ihrer Heimatstadt Hamburg war, sondern nach Zürich und dann nach Berlin ging. Sie ging mit ihrer Forschung weiter, als hätte sie Siebenmeilenstiefel angezogen. Das Adverb, das ich am häufigsten aus Weigels Mund hörte, war wahrscheinlich ›weiter‹: nicht stehenbleiben, nicht aufgeben, keinen Einsiedler spielen, nicht defensiv werden, jede Regression vermeiden, sich nicht in der Einsamkeit bequem einrichten. Sie ging immer weiter, ihr Denken hatte weder die Unentschlossenheit von Hamlet noch wollte es wie bei Odysseus mit einer Heimkehr enden. Eine Ruhepause gab es nicht, soweit ich weiß, höchstens eine kurze Atempause mit einem tiefen Seufzen, das nichts mit Müdigkeit zu tun hatte. Aber die Erkenntnis, dass die Geisteswissenschaft – selbst wenn sie sich die ganze Zeit um die Umkehrung der Machtverhältnisse bemüht hatte – kaum etwas dazu beigetragen hat, kann jemanden mit großem Verantwortungsbewusstsein bitter enttäuschen.

Bei Weigel war die Wissenschaft schon von Anfang an von sozialem Bewusstsein geprägt. Im Vorwort ihrer Dissertation Flugschriftenliteratur 1848 in Berlin (1979) dankt sie ihren Freunden dafür, dass sie, während sie an der Arbeit schrieb, ihr Bewusstsein der ›Nützlichkeit‹ der Forschung auffrischten. Sonst wäre ihr die Abwesenheit von politischen und sozialen Bindungen während der Promotionszeit schwergefallen.

Übrigens ist dies ihre älteste Buchveröffentlichung, die vor einem bald halben Jahrhundert erschienen ist. In ihrem Ansatz, die Flugschriften als literarische Gattung unter die Lupe zu nehmen, sehe ich eine Seelenverwandtschaft mit Benjamin. Der brach die Hierarchie zwischen den Gattungen auf, indem er alles, was als Spur der Geschichte zu lesen ist oder als Materialisierung des Gedächtnisses erscheint, ernst nahm. Ich denke an die Pariser Passagen, in denen die ›Lesestoffe‹ anders sortiert sind als in einer Bibliothek: Die Gedichtbände von Baudelaire stehen neben antiquarischen Kinderbüchern und Spielzeug, politische Karikaturen neben vergilbten Postkarten und Privatfotos.

Weigels Werkstatt scheint von Anfang an eine Nähe zu Benjamin gehabt zu haben, und in den späteren, wichtigen Büchern wie Grammatologie der Bilder (2015) trägt diese Nähe saftige Früchte. Trotz der Grammatologie im Titel spielt Derrida in diesem Buch die Rolle des Negativs. Was er hätte tun können, aber nicht geschafft hat, ist, über die Schriftbilder hinaus ›Bilder‹ zu ›lesen‹. Hingegen war der wichtigste Gesprächspartner in diesem Buch Walter Benjamin, der das letzte Wort hat.

In Weigels Dissertation und anderen früheren Schriften spürt man den Anspruch, politisch wirksam zu sein, aber nicht auf die Philosophie zu verzichten. Ihre Tätigkeiten standen zwar oft im unmittelbaren Dialog mit dem Weltgeschehen und der Politik, wie im Fall der Anthologie Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern (2007), die sie herausgab. Die Wissenschaft scheint, egal wie gründlich, vielseitig oder nah an der Realität sie betrieben wird, keinen direkten Einfluss auf das Handeln der Politiker auszuüben. Mir ist aber aufgefallen, dass Weigel in den letzten Jahren auch konkrete politische Vorschläge machte. Ein gutes Beispiel dafür ist die Studie Transnationale Auswärtige Kulturpolitik – jenseits der Nationalkultur. Voraussetzungen und Perspektiven der Verschränkung von Innen und Außen, die im Rahmen des Forschungsprogramms des ifa Institut für Auslandsbeziehungen entstanden ist. Sie erreichte direkt die Ohren der Politiker, anders als kulturwissenschaftliche Arbeiten, die oft in internen Kreisen bleiben.

Weigel war nie dafür, ›unter sich‹ zu bleiben. Das ist eine der kostbaren Spielregeln, die ich von ihr gelernt habe. Sie blieb nie in einer Zunft der Spezialisten, die auf einen Autor, eine Epoche oder ein Thema fixiert sind. Trotz der kritischen Distanz zum Mainstream der Wissenschaft bequemte sie sich nie in eine Nische der ›Alternativen‹, sondern mischte sich bewusst dort ein, wo es ums Ganze ging. Während sie das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin leitete, brachte sie Menschen aus vielen Disziplinen zusammen, deren Aufzählung mich durch ihre Farben und Formen wie ein Spiel mit einem Kaleidoskop inspiriert: Hirnforscher, Performancekünstler, Orientalisten, Kriminalisten, Historiker, Ethnologen. Ich war nur ab und zu als ein Gast bei einer Veranstaltung dort, und was ich mitbekam, war nur ein kleiner Teil der titanischen Angebote.

Der Begriff ›multikulturell‹, der in den 1980er Jahren mit guter Absicht verwendet wurde, erinnerte mich manchmal an eine Art Stadtteilfestival, auf dem verschiedene Nationen friedlich nebeneinander ihre Spezialitäten anbieten. Wichtiger wäre aber eine anstrengende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansichten über Gender, Demokratie und weitere Themen, die jeweils aus verschiedenen kulturellen Hintergründen stammen. Der Zusammenstoß wird zuerst die idyllische Harmonie in der ›bunten‹ Welt zerstören, jedoch ist er für das Zusammenwachsen einer heterogenen Kultur notwendig. Sonst führt das Nebeneinander zur gesellschaftliche Spaltung und möglicherweise zu Gewalt, wie Terroranschlägen.

Wie kann aber jede Gruppe ihre Andersartigkeit behalten und trotzdem nicht getrennt vom Ganzen sein? Wie kann man eine benachteiligte, manchmal fast unsichtbare Gruppe ins große Boot holen, ohne sie einzuverleiben? Der Begriff der ›Minderheiten‹ verfolgt mich, seitdem ich in Deutschland lebe. Am Anfang meiner schriftstellerischen Karriere profitierte ich unfreiwillig von den steigenden Aktien der ›Minderheiten‹, weil ich als Frau und als Ausländerin kategorisiert wurde. Viel später thematisierte ich die Rolle der Minderheiten in meinem Roman Etüden im Schnee (2014).

Ist die Literatur nur ein Karneval, in dem die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt werden, um die Ordnung im Alltag zu stabilisieren? Oder sollte die Literatur eine reale Revolution zum Ziel haben? Bei der Gattung der Flugblätter war Letzteres tatsächlich der Fall. Aber der rote Faden, der sich durch die Forschung zog, war keine Revolution, sondern eher die Reihe der Probleme, die die Revolution mit sich bringt. Ab jetzt verwende ich deshalb besser das Wort ›Ariadnefaden‹ als ›der rote Faden‹, denn mit der eindeutigen Farbe Rot allein, die für die linke Orientierung steht, kann man den Weg aus dem Labyrinth nicht finden. Minotaurus ist besiegt, aber was nun? Georg Büchners Dantons Tod war einer der besten literarischen Texte, die ich in Weigels Seminaren las. Seine Sprache prägte mich und führte mich weiter zu Heiner Müller. Beide arbeiteten mit den rohen Materialien der Geschichte. Sie zitierten aus nichtliterarischen Quellen und montierten sie so in den eigenen Text, dass das Zitat seinen fremdartigen Charakter nicht verliert und somit eine Plastizität in der Sprache erzeugt. Ein ungeheures Bild wie ›die Revolution frisst ihre Kinder‹, das dadurch zustande kommt, ist so transnational, dass man von Kambodscha bis Rumänien sofort versteht, was gemeint ist.

Die historischen, sprachlichen Materialien gewinnen literarische Kraft, wenn man sie in jenem Augenblick fängt, in dem sie als Wiederkehr des Verdrängten auf der Oberfläche erscheinen und sichtbar werden.

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Ein anderer Ariadnefaden, den ich nicht unerwähnt lassen möchte, betrifft die Stimme. Zum ersten Mal wurde mir das Thema durch Weigels Stimme der Medusa (1987) bewusst. Das Bild der Frau, die im Schrecken erstarrt, wird zum Bild, das den Betrachter erschreckt. Das passt gut zum Begriff des Feminismus, dessen Erwähnung allein uns heute lähmt, langweilt oder sogar erschreckt, obwohl er ursprünglich den vor Schreck eingefrorenen Geist wieder bewegen sollte. Der Feminismus ist zur Medusa geworden, aber zu keiner ungeheuerlichen. Diese ist zur Zeit nur im kleinen Ich-Format der MeToo-Bewegung zu sehen, die ohne jeden theoretischen Anspruch neben den Werbefotos vom retuschierten Frauenkörper steht.

Was mich aber bei der Medusa in unterschiedlichen Zusammenhängen faszinierte, war das Denken zwischen der Stimme und dem Bild. Der weibliche Körper als Allegorie, als Kunst, als Schrift, als Gedächtnis und am Ende als ein Klangkörper für die Stimme. Zwei Autorinnen, die in Weigels Forschung präsent sind, haben bei mir Spuren hinterlassen. Die eine ist Ingeborg Bachmann, nach deren Lektüre ich den Roman Das Bad (1989) schrieb.

Die zweite Autorin ist Unica Zürn, die in ihrer Anagrammdichtung Sätze radikal auseinandernahm und mit ihren Buchstaben arbeitete. Ich muss immer wieder an ihre Zeile »Wir lieben den Tod«[4] denken und wie sie mit den gewonnenen Buchstaben die neue Zeile »Rot winde den Leib« schrieb. Aber am Ende des Gedichtes kam doch wieder die Anfangszeile mit dem Tod. Zürn hat den Tod selbst in ihr Leben eingeleitet. Weigel untersuchte das genderspezifische Verhältnis zwischen dem Körper der Kunstschaffenden und dem Objekt der Kunst.

Neulich nahm ich den Roman von Susan Taubes in die Hand, der 2021 in der deutschen Übersetzung mit dem neuen Titel Nach Amerika und zurück im Sarg wieder verlegt wurde (der alte Titel lautete Scheiden tut weh). Weigel charakterisiert im Vorwort dieser neuen Ausgabe den Roman als Autobiographie einer Toten oder als Antiroman, bei dem »nicht Erinnerung der Lebensgeschichte als Vermächtnis der Erzählerin, sondern deren Tod […] Voraussetzung des Romans« sei.[5] So schlägt sie einen Bogen zu Ingeborg Bachmanns Roman Malina, der in einer anderen Weise auch den Tod als Voraussetzung hatte.

Dieser Ariadnefaden führt mich nicht zur heutigen Genderdebatte, sondern zu Hannah Arendt. 2016 hörte ich Weigels Vortrag mit dem Titel Sounding Through – Poetic Difference – Self-Translation: Hannah Arendt’s Thoughts and Writing Between Different Languages, Cultures, and Fields. Er begann mit der Beschreibung von Arendts Stimme, die ihren Denkrhythmus über die zeitliche und kulturelle Grenze hinaus weiter bewahrt. Nichts ist präsenter als die Stimme, sie ist überhaupt ein Beweis dafür, dass eine bestimmte Person, und keine andere, dort ist. Es ist kein Zufall, dass eines der deutschen Wörter für diversity ›Mehr-Stimmigkeit‹ ist. Als sprechende Stimme kann man aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Als Stimme ist jeder Mensch er selbst und gleichzeitig ein Teil einer oder mehrerer Kulturen. Hingegen wird man gleich einer Rasse oder einem Geschlecht zugeordnet, wenn man eine bildliche Identität annimmt, die an körperlichen Merkmalen festgemacht wird.

Eine Stimme kann nicht nur ein Gespräch mit Lebenden führen, sondern auch die Verstorbenen ansprechen oder nach einem Verlust klagen oder singen. Eines der Themen, mit denen Weigel sich schon eine Weile beschäftigt, auch wenn es noch keine Monografie dazu von ihr zu lesen gibt, hat sehr viel mit der Stimme zu tun: die Gattung der Oper. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ein Opernbuch ihre lange Veröffentlichungsliste noch länger macht.

 

 

[1] Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II, 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 377.

[2] Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit: Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S. 19.

[3] Ebd., S. 21.

[4] Unica Zürn: Anagramme, Berlin 1988, S. 15.

[5] Sigrid Weigel: »Vorwort«, in: Susan Taubes: Nach Amerika und zurück im Sarg, übers. von Nadine Miller, Berlin 2021, S. 6.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Yoko Tawada: Ariadnefäden als Harfensaiten des Denkens, in: ZfL Blog, 19.4.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/04/19/yoko-tawada-ariadnefaeden-als-harfensaiten-des-denkens/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230419-01

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Tatjana Petzer: PARADOXIEN DER UNSTERBLICHKEIT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/10/04/tatjana-petzer-paradoxien-der-unsterblichkeit/ Tue, 04 Oct 2022 08:12:46 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2703 Im heutigen Russland knüpfen gesellschaftliche Akteure wieder offen an die sowjetische Politik des unsterblichen Kollektivs an. So erinnern neuerdings regionale Gedenkmärsche unter dem Banner des Unsterblichen Regiments (russ. Bessmertnyj polk) an Heldentum und Opfertod; Schlagworte, die im Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland kultiviert wurden, um das Überleben des Volkes gegen die nationalsozialistische Aggression zu sichern. Weiterlesen

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Im heutigen Russland knüpfen gesellschaftliche Akteure wieder offen an die sowjetische Politik des unsterblichen Kollektivs an. So erinnern neuerdings regionale Gedenkmärsche unter dem Banner des Unsterblichen Regiments (russ. Bessmertnyj polk) an Heldentum und Opfertod; Schlagworte, die im Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland kultiviert wurden, um das Überleben des Volkes gegen die nationalsozialistische Aggression zu sichern. Anstelle der roten Fahnen und Stalin-Porträts, die 1945 am Tag des Sieges die Militärparade flankierten, tragen die heutigen Teilnehmer:innen, darunter auch Staatschef Putin und hochrangige Politiker:innen, Fotos von Familienmitgliedern mit sich, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Das Vermächtnis der Kriegsgeneration wirkt aber nicht nur in Russland, sondern auch in anderen postsowjetischen Staaten identitätsstiftend fort, darunter in der Ukraine, wo ungeachtet einer aufgrund der Nazi-Kollaboration hiesiger Nationalisten gespaltenen Erinnerungskultur die transgenerationale Weitergabe der weltanschaulich konstruierten Unsterblichkeit auf fruchtbaren Boden fällt.

Dabei muss das Postulat sozialer Unsterblichkeit in Anbetracht einer schon seit Langem bestehenden transhumanistischen Bewegung, die ihre Bestrebungen auf die physische Unsterblichkeit der Menschheit und deren Vervollkommnung richtet, eigentlich antiquiert erscheinen. Denn bereits um 1900 versuchten russische  Wissenschaftler, ›Unsterblichkeitstechniken‹ der Natur (etwa die Kryobiose) auf den menschlichen Organismus zu übertragen und Methoden zur Lebensverlängerung, Verjüngung oder gar Überwindung des biologischen Todes zu entwickeln. Zu Zeiten des Kalten Krieges wies dann die Biokybernetik in ganz Osteuropa Wege zur Lebensoptimierung mit naturwissenschaftlich-technischen Mitteln. Vor diesem Hintergrund legten etwa der polnische Science-Fiction-Autor Stanisław Lem, der bulgarische Physiker Tanju Kolew und der belarussische Wissenschaftsphilosoph Alexej Manejew theoretische Überlegungen zur Bewusstseinsmigration vor, die mit Rekurs auf die KI-Forschung und die Quantenmechanik Möglichkeiten persönlicher Unsterblichkeit in Aussicht stellten. Und schließlich gibt es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in Russland Bemühungen um die Etablierung einer Immortologie (russ. immortologija) – einer Disziplin, die wissenschaftliche Forschungen zur Immortalität in Medizin, Biologie, Neurokybernetik, Informatik und Design mit dem Unsterblichkeitsdenken seit der Moderne verknüpft.

Das Streben nach Unsterblichkeit durchzieht die gesamte Geschichte der Menschheit, doch in Zeiten des beschleunigten gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Wandels zeichnet es sich durch eine gesteigerte Intensität aus. Immer wieder wurde das Verständnis von Immortalität hinterfragt (physische vs. metaphysische Unsterblichkeit, todloses Leben vs. Auferweckung nach dem Tod, Langlebigkeit vs. ewiges Leben usw.), wurden ihre Spielarten neu definiert. Die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften in der westlichen Welt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die Erfolge der Immunologie, Juvenologie und Gerontologie eingeschlossen, sind hinlänglich bekannt. Auch dem radikalen Utopismus der russisch-sowjetischen Avantgarde wurde bereits viel Aufmerksamkeit zuteil. Dass der Unsterblichkeitsdiskurs in den USA von einer Reihe von Denkern angestoßen wurde, die wie Norbert Wiener, Mathematiker und Begründer der Kybernetik, der Biochemiker und Science-Fiction-Autor Isaac Asimov oder der Physiker und Kryonik-Pionier Robert Ettinger allesamt einen russisch-jüdischen Migrationshintergrund haben, hat hingegen in der Forschung kaum Beachtung gefunden. Welche Rolle religionskulturelle Faktoren beziehungsweise interkulturelle Wissensübertragungen in diesem Diskurs spielen, ist weitgehend unerforscht.

Allgemein ist festzustellen, dass bisherige historische Darstellungen die Einbeziehung des slawischen Osteuropas vermissen lassen. Gibt es Parallelen zwischen den bedürfnislosen, arbeitsamen Unsterblichen, die gemäß einem fiktionalen Entwurf des in den 1920er Jahren als Ingenieur für Elektrifizierung tätigen Schriftstellers Andrej Platonow in einem Labor für Anthropotechnik dank einer neuartigen Elektrosphäre hervorgebracht werden, und den Robotern oder dem Absolutum bei Karel Čapek? Ist angesichts der möglichen Existenz unsterblicher kybernetischer Organismen die anthropologische Neuerzählung der Schöpfungsgeschichte überzeugend, die Borislav Pekić 1980 vornahm, wohlgemerkt mit einem weiblichen Cyborg als Protagonistin, die sich biblisch als »Ich bin, die ich bin« zu erkennen gibt? Spiegeln programmatische Selbstentwürfe, die sich auf sogenannte höhere, esoterisch anmutende mathematisch-naturwissenschaftliche Konzepte stützen, regionale Formen wissenschaftlicher Religiosität oder den Versuch, die globale Logik des materialistischen Daseins zu durchbrechen, wider? All diese Fragen harren noch einer Antwort.

Die 2021 von mir bei Matthes & Seitz Berlin herausgegebene Anthologie Unsterblichkeit. Slawische Variationen tritt dem Ungleichgewicht in der Rezeption entgegen und möchte für die vielfältigen Unsterblichkeitskonzepte in Ost-, Mittel- und Südosteuropa sowie für die parallel zu offiziellen, politischen Diskursen geführten intellektuellen und künstlerischen Debatten sensibilisieren. Wenn Osten und Westen in Hinblick auf das Streben nach individueller vs. kollektiver Unsterblichkeit divergieren, so gibt es doch auch Konvergenzen. Darunter fallen beispielsweise Paradoxien des Unsterblichkeitsstrebens. Eine davon offenbart sich in einer Anekdote des Jugoslawen Samir Adanalić aus dem Jahr 1980 mit dem Titel Die Unsterblichkeitsmaschine, die Eingang in die Anthologie fand:

London, 2055. Der im gesamten Sonnensystem berühmte Wissenschaftler Jack Lenkson eröffnete seine Vorlesung. Er hielt sie über seine neueste Erfindung.
»Meine Herren, ich habe Sie heute eingeladen, Ihnen mein Lebenswerk zu präsentieren. Es ist eine Vorrichtung, mit deren Hilfe die Unsterblichkeit erreicht werden kann.«
Im Saal kam Unruhe auf.
»Wundern Sie sich nicht. In wenigen Augenblicken werden Sie sich überzeugen, dass ich recht habe. Meine Maschine macht nicht nur Menschen unsterblich, sondern auch alle Arten von Tieren und Insekten. Diesem Umstand verdankt es sich, dass ich Ihnen jetzt eine Insektenart vorführen kann, die eigentlich nur ganze drei Tage lebt. Ich habe genau berechnet, dass dieses Insekt noch etwa eine halbe Stunde zu leben hätte. Jetzt werde ich es in diese Blackbox legen und die Maschine einschalten. Genau so. Nun nehme ich es heraus und lege es in dieses Glaskästchen. Dann sehen wir, ob es nun in einer halben Stunde sterben wird. In der Zwischenzeit werde ich Ihnen darlegen, wie es mir gelungen ist, diese Maschine zu erschaffen.«
Nach einer halben und auch nach einer ganzen Stunde war das Insekt noch am Leben. Applaus brach aus. Der renommierte Gelehrte war überglücklich und sagte am Ende seiner Präsentation: »Jetzt, da ich mein Lebenswerk vollendet habe, kann ich ohne Bedauern sterben!«

Es mag abwegig erscheinen, dass ein Experiment mit Insekten in der Zukunft als Beweis für die Wirksamkeit einer Apparatur gilt, die bei komplexeren Organismen zum Einsatz kommen soll. Lenksons Maschine gleicht einem Experimentierkasten für Wundergläubige. Indem die entscheidende Transformation in einer Blackbox erfolgt, bleiben nicht nur das exakte Verfahren im Dunkeln und die für die Menschheit folgenschwere Erfindung vor unerlaubtem Zugriff geschützt. Zudem ist das Publikum Teil einer psychologischen Versuchsanordnung, mit der sein Glaube an wissenschaftliche Autorität und an die Maschine auf die Probe gestellt wird; eine Probe, die das Publikum besteht. Der Applaus bestätigt den Technikoptimismus und die Unsterblichkeitsgewissheit der Wissenschaftscommunity, die, ungeachtet der Tragweite der Erfindung, weder Lenksons Berechnung noch seine Behauptung hinterfragt. Warum ein Wissenschaftler, der zumindest experimentell den natürlichen Kreislauf von Geburt und Sterben überwunden zu haben meint, paradoxerweise den (physischen) Tod bejaht, bleibt hingegen offen.

Eine mögliche Interpretation wäre, dass der Lebenszweck erfüllt und damit das Nachleben, sprich: unsterblicher Ruhm, gesichert ist. Die ewige Fortexistenz ohne Grund und Ziel erscheint demgegenüber beängstigend und in der ständigen Wiederholung zu mühevoll. Der russische Mediziner, Monist und Schriftsteller Alexander Bogdanow hatte in einer Zukunftserzählung von 1912 ein anderes Szenario skizziert: Der Erfinder eines Unsterblichkeitsserums, das der Menschheit Immortalität garantiere, inszeniert just am Tag des tausendjährigen Jubiläums des Serums seine Selbstauslöschung mittels Selbstverbrennung im Kosmos.[1] Zur gleichen Zeit argumentierte ganz ähnlich auch der Immunologe Ilja Metschnikow, der nicht die Unsterblichkeit, sondern eine Lebensverlängerung anvisierte, dass sich nach einhundertfünfzig Jahren eine Lebenssättigung einstellen und der reife, vom langen Leben erfüllte oder überdrüssige Mensch dann ohne Angst aus dem Leben scheiden würde. Ist der Todestrieb letzten Endes stärker als der Wunsch nach Unsterblichkeit?

Forscher und Ingenieure, die sich gegenwärtig mit dem Unsterblichkeitsproblem befassen, setzen weniger auf die Verlängerung der biologischen Lebensdauer, als vielmehr auf die Befreiung des Körpers von der Sterblichkeit durch den Übergang in ein postbiologisches Leben, das heißt auf eine Transformation des menschlichen Organismus in kybernetische und virtuelle, nichtkörperliche und entmaterialisierte Existenzformen. Als Teil der globalen Bewegung des Trans- und Posthumanismus begründete der russische Medienmagnat und Milliardär Dmitri Izkow 2011 unter Beteiligung von Experten für neuronale Schnittstellen, Robotik, künstliche Organe und Systeme die Initiative Russia 2045, deren Name sich auf das Konzept der technologischen Singularität bezieht. Gemeint ist damit ein erwarteter Qualitätssprung der Technosphäre, den der US-amerikanische Google-Ingenieur Raymond Kurzweil für das Jahr 2045 vorausgesagt hatte; zu diesem Zeitpunkt sollen komplexe intelligente Systeme autonom und selbstorganisierend sein. Auch wenn Izkow bereits eine Roboter-Kopie von sich konstruieren ließ und nun an der Interfacetechnik gefeilt wird, die eine Übertragung seines Bewusstseins in diesen künstlichen Körper ermöglichen soll, zielt sein Zukunftsprogramm weniger auf seine persönliche Unsterblichkeit als vielmehr auf die der Allgemeinheit. Die Rhetorik seiner auf der Webseite 2045.com veröffentlichten Manifeste, in denen unter anderem die Schaffung einer Neomenschheit (russ. neočelovečestvo) postuliert wird, erinnert dabei an jene Vertreter der russisch-sowjetischen Avantgarde, die den revolutionären Aufbruch in eine Zukunftsgesellschaft unterstützten, sprich: das allseitige Projekt einer Neuen Menschheit (russ. novoe čelovečestvo) mittels der Kunst der Proklamation und einer neuen Transformationsästhetik mitgestalteten.[2] Politische Relevanz erhielt Izkows Initiative zusätzlich durch ein Spin-off: die 2012 gegründete Partei Evolution 2045. Voller Ehrgeiz und Ambition wurde der russischen Regierung angeboten, die Idee des evolutionären Transhumanismus zur neuen Ideologie des postsowjetischen Staates zu machen. Damit würde Russland die sinnentleerte postsowjetische Konsumgesellschaft überwinden und als herausragende wissenschaftliche und strategische Denkfabrik – nach dem Vorbild des US-amerikanischen Silicon Valley – die globalen Geschicke mitgestalten können.

Um dieses Ziel zu erreichen, greift die russische Regierung gegenwärtig offensichtlich zu anderen Mitteln. Doch was wäre möglicherweise geschehen, wenn die sowjetischen Machthaber sich die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sukzessive erarbeiteten, (bio-)kybernetischen, KI- und digitalen Lösungen für das Unsterblichkeitsproblem angeeignet hätten? Der russische Kultautor Wiktor Pelewin hat dazu in seinem jüngsten Roman mit dem englischen Titel Transhumanism Inc.[3] ein dystopisches Zukunftsszenario entwickelt. Darin wird Russland, nun in »Guter Staat« umbenannt, bereits seit siebenhundert Jahren von der Partei der »Sozialistischen Eurasischen Revolutionären Demokratischen Wächter (Bolschewiki)« regiert. Das ist möglich, weil die Gehirne der Bolschewiki in der Bank des titelgebenden Unternehmens, Transhumanism Inc., aufbewahrt und künstlich am Leben erhalten werden.[4] Außerdem lagern dort die Köpfe von Oligarchen, die es sich zu Lebzeiten leisten konnten, ihre Gehirne von den alternden Körpern zu trennen und die Miete für ihr postkorporales Leben im unterirdischen Bankfach zu begleichen. Die Vorteile einer Teilhabe an der Technosphäre liegen auf der Hand. Die Vernetzung greift nicht nur innerhalb der virtuellen Sphäre unbegrenzter simulierter Identitäten, sondern bezieht auch die Menschen der Biosphäre mit ein. Letzteres ermöglichen Gehirnchips mit individuellen Codes (an derartigen Schnittstellen arbeitet im wahren Leben etwa die Neuralink Corporation unter prominenter Beteiligung von Tesla-Chef Elon Musk). Ihr Implantat ist für alle verpflichtend und erlaubt eine umfängliche Steuerung und Manipulation der Bevölkerung. In dem von Pelewin imaginierten primitiven, konsum-technologischen Kapitalozän der Zukunft ist die Bevölkerung darauf konditioniert, bedingungslos und jederzeit für das Privileg der Unsterblichkeit zu sterben bereit zu sein, so paradox dies auch sein mag.

Die Slawistin Tatjana Petzer arbeitete bis 2021 als Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung mit dem von ihr geleiteten Projekt »Wissensgeschichte der Synergie« am ZfL.

[1] Aleksandr A. Bogdanov: »Prazdnik bessmertija« (Tag der Unsterblichkeit), in: Letučie al’manachi 14 (1914), S. 53–70 (Erstveröffentlichung 1912 unter dem Titel »Bessmertnyj Fride. Fantastičeskij rasskaz« [Der Unsterbliche Fride. Eine phantastische Erzählung]). Vgl. dazu Interjekte 12 (2018) = Tatjana Petzer (Hg.): Unsterblichkeit. Geschichte und Zukunft des Homo immortalis, passim.

[2] Vgl. Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005.

[3] Viktor Pelevin: Transhumanism Inc., Moskau 2021.

[4] Das ist eine Anspielung auf das Pantheon der konservierten und in Vitrinen ausgestellten Gehirne herausragender verstorbener Persönlichkeiten der UdSSR, das der Psychoneurologe Wladimir Bechterew 1927 vorschlug.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tatjana Petzer: Paradoxien der Unsterblichkeit, in: ZfL Blog, 4.10.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/10/04/tatjana-petzer-paradoxien-der-unsterblichkeit/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221004-01

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Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. High­smith und Houellebecq über Literatur https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/07/hanna-hamel-lizenz-zur-luege-im-angesicht-des-nahen-todes-highsmith-und-houellebecq-ueber-literatur/ Mon, 07 Feb 2022 11:57:50 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2472 Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre Weiterlesen

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Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre fast absehbar sind, bleibt die Neugier – denn das kann es nicht gewesen sein, nicht bei dieser Autorin, nicht bei diesem Autor. Ab einem gewissen Moment, eher im letzten Drittel der Texte, bricht die enge Alltäglichkeit des erzählten Lebens angesichts unerwarteter Geschehnisse dann auch tatsächlich zusammen. Spätestens mit den abschließenden Seiten müssen das gesamte Erzählgeschehen und seine zentralen Figuren neu bewertet werden. Bei den zwei Büchern handelt es sich um Patricia Highsmiths Ediths Tagebuch (engl. Edith’s Diary, 1977) und Michel Houellebecqs gerade erschienenes Vernichten (frz. Anéantir, 2022).[1]

Der Reiz, die Beziehungen zwischen diesen Texten zu ergründen, rührt nicht von einer direkten Referenz her. Paul, die Hauptfigur aus Vernichten, entdeckt zwar gegen Ende seines Lebens die Vorzüge von Krimiautoren wie Arthur Conan Doyle und Agatha Christie. Deren Texte erlauben es Paul, »seine Infusionen, seinen Krebs und alles andere etwa zehn Tage lang tatsächlich zu vergessen« (V, 571). Es geht auch nicht darum, dass im Roman »Conan Doyle« und »Christie« erwähnt werden, aber insgeheim eine ganz andere Suspense-Autorin, nämlich »Highsmith«, gemeint wäre. Die wesentlichen Beziehungen beider Bücher – in ihnen und zwischen ihnen – finden im Unausgesprochenen statt. Die Texte treten in eine stumme Korrespondenz, weil sie auf ähnliche Weise von den verschiedenen Zumutungen berichten, die jedes Individuum für sich selbst und die Mitmenschen ist. Beide Romane reflektieren mit hohem Bewusstsein für die Bedürfnisse der Lesenden und ohne jede Scheu, diese zeitweise unbefriedigt zu lassen, die Rolle der Literatur im Angesicht dieser Zumutungen.

Ediths Tagebuch beginnt mit dem Umzug der Hauptfigur Edith von New York nach Brunswick Corner in Pennsylvania. Dort lebt sie zunächst mit ihrem Sohn Cliffie, ihrem Mann Brett und dessen pflegebedürftigem Onkel George. Auch als ihr Mann sie verlässt, bleibt George in ihrer Obhut. Cliffie trinkt und macht beruflich den Eindruck eines Versagers. Edith beginnt in Tagebucheinträgen, die absatzweise wörtlich im Romantext wiedergegeben werden, eine andere Entwicklung ihres Lebens und ihrer Familie zu erfinden. In ihrer Phantasie studiert Cliffie, heiratet und sie bekommt Enkel. Außerdem beginnt sie, Skulpturen anzufertigen, darunter Büsten von Cliffie und der erfundenen Familie. Immer weniger gelingt es ihr, die Phantasien, die ihre Mitmenschen zunehmend als pathologisch einordnen, verborgen zu halten. Für ihre Umgebung sind der Tagebuchroman und die Skulpturen keine Kunst, sondern schädliche Verdrehungen der Realität.

In Houellebecqs Vernichten zieht die Hauptfigur Paul zwar nicht selbst aufs Land, aber seine Aufmerksamkeit verlagert sich von seinem Wohnort Paris in die Gegend von Lyon, wo sein Vater nach einem Hirnschlag im Koma liegt. Bis dahin ist Paul ein eher distanzierter Beobachter seiner Umwelt und sogar des eigenen Lebens. Zu seiner Ehefrau Prudence hat er, obwohl er mit ihr zusammenlebt, so viel Abstand, dass er »ihr Zimmer seit mindestens fünf Jahren nicht betreten« hat (V, 228). Ihr Verhältnis bessert sich im Lauf des Romans, die intime Liebesbeziehung zwischen ihnen kehrt zurück, mitausgelöst durch den schlechten gesundheitlichen Zustand von Pauls Vater und den Tod der Mutter von Prudence. Wie Edith ist Paul mit dem näher rückenden Tod konfrontiert. Während Edith sich ihm künstlerisch schaffend entgegenstellt, braucht Paul die Liebe seiner Frau und die intensive Rezeption von Literatur.

Diese knapp zusammengefassten Plots sind aber nur der eine, der private‹ Teil der beiden Romane. Die Hauptfiguren Paul und Edith sind von Anfang an auch intensiv in die politischen Geschehnisse ihrer jeweiligen Zeit involviert. Edith engagiert sich, indem sie Artikel schreibt und in Brunswick Corner mit ihrer Nachbarin Gert ein kleines Lokalblatt herausgibt. Vor allem der Vietnamkrieg beschäftigt sie zunehmend. Paul ist Mitarbeiter des französischen Wirtschafts- und Finanzministers und Teil des Wahlkampfteams bei der Präsidentschaftswahl 2027. Vor allem die ersten Kapitel von Vernichten drehen sich um eine Reihe schwer erklärbarer Anschläge und terroristischer Drohungen. Die Täter werden bis zum Ende des Buches nicht identifiziert. Ihre rätselhaft bleibenden Ideologien weisen aber Verbindungen zu den Biographien verschiedener Romanfiguren auf, unter anderem zur unbescholtenen Prudence, die dem »Wicca-Kult« anhängt (was ihr allerdings unwichtiger zu werden scheint, als sich die Beziehung zu Paul wieder intensiviert). Die Figuren werden immer stärker auf ihr direktes soziales Umfeld und das eigene Leben festgelegt, in dem die Auseinandersetzung mit größeren, teils ausweglosen politischen Zusammenhängen überfordernd oder unmöglich wird. Paul sieht sich am Tag der Entscheidung in der Wahlkabine außerstande, den Kandidaten der eigenen Partei zu wählen. Die ›politische‹ Energie von Paul und Edith richtet sich letztlich nur noch auf die Diplomatie und den Kampf in ihrem engsten privaten Umfeld.  

Die Verschränkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen mit den individuellen Figurenbeziehungen bleiben so inkonsistent wie die jeweils von den einzelnen Figuren vertretenen Haltungen. Das ist nicht die Folge von Konstruktionsfehlern der Romane, sondern vielmehr Ausdruck des Anliegens, das Erleben des Verlusts einer verlässlich urteilenden Instanz zu thematisieren. »Die Gesellschaft wird eben zunehmend komplexer«, lautet Ediths Diagnose (ET, 416). Die entscheidenden Konflikte bestehen aber nicht zwischen den Figuren, auch wenn sich aus politischen und familiären Gründen vielfach Anlass zu Streit ergibt. Maßgeblich sind die internalisierten und verschwiegenen Konflikte mit gesellschaftlichen Erwartungen, die Paul und Edith in erster Linie mit sich allein austragen und die sie ihren zentralen Bezugspersonen gegenüber nie aussprechen können. Das Aussprechen wird entweder sublimiert in Kunst (Edith) oder anderen in der Literatur überlassen (Paul).

An vielen Stellen der Romane sind Edith und Paul auch blind für die Inkonsistenz ihrer eigenen Handlungen und Haltungen. Die beobachtet allein die Leserin im zeitlichen Verlauf von Buch und erzähltem Leben und ist dabei die meiste Zeit auf der Seite der zentralen Figuren, auch wenn bei Highsmith der Fokus nach und nach von Edith zu Cliffie wechselt. Edith fordert von scheinbar fürsorglichen Mitmenschen, die in ihr Privatleben eindringen, die »nackte Wahrheit« (ET, 457) ein, vermischt aber selbst die eigenen Erfindungen heillos mit ihrem Leben. Dennoch führt sie weiter politische Diskussionen mit ihrer Freundin Gert und kritisiert »diesen ganzen Schrott im Fernsehen« (ET, 417). Sie »verlernt« die »Sprache« der »Welt« ihres Ehemanns (ET, 404); ihre eigene Situation treibt sie in eine Lebenslüge, die der mitfühlende Leser ihr als überlebensnotwendigen Ausweg zugestehen muss. Paul wiederum betrachtet seinen vollständig gelähmten Vater, der noch in der Lage ist, zu lesen und mit seiner Partnerin nonverbal zu kommunizieren: »Wenn sein Vater Erektionen haben konnte, wenn er lesen und die sich im Wind wiegenden Blätter betrachten konnte, dann, dachte Paul, fehlte es ihm im Leben an rein gar nichts« (V, 404). Gut hundert Seiten später vor die Wahl gestellt, lehnt er ein solches (Über-)Leben für sich selbst ab. Die Leserin ist auch in diesem Perspektivenwechsel auf seiner Seite: Sie gesteht es Paul zu, seiner ehrlichen Frau den eigenen gesundheitlichen Zustand zu verschweigen, weil er sonst vor der Wahl stünde, ein Leben zu wählen, in dem er nicht einmal mehr physisch dazu imstande wäre, zu lügen. (Wer wissen will, warum, lese den Roman.)

In Houellebecqs Roman gibt es eine einzige Fußnote. Die hochgestellte Ziffer steht am Ende eines Satzes, in dem Paul seine Schwester Cécile als »ein menschliches Wesen von höherer Qualität« (V, 134) beschreibt, das von seinem Vater stets bevorzugt wurde. In der erläuternden Anmerkung steht dazu, dass man sich bei »dieser Art Fragen […] bewusst machen« müsse, »dass man sich selbst immer mitten ins Zentrum der moralischen Welt stellt, dass man sich selbst immer als ein weder gutes noch schlechtes, als ein moralisch neutrales Wesen betrachtet« (V, 620), auch wenn es sich dabei nur um die inoffizielle Variante der Selbstbeschreibung handele. Diese Selbsteinschätzung führe »zu einer methodologischen Verzerrung der Beobachtung, und so gut wie jedes Mal ist ein Übersetzungsvorgang notwendig [un biais méthodologique se crée dans l’observation, et une opération de translation s’avère presque à chaque fois nécessaire]« (ebd.; A, 164). Eine solche Übersetzungsoperation leistet der Roman: zwischen den Figuren, die im Angesicht ihres Todes trotz ihrer divergierenden Überzeugungen für den Roman alle gleich sind, aber auch zwischen ihren jeweiligen moralischen Haltungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Biographie. Die Fußnote markiert die Standpunktlosigkeit des Romans, dessen Position nicht mit den Haltungen Pauls gleichzusetzen ist. Gerade weil der Roman sich der Indifferenz des Todes stellt, kann er keine Haltung bevorzugen – und so lässt sich auch keine direkt aus ihm ableiten.

Im Verlauf der Lektüre ist der Leser geneigt, den Figuren in ihren widersprüchlichen Positionen zu folgen. In beiden Romanen schleicht sich der Tod thematisch über pflegebedürftige Nebenfiguren ein. Man betrachtet ihn teilnahmslos von außen, sieht die Zumutungen für diejenigen, die sich den Sterbenden widmen oder sie zurückweisen, bewertet ihre Meinungen dazu, was erträglich und was unerträglich ist, und blickt schließlich mit den Hauptfiguren selbst der Ausweglosigkeit ihres Todes entgegen. Der Tod ist der stumme Übersetzer zwischen den Figuren, zwischen den beiden Büchern, zwischen der Lesenden und der erfundenen Handlung und zwischen den wechselhaften, problematischen moralischen Standpunkten.

Ediths Tagebuch und Vernichten kommen schließlich darin überein, dass die Kunst den Menschen in die Lage versetzen könnte, sich dem Tod zu stellen. Houellebecq zieht dabei deutliche Grenzen zu anderen Formen von alternativen Visionen, insbesondere zu denjenigen des Terrors. Einige der terroristischen Anschläge werden detailgetreu und ohne Opfer antizipiert, quasi von den Terroristen öffentlich geprobt, ohne dass dabei zunächst jemand zu Schaden käme. Bei der terroristischen Vision spielt die (brutale) Phantasie ähnlich wie bei der Kunst eine entscheidende Rolle, allerdings unterscheidet sich der Terror von der Kunst darin, dass er seine Visionen zu ›Realität‹ macht. Edith wiederum wird durch die urteilenden Mitmenschen, durch den Verlust von Zufluchtsorten (die wohlgesinnte Tante Melanie stirbt), dazu getrieben, ihre Kunst für Realität zu halten. Daran trägt nicht sie selbst die Schuld, sondern vielmehr ihre Umgebung, die ihren Erfindungen den Kunstcharakter abspricht. »Eine Vernunft, die Kunst nicht mehr respektiert, muß krank sein, ohne es zu ahnen«, lautet Paul Ingendaays Deutung im Nachwort der deutschen Übersetzung von Ediths Tagebuch (ET, 505). In dieser Deutung wird der Roman zu einer »auf den Kopf« gestellten Krankengeschichte (ebd.). Sogar zwischen Cliffie und Edith, die sich im Roman bis zur Komplizenschaft in einem Mord solidarisieren, bleibt am Ende ein Missverständnis über den fiktionalen Charakter ihres Tagebuchs zurück: Cliffie entscheidet, es nicht zu lesen, weil er darin Notizen über »all die kleinen üblen Sachen« ihres gemeinsamen Alltags vermutet (ET, 481). Und auch bei Houellebecq haben manche Figuren Schwierigkeiten, die Existenz der Kunst (und mit ihr den Tod) zu akzeptieren: Paul verlässt die Scheune des Elternhauses, ohne »auch nur eine einzige Arbeit seiner Mutter angesehen zu haben« (V, 150). In der Scheune werden die Skulpturen, die Pauls verstorbene Mutter seit ihrem 45. Lebensjahr angefertigt hat, aufbewahrt und gleichzeitig vor Blicken verborgen.

Würde man die vergleichende Lektüre fortsetzen, fänden sich an vielen weiteren Stellen aussagekräftige Spuren der stummen Korrespondenz zwischen beiden Büchern. Wenn man sich näher mit den historischen Kontexten der 1970er und der nahzukünftigen 2020er Jahre, der weiblichen Protagonistin von Highsmith und dem männlichen Protagonisten von Houellebecq auseinandersetzen würde, dann käme man ohne Zweifel auch auf eine Reihe deutlicher Differenzen. Verbunden sind die Texte allerdings in der literarischen Kraft, die sie nur in ihrer Bezugnahme auf den Tod entfalten und die sie über die Zeiten und Kontexte ihrer Entstehung hinweg in Korrespondenz treten lässt.  

Um es mit etwas mehr Pathos zu formulieren: Die Literatur blickt dem Tod ins Auge, indem sie die Lügen derjenigen (Figuren) entlarvt, die es sich außerhalb der Kunst in einer verlogenen Realität eingerichtet haben. Verlogen ist diese Realität, weil sie die Augen vor dem Tod verschließt, indem sie Erfindungskraft und künstlerischen Ausdruck – als Weg, der tödlichen Realität entgegenzutreten – zur Krankheit stilisiert. Zugleich sind beide Texte sanft und solidarisch mit ihren zentralen Figuren, da sie nicht abschließend urteilen. Das ist konsequenterweise literarisch auch gar nicht anders möglich, denn vor dem Tod sind alle gleich. Die Romane selbst dürfen für diesen Effekt gerade nicht Realität sein. »[D]ie Realität ist nur das Ausgangsmaterial [la réalité n’est qu’un matériau de départ]« (V, 617; A, 733), heißt es im Houellebecqs Roman nachgestellten Dank. Um bei der Bewältigung der Schrecken des Sterbens zu helfen, müssen Romane wie auch die intradiegetischen literarisch erwähnten Texte »erfunden [inventées]« und »anders [autres]« sein (V, 559; A, 667). Vor dem Tod sind deshalb doch nicht alle Bücher gleich: einige sind »wunderbar [merveilleux]« (V, 616).

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das ZfL-Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«.

 

[1] Michel Houellebecq: Vernichten, übers. von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, Köln 2022 (im Folgenden zitiert mit der Sigle V, die an einigen Stellen eingefügten französischen Originalzitate in Klammern entstammen der französischen Originalausgabe, Michel Houellebecq: Anéantir, Paris 2022, Sigle A); Patricia Highsmith: Ediths Tagebuch, übers. von Irene Rumler, mit einem Nachwort von Paul Ingendaay, Zürich 2021 (zitiert mit der Sigle ET).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Lizenz zur Lüge im Angesicht des nahen Todes. Highsmith und Houellebecq über Literatur, in: ZfL BLOG, 7.2.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/07/hanna-hamel-lizenz-zur-luege-im-angesicht-des-nahen-todes-highsmith-und-houellebecq-ueber-literatur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220207-01

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Eva Geulen: »JEDER BEKOMMT SEINE KINDHEIT ÜBER DEN KOPF GESTÜLPT …« https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/01/29/eva-geulen-jeder-bekommt-seine-kindheit-ueber-den-kopf-gestuelpt/ Fri, 29 Jan 2021 11:07:53 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1695 Die Redaktion von »leibniz« hat für die Ausgabe ihres Magazins zum Thema »Anfänge« (Heft 3, 2020) dreizehn Menschen aus der Leibniz-Gemeinschaft gebeten, ihre liebsten ersten Sätze kurz zu kommentieren. Eva Geulen, Direktorin des ZfL, hat hierfür einen Satz aus Heimito von Doderers Roman »Ein Mord den jeder begeht« ausgewählt. Wir veröffentlichen auf unserem Blog die Weiterlesen

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Die Redaktion von »leibniz« hat für die Ausgabe ihres Magazins zum Thema »Anfänge« (Heft 3, 2020) dreizehn Menschen aus der Leibniz-Gemeinschaft gebeten, ihre liebsten ersten Sätze kurz zu kommentieren. Eva Geulen, Direktorin des ZfL, hat hierfür einen Satz aus Heimito von Doderers Roman »Ein Mord den jeder begeht« ausgewählt. Wir veröffentlichen auf unserem Blog die Langfassung ihres Textes.

Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.

Heimito von Doderer: Ein Mord den jeder begeht (1938)

Dieser Romananfang klingt erst einmal trostlos: Die eigene Kindheit ist fremdbestimmt, und man wird sie nicht los. Unter dem Eimer steht man wie ein dauerhaft begossener Pudel. Immerhin schafft der Umstand, dass »jeder« so dasteht, eine gewisse Gemeinschaft, denn »an uns« rinnt es herunter. Unwillkürlich fällt einem jener andere berühmte Eingangssatz von Tolstoijs Anna Karenina ein: »Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich«. Nur, dass von Glück und Unglück bei Doderer gar nicht die Rede ist, weil sich erst später zeigt, was eigentlich im Eimer war. Gefallen hat mir immer die Verbuchstäblichung des Unent-rinn-baren im Bild der an uns herabrinnenden Flüssigkeit. Es passt eigentlich nicht zu den alten Vorstellungen vom starren Schicksal und auch nicht zu den jüngeren von determinierenden Faktoren.

Und wie passt es zu dem Titel des Romans, der so beginnt? In dem Mord, den jeder begeht, kann man auch ohne psychoanalytische Kenntnisse die ödipale Revolte erkennen, also den Versuch des Kindes, sich von der Vaterautorität zu befreien. Nach Freud ist der symbolische Vatermord eine wichtige Etappe in der Entwicklung. Er hat sich diese Geschichte freilich nicht ausgedacht, sondern fand sie in dem antiken Drama von Sophokles. König Ödipus macht sich im gleichnamigen Stück nach Hinweisen des Sehers Teiresias auf die Suche nach dem Mörder seines Vaters, um am Ende festzustellen, dass er ihn vor vielen Jahren selbst erschlagen und danach, ohne es zu wissen, seine eigene Mutter geheiratet hat. Das Drama ist vielleicht der älteste Krimi, in dem der Detektiv und Richter sich als Mörder entpuppt.

Diese Struktur hat auch Doderers Roman, dessen Held sich ebenfalls an die Aufklärung eines lange vergangenen Mordfalls macht. Dessen Lösung ist aber gerade nicht die Bestätigung, sondern die Widerlegung des ersten Satzes des Romans. Mehr soll nicht verraten werden, weil es das Lesevergnügen ruinieren würde. Soviel darf man aber hinzufügen: Doderer zwingt seine Leser*innen, selbst detektivisch zu lesen, und das betrifft nicht nur die Frage ›Wer war’s?‹, sondern das dichte Verweisnetz dieses milieugesättigten, detailreichen und oft auch hinreißend komischen Romans. Lose Enden gibt es bei diesem Erzähler, der seine Romane auf riesigen Papierwänden im Detail durchkonstruierte, nicht.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. 

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: »Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt …«, in: ZfL BLOG, 29.1.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/01/29/eva-geulen-jeder-bekommt-seine-kindheit-ueber-den-kopf-gestuelpt/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20210129-01

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Hanna Hamel: NACHBARSCHAFTEN. Nachlese zu den ZfL-Literaturtagen https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/12/18/hanna-hamel-nachbarschaften-nachlese-zu-den-zfl-literaturtagen/ Wed, 18 Dec 2019 14:35:29 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1313 Nachbarschaft ist ein ambivalentes Verhältnis. In kaum einer anderen Beziehung liegen Distanz und Nähe, Freundschaft und Feindschaft, Öffentlichkeit und Intimität so nah beieinander. Die räumliche Nähe verlangt eine eigene Form des Abstandhaltens, damit Nachbarn einander über längere Zeit und auf engem Raum ertragen können. Nachbarn sind aneinander gebunden, auch wenn sich ihre Lebensvollzüge bis auf Weiterlesen

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Nachbarschaft ist ein ambivalentes Verhältnis. In kaum einer anderen Beziehung liegen Distanz und Nähe, Freundschaft und Feindschaft, Öffentlichkeit und Intimität so nah beieinander. Die räumliche Nähe verlangt eine eigene Form des Abstandhaltens, damit Nachbarn einander über längere Zeit und auf engem Raum ertragen können. Nachbarn sind aneinander gebunden, auch wenn sich ihre Lebensvollzüge bis auf den geteilten Ort in keiner Weise gleichen. Gerade der Wunsch nach Distanz und klaren Grenzen scheint deshalb oftmals der einzige Berührungspunkt ihrer Interessen zu sein. Der Lyriker Robert Frost hat dieses Verhältnis in seinem Gedicht Mending Wall lakonisch auf den Punkt gebracht: »Good fences make good neighbours.«

Nachbarschaft bedeutet aber auch die exemplarische Beziehung zum Nächsten und steht daher in einer Tradition mit der Nächstenliebe.[1] Der Nachbar oder die Nachbarin tritt nie allein, sondern immer in einem gemeinschaftlichen Gefüge auf. Erst das Geflecht von Beziehungen, und seien sie noch so lose, stiftet Nachbarschaft. Nachbarschaft kann man deshalb auch als Inbegriff zwischenmenschlicher Beziehungen verstehen, als eine Form der Offenheit für den Anderen. Der Philosoph Søren Kierkegaard spricht der Nächstenliebe sogar grundlegendere Bedeutung zu als der Liebe zu ausgewählten Personen, mit denen man freiwillig eine intime Beziehung eingeht:

»[G]ibt es nur zwei Menschen, so ist der andere Mensch der Nächste; gibt es Millionen, so ist jeder von diesen der Nächste, der einem wiederum näher ist als ›der Freund‹ und ›die Geliebte‹, insofern diese beiden, da sie ja Gegenstand einer Vorliebe sind, so ungefähr gemeinsame Sache machen mit der Selbstliebe, die in dem einen ist.«[2]

Nachbarschaftsbeziehungen, die man sich nur bedingt aussuchen kann, stehen in dieser Hinsicht immer auch unter dem Druck eines ethischen Anspruchs.

Nachbarschaften können sich also in einem breiten Spektrum zwischen Abgrenzung, Indifferenz und starken gemeinschaftlichen Gefühlen und Interessen entfalten. Die ZfL-Literaturtage, die am 22. und 23. November 2019 im Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße stattfanden, haben deshalb den Versuch unternommen, unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema zu beleuchten. Dazu waren acht Autor*innen und eine Soziologin eingeladen, aus ihren Texten zu lesen bzw. ihre Forschungsfragen zu präsentieren und im Anschluss über Nachbarschaften zu sprechen. Denn zur Nachbarschaft gehört auch ganz wesentlich der Austausch – im konkreten Fall zwischen den Autor*innen, den wissenschaftlichen Gesprächspartner*innen, dem interessierten Publikum und natürlich zwischen dem ZfL und der langjährigen »Nachbar«-Institution, dem Literaturhaus Berlin.[3]     

Ulrike Vedder (li.), Anke Stelling (re.)
Ulrike Vedder (li.), Anke Stelling (re.)

In den Lesungen wurde rasch die hohe Aktualität des Themas deutlich. Anke Stelling las aus ihrem Roman Schäfchen im Trockenen (2018), der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Vermittelt über die Geschichte der Erzählerin, deren Untermietvertrag sich mit der lange Zeit bestehenden Freundschaftsbeziehung zu den Vermietern aufzulösen droht, thematisiert der Roman die aktuelle Wohnungsknappheit und die Konkurrenz um Wohnraum in Berlin. Mit dem drohenden Verlust der gewohnten vier Wände stellt sich auch die Frage nach der eigenen Lebensform: Der Erzählerin, die als Schriftstellerin mit den Anforderungen ihres Familienlebens kämpft, werden die sozialen Unterschiede zu ihren Freunden – und Vermietern – in eben jenem Moment besonders bewusst, als diese sich zu einer Baugenossenschaft zusammenschließen. Der Blick auf das soziale Umfeld als (potentielle) Nachbarschaft hat auch in Jan Brandts Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt (2019) ernüchternden Charakter. Einmal aus Ostfriesland in die Stadt geflohen, entwickelt der Erzähler in Berlin gegenüber den Gangsta-Rapper-Nachbarn selbst Sanktionsmechanismen, denen er mit dem Ortswechsel vom Land eigentlich entkommen wollte. Umgekehrt erweist sich auch das Haus des Urgroßvaters, das im ostfriesischen Ihrhove steht, nicht als geeigneter Zufluchtsort vor dem sozialen und finanziellen Druck, der das Wohnen und Leben in der Stadt prägt. Reizvoll wirkt häufig das, was man aus dem Fenster und in der Ferne zu sehen glaubt: Helene Hegemanns junge Protagonistin in Bungalow (2018) beobachtet aus der Mietskaserne die attraktiven neuen Nachbarn, ein Schauspielerpaar aus dem Bungalow von gegenüber. Der soziale Neid erscheint in diesem Szenario baulich förmlich in Stein gemeißelt: Angelegt an die reale Architektur des Berliner Hansaviertels befindet sich der Wohnraum einiger weniger Privilegierter inmitten von großen und hohen Mietshäusern.

Aber nicht nur der Blick auf das unerreichbare Andere, auch die plötzliche Nähe des Fremden oder das Hereinbrechen von Gewalt in den geschützten, vertrauten Raum kann die Wahrnehmung der eigenen Nachbarschaft transformieren. Der Erzähler aus Der traurige Gast (2019) von Matthias Nawrat flaniert und sitzt einigermaßen versonnen in Berlin. Als er vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz erfährt, transformiert das Ereignis vorübergehend seine Wahrnehmung der Nachbarn und ihrer Sprachen; Gewohnheit oder auch Ignoranz weichen einer überaufmerksamen Angst. 

Pola Groß (li.), Norbert Scheuer (re.)

Nachbarschaft besteht aber nicht nur zwischen Räumen und Häusern. Im Deutschen bezeichnet der Begriff doppeldeutig auch die Menschen, die zu einem recht losen und potentiell offenen sozialen Gefüge zählen. Das kann eine Zufallsgemeinschaft von Zimmernachbarn im Internat sein, wie in Maruan Paschens Roman Kai (2014), oder eine Gruppe von Ganoven in der Wiener Unterwelt der Nachkriegszeit, die David Schalko in Form der »Erdberger Spedition« in seinem Roman Schwere Knochen (2018) porträtiert. Heute entkoppeln die sozialen Medien die Nachbarschaft außerdem zusehends von der persönlichen Begegnung im geteilten Raum. Soziale Gruppen, die sich Tag für Tag im Supermarktcafé treffen, wie es die kleinstädtische Gemeinschaft von Alten in Norbert Scheuers Roman Am Grund des Universums (2017) tut, wirken unter ihren Zeitgenossen rasch anachronistisch und vom Wandel ihrer Umwelt bedroht.

Hannes Bajohr (li.), Rasha Abbas (re.)
Hannes Bajohr (li.), Rasha Abbas (re.)

Schließlich gibt es Nachbarschaftsbeziehungen auch zwischen Ländern und Sprachen, zwischen denen sich Sprecher*innen und Übersetzer*innen hin- und herbewegen und vermitteln, indem sie neu hervorbringen, was bereits an einem anderen Ort auf andere Weise gesagt wurde. In Rasha Abbas’ Lesung aus Die Erfindung der deutschen Grammatik (2016) wurden die absurden Herausforderungen des Ankommens im scheinbar so weltoffenen Berlin deutlich. Im Humor findet sich aber möglicherweise ein Ausweg, wenn sich die Perspektiven von Außen und Innen verkehren oder verschwimmen können; so etwa, wenn die Protagonistin zum Jobcenter in den Osten der Stadt fährt und in der U-Bahn eine geradezu exotische Begegnung mit »den Deutschen« macht, von denen sie in Neukölln immer nur gehört, die sie aber nie zu Gesicht bekommen hat.

***

Nachbarschaften – so zeigt der erste Eindruck der ZfL-Literaturtage – erschöpfen sich nicht in einem kartographierbaren, räumlichen Areal und sie sind keinesfalls nur positiv konnotiert. Vielmehr gehören zu ihnen auch die Ambivalenzen, die Übergriffe und die uneindeutigen Grenzen. Nachbarschaften können gefährlich sein und nicht zuletzt kompromittieren. Insofern ist es vielleicht bezeichnend, dass ausgerechnet bei Martin Heidegger, der mit seinem Werk selbst in einer höchst problematischen intellektuellen Nachbarschaft steht, eine der treffendsten Bemerkungen zum Thema zu finden ist. In seinem 1957 gehaltenen Vortrag »Zum Wesen der Sprache« lässt sich lesen:

»Man lebt in ihr und käme in Verlegenheit, sollte man sagen, worin die Nachbarschaft bestehe.«[4]

In unserem Forschungsprojekt zu »Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« wird es deshalb nicht so sehr darum gehen, zu definieren, was Nachbarschaft denn nun sei, sondern vielmehr darum, Nachbarschaftsbeziehungen an unterschiedlichsten Orten in ihren verschiedenen Formen ausfindig zu machen und ihre Eigenheiten zu ergründen. Der Gestaltungswille der Literatur zeugt von dem Wunsch, Beziehungen und Nachbarschaften auch dort darzustellen, wo sie bislang nicht oder nur andeutungsweise sichtbar waren. Literatur nimmt sich außerdem derjenigen Nachbarschaften an, die zu fragil oder beweglich sind, um sie in Initiativen und Institutionen zu fassen. Gegenwartsliteratur, die entweder inhaltlich oder über ihren Produktionsort einen Bezug zu Berlin oder dem Berliner Umland hat, bildet deshalb den Ausgangspunkt der Untersuchungen. Die Literatur stellt, wie es auch die Stadtsoziologin Anna Steigemann in ihrem Vortrag bei den ZfL-Literaturtagen getan hat, nicht nur die Frage, was Nachbarschaft ist, sondern auch, »wie sie geht«. Dieser Frage an der Schnittstelle von hochaktuellen sozialen Debatten und Perspektiven der Literatur nachzugehen, wird in den kommenden drei Jahren Aufgabe des Projekts sein. Dazu wollen wir eine Reihe von Veranstaltungen mit Kooperationspartnern an verschiedenen Orten in Berlin durchführen, bei denen Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen und Autor*innen eingeladen sind, sich auszutauschen. Daraus soll schließlich eine öffentlich zugängliche digitale Anthologie hervorgehen, die die verschiedenen Facetten der Nachbarschaft sammelt, abbildet, miteinander verknüpft und dazu einlädt, sich selbst in den Berliner (Literatur-)Nachbarschaften zu bewegen.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das ZfL-Forschungsprojekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«.

 

[1] Vgl. dazu Kenneth Reinhard: »Neighbour«, in: Barbara Cassin (Hg.): Dictionary of Untranslatables. A Philosophical Lexicon, übers. v. Steven Rendall u.a., Princeton u. Oxford 2014, S. 706-712.

[2] Sören Kierkegaard: Der Liebe Tun, Bd. 1, Gütersloh 21989, S. 26.

[3] Die Veranstaltung war zugleich Auftakt des Forschungsprojekts »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«, an dem seit dem Sommer 2019 am ZfL gearbeitet wird.

[4] Martin Heidegger: »Das Wesen der Sprache«, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 31965, S. 159–216, hier S. 188.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Nachbarschaften. Nachlese zu den ZfL-Literaturtagen, in: ZfL BLOG, 18.12.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/12/18/hanna-hamel-nachbarschaften-nachlese-zu-den-zfl-literaturtagen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20191218-01

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Franziska Thun-Hohenstein: LEIDTRAGENDE KÖRPER https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/24/franziska-thun-hohenstein-leidtragende-koerper/ Wed, 24 Jul 2019 12:12:30 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1168 Warlam Schalamow (1907–1982) ist der einzige Schriftsteller in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dem Körpergedächtnis für sein eigenes Schreiben wie für das menschliche Gedächtnis an sich besonderen Stellenwert beimaß. Nahezu all seine überlieferten Prosatexte und Gedichte sind nach den vierzehn Jahren Gefangenschaft in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, verfasst worden. Weiterlesen

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Warlam Schalamow (1907–1982) ist der einzige Schriftsteller in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dem Körpergedächtnis für sein eigenes Schreiben wie für das menschliche Gedächtnis an sich besonderen Stellenwert beimaß. Nahezu all seine überlieferten Prosatexte und Gedichte sind nach den vierzehn Jahren Gefangenschaft in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, verfasst worden. Alles, was er dort, am »Pol der Grausamkeit« des GULag durchleben musste, hat sich unauslöschlich in sein Gedächtnis wie in seinen Körper eingebrannt. Die Goldgrube der Kolyma, in der die Häftlinge bei Temperaturen bis zu minus 55 Grad arbeiten mussten, ließ den Überlebenden zeitlebens nicht los. Seinen eigenen Erfahrungen entnahm Schalamow ein neues, erschreckendes Wissen über die Verfasstheit des Menschen, über »das Gesetz des Verfalls« ebenso wie über »das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall«. Dieses Wissen mit literarischen Mitteln gegen das Vergessen wachzuhalten, hieß vor allem eines: »Wichtig ist das Wiedererwecken des Gefühls.« Eben dieses Heraufholen des damaligen Gefühls ist für ihn die Garantie von Wahrhaftigkeit.

Schalamows bezeugendes Schreiben, seine von ihm selbst so bezeichnete »neue Prosa«, steht – nach Auschwitz, Kolyma und Hiroshima – im Zeichen von Gedächtnis und Erinnerung. In Prosatexten wie in Gedichten vermag das Gedächtnis Unterschiedliches – es bewahrt, quält, schmerzt, schreit, aber es verblasst auch, stirbt ab, verbirgt, ist unzuverlässig oder lügt. Dabei unterscheidet Schalamow zwischen einem mentalen Gedächtnis und dem Gedächtnis des Körpers. Immer wieder aufs Neue lotet er die Relation zwischen beiden aus. Zusammenfassend formuliert er in einem Brief:

Alles wird an der Seele überprüft, an ihren Wunden, alles wird am eigenen Körper überprüft, an seinem Gedächtnis, das in den Muskeln, in den Armen sitzt und manche Episoden wieder auferweckt. Ein Leben, an das man sich mit dem ganzen Körper erinnert, nicht nur mit dem Gehirn. Diese Erfahrung ans Licht zu bringen, wo das Gehirn dem Körper zur unmittelbaren realen Rettung dient und der Körper wiederum dem Gehirn, in dessen Windungen er Sujets aufbewahrt, die man besser vergessen sollte.

Die negativen Erfahrungen und Empfindungen – die Kälte, die Schläge, die harte physische Arbeit – haben den Körper des Lagerhäftlings deformiert, traumatisiert, sie sind in ihm eingekapselt. Der geschundene Körper des Überlebenden trägt das Leid für immer in sich, wird zum Erinnerungszeichen an das Böse. Für Schalamow sind die eigenen Gefühle die Basis der angestrebten Authentizität seiner Prosa: »Das Gefühl muss zurückkommen und die Kontrolle durch die Zeit, den Wandel der Wertungen besiegen.« Um das Gefühl im poetischen Wort »wiedererwecken« und das Trauma gleichsam von innen aufsprengen zu können, denkt er vom Körpergedächtnis her. Geradezu programmatisch bekräftigt er im Gedicht »Das Gedächtnis« (1957), das Hirn könne und wolle nicht bewahren, was die Muskeln, die Haut, das Gedächtnis der Finger, das Gedächtnis der Schultern wüssten. Aus dieser Überzeugung speist sich nicht nur die mit vielen physiologischen Metaphern und Bildern angereicherte Sprache der Erzählungen aus Kolyma, sondern auch ihr starkes gestisches Moment.

Oftmals berichtet ein Erzähler über Veränderungen, die der Mensch unter den inhumanen Bedingungen des Lagers an sich selbst registriert; Veränderungen, denen er sich entgegenzustemmen sucht, obgleich seine schwindenden Kräfte ihn diesen Kampf vielfach verlieren lassen. Unaufhaltsam erscheinen auch die Deformation des Gehirns, der Verlust des Gedächtnisses und der Sprache. Ein wiederkehrendes Motiv ist die Deformation des Körpers bzw. von Körperteilen, insbesondere der Hände, die durch Kälte, Hunger und Schwerstarbeit ihre natürliche, menschliche Gestalt verloren und sich gleichsam in ein bloßes Anhängsel jenes Arbeitsgeräts verwandelten, das den Menschen zu einem Arbeitssklaven degradierte. Beide Hände, stellt die Hauptfigur in »Typhusquarantäne« (1959) nüchtern fest, hatten sich »auf die Dicke des Schaufel- oder Hackengriffs gekrümmt und waren, so schien es Andrejew, für immer erstarrt«. Die Quarantänestation – wie auch die Krankenstation – bedeutet für den Häftling eine Ruhepause, die Möglichkeit, eine zumindest partiell einsetzende ›Wiederbelebung‹ seines Körpers zu beobachten, so dass in ihm die Hoffnung auf den Erhalt seines Körpers keimt und er sich um diesen zu sorgen beginnt. Mehr noch, einzig dem Körper wird die Fähigkeit zugeschrieben, Andrejew am Leben zu erhalten:

[D]er Körper wird ihn nicht betrügen. […] Alle Rechtfertigungen, die das Hirn sucht, sind verkehrt, sind falsch, und Andrejew wußte das. Nur der von der Grube geweckte animalische Instinkt kann ihm einen Ausweg zeigen und zeigt ihn schon.

Allein der im buchstäblichen Sinne leidtragende Körper ist Träger einer Erfahrung, die das Überleben – und damit auch das Bewahren des neuen Wissens über die Abgründe des Menschen – zwar nicht sichert, aber doch befördern kann. Im Gegensatz dazu gibt es, wie etwa im Gedicht »Wunsch«, auch eine andere, rigorose Geste: den Wunsch, es einem »Selbstverstümmler« gleich zu tun und sich von den abgefrorenen Gliedmaßen zu befreien. In solchen Szenen will es scheinen, als könne der Häftling seine Unerschrockenheit – im Leben wie im anklagenden Sprechen – erst entwickeln, wenn sein Körper nichts mehr zu verlieren und der Phantomschmerz die Übermacht gewonnen hat.

Folgt man Schalamows Selbstaussagen, so erprobte er die performative Macht des »wiederbelebten« Wortes gleichsam an sich selbst. Beim Schreiben spreche er immer mit sich selbst, »schreie, drohe, weine«. Seine Erzählungen gehorchten, notierte er, jeweils einem ganz bestimmten Rhythmus, ja Muskelgesetzen. Schalamow hegte keine Zweifel daran, dass er in den Erzählungen aus Kolyma eine neue Poetik gefunden habe, mit deren Hilfe er die Erinnerungen und Gefühle des Überlebenden aus den Tiefen seiner Seele und seines Körpers hochzuholen und ihnen neuen Raum zu geben vermochte.

 

Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein leitet am ZfL das von der DFG geförderte Projekt Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik. Sie ist Herausgeberin der deutschen Werkausgabe Schalamows bei Matthes & Seitz Berlin, der auch sämtliche Zitate entnommen sind. Ihr Beitrag wurde ursprünglich für das Programmheft von Timofej Kuljabins Inszenierung »Am Kältepol. Erzählungen aus dem Gulag vom Warlam Schalamow« am Münchner Cuvilliéstheater (Nr. 12, 2017/18) geschrieben.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Franziska Thun-Hohenstein: Leidtragende Körper, in: ZfL BLOG, 24.7.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/24/franziska-thun-hohenstein-leidtragende-koerper/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190724-01

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Insa Braun: WRESTLING UM WAHRHAFTIGKEIT: Clemens Setz und Christian Kracht https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/04/insa-braun-wrestling-um-wahrhaftigkeit-clemens-setz-und-christian-kracht/ Thu, 04 Jul 2019 10:07:32 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1157 Innerhalb nur eines Jahres haben sich zwei Autoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb öffentlich zu Wort gemeldet und der Literaturkritik wie der Literaturwissenschaft eine Lehre erteilt: Christian Kracht und Clemens Setz. Die beiden Reden sollten wir uns merken. Als Literaturwissenschaftlerin wünscht man sich, dass der Gegenstand nicht die Art des wissenschaftlichen Zugriffs diktiert. Schwierig wird es, wenn Weiterlesen

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Innerhalb nur eines Jahres haben sich zwei Autoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb öffentlich zu Wort gemeldet und der Literaturkritik wie der Literaturwissenschaft eine Lehre erteilt: Christian Kracht und Clemens Setz. Die beiden Reden sollten wir uns merken.

Als Literaturwissenschaftlerin wünscht man sich, dass der Gegenstand nicht die Art des wissenschaftlichen Zugriffs diktiert. Schwierig wird es, wenn ein sehr lebendiger und sprachgewandter Autor meint, ein Wörtchen im Umgang mit seinen Texten mitzureden zu haben und sich selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen und feuilletonistischen Debatten macht. Dieses Problem tut sich nach dem postmodernen Tod des Autors vor allem auf, wenn Autor*innen gebeten werden, nicht aus ihrem Werk, sondern über ihr Werk zu lesen. Das geschieht im heutigen Literaturbetrieb recht häufig, denkt man an all die Poetikdozenturen im deutschsprachigen Raum oder Vorträge und Dankesreden im Rahmen von Literaturpreisverleihungen.

Im Sommersemester 2018 folgt dem Ruf auf die Frankfurter Poetikdozentur niemand Geringerer als Christian Kracht. Er, der sich laut Spiegel Online, »nur in seltenen Momenten öffentlich zu persönlichen Äußerungen hinreißen ließ, die aber nie als wahr gelten konnten, kamen sie doch immer noch von Kracht, dessen sture Ironie oftmals besser keinen Glauben zuließ.« Er, »dessen Schüchternheit offensichtlich keine Attitüde ist«, so Christoph Schröder auf ZEIT ONLINE, und der seiner »halbironische[n] Koketterie« etwas folgen ließ, das Schröder »nur mit dem Wort ›bewegend‹ umschreiben« kann. Kevin Kempke und Miriam Zeh »graust« es im Merkur nach dem Frankfurter Auftritt bereits vor »biographistischen Lesarten, die Krachts Texte beflissentlich nach Traumaspuren absuchen«, nur um im gleichen Atemzuge zu betonen, dass er mit seinen Poetikvorlesungen »den langersehnten biographischen Schlüssel zu seinem Werk« präsentiert habe.

Kracht konfrontiert sein Publikum mit dem Bericht über Missbrauchserfahrungen in seiner Kindheit und Jugend. Und das ist so grausam, dass niemand mehr wagt zu behaupten, es handele sich hierbei um Ironie. Ein lang gehegter Wunsch des Feuilletons ist erfüllt: Endlich gibt Kracht Einblicke in das Leben des Mannes hinter dem Autor, der uns mit Romanen wie Faserland, Imperium oder Die Toten beglückt hat. Aber warum sind wir so schnell bereit, uns erklären zu lassen, wie wir zu lesen haben? Kracht selbst spielt in seinen Frankfurter Vorlesungen mit dieser Erwartungshaltung des Publikums. In einer so hochgradig inszenierten Situation wie der Frankfurter Poetikvorlesung müssen wir davon ausgehen, dass die Autor*innen am Rednerpult eine Autorenrolle spielen. Hinweise für diese Deutung liefert Kracht selbst: Er entlässt das Publikum mit dem Hinweis, dass alles, was sich zu ernst nehme, reif für die Parodie sei. Das Feuilleton stöhnt: Hatte man sich gerade noch gefreut, einen Lektüreschlüssel zu Krachts Werk vom Autor selbst erhalten zu haben, wird einem der sichere Boden der Interpretation schon wieder unter den Füßen weggezogen. Doch alles nur Ironie?

Als Clemens Setz die Auftaktrede zu den diesjährigen Literaturtagen in Klagenfurt hält, stellt er den Begriff Kayfabe vor, der uns das, was in Frankfurt passiert ist, ein wenig näher erläutern kann – und nicht nur das. Die Rede hinterlässt die Literaturwissenschaft blass vor Neid angesichts einer ebenso glücklichen wie kreativen Begriffsaneignung:

Im Herzen der Wrestlingwelt wohnt ein Begriff, der uns, dem Literaturvolk, paradoxerweise mehr über das zu erzählen vermag, worum es in den nächsten vier Tagen hier gehen wird, als alle anderen Begriffe, die ich mir denken kann, mehr über das Geschichtenerzählen an sich und dessen Verhältnis zum persönlichen Alltag und zur politischen Realität und sogar mehr über die Rollenbilder, in die wir, vielleicht von übergeordneten Instanzen, schon seit der Geburt gezwungen wurden. Es ist ein Begriff, der, wenn man ihn erst einmal erlernt hat, sofort zu einem unvermeidlichen und essentiellen Werkzeug der Weltwahrnehmung wird: Kayfabe.

Unter Kayfabe, so Setz, verstehe man im Wrestling die »Wahrung der vierten Wand«, eine absolute Illusionswahrung. Kayfabe sorge dafür, dass wir nur die Rolle sehen und nicht den Menschen hinter der Rolle. Aber der Druck der Illusionswahrung führe auch dazu, dass der Wrestler oder die Wrestlerin sich immer mehr mit der Rolle identifiziere. Diese werden im Verlauf ihrer Karriere immer mehr zu der Rolle, die sie ursprünglich aus beruflichen Gründen einmal spielen sollten, und vergessen dabei ihren Taufnamen wie einst Don Quijote, »der ja eigentlich der Señor Alonso Quijano war«. Was aber steht auf dem Spiel, wenn Akteur*innen und Rezipient*innen im Literaturbetrieb, im Wrestling und in der Politik nicht mehr unterscheiden können zwischen Rolle und Realität?

Gefährlich wird es, wenn mit der Vermischung von Fiktion und Realität ein Machtmissbrauch einhergeht. Diesen macht Setz beispielsweise im Falle des Schauspielers Kevin Spacey aus, der auf gegen ihn erhobene Missbrauchsvorwürfe mit einem Video reagierte, in dem er mal als Kevin Spacey und mal in seiner Rolle als Frank Underwood aus House of Cards spricht. Das Video trägt den Titel »Let Me Be Frank«, was auf Deutsch so viel heißt wie »Lassen Sie mich ehrlich sein«, gleichzeitig aber auch genau die von Setz beschriebene Rollenvermischung verdeutlicht: »Lassen Sie mich Frank sein«. Ohne die Missbrauchsvorwürfe konkret anzusprechen, versucht Spacey seine Unschuld darzustellen – in seiner Rolle des skrupellosen Politikers Underwood. So wäscht er sich etwa direkt in der ersten Szene die Hände. Dann appelliert er an die Vernunft und Klugheit des Zuschauers:

I told you my deepest, darkest secrets, I showed you exactly what people are capable of, I shocked you with my honesty, but mostly I challenged you and made you think. And you trusted me, even though you knew you shouldn’t.[1]

Wer immer ehrlich gewesen sei, habe nicht auf einmal Grund zu lügen, suggeriert Spacey und verschmilzt Underwood und Spacey: »It’s never that simple, not in politics and not in life.« Unredlich bleibt es, komplexe Sachverhalte für das eigene Programm zu simplifizieren und instrumentalisieren, vor allem wenn die Sachverhalte einer juridischen Aufarbeitung obliegen und nicht ausschließlich auf Basis von Selbstaussagen beurteilt werden können. Spacey lud das Video auf Youtube nur wenige Tage vor Beginn der ersten Gerichtsanhörungen zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen hoch.

Die Plattform Youtube lebt von solcher Selbstinszenierung. Es fallen einem ad hoc weitere Beispiele ein: Viele Youtube-Blogger*innen arbeiten mit genau dieser Rollenvermischung, bewerben Schminke in der Rolle der großen Schwester oder der besten Freundin, richten sich bescheidene WG-Zimmer ein, die in Wirklichkeit nur Studios in einer weitaus größeren Wohnung sind, die sie sich dank guter Klickzahlen leisten können. Stöbert man durch die Kommentarspalten solcher Videos, entdeckt man oft den Satz »Du bist so authentisch« als Qualitätssiegel. Soll heißen: »Du bist wie ich«, egal, ob Du es tatsächlich bist oder nur so tust – ich lasse mich gern täuschen.

Dies ist der springende Punkt: Authentizität. Wer sich authentisch gibt, dem wird geglaubt. Setz versteht eine »solche tragische, roboterhafte Vermischung von Fiktion und Realität« immer schon als Zeichen »für zweierlei Verirrungen: übergroße Macht und Isolation – und, meist damit einhergehend, fehlende Selbstkritik und ein nachlassender, sich selbst allmählich zersetzender Verstand.« Die Isolation, das Kreisen um sich selbst, die Geschlossenheit der Bühne laufen Gefahr, sich »in den beschriebenen strange loops der Kayfabe und der Selbstverwechslung« zu verirren. »Ihr wisst gar nicht mehr, wer euch schreibt«, diktiert Setz auch uns lakonisch.

Christian Kracht spielt mit dieser Authentizitätsgläubigkeit. Wenn er seine erste Vorlesung und den öffentlichen Bericht seines Missbrauchs mit der Aussage einfängt, dass sich alles, was sich zu ernst nehme, der Parodie überliefere, ist davon auszugehen, dass hier ein Spiel mit uns gespielt wird. Zur Debatte stehen nicht die Bewertung, die juridische und emotionale Aufarbeitung eines Missbrauchs. Diskutieren sollten wir allerdings Krachts Spiel mit einer ›absoluten Authentizität‹, die so weit reicht, dass er keine Kameras und Tonaufnahmen in Frankfurt duldet. Eine bessere Werbung als diese Form der (zumindest vorläufigen) Exklusivität gibt es nicht. Diese absolute Authentizität kann aber – wie im Wrestling – letztlich auch nur wieder eine Rolle sein. Nachdem der Literaturkritiker Christoph Schröder schließlich alle Vorlesungen von Kracht gehört hat, rudert er zurück und bekennt:

Die Realitätsebene, in der wir uns befinden, bleibt auch bei Kracht stets uneindeutig. Die erste, natürliche und empathische Reaktion auf die tatsächlich in Inhalt und Form bewegende Offenlegung seiner Missbrauchserfahrung: Hinter diese Erzählung kann Christian Kracht nicht mehr zurück. Sie muss und wird zukünftig sein Werk und seine Rezeption bestimmen, gerade weil er selbst diese Fährte so dezidiert gelegt hat. Aber stimmt das? Kracht beschloss seine Poetikvorlesung mit einer Reihe von Gedichten des 1997 verstorbenen Allen Ginsberg. Seinetwegen, so Kracht, und wegen Maine und Kalifornien, lebe er heute in den USA. Seine Vorlesung trug den Titel Emigration. Es hatte den Anschein, als sei die lange Rezitation am Ende ein Signal dafür gewesen, das Biografische zurück ins Literarische zu führen; in ein Gebiet, in dem die Realitäten verschwimmen und es keine eindeutigen Wahrheiten gibt.

Krachts Hinweis auf das Parodistische all dessen, was sich selbst zu ernst nehme, zeugt von einem ironischen (und damit per se reflektierten) Umgang mit der Literatur und dem sie umgebenden Literaturbetrieb. Er provoziert mit Ernsthaftigkeit und setzt sich selbst der Parodie und damit der Kritik aus. Literatur bietet Möglichkeiten, keine Wahrheiten an.

Was für die Literatur und die Selbstdarstellung im Literaturbetrieb gilt, ist nicht einfach übertragbar. Wer reale Macht- und Missbrauchsstrukturen mit und in einer Rolle zu übergehen versucht, ist weder ironisch noch reflektiert. Clemens Setz’ Verdienst in Klagenfurt liegt darin zu zeigen, wie einfach und wie gefährlich es ist, sich von Kayfabe einlullen zu lassen. Die Reden von Setz und Kracht verhalten sich komplementär: Während Kracht mit einer absoluten Authentizität spielt, legt Setz mit dem Hinweis auf die Gefahr einer absoluten Rolle, der Vermischung von Fiktion und Realität unter dem Siegel der Authentizität nach. Er warnt damit die Autor*innen davor, sich in ihrer eigenen Rolle zu wohl zu fühlen und in ironiefreie Selbstbetrachtung und Ästhetizismus zu verfallen. Und er betont, dass die Rezipient*innen immer die Wahl hätten, das Illusionsangebot anzunehmen oder auszuschlagen.

Der Clou ist so banal wie gewitzt: In einem immer undurchsichtiger werdenden Komplexitätszirkus sehnen wir uns nach Authentizität und Wahrhaftigkeit, nach den alten Erzählmustern von gut und böse, nach einer Welt, in der news noch news und nicht potenziell immer schon fake news sind. Diese Sehnsucht lässt uns Krachts Inszenierung für bare Münze nehmen, lässt uns glauben, nun hätten wir verstanden, wie wir Kracht zu lesen hätten, denn ein geschlossener Illusionsraum oder – um den immer mitschwingenden Brecht’schen Gedanken einmal beim Namen zu nennen – ein geschlossener Bühnenraum, die geschlossene vierte Wand scheint uns eine Sicherheit zu geben, nach der wir uns sehnen. Kayfabe ist ja um so vieles bequemer.

[1] Vgl. die Beiträge im Spiegel und in der Welt.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Insa Braun arbeitet am ZfL an einer Dissertation mit dem Titel Reden über Lyrik.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Insa Braun: Wrestling um Wahrhaftigkeit: Clemens Setz und Christian Kracht, in: ZfL BLOG, 4.7.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/04/insa-braun-wrestling-um-wahrhaftigkeit-clemens-setz-und-christian-kracht/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190704-01

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Clara Fischer: TRIVIALITÄT UND ZEUGENSCHAFT: WAS DARF LITERATUR? Ein Gedanke anlässlich des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2019 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/03/clara-fischer-trivialitaet-und-zeugenschaft-was-darf-literatur-ein-gedanke-anlaesslich-des-ingeborg-bachmann-wettbewerbs-2019/ Wed, 03 Jul 2019 14:00:14 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1153 Bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt galten in diesem Jahr die hitzigen Debatten nicht den Siegertexten. Diese fallen vor allem in die Kategorien kann man so machen und schön.[1] Eine leidenschaftliche Kontroverse löste hingegen die Lesung Martin Beyers aus: Am Samstagnachmittag gab er als Letzter der Nominierten einen Auszug aus seinem Roman Weiterlesen

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Bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt galten in diesem Jahr die hitzigen Debatten nicht den Siegertexten. Diese fallen vor allem in die Kategorien kann man so machen und schön.[1] Eine leidenschaftliche Kontroverse löste hingegen die Lesung Martin Beyers aus: Am Samstagnachmittag gab er als Letzter der Nominierten einen Auszug aus seinem Roman Und ich war da zum Besten, für den er von weiten Teilen der Jury blankes Entsetzen erntete.[2] Der Text, in dem ein Ich-Erzähler als Scharfrichtergeselle des NS-Henkers Johann Reichhart der Exekution von Mitgliedern der Weißen Rose beiwohnt und durch diese Erfahrung moralisch geläutert wird, spart in der Tat nicht mit trivialen Versatzstücken und Motiven. »Abziehbilder« bleiben, wie von der Jury moniert, neben den Geschwistern Scholl auch die Nazis und der Erzähler, ein Geworfener, der sich durch seine artige Reflexion der Geschehnisse in einer zwielichtigen Schuldloszone bewegt.

Ohne Umschweife verdammten die ansonsten recht verhalten debattierenden JurorInnen diesen Text ob seiner Instrumentalisierung und Verkitschung historischer Figuren. Derlei Kommentaren lässt sich nach Lektüre des Beyer’schen Textes leicht zustimmen, sie nehmen sich allerdings auch recht wohlfeil aus. Es ist eine vertraute, aber seltsame Frage, die da aufgeworfen wurde: Was darf Literatur?

Der einladende Michael Wiederstein reagierte auf die harsche Kritik seiner KollegInnen überrascht. Der Text gehe »hochredlich« mit seinem Gegenstand um. Eine Verunglimpfung der NS-Opfer kann man Beyer in der Tat nicht unterstellen, eher eine Verklärung. Klaus Kastberger und der Juryvorsitzende Hubert Winkels brachten ihre Meinungen hingegen recht schnell auf den Punkt: »Es ist ein Text, der so nicht geschrieben werden darf«. »Man darf’s auch nicht nur hier nicht«, setzte Kastberger hinzu, »sondern man darf’s beim Hanser-Verlag nicht und man darf’s gar nicht.« Damit brachte er die wenige Monate zurückliegende Feuilletondebatte um Takis Würgers Roman Stella ins Spiel. Zu Beginn des Jahres war Würger in ähnlicher Weise dafür kritisiert worden, Opferschicksale aus dem Holocaust für einen trivialen Roman auszuschlachten. Darf Literatur das?

Seltsam ist diese Frage, weil sie die Folgefrage aufwirft, was aus einem derartigen Verdikt resultieren soll. Gehört Beyers Roman noch vor Auslieferung an den Buchhandel wieder eingestampft? Es ist leicht, einen Text moralisch zu verurteilen, aber schwer, daraus Folgen abzuleiten. Der literaturkritische Richtspruch über das im Herbst erscheinende Werk ist schon jetzt gesprochen. Dass daraus keine Klage, kein Verbot folgen wird, ist ebenfalls klar. In der Rede von einer Grenzüberschreitung klingt die Hoffnung an, dass die Öffentlichkeit durch kollektive Schmähung auf demokratischem Wege ihr Richtschwert schwingen wird. Ob dies jenseits der Feuilletons auch geschieht, ist jedoch fraglich. Würgers Roman fand trotz fast einhelliger Verdammung durch die Literaturkritik eine begeisterte Leserschaft, und seine Lesereise konnte der Autor fortsetzen, ohne dass er mit einem Publikumsstreik belegt worden wäre.

Die Kritik, so dürfe nicht über die NS-Zeit geschrieben werden, geht also an der Realität vorbei: So wird längst über die NS-Zeit geschrieben, und das lässt sich (zum Glück!) nicht verbieten. Die Texte von Würger und Beyer sind vielleicht eher Symptom als Ursache: Symptom davon, dass der Nationalsozialismus mit zunehmendem historischem Abstand zu einem vertrauten Teil der Geschichte wird, aus dem Motive und Figuren genauso zur stimmungsvollen Untermalung von Unterhaltungsliteratur herhalten müssen, wie dies bei zahllosen anderen historischen Ereignissen bereits der Fall ist.

Wütend stimmt daran wohl besonders, dass die NS-Opfer in ihrer Staffagefunktion eine offensichtlich banale Geschichte adeln sollen. In der Süddeutschen Zeitung bemerkte Lothar Müller zu Stella:

Und es wird ja nicht mit kritischen Kanonen auf einen harmlosen Spatzen geschossen, der einfach nur unterhalten will. »Takis Würger hat sich etwas Aberwitziges vorgenommen: das Unerzählbare zu erzählen«, verspricht Daniel Kehlmann auf der Rückseite des Buches. Das greift in das höchste Register, in dem in der Nachkriegszeit über die Darstellbarkeit von Nationalsozialismus und Judenvernichtung gesprochen wurde, zum Topos, das Geschehene entziehe sich jeder Literarisierung. Dieser Topos hat die Literatur nicht gelähmt, sondern herausgefordert, nach Sprachen und Formen zu suchen, die ihn widerlegen. Indem er ihn zitiert, markiert der Roman »Stella« seine Fallhöhe.

Es ist diese Fallhöhe, der sich auch Beyers Beitrag zum Ingeborg-Bachmann-Preis stellen muss. Indem er an einem renommierten Literaturwettbewerb teilnimmt, reklamiert er für sich, jenseits des Trivialen zu operieren, und indem er trivial erzählt, gerät er in den Verdacht, seinen Text mit den Namen der Scholls aufwerten zu wollen. Es handelt sich also weniger um ein Problem des literarischen Verfahrens als um das einer Zuschreibung zu einem literarischen Feld: Der Unterhaltungsroman versucht sich durch seinen Stoff nach oben zu strecken. Dass dies nicht gänzlich erfolglos blieb, zeigt seine Nominierung für den Bachmann-Preis.

Es sollte nicht zur Debatte stehen, ob Literatur »das darf« oder nicht – natürlich darf sie das. Die NS-Zeit darf, solange Fakten nicht grob verfälscht und keine Verunglimpfung der Opfer betrieben werden, als Kulisse in Unterhaltungsliteratur dienen, sowohl weil es juristisch zulässig ist als auch weil über kurz oder lang durch die Distanz zu den Ereignissen der Einzug von Motiven in die Alltags- und Unterhaltungskultur nicht ausbleiben wird. Das kann man verurteilen und bedauern, ändern wird man es dadurch nicht. Mit seiner Kritik, der Text benutze das Leid, um Effekt zu erzielen, umschrieb Hubert Winkels faktisch die Verfahrensweise von Unterhaltungsliteratur. »Obszön«, wie es die Jury nannte, ist dabei weniger das Verfahren als solches, sondern die Spekulation auf einen Reflex seitens der Leserschaft, Literatur, die ein bestimmtes historisches Ereignis zitiert, automatisch einen höheren Stellenwert beizumessen. Man gewinnt bei Beyers Text den Eindruck einer Falschetikettierung. Dies mag auch ein Grund für den Beißreflex der Jury sein.

In einem anderen Fall aber wurde die vom Text geforderte Rezeptionshaltung allzu willig eingenommen: Wie eine Kontrastfolie wirken Lesung und Diskussion des Texts Vierundsiebzig von Ronya Othmann, gelesen am zweiten Tag, der den Publikumspreis erhielt.[3] Eine literarturkritische Besprechung des autobiographisch angelegten Berichts über einen Genozid an den Jesiden im Jahr 2014 blieb fast gänzlich aus. Teile der Jury verweigerten sich einem solchen sogar aus Respekt vor der Zeugenschaft der Autorin: »Als Literaturkritikerin bleibe ich, glaube ich, da einfach still«, bemerkte Hildegard Keller. Nora Gomringer schloss sich an. Von diesen Statements ausgehend, die den Beitrag als Reportage verstanden wissen wollten, müsste man sagen: Der Text war in Klagenfurt fehl am Platz.

Mehrfach versuchte Insa Wilke, die Othmann eingeladen hatte, eine Rettung: »Wir verdammen solche Texte zum Schweigen, wir schließen sie aus«, wenn aus Respekt vor autobiographischen Bezügen demütig geschwiegen werde.

Die Frage ›Können wir darüber literaturkritisch sprechen?‹ ist eine wichtige, sie begegnet mir in letzter Zeit immer wieder, wenn es um Texte geht, die von Brustkrebs handeln und von einer Autorin geschrieben werden, die Brustkrebs hatte, sie begegnet mir bei Texten, die aus Foltergefängnissen berichten, und eben auch bei Texten, wie Ronya Othmann ihn geschrieben hat.

Auf dieses Diskussionsangebot gingen Wilkes KollegInnen nicht ein und im Gespräch blieb die Betonung der Authentizität des Geschriebenen überpräsent.

Die Wirkung eines autobiographischen Texts unterschätzte allerdings auch Wilke mit ihrem Plädoyer, es müsse über derartige Texte gesprochen werden, »weil sie eine ureigene Frage der Literatur und auch der Kritik behandeln, nämlich: Wie davon erzählen?« Weniger der von Othmann oftmals variierte Unsagbarkeitstopos aber brachte die Jury zum Schweigen, sondern die persönliche Betroffenheit der Autorin, die eine Art verschämter Furcht auf Seiten der KritikerInnen hervorrief.

Eine Metakritik auf dem Podcast des Literaturcafés bringt es auf den Punkt: Die Diskutanten kommen zu dem Schluss, dass »eine potentiell interessante Diskussion von der Jury verweigert wurde«. Der Text hätte in Klagenfurt als Literatur gelesen werden müssen.

Von den Diskussionen um die Texte Beyers und Othmanns bleibt der Eindruck zurück, dass eine ungute moralische Verzagtheit in der Literaturkritik herrscht: Wo die Autorin als Zeugin für das Geschilderte einsteht, wird aus Respekt (und aus Vorsicht?) geschwiegen, wo der Autor Leidensgeschichten trivial ausschlachtet, wird seinem Text die Existenzberechtigung abgesprochen. Damit wird man beiden Texten nicht gerecht. Die Frage ist nicht, ob Literatur »das darf«. Mit einem solchen letztlich hohlen und folgenlosen Verdikt verweigert sich die Literaturkritik wichtigeren Fragen, zum Beispiel denen, wie mit dem Einzug von trivialisierten Geschichten aus der NS-Zeit in die Unterhaltungsliteratur umgegangen werden kann und wie der unangenehmen Lage beizukommen ist, dass Opferschicksale offenbar erfolgreich (!) zur Aufwertung von Texten dienen. Was sagt das über die Leserschaft? Was sagt es aber auch über die Leserschaft, wenn sie sich zu einem Text mit autobiographischen Bezügen nicht mehr kritisch verhält?

Othmanns Text muss sich die Zumutung gefallen lassen, als Literatur und nicht als Erfahrungsbericht gelesen zu werden. Die Literaturkritik muss das Wagnis eingehen, ihren Betroffenheitsmodus abzulegen, der nicht zuletzt einem Bangen vor dem öffentlichen Shitstorm geschuldet sein dürfte, welcher bei der kalten Auseinandersetzung mit Texten solchen Inhalts schnell aufzukommen droht. Beyers Romanauszug hingegen war als simpel gestrickte Unterhaltungsliteratur in Klagenfurt fehl am Platz. Das darf man so sagen. Allerdings darf dieser Text auch so geschrieben werden, und selbstverständlich gelesen. Die Frage ist nicht, was Literatur darf, sondern wie man sie liest.

[1] Zur Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, Birgit Birnbacher, und den weiteren Preisträgern: https://bachmannpreis.orf.at/stories/2987680/ (aufgerufen am 30.06.2019).

[2] Text, Lesung und Diskussion zu Martin Beyers Und ich war da unter: https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978618/ (aufgerufen am 30.06.2019).

[3] Text, Lesung und Diskussion zu Ronya Othmanns Vierundsiebzig unter: https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978634/ (aufgerufen am 30.06.2019).

 

Die Germanistin Clara Fischer promoviert am ZfL in dem Projekt Experimentierfeld Versepos (1918–1933)

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Clara Fischer: Trivalität und Zeugenschaft: Was darf Literatur? Ein Gedanke anlässlich des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2019, in: ZfL BLOG, 3.7.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/03/clara-fischer-trivialitaet-und-zeugenschaft-was-darf-literatur-ein-gedanke-anlaesslich-des-ingeborg-bachmann-wettbewerbs-2019/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190703-01

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DER ELEFANT IM RAUM. Ein Gespräch von Pola Groß mit Kathrin Röggla https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/29/der-elefant-im-raum-ein-gespraech-von-pola-gross-mit-kathrin-roeggla/ Wed, 29 May 2019 09:26:24 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1143 Noch bis einschließlich 2. Juni ist in der Berliner Akademie der Künste das Ausstellungsprojekt Der Elefant im Raum der Schriftstellerin Kathrin Röggla zu sehen. Es ist Teil der großen künstlerisch-experimentellen Werkstatt wo kommen wir hin, die sie zusammen mit dem Komponisten Manos Tsangaris und der bildenden Künstlerin Karin Sander initiiert hat. Durch die Kontrastierung verschiedener Weiterlesen

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Noch bis einschließlich 2. Juni ist in der Berliner Akademie der Künste das Ausstellungsprojekt Der Elefant im Raum der Schriftstellerin Kathrin Röggla zu sehen. Es ist Teil der großen künstlerisch-experimentellen Werkstatt wo kommen wir hin, die sie zusammen mit dem Komponisten Manos Tsangaris und der bildenden Künstlerin Karin Sander initiiert hat. Durch die Kontrastierung verschiedener Medien und Materialien und die labyrinthische Bewegung der Besucher*innen im Gebäude schafft die Ausstellung Räume, in denen Spannungsfelder zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, zwischen Sprechen, Gespräch und Unterbrechung sowie zwischen An- und Abwesenheit spürbar werden. Mit Kathrin Röggla sprach darüber Pola Groß.

PG: Was war der Ausgangspunkt eures gemeinsamen Projekts wo kommen wir hin?

KR: Wir haben darüber diskutiert, wie man über ästhetische Formen und Formierungen heute überhaupt noch sprechen kann. Wir erleben es so, dass, wenn es um das Verhältnis von Politik und Kunst geht, im Kunstbetrieb vor allem Themenausstellungen gemacht werden – wie beispielsweise zur Flüchtlingskrise, zum Klimawandel – und uns war das zu illustrativ. Wir wollten das umkehren und als politisch denkende Menschen von unserer künstlerischen Arbeit her, mit unseren Werkzeugkästen, darüber nachdenken, wie sich die Politik der Ästhetik bedient und wie sie Formen und Sachverhalte instrumentalisiert. Zugleich wollten wir nach der Verbindung von Form und politischem Inhalt fragen und herausfinden, ob Kunst noch widerständig sein kann und was der Zukunftsbegriff damit zu tun hat. Wir haben in drei verschiedenen Projekten unsere jeweiligen Zugangsweisen gewählt und meine ist der Elefant im Raum.

Und wie bist du auf den Elefanten gekommen?

Eigentlich bin ich sehr früh schon auf den Gedanken gekommen, dass für mich diese Redewendung einen Knotenpunkt darstellt. ›Der Elefant im Raum‹ ist ein Problem, das alle Anwesenden wahrnehmen, aber keiner traut sich, es anzusprechen. Der Elefant ist eine formale Figur, eine ästhetische Figur, er wird aber auch als rhetorische Figur politisch missbraucht. Sie hat hohen politischen Gehalt und ist als solche eine Art Bruchstelle des öffentlichen Diskurses. Und sie bezeichnet eine soziale und kommunikative Krise gleichermaßen. Damit ist sie auch eine sehr gegensätzliche und in sich widersprüchliche Figur, denn der Elefant hat Masse, ist eine große, präsent wirkende Figur, ist aber gleichzeitig nicht wirklich da. Wir wissen, wir müssten, und trotzdem können wir nicht drüber reden. Er taucht auf, und in dem Moment, wo er voll da ist, verschwindet er.

Das ist paradox, denn eigentlich ist der Elefant ja ein sehr raumeinnehmendes Tier. Welche Rolle spielt der Raum in deinem Projekt?

Die Künstler Mark Lammert, Eran Schaerf, Leopold von Verschuer und ich, wir haben diesen Elefant im Raum gemeinsam entwickelt und viele andere Künstler*innen, unter anderem Alexander Kluge, mit ins Boot geholt. Dadurch dass wir nicht einen Raum alleine bespielen, sondern verschiedene Räume miteinander verknüpfen, kann es den einen Raum gar nicht geben. Gerade im Akademiegebäude am Hanseatenweg kann man das gut zeigen. Wir konnten das halbprivate Atelier, in dem Samuel Beckett zeitweilig gewohnt hat, mit dem öffentlichen Ausstellungsraum und einem halböffentlichen Produktionsraum verbinden, um zu zeigen, dass es für den Elefanten immer ein Netzwerk aus Räumen gibt – öffentliche Räume werden konstruiert und immer wieder neu hergestellt, sie existieren nie alleine.

In vielen deiner früheren Arbeiten, wie beispielsweise in den Texten aus die alarmbereiten, thematisierst du bewusst produzierte Dynamiken medialer Katastrophendiskurse. Steht diese Diagnose nicht im Widerspruch zum Elefanten im Raum? Oder gibt es Berührungspunkte?

Im Widerspruch würde ich nicht sagen. Die Katastrophengrammatiken werden ja zu einem gewissen Teil instrumentell benutzt. Wenn man politisch etwas durchsetzen will, benutzt man bestimmte Narrative, gewisse Dynamiken, um etwas zu lancieren und durchzubringen. Der Elefant wird auch rhetorisch instrumentalisiert. Aber er ist so vielschichtig! Deswegen ist es schwer, da eine eindeutige Antwort zu geben. Er lebt auf politischem, sozialem und psychologischem Gebiet.

Ich würde auch die Berührungspunkte betonen. Denn der Elefant im Raum steht ja gerade auch für dieses permanente Reden, während zugleich kleingehalten wird, worüber man eigentlich reden müsste. Und das korrespondiert mit dem medialen Katastrophendiskurs, in dem ständig geredet – oder wie du schreibst – nur noch „alarmiert“ wird, das tatsächliche Leid aber überhaupt nicht mehr zur Sprache kommt.

Ja genau, das gehört zusammen. Es wird über die falschen Dinge gesprochen. Obwohl oder indem man permanent spricht, wird etwas anderes unterdrückt. Daher verbinde ich mit dem Elefanten im Raum auch das Reden über Ängste. Das sind nicht unbedingt die großen Zukunftsängste, sondern situative, alltägliche. Der Elefant kann überall und permanent auftauchen. Diese Angst hat ein anderes Tempo oder einen anderen Rhythmus als die Panik der Katastrophenerzählung. Es gehört aber zusammen, ist schwer zu trennen, aber es ist auch eine andere Perspektive, mehr aus der Situation heraus. Natürlich spielt beim Elefanten auch eine Rolle, darauf ist auch Mark Lammert sofort angesprungen, dass dieses Tier ein koloniales Zeichen ist. Die Redewendung bezeichnet ja nicht zufällig einen Elefanten, sondern die Ursprungsgeschichte ist auch eine koloniale Geschichte. Da spielt etwas rein, was vielleicht unser gesellschaftlich Unbewusstes angeht.

Darauf hast du ja auch in deiner Eröffnungsrede und in der szenischen Lesung von George Orwells Essay Einen Elefanten erschießen verwiesen. Die Verbindung von Elefant und Politik ist mir darüber klarer geworden.

Ja, genau, das hängt zusammen.

Die Ausstellung umfasst nicht nur verschiedene Räume und Perspektiven, ihr arbeitet alle auch multi- und transmedial, das heißt, ihr setzt unterschiedliche Medien parallel ein oder eure Arbeiten selbst wechseln das Medium. Ich habe das als einen Versuch verstanden – und ich glaube die Formulierung stammt von Alexander Kluge –, Zusammenhang herzustellen. Und zwar einen Zusammenhang, der sich der einfachen Erklärung oder eines schnell konsumierbaren Newsflash verweigert. Wie würdest du das beschreiben?

Absolut. Für mich war unser gemeinsames Auftreten und Arbeiten sehr wichtig. Und es hat eine Form gefunden, die sehr schwer zu kommunizieren ist. Sie ist vielschichtig und weit entfernt von Ausstellungen, wie man sie meist erleben kann. Es ist nicht so, dass man irgendwo reingeht und dann sieht man drei Installationen und dann ist gut. Wir haben viele performative Elemente drin, es war und ist etwas zwischen Festival und Ausstellung, man hört sehr viel, sieht auch viel – es ist wirklich eine eigene Sache geworden und darum ging es uns auch. Und es war uns ein Anliegen, in diesem Miteinander-Nachdenken gemeinsam ein Stück weiterzukommen und nicht irgendwie nur egoshootermäßig das auszustellen, was man auch woanders gemacht hätte.

In der Ausstellung gibt es vier von euch gestalteten Zeitungen, die man sich einfach mitnehmen kann und die noch mal einen weiteren Zusammenhang eröffnen. Hier finden sich Texte, Interviews und Briefe, aber auch Bildmaterial, Zeichnungen und Fotos, die miteinander kombiniert sind, die aufeinander und auf die Ausstellung verweisen. Meiner Ansicht nach ist aber doch der Text dominierend. Sind die Zeitungen deine literarische Antwort auf den Elefanten im Raum?

Das würde ich so nicht sagen, wir haben sechs Stunden Audiomaterial, da habe ich im Grunde wahnsinnig viel Text für geschrieben. Daher ist eigentlich die Audioinstallation meine literarischste Antwort. Ich würde sagen, die Zeitschriften decken Verschiedenes ab. Meine ist sicher textbasiert, Eran Schaerf hat sich auch für einigen Text entschieden, er arbeitet ja auch zwischen den Medien. Mark Lammert hat sich für reine Bildstrecken entschieden. Und ja, es stimmt schon, die vierte Zeitschrift, die Anthologie, die ich herausgegeben habe, die ist komplett auf meinen Mist gewachsen, die ist dann wieder sehr textbasiert. Da wollte ich dann gezielt Schriftstellerkolleg*innen einbinden.

Ich meine mit dem Literarischen vielleicht auch zweierlei, zunächst recht profan den textbasierten Zugang, dann aber vor allem deine ganze Herangehensweise, die ich als literarisch beschreiben würde – ganz klar auch bei deinen Hörproduktionen. Und bei den Zeitungen fällt ja sofort auf, dass das keine Zeitungen im üblichen Sinne sind, sondern literarisch gestaltete Publikationen.

Das sind Kunstobjekte, ja.

Gerade in der von dir gestalteten Zeitung finden sich sehr viele literarische Bezüge. Du erwähnst die Autoren Thomas Melle, Eugène Ionesco und andere, weist auf Mark Twains Erzählung vom gestohlenen Elefanten hin und nennst Michel Foucault einen Elefantenschriftsteller. Auf der Titelseite deiner – ich nenne sie jetzt so – literarischen Zeitschrift finden sich Ausschnitte von Website-Adressen. Wenn man genau hinschaut, erkennt man den Link zu dem Dokumentarfilm Die Frau mit den 5 Elefanten von 2009. Der Film porträtiert Swetlana Geier, eine der bekanntesten Übersetzerinnen russischer Literatur ins Deutsche. Sie bezeichnete die Neuübersetzung der fünf großen Romane von Fjodor Dostojewskij als ihre »fünf Elefanten«. Daher doch noch einmal: Welche Rolle hat die Literatur in dieser Arbeit gespielt?

Der Elefant ist erstmal eine literarische Figur und er kommt auch aus der Literatur. Es geht um Sprache. Es geht darum, was nicht adressiert werden kann. Und die Frage danach, was nicht kommuniziert werden kann, ist ja verbunden mit Sprache. Es geht um Erzählung und Dramaturgie – das sind sehr viele Fährten, die dann in die Literatur hineinführen und mich interessiert diese Vielschichtigkeit und Ambivalenz. Mit dem Nachdenken über den Elefanten im Raum kommt man auf sehr verschiedene literarische Verfahrensebenen. Die Redewendung verweist auf das Erscheinen und Wieder-Verschwinden, auf Plötzlichkeit, sie hat etwas zu tun mit Thematisieren und Nicht-Thematisieren, mit der Frage, ob man richtig sitzen kann in seiner eigenen Sprache oder nicht, also auch mit der Frage, was Fremdsprache ist.

Auch etwas mit Konstruktion, oder?

Ja. Was sind vorherrschende Narrative, was sind Konstruktionen? Ich habe mir ein Dreivierteljahr Zeit genommen und mit Eran Schaerf und Mark Lammert einen Briefverkehr geführt, der auch in der Zeitung abgedruckt ist, und mich darin auf die Suche nach dem Narrativ des Elefanten im Raum begeben. Da habe ich sehr viel gefunden und das ist schon erstmal ein sehr literarisches Feld. Meine Kolleg*innen aus den anderen Kunstsparten haben so ein bisschen geschmunzelt und ich hörte auch, das ist typisch Schriftstellerin, dass ich diesen Titel auswähle.

Das ist interessant, da man deine Ausstellung auf den ersten Blick ja nicht sofort mit Literatur assoziieren würde. Diese findet sich eher in deinem literarischen Zugang, den Bild-Text-Kombinationen, den Hörstationen und nicht zuletzt in den Zeitschriften. Diese bieten noch einmal eine andere Voraussetzung dafür, Zusammenhang herzustellen, nämlich über die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen. Man kann Texte noch einmal nachlesen, wieder lesen, in Kontext mit seinen Erinnerungen an die Ausstellung bringen.

Die Wiederholung ist drin. Manchmal. Und dann sozusagen immer in veränderter Form. (Lacht)

In der Ausstellung gibt es eine Station, an der man zuhören kann, wie der Schriftsteller Doron Rabinovici dir über eine halbe Stunde lang Witze erzählt. Daher zum Abschluss: Hast du einen Lieblings-Elefantenwitz?

(Lacht) Da muss ich überlegen. Ich hab einen in Erinnerung, den finde ich eigentlich im Rahmen der Ausstellung am lustigsten: Woran erkennt man, dass ein Elefant im Kühlschrank ist?

Mmh, den hab ich wohl nicht mitbekommen ‑ weiß ich nicht.

An den Fußstapfen in der Butterdose.

(Beide lachen.)

Der ist so absurd, deswegen mag ich ihn. Es gibt übrigens Elefantenwitze, die sich Kinder erzählen, wenn sie so zwischen sechs und acht sind, die erzählen sie sich nur in diesem Alter und da gibt’s ganz viele Elefant und Maus-Witze. Weil die Größenverhältnisse irgendwie lustig sind oder eine Rolle spielen.

Ein Witz ist auch, dass der Elefant das politische Wappentier der US-Republikaner ist.

Ja! Die verwenden die Redewendung öfter mal, aber zu rein instrumentellen Zwecken. Und ich will ihn quasi wieder befreien, befreien aus den Fängen der Republikaner!

Das ist ein gutes Schlusswort!

Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß bearbeitet am ZfL das Forschungsprojekt »Stil und Kitsch um 1900«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Der Elefant im Raum. Ein Gespräch von Pola Groß mit Kathrin Röggla, in: ZfL BLOG, 29.5.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/05/29/der-elefant-im-raum-ein-gespraech-von-pola-gross-mit-kathrin-roeggla/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190529-01

 

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Eva Geulen: WAS STIL SAGT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/02/01/eva-geulen-was-stil-sagt/ Fri, 01 Feb 2019 10:37:14 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1028 Seit der Aufdeckung der Fälschungen des Journalisten Claas Relotius im Dezember vergangenen Jahres rauscht es im betroffenen Blätterwald. Viele Stimmen beharren auf verbindlichen Abgrenzungen zwischen Fakt und Fiktion, Journalismus und Literatur. Das geschieht auf mal mehr und mal weniger intelligente Weise. In der Frankfurter Rundschau wurde der Hang des jüngeren Journalismus zum ›Geschichtenerzählen‹ insgesamt verdammt, Weiterlesen

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Seit der Aufdeckung der Fälschungen des Journalisten Claas Relotius im Dezember vergangenen Jahres rauscht es im betroffenen Blätterwald. Viele Stimmen beharren auf verbindlichen Abgrenzungen zwischen Fakt und Fiktion, Journalismus und Literatur. Das geschieht auf mal mehr und mal weniger intelligente Weise. In der Frankfurter Rundschau wurde der Hang des jüngeren Journalismus zum ›Geschichtenerzählen‹ insgesamt verdammt, denn seine Aufgabe sei doch, »der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen«. Subtiler wies Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung nach, dass die jedem Faktencheck standhaltenden Details einer Hafenszene bei Flaubert gleichwohl Literatur bleiben, weil es ein episches Präteritum und einen unsichtbaren Erzähler gibt. Im Journalismus müsse man aber wissen, ob der Autor wirklich dabei gewesen sei oder nicht. Augenzeugenschaft bezeugt Wirklichkeit; literarische Erzähler bezeugen sie auch, aber anders. Eine Grenze bleibt, aber sie verläuft nicht entlang von Faktualität und Fiktionalität.

Will man nicht dem Trugschluss einer über alle subjektive Färbung erhabenen Neutralität aufsitzen, irrt man zwangsläufig durch Grauzonen zwischen Literatur und Journalismus. In diesem Niemandsland tummeln sich beider Avantgarden schon länger. Seit Truman Capotes In Cold Blood (1966) gibt es die literarische Reportage. Umgekehrt hat Dokumentarisches eine lange Tradition in der Literatur seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Nicht zu entschuldigen ist damit, dass der Schriftsteller Robert Menasse zu lange nicht so richtig sagen wollte, dass er wiederholt eine historisch falsche Behauptung im öffentlichen Raum verbreitet hat. Helmut Lethen hat in den Geistergesprächen seines Staatsräte-Buches[i] den historischen Figuren erdichtetes und montiertes Zitatmaterial in den Mund gelegt. Das muss man nicht gut finden, aber den hier fälligen Differenzen kommt man mit Fakt vs. Fiktion kaum bei.

In eine andere Richtung weist die Frage, wieso denn bei Relotius so lange niemand etwas bemerkt hat oder hat bemerken wollen. Darauf werden einerseits systemische Antworten gegeben, etwa der verschärfte Konkurrenzkampf der Printpresse mit anderen Medien um Aufmerksamkeit und Kunden, die wachsende Bedeutung von Auszeichnungen und, mit beidem zusammenhängend, das Versagen der Fact-Checker. Andererseits werden die Relotius-Reportagen aber auch selbst unter die Lupe genommen.

In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung trat Angelika Overath mutig für das Recht der Reportage als einer literarischen Gattung, also einer Kunstform, ein. Und übte sich sodann in Stilistik. An einzelnen Passagen von Relotius’ Reportage über die Löwenjungen etwa zeigte sie, dass diese Prosa den stilistisch-formalen Eigentümlichkeiten der Märchengattung gehorcht. Am Stil hätte man also erkennen können oder müssen, dass der Autor sich von der Forderung nach Bezeugung von Wirklichkeit zugunsten literarischer Muster gelöst hat.

»Sagen, was Stil ist« lautete die Überschrift ihres Beitrags. Diese Kontrafaktur der berühmten Augstein-Formel »Sagen, was ist« insinuiert, dass Stil sagt, was ist. Das ist höchst zweifelhaft. Der Relotius-Text bliebe nämlich auch dann noch falsch und verlogen, wenn alle Fakten gestimmt hätten, eben weil er Märchen erzählt und diese Gattung eine Wirklichkeit anbietet, in der es keine Kontingenz gibt und folglich auch wenig Raum für Stilnuancen.

Weil Angelika Overath das auch weiß, der ›szenischen Reportage‹ aber schon weitgehende künstlerisch-imaginative Freiheiten eingeräumt hatte, braucht sie ein ›gutes‹ Feen-Gegenbeispiel zum ›bösen‹ Märchenonkel Relotius. Sie findet es in den Reportagen der Spiegel-Redakteurin Marie-Luise Scherer aus den 1970er Jahren. Scherers damals stilbildenden Texten wird zugesprochen, was bei Goethe »Phantasie für die Wahrheit des Realen« hieß. Die hat Robert Menasse (ohne autoritatives Goethe-Zitat) auch für sich in Anspruch genommen, als er nach Belegen für seine Behauptung gefragt wurde, Walter Hallstein habe seine Europa-Rede in Auschwitz gehalten. Freimütig bekannte Menasse: »Die Wahrheit ist belegbar«, auf das Wortwörtliche komme es dabei nicht so sehr an.

Ob Scherers Texte einem Faktencheck heute standhielten, ist nicht mehr zu eruieren. Ihr Porträt der Alkoholikerin Sofie Häusler hat an Eindringlichkeit nicht verloren. Anhand der Geschichte einer einzelnen Person brachte sie etwas in der Wirklichkeit bislang Unsichtbares zum Vorschein. Heute ist die ›human interest story‹ aber in alle Bereiche eingedrungen, auch und gerade innen- und außenpolitische Berichterstattung. Wenn Angelika Overath über diese veränderten Kontexte schweigt, erzählt sie noch kein Märchen. Doch sie suggeriert, dass man vielleicht nicht die Wirklichkeit, aber Wahrhaftigkeit dem Stil geschichtsunabhängig ablesen könne. Was einmal neu und frisch war, nutzt sich im Laufe der Zeit jedoch zwangsläufig ab, bis es zum Klischee verkommt. Im extrem breit gewordenen Fahrwasser einer bald ein halbes Jahrhundert alten Stilneuerung dümpelt Relotius. Stil ist hochgradig zeitabhängig und zeitempfindlich. Das war nicht immer so.

Erst wenn Stilbrüche nicht mehr als Regelverstoß geahndet, sondern als Stil aufgewertet werden – erstmalig in der Autonomieästhetik des 18. Jahrhunderts und erneut nach 1900, wo der omnipräsente Stilbegriff konkurrierende Wirklichkeitsentwürfe noch einmal hegen sollte –, wird Stil geschichtsfähig und d.h. auch historischen Prozessen ausgesetzt.

Von dieser Dynamik sind nun aber gerade Märchen so gut wie unberührt. Angefangen von ihrem entrückenden »Es war einmal« sind ihre Versatzstücke relativ stabil. Das macht sie eminent wiedererkennbar. Dass der preisgekrönte Journalistenkaiser nichts am Leib hat, konnte, ohne Stilistik, eigentlich jedes Kind sehen. Scherers Porträt einer Trinkerin endet auch fast wie im Märchen, aber eben nur fast. Den Unterschied macht der Stil: Sofie Häusler kann ihr Glück kaum fassen, als sie von Kindern beim Einzug in die neue Wohnung zum ersten Mal nach Jahrzehnten nicht von vornherein zu ›Abschaum‹ gestempelt wird. In der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang steckt bei Scherer, nach vielen Seiten über den Irrsinn staatlicher Fürsorge- und Entzugsanstalten, nicht der Appell, der Alkoholikerin Empathie entgegenzubringen, sondern ihr durch politisch-gesellschaftliche Veränderungen die Chance zu geben, anders erscheinen zu können und wahrgenommen zu werden.

Auch deshalb bleibt die Exzentrik der Stilkategorie bemerkenswert. Stil liegt quer zu Alternativen von Fakt oder Fiktion, Literatur oder Journalismus. Mit ihm rückt einiges an Kontexten, Unterschieden, auch Schwierigkeiten in den Blick, was sonst ausgeblendet bleibt. Und das ist ja schon etwas in Zeiten des Postfaktischen und des sinkenden Niveaus der Auseinandersetzung darüber, was das heißt.

Stil weist in eine Sphäre, die schon bei antiken Rhetorikern, etwa Horaz, sehr viel mit Ethos zu tun hatte, gern als Haltung apostrophiert wurde und früher wohl auch Anstand geheißen haben mag. Die bündigste Formulierung dieses Stilbegriffs steht am Beginn der Moderne und stammt von Buffon. Sein berühmtes Diktum »le style est l’homme même« von 1753 ist knapp und mehrdeutig. Als Beginn der Autonomieästhetik, die individuellen Ausdruck gegenüber Sachen oder Fakten privilegiert, ist es ebenso häufig missverstanden worden wie als Endmoräne eines physiognomischen Stilbegriffs, der darauf vertraute, den Menschen an seinen Konventionen erkennen zu können.

Gegen beide Lesarten wurde von Hans Ulrich Gumbrecht schon 1986 die These aufgeboten, dass Stil bei Buffon als eine kognitive Fähigkeit des Menschen anerkannt und als »Kompetenz des Beobachtens«[ii] verstanden werde. Und Susan Sontag hatte bereits 1964 in Bezug auf Camp als Stil von einer »sensibility« gesprochen.[iii] Stil wäre also ein Wahrnehmungsmodus, eine so oder anders sensibilisierte und sozialisierte Empfänglichkeit. Diese Perspektive auf Stil setzt allerdings voraus, dass man sich von zwei Vorstellungen verabschiedet, deren Harmonisierung die Geister über drei Jahrhunderte beschäftigt hat, nämlich von der Vorstellung eines einzelnen Subjekts und von der Vorstellung nur einer Wirklichkeit und einer Wahrheit.

Unter den massiv verschärften Bedingungen der Gegenwart muss vor allem Letzteres als ein zu hoher Preis erscheinen. Aber ist es das? Fakten werden zu Fakten durch intersubjektive Ordnungen, Logiken oder Regime des Hinsehens, zu denen das Absehen von anderem ebenso gehört wie die Überprüfbarkeit. Tatsachen entstammen dem, was Ludwik Fleck Denkstile genannt hat, die in Denkkollektiven (die sich auch aus der Kommunikation unter sehr wenigen Personen bilden können) entstehen.[iv] In demokratischen – bis vor Kurzem konnte man hier noch ›rationalen‹ hinzufügen – Gesellschaften stellen sie die Währung des Umgangs und der Auseinandersetzung auf bestimmten Feldern miteinander dar. Aber sie sind nicht die einzige Währung, wie Wissenschaft nicht ein einziger Denkstil und Journalismus nicht das einzige Feld ist. Wo sie sich berühren, in den Grauzonen, sind Streit und Bestreitung zu Hause. (Wer Fleck keinen Glauben schenken mag, kann übrigens auch bei Hannah Arendt nachlesen, dass es keine »Tatsachenwahrheiten« gibt, die »jemals über jeden Zweifel erhaben« oder »notwendigerweise wahr« sind, eben weil sie »glaubwürdiger Zeugen« bedürfen, um »einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden«.[v] Weder Fleck noch Arendt dürften zu den ›postmodernen‹ Denkern zählen, die gegenwärtig für das postfaktische Zeitalter zur Verantwortung gezogen werden.[vi])

Dass Streit im postfaktischen Zeitalter mit seinen Echokammern, Filterblasen und sich real verhärtenden Fronten zusehends unmöglicher wird, ist das Problem. Wer sich und sich allein auf Seiten der Wirklichkeit und im Besitz der Wahrheit glaubt, kann mit solchen, die unter derselben Voraussetzung operieren, nicht mehr reden. Besinnung auf einen erweiterten Stilbegriff verspräche nicht Lösung, aber vielleicht doch Entlastung, schon weil Stil modern immer im Plural kommt und Stilfragen deshalb nicht mit »richtig« oder »falsch« beantwortet werden können.

Stritte man derzeit noch oder nur um das, was Fakt ist und was nicht, könnte Stil vielleicht tatsächlich eine hilfreiche Kategorie des Aufschubs, der Entlastung und Differenzierung sein. Aber es geht längst nicht mehr um Fakten und ihre Grauzonen. Nicht nur die Gegner des US-Präsidenten wissen, dass er eigentlich immer lügt; er und seine Anhänger wissen es auch. Wo die Unterscheidung zwischen Fakt und Fälschung faktisch irrelevant geworden ist, behauptet sich am Ende nur noch: der Stil. Was heute gelegentlich als Verrohung oder Stilverlust beobachtet wird, ist genau das Gegenteil: Entlassung in eine Welt, in der nur noch Stil und allem Anschein zum Trotz nur ein Stil herrscht.

Adorno war die Kulturindustrie bekanntlich verhasst. Aber »[n]ur noch Stil, gibt sie dessen Geheimnis preis, den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie«.[vii] Wenn sich das heute auf Trump (und nicht nur ihn!) münzen lässt, dann ist zwischen Stillosigkeit und endloser Vermehrung von life styles etwas zurückgekehrt, das vor der Aufklärung, vor der bürgerlichen Epoche von Stil und Stilen lag und in der Rhetorik seit der Antike sein opponierendes Moment hatte: das souveräne Herrscherwort, dessen Macht Wahrheit und Wirklichkeit macht.

Auch deshalb wird am ZfL derzeit über Stil nachgedacht.

 

[i] Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Berlin 2018.

[ii] Hans Ulrich Gumbrecht: »Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs«, in: ders./K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986, S. 726–788, hier S. 756.

[iii] Vgl. Susan Sontag: »Notes on ›Camp‹« [1964], in: dies.: Against Interpretation and Other Essays, New York, NY 2009, S. 275–292.

[iv] Vgl. Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. von Sylwia Werner/Claus Zittel, Berlin 2011.

[v] Hannah Arendt: »Die Lüge in der Politik«, in: dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 1972, S. 7–44, hier S. 9f.

[vi] Vgl. Albrecht Koschorke: »Die akademische Linke hat sich selbst dekonstruiert. Es ist Zeit, die Begriffe neu zu justieren«, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.4.2018.

[vii] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (= Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1981, S. 152.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Was Stil sagt, in: ZfL BLOG, 1.2.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/02/01/eva-geulen-was-stil-sagt/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190201-01

 

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