Metaphorologie Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/metaphorologie/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 08 Dec 2023 08:47:36 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Metaphorologie Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/metaphorologie/ 32 32 Tobias Wilke: KI, DIE BOMBE. Zu Gegenwart und Geschichte einer Analogie https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/10/19/tobias-wilke-ki-die-bombe-zu-gegenwart-und-geschichte-einer-analogie/ Thu, 19 Oct 2023 12:14:46 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3117 »A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?« – so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken Weiterlesen

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»A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?« – so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken neuester (Sprach-)Technologien beschworen werden, lässt der Vergleich mit dem Vernichtungspotenzial von Atomwaffen nicht lange auf sich warten. Dies gilt für die in Print- und Onlinemedien ausgetragene Diskussion, ist aber auch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit ihren Spezialöffentlichkeiten zu beobachten.[1] Warnungen vor den unabsehbaren Folgen der KI-Entwicklung gleichen in ihrer Drastik und teils bis aufs Wort den Mahnrufen und Appellen, mit denen in der Nachkriegszeit auf die damals neue Gefahr eines drohenden globalen Nuklearkonflikts reagiert wurde. Ob sich die von der New York Times anonymisiert präsentierten Aussagen wie »If we go ahead on this, everyone will die« oder »We are drifting toward a catastrophe beyond comparison«[2] auf unsere Gegenwart oder auf die historische Situation der 1950er und 1960er Jahre beziehen, ist daher tatsächlich nicht immer ohne Weiteres auszumachen. Und erst kürzlich berichtete die Zeitung von einem Mitarbeiter des von Google betriebenen DeepMind-Forschungslabors, der einen Vortrag zum maschinellen Lernen mit einem Zitat aus George Orwells Essay You and the Atomic Bomb (1945) eröffnet hatte – ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die zwischen Künstlicher Intelligenz und Nuklearwaffen gezogenen Parallelen zu einem anscheinend unverzichtbaren Topos in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen und Large Language Models (LLMs) geworden sind.[3]

Erklären lässt sich diese Ubiquität zunächst damit, dass die Atombombenreferenz in der Regel als Teil von Aufmerksamkeitsstrategien fungiert, die auf die Dringlichkeit von Sicherheitsstandards, Risikomanagement und Kontrollmechanismen für die KI-Entwicklung hinweisen sollen. Insofern solche Warnungen und Forderungen jedoch praktisch immer mit der Betonung des schier ›grenzenlosen‹ Problemlösungspotenzials von Künstlicher Intelligenz einhergehen bzw. sich eben daraus allererst begründen, befeuern sie zusätzlich den gegenwärtigen Hype um diese Technologien. Dabei fällt auf, dass es gerade die Protagonisten der Big-Tech-Konzerne sind, die in den Chor der vielzähligen Warnrufe und Regulierungsappelle einstimmen bzw. darin sogar den Ton angeben. Als Ende Mai etwa das Center for AI Safety ein offizielles Statement on AI Risk herausgab, in dem erklärt wurde, »[m]itigating the risk of extinction from AI should be a global priority alongside other society-scale risks such as pandemics and nuclear war«, zählten die CEOs von OpenAi und Google DeepMind, Sam Altman und Demis Hassabis, sowie der Microsoft-Gründer Bill Gates zu den prominentesten Unterzeichnern. Und in einem schon im April veröffentlichten Memorandum zum Thema Governance of Superintelligence schlugen die ChatGPT-Entwickler von OpenAI selbst die Einrichtung einer KI-Kontrollinstanz nach dem Vorbild der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vor.

Diese Beispiele lassen erkennen, dass in den Diskussionen der vergangenen Monate durchaus verschieden geartete Vorstellungen von einer atombombenhaften Gefährdung der Menschheit durch KI miteinander konkurrieren. Am konkretesten gestalten sich die Inbezugsetzungen dort, wo auf die künftige Integration von Künstlicher Intelligenz in die Steuerung nuklearer Waffensysteme sowie auf eine zu erwartende Automatisierung von militärischen Entscheidungsprozessen insgesamt rekurriert wird. »Never give artificial intelligence the nuclear codes« lautete etwa die Überschrift eines Artikels in der Juni-Ausgabe des Magazins The Atlantic, der mit einem (computergenerierten) Bild eines aus binärem Zahlencode geformten Atompilzes illustriert wurde. Und auch in den Kontexten von Security Studies und internationaler Politik debattiert man mittlerweile intensiv über die Möglichkeit eines globalen »AI arms race«, das die Gefahren des atomaren Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg noch weit in den Schatten stellen würde.[4]

Während solche Szenarien also zu antizipieren versuchen, wie sich Künstliche Intelligenz ganz buchstäblich in eine Bombe verwandeln könnte, kreist ein anderer, sehr viel stärker spekulativer Strang der Auseinandersetzung um ein aus Filmen wie Terminator und The Matrix bekanntes Motiv: Die dort noch fiktional verhandelte Auslöschung der Menschheit durch außer Kontrolle geratene ›superintelligente‹ Maschinen wird nun unter dem Stichwort der sogenannten ›rogue AI‹[5] – also einer abtrünnigen, zerstörerischen Variante gegenwärtiger Computertechnologien – in den Raum bald schon möglicher Realitäten verlegt. Unter Rückgriff auf das Imaginationsarchiv der Science-Fiction (die ihrerseits ja gerade im Zeitalter der ersten Atombomben und Digitalrechner breite Popularität erlangte) bilden sich somit prognostische Aussagen darüber heraus, wie Künstliche Intelligenz faktisch zu einer Bedrohung im planetarischen Maßstab avancieren könnte. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass sie sich bereits in naher Zukunft – und im Gegensatz zu ›klassischen‹ Atomwaffen – einer nachträglichen Einhegung durch menschliche Akteure auf irreversible Weise entziehen dürfte.

Auf der einen Seite also die Warnung vor Künstlicher Intelligenz als (Teil der) Bombe, auf der anderen Seite die Befürchtung, dass KI letztlich wie die Bombe, oder sogar eher noch als diese, zu einer Quelle von totaler physischer Vernichtung zu werden vermag: Zwischen diesen extremen Polen hat es in den letzten Monaten eine Fülle von äußerst diffusen Beschwörungen der potenziell destruktiven Kräfte von generative artificial intelligence gegeben. In einer der frühesten prominenten Reaktionen auf ChatGPT forderten im März 2023 zahlreiche Vertreter:innen aus US-amerikanischer Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in einem offenen Brief ein mindestens sechsmonatiges Moratorium in der KI-Entwicklung. Denn Systeme, die das Problemlösungsvermögen menschlicher Intelligenz besäßen oder gar überträfen, brächten »profound risks to society and humanity« mit sich, darunter die mögliche Auflösung zivilisatorischer Institutionen, soziale Desintegration und die Verdrängung von menschlicher agency aus den Sphären von Ökonomie, Arbeit, Politik und Kultur. Die angesprochenen Gefahren bleiben hier – wie auch in vielen anderen Einlassungen zur Künstlichen Intelligenz – eher vage. (Die automatisierte Produktion und Verbreitung von Fake News und Propaganda durch Chatbots und eine daraus folgende Überflutung gesellschaftlicher Kommunikationskanäle ist noch einer der deutlicher benannten katastrophalen Effekte.) Doch gibt die Vorstellung einer zwischen privaten Konzernen aus ökonomischen Interessen ausgetragenen Konkurrenz um immer leistungsfähigere KI-Systeme eine mindestens implizite historische Referenz zur Dynamik des atomaren Wettrüstens zu erkennen. Zu befürchten bzw. eigentlich schon im Gange sei, so die Autor:innen des Briefs, »an out-of-control race to develop and deploy ever more powerful digital minds that no one – not even their creators – can understand, predict, or reliably control«.

In ihrer kurzen Vorbemerkung weisen die Autoren des eingangs genannten New York Times-Ratespiels darauf hin, dass der von ihnen zum Quizgegenstand gemachte Vergleich durchaus kein gänzlich neues Phänomen, sondern bereits seit Jahren verwendet worden sei. Dabei beziehen sie sich namentlich auf Tesla-Gründer und X-Besitzer Elon Musk, einen der derzeit wohl vernehmbarsten Advokaten einer umfassenden KI-Regulierung, der schon am 3.8.2014 in einem Tweet warnte, »[w]e need to be super careful with AI. Potentially more dangerous than nukes« – um sich dann wenig später selbst an der Gründung von Open AI zu beteiligen.[6] Hervorzuheben ist allerdings, dass nicht erst die beschleunigte Entwicklung von ›Superintelligenz‹ im frühen 21. Jahrhundert zu solchen Vergleichen Anlass gab. Diese bilden vielmehr eine Konstante in der diskursiven Auseinandersetzung mit digitalen Technologien, was sich insbesondere an zwei bereits länger zurückliegenden formativen Phasen des Informationszeitalters beobachten lässt: dem Digitalisierungsschub der 1980er und frühen 1990er Jahre, der durch die Verbreitung erschwinglicher PCs und die Freigabe des World Wide Web (1993) für die öffentliche Nutzung gekennzeichnet war, sowie den Nachkriegsjahrzehnten, die sowohl durch die Anfänge des mainframe computing als auch durch die eskalierende atomare Konfrontation zwischen Ost- und Westmächten geprägt wurden.

 

»La bombe informatique/Die Informatikbombe«: Unter diesem Titel strahlte der deutsch-französische Kultursender ARTE im Herbst 1995 ein Fernsehgespräch zwischen dem Philosophen Paul Virilio und dem Medienwissenschaftler Friedrich Kittler aus.[7] Geführt gleichsam auf halber Strecke zwischen Kittlers frühen Studien zur Mediengeschichte wie Grammophon Film Typewriter (1986) und Virilios später publiziertem Buch The Information Bomb (1999) legt diese Diskussion Zeugnis davon ab, wie der Prozess globaler digitaler Vernetzung erstmals nachhaltig ins Zentrum der geistes- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung zu rücken begann. Für Virilio, den Theoretiker der Geschwindigkeit und ihrer militärischen wie medientechnischen Hintergründe, stellte sich das Heraufziehen einer weltweit synchronisierten Informationsgesellschaft als ultimatives Stadium historischer Beschleunigung mit einem Unfallpotenzial von nie gesehenen Ausmaßen dar:

»[T]his is what Einstein called, very judiciously, ›the second bomb‹. The first bomb was the atomic bomb, the second one is the information bomb, that is, the bomb that throws us into ›real time‹.«[8]

Ausgehend von einer – vermutlich apokryphen[9] – Einstein-Äußerung machte Virilio so eine Reihe von bildlichen Analogien zwischen nuklearer und digitaler Katastrophe geltend: Instantane Datenübertragung und unbegrenzte Interaktivität würden letztlich zu einer »Überhitzung« gesellschaftlicher Kommunikation, zu einer Art von sozialer »Kernspaltung« mit entsprechend destruktiven Folgen führen müssen; geboten seien daher Kontrollen und internationale Präventivmaßnahmen nach dem Vorbild der »nuklearen Abschreckung«.[10]

Kittler hingegen richtete seinen Blick in für ihn charakteristischer Weise auf die historischen Entwicklungszusammenhänge, die Computertechnologie und Atomwaffen seit ihren Anfängen miteinander verbunden haben. Dies klingt bedeutend weniger alarmistisch als Virilios Statements und kommt im Ton eher lakonisch daher. Doch galt das Kommen der Apokalypse auch Kittler als ausgemacht. »Vor dem Ende, geht etwas zu Ende«, hieß es in diesem Sinne schon in der Einleitung zu Grammophon Film Typewriter (das just im Jahr des Reaktorunfalls von Tschernobyl erschienen war).[11] Ehe das nukleare Armageddon eintritt, so sollte dies besagen, vermag die zu militärischen Zwecken entwickelte Datenübertragung per Glasfaserkabel noch den zivilen Funktionsbereich sämtlicher (Unterhaltungs-)Medien zu revolutionieren – und deren Nutzer:innen genau dadurch von der Einschreibung der bevorstehenden Katastrophe in die digitale Technik abzulenken. Denn die Verkabelung von Rechnern, wie sie zunächst im Arpanet des US-Militärs erprobt wurde, hatte ursprünglich dazu gedient, Waffen- und Kommunikationssysteme gegen die elektromagnetischen Auswirkungen möglicher Nuklearschläge zu immunisieren. Für Kittler leitete sich daraus eine materiell verbürgte Komplizenschaft zwischen Digitalisierung und atomarer Aufrüstung her, die hinter den Datenflüssen alltäglicher Computernutzung jedoch verborgen bleibe: »Glasfaserkabel übertragen eben jede denkbare Information außer der einen, die zählt – der Bombe.«[12]

Virilio und Kittler waren noch nicht mit Künstlicher Intelligenz in ihren heute aktuell gewordenen Erscheinungsformen befasst. Doch weisen ihre Reflexionen auf bestimmte Kontinuitäten hin, die sich auch in der forcierten Digitalisierung des frühen 21. Jahrhunderts fortsetzen sollten. So lässt sich eine direkte Entwicklungslinie vom (geschlossenen) Arpanet der 1970er und 80er Jahre über das (offene) Internet der 1990er und 2000er zu den (teils offenen, teils geschlossenen) LLMs der Gegenwart ziehen, die ohne ihre aus dem Netz bezogenen sprachlichen Trainingsdaten schlechthin undenkbar wären. Kittlers Hinweis indes, »that both computers and atomic bombs are an outcome of the Second World War«,[13] erlaubt es zugleich, diese historischen Verbindungen bis an die Anfänge des Computerzeitalters zurück zu verlängern. Eine zentrale Rolle kommt in diesem Kontext dem Mathematiker John von Neumann zu, der während des Kriegs zeitweilig am Los Alamos National Laboratory arbeitete und dort Berechnungen für das Design der ersten Atombombe anfertigte; wenig später entwickelte er im Rahmen des Manhattan-Projekts der US-Regierung ein neues Schaltungskonzept für elektronische Rechner, die sogenannte Von-Neumann-Architektur, die zum bis heute gängigen Bau- und Funktionsplan von Computern avancieren sollte.

Zum Komplex dieser institutionell-genealogischen Verflechtungen gehört aber auch, dass sich die rasch aufkommende Frage nach der Lernfähigkeit und quasimenschlichen Intelligenz solcher Rechen- bzw. Denkmaschinen[14] sehr bald mit Reflexionen über die möglichen Folgen der Atomtechnologie und das nach dem Krieg einsetzende Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR zu verbinden begann. So zu verfolgen etwa bei Norbert Wiener, der die erste Ausgabe seines Buches Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) mit einem kurzen, an von Neumann anknüpfenden Ausblick auf die Möglichkeit beschloss, lernfähige Schachcomputer zu konstruieren. In der zweiten Auflage 1961 fügte er diesen Überlegungen dann ein neu verfasstes Kapitel (On Learning and Self-Reproducing Machines) hinzu, in dem er seine Perspektive auf den möglichen Einsatz solcher ›intelligenten‹ Maschinen im Kontext militärischer Konfliktszenarien, vor allem des »new and as yet untried war with atomic weapons«,[15] ausweitete. Kurz vor dem kritischen Höhepunkt der atomaren Konfrontation angesichts der Kubakrise (1962) sah Wiener somit schon die Automatisierung von Waffensystemen und kriegsstrategischen Entscheidungsprozessen mittels Künstlicher Intelligenz voraus, wie sie gegenwärtig unter neuen technischen Vorzeichen diskutiert wird. Und er hob dabei verschiedene mit dieser Entwicklung verbundene Gefahren hervor, die auch in der aktuellen Debatte um KI zentrale Bedeutung (wieder-)erlangt haben: das Problem eines »unguarded use of learning machines«[16] zum Beispiel, das aus einer unkontrollierbaren Eigendynamik solcher Systeme resultiert, sowie die noch weiter reichende Möglichkeit, dass sich diese Systeme aufgrund ihrer »new and real agencies«[17] irgendwann sogar gezielt gegen ihre Schöpfer wenden könnten.

Weniger auf das destruktive Potenzial von Künstlicher Intelligenz gerichtet, doch dafür umso radikaler in der Einschätzung ihrer zivilisatorischen Konsequenzen war wiederum eine Diagnose, die der deutsche Wissenschaftsphilosoph Max Bense bereits 1955 formulierte:

»Nicht die Erfindung der Atombombe ist das entscheidende technische Ereignis unserer Epoche, sondern die Konstruktion der großen mathematischen Maschinen, die man […] gelegentlich auch Denkmaschinen genannt hat. Diese Feststellung begründet sich auf der Tatsache, daß die Technik mit ihnen einen neuen Aufgabenbereich, fast möchte man sagen: einen neuen Sinn gewonnen hat.«[18]

Zehn Jahre nach den ersten Atombombenabwürfen über Japan und inmitten der Eskalationsphase des Kalten Kriegs war diese Einschätzung gewiss (noch) nicht konsensfähig und ersichtlich (auch) als Provokation intendiert. Dennoch war es Bense mit seinem vergleichenden Befund durchaus ernst. Während die Atombombe vor allem eine physische Bedrohung von außen darstellte, waren die ›Denkmaschinen‹ dazu angetan, alle Bereiche des sozialen und geistigen Lebens zu durchdringen und in ihrem innersten Kern zu verändern; und eben dies rechtfertigte es, sie als die eigentliche Grundlage »einer neuen Stufe der Technischen Welt«[19] anzusehen. Benses halb diagnostische, halb prognostische Einschätzung stellt sich im Rückblick als hellsichtige Charakterisierung des (kommenden) Digitalzeitalters dar – ist es doch gerade das mittlerweile eingetretene und sich aktuell stark beschleunigende Vordringen von Künstlicher Intelligenz in die unterschiedlichsten Kommunikations-, Informations- und Kulturtechniken, das zuletzt auch für eine topische Rückkehr der Atombombe in die öffentliche Diskussion gesorgt hat.

Was aber hat eine heutige KI wie ChatGPT selbst zur Konjunktur dieser vergleichenden Bezugnahmen zu sagen? Stellt man dem Chatbot diese Frage (und was läge in der aktuellen Situation näher?), so erzeugt das System eine Liste von generischen Aussagen über ähnliche Risiken, unabsehbare Konsequenzen und ethische Implikationen beider Technologien, ergänzt um den relativierenden Hinweis, es handle sich um »keine perfekte Analogie«.[20] Dieser Einschränkung mag ohne Weiteres zuzustimmen sein. Entscheidend jedoch ist etwas anderes: Die diskursive Rekurrenz des Vergleichs – und seine eben darauf beruhende Erfass- und Reproduzierbarkeit durch statistisch verfahrende LLMs – lässt ideologische constraints sichtbar werden, denen die Bildung von Aussagen über Künstliche Intelligenz unterliegt – wobei ›ideologisch‹ hier im Sinne einer Regulierung des Denk- und Sagbaren durch bestimmte Wahrscheinlichkeiten zu verstehen ist.[21] Eben diese Wahrscheinlichkeiten aber sind es wiederum, die auch und gerade in Zukunft eine Analyse ihrer historischen Bedingtheit notwendig machen.

 

Der Literaturwissenschaftler Tobias Wilke arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle an dem Projekt »Digitale Sprache. Linguistik, Kommunikationsforschung und Poetik im frühen Informationszeitalter«.

[1] Für die journalistische Debatte im deutschen Sprachraum vgl. exemplarisch Alexander Grau: »KI-Moratorium? Künstliche Intelligenz ist die Atombombe«, in: Cicero Online, 15.4.2023, und Ursula Scheer: »Ist KI so gefährlich wie die Atombombe?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2023. Für den wissenschaftlichen Diskussionskontext vgl. u.a. Dan Hendrycks/Mantas Mazeika/Thomas Woodside: An Overview of Catastrophic AI Risks, in: arXiv, 9.10.2023, S. 4.

[2] Ian Prasad Philbrick/Tom Wright-Piersanti: »A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?«, in: The New York Times, 10.6.2023.

[3] Vgl. Siobhan Roberts: »AI Is Coming for Mathematics, Too«, in: The New York Times, 2.7.2023. Orwells Essay erschien am 19.10.1945 in der Londoner Zeitung Tribune.

[4] So warnte unlängst u.a. Charles Oppenheimer, Enkel des Atombomben-Entwicklers J. Robert Oppenheimer, vor einer entsprechenden Konkurrenz zwischen China und den USA. Vgl. Charles Oppenheimer: »To Avoid an AI ›Arms Race‹, the World Needs to Expand Scientific Collaboration«, in: Bulletin of Atomic Scientists, 12.4.2023. Als einschlägige Publikation aus dem Bereich der Security Studies vgl. auch James Johnson: AI Bomb: Nuclear Strategiy and Risk in the Digital Age, Oxford 2023.

[5] Zu diesem Begriff vgl. Hendrycks(Mazeika/Woodside: Overview (Anm. 1)

[6] Vier Jahre später (11.4.2018) war Musk sich angeblich sicher: »Mark my words – A.I. is far more dangerous than nukes.«

[7] Ein Video der Sendung ist online zugänglich. Eine schriftliche englische Übersetzung von Auszügen des Gesprächs erschien später unter dem (leicht abgewandelten) Titel »The Information Bomb. A Conversation«, in: Angelaki. Journal of the Theoretical Humanities 4.2 (1999), S. 81–90.

[8] Ebd., S. 82.

[9] Vgl. dazu Roger Stahl: »Weaponizing Speech«, in: Quarterly Journal of Speech 102.4 (2016), S. 376–395, hier S. 378.

[10] Vgl. Paul Virilio: The Information Bomb, New York 1999, S. 108.

[11] Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 7.

[12] Ebd.

[13] »The Information Bomb. A Conversation« (Anm. 7), S. 82.

[14] Prägend hierzu Alan Turing: »Computing Machinery and Intelligence«, in: Mind 59.236 (1950), S. 433–460.

[15] Norbert Wiener: Cybernetics, Or Communication and Control in the Animal and the Machine, Boston 21961, S. 242.

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 244.

[18] Max Bense: »Vorwort«, in: Louis Couffignal: Denkmaschinen, übers. v. Elisabeth Walther und Max Bense, Stuttgart 1955, S. 7.

[19] Ebd., S. 7f.

[20] ChatGPT (May 24 Version), Response auf die Frage »Why is AI so often compared to the atomic bomb?«, generiert am 5.7.2023. Hervorzuheben ist, dass sich die Datenbasis von ChatGPT bislang nur bis Ende 2021 erstreckt und damit (noch) nicht den Zeitraum erfasst, in dem die Freischaltung des Systems selbst maßgeblich zur Renaissance der Atombomben-Referenz beigetragen hat.

[21] Vgl. dazu Leif Weatherby: »ChatGPT is an Ideology Machine«, in: Jacobin, 17.4.2023.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tobias Wilke: KI, die Bombe. Zu Gegenwart und Geschichte einer Analogie, in: ZfL Blog, 19.10.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/10/19/tobias-wilke-ki-die-bombe-zu-gegenwart-und-geschichte-einer-analogie/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231019-01

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Lukas Schemper: SCHIFFBRUCH DER ZIVILISATION. Überlegungen zu einer Metapher https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/16/lukas-schemper-schiffbruch-der-zivilisation-ueberlegungen-zu-einer-metapher/ Wed, 16 Feb 2022 08:27:58 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2475 Anfang Dezember 2021 besuchte Papst Franziskus auf seiner Griechenlandreise auch die Insel Lesbos und das dortige Flüchtlingslager Kara Tepe, wo zu der Zeit etwa 2.500 Menschen lebten.[1] Kara Tepe ist das Nachfolgelager des 2020 abgebrannten Lagers Moria, wo der Papst schon 2016 war und dessen Überfüllung und hygienische Zustände das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik drastisch Weiterlesen

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Anfang Dezember 2021 besuchte Papst Franziskus auf seiner Griechenlandreise auch die Insel Lesbos und das dortige Flüchtlingslager Kara Tepe, wo zu der Zeit etwa 2.500 Menschen lebten.[1] Kara Tepe ist das Nachfolgelager des 2020 abgebrannten Lagers Moria, wo der Papst schon 2016 war und dessen Überfüllung und hygienische Zustände das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik drastisch vor Augen geführt hatten. Auch wenn sich die humanitären Zustände im Vergleich zu damals gebessert haben und bedeutend weniger Menschen in Kara Tepe untergebracht sind als im Vorgängerlager, so hat sich doch zwischen den beiden Papst-Besuchen in der europäischen Migrationspolitik nichts grundsätzlich bewegt. Im Gegenteil. Wurden einzelne europäische Staaten damals noch von den Regierungen anderer Staaten sowie der Europäischen Kommission für das Errichten von Zäunen zur Abwehr von Migranten kritisiert, so haben mittlerweile mehrere Mitgliedsstaaten die EU gebeten, sie eben dabei zu unterstützten.[2] Zudem kommt es wieder vermehrt zu Tragödien durch das Kentern von Flüchtlingsbooten. Mindestens 1.500 Menschen starben so 2021 allein im Mittelmeer.[3]

Angesichts dieser bestürzenden Realität sprach der Papst in seiner Ansprache, wie schon fünf Jahre zuvor, von einem »Schiffbruch der Zivilisation«. Das Mittelmeer als Wiege verschiedener Zivilisationen dürfe sich nicht in einen »Spiegel des Todes«, das »Mare Nostrum« dürfe sich nicht in ein »trostloses Mare Mortuum« verwandeln.[4] Die Verwendung von Seefahrtmetaphern hat in der Geschichte des europäischen Denkens Tradition und mag daher nicht besonders originell erscheinen. Im Zusammenhang mit den im Mittelmeer und im Ärmelkanal ertrinkenden Menschen entfaltet sie dennoch große Wirkung. Dem physischen Untergang der Flüchtlingsboote durch unterlassene Hilfeleistung wird der moralisch-zivilisatorische Untergang Europas, ja, der ganzen Menschheit an die Seite gestellt – denn wie der Papst betont, ist Migration nicht nur ein regionales, sondern ein globales Thema. Aufgrund ihrer Prägnanz wurde deshalb wohl auch genau diese Metapher aus der Rede des Papstes weltweit in die Titel der Zeitungsberichte gehievt. Aber was soll durch die Verwendung der Schiffbruchmetapher ausgedrückt werden? Welche Funktion erfüllt sie? Und was ist überhaupt mit Zivilisation gemeint?

Christliche Metaphorik?

Da es sich beim Redner um das Oberhaupt der katholischen Kirche handelt, könnte man auf den ersten Blick einen Zusammenhang mit dem christlich-biblischen Topos vom Schiffbruch vermuten. Neben der alttestamentarischen Geschichte vom Propheten Jonas und dem Wal (die sowohl die Wandlung des vom Wal Ausgespienen als auch die bis in die Tiefen des Ozeans hinabreichende Allmacht Gottes verdeutlicht), fällt einem auch der in der neutestamentarischen Apostelgeschichte enthaltene Schiffbruch des Paulus ein. Wie von einem Engel prophezeit, wird die ganze Besatzung des in Seenot geratenen Schiffes gerettet, mit dem der Gefangene Paulus transportiert wird. Interpretationen dieser Geschichte haben etwa den ›Heilssinn‹ der Rettung vor dem Schiffbruch hervorgehoben (die göttliche Mission des Paulus wird damit gewährleistet), oder die durch den Schiffbruch versinnbildlichte Zäsur zwischen heidnischer und christlicher Welt, in der alle Passagiere – ohne jegliche Unterscheidung – gerettet würden.[5] Dass alle Menschen als Geschwister gleichermaßen an der göttlichen Schöpfung teilhaben sollen und daher auch jedes Menschenleben gerettet werden muss, ist sicherlich ein wichtiger Teil der Ansprache des Papstes.

Beim »Schiffbruch der Zivilisation« geht es aber weder um die Allmacht Gottes noch um den Heilssinn. Es geht vielmehr um den Verlust moralischer Werte. Lange Zeit durch den eurozentrischen Beigeschmack der mission civilisatrice zu Recht in Verruf geraten, scheint der Begriff der Zivilisation wieder in Gebrauch zu kommen.[6] Wie schon im 19. Jahrhundert umfasst er Normen und Institutionen, die es zu propagieren gilt. In diesem Fall erfolgt die Missionierung jedoch nicht in entlegenen Regionen der Erde, sondern in der eigenen Gesellschaft, die – denn das impliziert die Verwendung des Begriffs Zivilisation ja wohl – in die Barbarei zu fallen droht. Dies lässt sich mit dem Schiffbruch gut veranschaulichen, denn sowohl im Deutschen als auch in den romanischen Sprachen (naufrage, naufragio, etc.) beinhaltet die entsprechende Bezeichnung das Wort ›Bruch‹ (im Lateinischen frangere, ›brechen‹). Es ist ein Bruch, der für Tod und Endzeitstimmung stehen kann (wie dies etwa bei Jonas der Fall ist), aber auch allgemeiner für eine »existentielle und gemeinschaftliche Bodenlosigkeit«,[7] die sich auf die Auflösung von Ordnung, Autorität und Moral – auch in einem ganz terrestrischen Kontext – beziehen kann. Auf Französisch ist ein Schiff, das physisch Gefahr läuft Schiffbruch zu erleiden, en perdition; genauso wie ein Mensch in moralischer Weise en perdition sein kann.[8] Das Schiffsunglück der französischen Fregatte Méduse im Jahre 1816 wurde wie kein anderes Ereignis zur Versinnbildlichung der Verbindung zwischen Schiffs- und Zivilisationsbruch, wobei die französische Öffentlichkeit damals von Meuterei und Kannibalismus ebenso moralisch schockiert war wie von der Aufgabe der Besatzung durch den Kapitän und die französische Marine. Das Beispiel zeigt im Übrigen, dass ein Schiffbruch genauso viel über das Schicksal der Ertrinkenden aussagen kann wie über die Moral der Zuschauer, die wiederum Ausdruck der Verfassung einer Gesellschaft ist.[9]

Was könnte man unserer Gesellschaft in ihrem Umgang mit Flüchtenden attestieren? Zumindest zwei große Normen werden gebrochen: die Verpflichtung zur Aufnahme Schutzsuchender und die Verpflichtung, in Seenot geratene Menschen zu retten. Was den ersten Punkt betrifft, so ist der Schutz von Flüchtlingen in Europa eigentlich durch die völkerrechtliche Verpflichtung abgedeckt, dass Staaten die Rechte der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Menschen (Staatsbürger wie Fremde) zu gewährleisten haben.[10] Die moralische Verpflichtung, auf See denjenigen, die in Gefahr sind, Hilfe zu leisten, gibt es seit hunderten von Jahren. Die Häufung maritimer Unfälle im 19. Jahrhundert gepaart mit humanitären Erwägungen haben dieses Prinzip im 20. Jahrhundert dann in diverse internationale Konventionen einfließen lassen.[11] Auch unter Küstenbewohnern hat sich seit dem 18. Jahrhundert eine Kultur des Rettens von Schiffbrüchigen entwickelt. Erklären kann man das unter anderem mit der Schaffung finanzieller Anreize oder der Gründung professioneller Seenotrettungsgesellschaften.[12] Letztere stehen heute in ausländerfeindlichen Kreisen für ihre humanitäre Arbeit vermehrt in der Kritik.

Die Rede des Papstes geht jedoch gar nicht im Detail auf diese konkreten rechtlichen oder gesellschaftlichen Normen ein, sondern bezieht sich viel allgemeiner auf »christliche Wurzeln« humanitären Denkens und Handelns.[13] Da alle Menschen Kinder Gottes sind, die dieser nach seinem Abbild schuf, müssen sich auch alle Menschen geschwisterlich behandeln und jede*n an der Schöpfung teilhaben lassen (ohne Gegenleistung zu verlangen). Das Handeln Jesu versinnbildlichte diese christliche Sozialtätigkeit wie der Verweis des Papstes auf Mt 25,40–45 zeigt (»Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«). Der Einfluss dieses Gedankenguts auf die Entwicklung karitativer, sozialer und humanitärer Initiativen bis in die Gegenwart ist unbestritten. Man denke nur an das calvinistische Umfeld der Rot-Kreuz-Gründer in Genf oder den Einfluss des Quäkertums auf die Antisklavereibewegung. Das Gleichnis des Barmherzigen Samariters, auf das sich auch Papst Franziskus in seiner Rede bezieht, ein spectacle de la souffrance, wurde zum Paradigma des auf Mitgefühl basierenden humanitären Handelns à distance schlechthin.[14]

Man könnte versucht sein aus dieser Geschichte abzulesen (und Papst Franziskus tut dies in gewisser Weise auch), dass das Christentum moderne Menschenrechte bereits in biblischen Zeiten ›erfunden‹ hat. Dabei würde es reichen, in das 19. Jahrhundert zurückzuschauen, um eine Kirche vorzufinden, die sich den heute gebräuchlichen Menschenrechten, aufgefasst als Erbe des Säkularismus der französischen Revolution, widersetzte. Spätestens seit den 1940er Jahren haben sich christliche Kirchen jedoch Begriffe wie Menschenwürde und Menschenrechte angeeignet und zu deren Verteidigung beigetragen.[15] Sie sind daher heute fester Bestandteil christlicher Moral und gehören auch zum Selbstverständnis der genannten Zivilisation ›mit christlichen Wurzeln‹, vor deren Untergang der Papst warnt.

Eine Metapher für die globalisierte Welt

In einer Zeit globaler Herausforderungen wie Flucht, steigender Ungleichheit, Gefährdung von Rechtsstaatlichkeit, Klimawandel und Pandemien ist grenzüberschreitendes, moralisch richtiges Handeln erforderlich. Doch statt der vom Papst in seiner Rede geforderten nationalen Grenzüberschreitung zur Lösung der Probleme[16] kommt es lediglich zu moralischen Grenzüberschreitungen. Hier bietet sich die Metapher des Schiffbruchs offenkundig an, um das kollektive moralische Scheitern zu beschreiben. Statt des seit Aristophanes und Horaz gerne metaphorisch gebrauchten Staatschiffs[17] (das Schiff einer politischen Gemeinschaft) sehen Beobachter aktuell ein ganzes globales Zivilisationsschiff der Moralbefreiten auf Grund laufen. Dieses Bild des Niedergangs hat der französisch-libanesische Schriftsteller Amin Maalouf in seinem 2019 erschienenen Buch Le naufrage des civilisations zum Leitmotiv erhoben.[18]

Die Migrationsfrage ist bei Maalouf nur Symptom eines viel größeren, globalen Schiffbruchs. Diese Metapher sei auf verschiedene Probleme anwendbar, die jedoch dem Autor zufolge alle in der arabisch-muslimischen Welt ihren Ausgang nehmen und sich wie Wellen über den Globus ausbreiten. In einer Mischung aus autobiographischer Beobachtung und historisch-geopolitischer Skizze der vergangenen Jahrzehnte beschreibt Maalouf jene Momente der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, an denen seiner Meinung nach das Zivilisationsschiff von seinem Kurs abkam und auf sein Kentern zusteuerte. Dies begann ihm zufolge mit der unglücklichen Schaffung arabischer Staaten nach westlichen Vorstellungen in Folge des Ersten Weltkriegs. Andere Entwicklungen betreffen das Ausschalten moderner Eliten durch den Westen im Namen des Kampfes gegen den Kommunismus (Indonesien, Iran) und den Aufstieg eines sektenhaften islamischen Kommunitarismus. Für die neuere Zeit konstatiert er eine Desillusionierung der Jugend aufgrund von Ungleichheit und mangels Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, aus der die Hinwendung zu falschen Vorbildern und der Aufstieg extremistischer identitärer Ideologien folge. Dass sich die Erben der bedeutendsten antiken Zivilisationen in Ländern wie Libyen, Syrien oder dem Irak in »wütende und rachsüchtige Stämme« verwandeln konnten, die Steinigungen und Enthauptungen durchführen, ist für Maalouf besonders schmerzlich. Anstatt das Erbe der alten Zivilisationen anzutreten, »flüchten sich ihre Bewohner auf Flößen wie eben nach einem Schiffbruch« (17).

Aber welcher Kurs wäre der richtige gewesen? Als Zivilisation definiert Maalouf alles was unsere Spezies geschaffen hat und worauf wir zu Recht stolz sein können. Besonders stolz ist er auf die Koexistenz verschiedener religiöser, kultureller und sprachlicher Gemeinschaften wie sie bei der Gründung des Libanon geplant und gelebt, jedoch durch zahlreiche äußere kriegerische Konflikte und Einflussnahmen zermürbt wurde. Er ist überzeugt, dass die arabisch-muslimischen Gesellschaften – und damit die ganze Menschheit – eine andere Richtung eingeschlagen hätten, wenn sie diese gelebten levantinischen Werte der Pluralität, Vernunft und Zukunftsgewandtheit übernommen hätten. Stattdessen erkennt Maalouf sowohl im arabisch-muslimischen Raum, als auch global eine Tendenz zu Separatismus, tribalem Egoismus und nationalen Lösungen, die sich bei globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel als fatal herausstellen. Europa habe nicht den Willen dazu, »einen moralischen Kompass zu liefern« (308), ein »Steuermann« zu sein (310) – und der europäische Traum sei bereits dabei, Schiffbruch zu erleiden.

Zwischen Ausweglosigkeit und Warnung

Auf der einen Seite hat die Verwendung der Schiffbruchmetapher etwas Fatalistisches an sich. Maalouf sieht sich nicht nur als Beobachter des Schiffbruchs, sondern wähnt sich mit allen Zeitgenossen an Bord des havarierenden Schiffes. Ein Unglück aber lässt sich nicht vermeiden, wenn man nicht das Steuer in die Hand nimmt. Besonders dann, wenn »eine Spirale am Werk ist, die niemand absichtlich in Gang gesetzt hat, in die wir aber alle zwangsweise hineingezogen werden und die unsere Zivilisationen zu vernichten droht« (335). Auf der anderen Seite haben deklinistische Literatur und ihre Metaphern aber auch einen warnend-präventiven Sinn: Entweder der Schiffbruch ist bereits im Gange, lässt sich aber noch verhindern, oder er bietet die Möglichkeit für einen Neuanfang. Bei allem Pessimismus geht Maalouf davon aus, dass der Menschheit wie nie zuvor die Mittel zur Verfügung stehen, um »eine Ära der Freiheit, des makellosen Fortschritts, der globalen Solidarität und des gemeinsamen Wohlstands« (15) einzuläuten. Und hofft, dass sie sich nicht so einfach mit der Vernichtung all dessen abfinden wird, was sie aufgebaut hat, sobald sie sich des nahenden Zusammenbruchs ihrer Zivilisation bewusst wird. Daher unterstreicht er die Notwendigkeit »zu warnen, zu erklären, zu ermahnen und zu verhindern« (375).

Auch die Rede des Papstes ist eine Warnung. Sein Lösungsvorschlag zielt darauf ab, die der humanitären Situation zugrunde liegenden Ursachen anzugehen – darunter Ausbeutung der Armen, Waffenhandel und Krieg. Der Schiffbruch der Zivilisation sei zwar im Gange, aber man könne, man müsse ihn stoppen. Dabei schreckt der Papst nicht vor Vergleichen mit dem Holocaust zurück, wobei es ihm wohl nicht um eine fragwürdige Äquivalenz geht, sondern um das warnende Beispiel einer Katastrophe, die ebenfalls durch den schleichenden Verfall gesellschaftlicher Normen begünstigt wurde. Immerhin wählt der Papst ein Zitat des Holocaustüberlebenden Elie Wiesel, um seinen wichtigsten Vorschlag zu unterstreichen, nämlich dass man im Anderen den gemeinsamen Ursprung durch das Menschsein erkennen könne. Man müsse in ihm ein einzigartiges Individuum sehen, nicht nur die Kategorie des gesichtslosen Migranten.[19] Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, der immer wieder versucht hat, für die Bewältigung humanitärer Katastrophen zu mobilisieren, und im Scheitern einer humanen europäischen Flüchtlingspolitik bereits 2013 einen »Schiffbruch Europas« sah,[20] will hier eine Reminiszenz an sein intellektuelles Vorbild Emmanuel Levinas erkennen, wenn der Papst uns auffordert, den angsterfüllten Gesichtern der »Nackten und Hungrigen« in die Augen zu schauen.[21] Levinas, dessen Ideen durch seine Erfahrungen mit der Shoah geprägt waren, konzipierte eine Ethik, die das Leiden aus zwischenmenschlicher Perspektive erforschte. Erst durch das Ansehen des Antlitzes des Anderen würde man sich seiner Verantwortung für ihn/sie bewusst und hätte dann keine andere Wahl, als auf die Bedürfnisse des Anderen zu reagieren um ihm/ihr seine/ihre Autonomie zurückzugeben.[22] Eine solche Ethik könnte uns also den Weg zu einer Verhinderung des Schiffbruchs mit Totalschaden weisen. Ohne Zynismus, aber doch in kritischer Absicht muss man sich fragen, ob die päpstliche Warnung ausreichend ist.

Der Historiker Lukas Schemper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL in dem Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«.

[1] Vgl. z. B. Dominik Straub: »Flüchtlinge: Papst Kritisiert ›Schiffbruch der Zivilisation‹«, in: Der Standard, 5.12.2021; Nektaria Stamouri: »Pope Francis Denounces Europe’s Migrant Crisis as ›Shipwreck of Civilization‹«, in: Politico, 5.12.2021; Cécile Chambraud: »›Arrêtons ce naufrage de civilisation !‹: Le discours cinglant du pape François à l’UE sur la question migratoire«, in: Le Monde, 5.12.2021.

[2] Vgl. Jacopo Barigazzi: »EU’s External Walls Are Dividing Bloc Internally«, in: Politico, 20.11.2021.

[3] Vgl. »Shipwrecked Refugee Crossings Leave 164 Dead in Mediterranean, Says UN«, in: The Guardian, 21.12.2021.

[4] Ansprache von Papst Franziskus, Apostolische Reise von Papst Franziskus nach Zypern und Griechenland (2.–6. Dezember 2021), Besuch bei Flüchtlingen, Aufnahmezentrum in Mytilene, 5.12.2021.

[5] Die betreffenden Bibelstellen sind Buch Jona 1,1–2,11 und Apostelgeschichte 27,1–27,44. Für eine genauere Besprechung dieser biblischen Schiffbrüche vgl. Burkhardt Wolf: Fortuna di Mare: Literatur und Seefahrt, Zürich 2013, S. 67‑71.

[6] Der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel hat vor Kurzem den in früheren Zeiten verbreiteten Begriff der Zivilität (civility) ins Spiel gebracht, um interkulturell gültige Formen des Anstands und moralisch ›guten‹ Handelns zu bezeichnen: Jürgen Osterhammel: »Epilogue: From Civilizing Missions to the Defence of Civility«, in: Boris Barth/Rolf Hobson: Civilizing Missions in the Twentieth Century, Leiden 2020, S. 209–228.

[7] Wolf: Fortuna di Mare (Anm. 5), S. 16 f.

[8] Vgl. Gilbert Buti/Alain Cabantous: De Charybde en Scylla: risques, périls et fortunes de mer du XVIe siècle à nos jours, Paris 2018, S. 141 f.

[9] Dies ist eine Untersuchungsrichtung, die u.a. vom zu diesem Thema wegweisenden Blumenberg eingeschlagen wurde: Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979.

[10] Vgl. Manfred Nowak/Antonia Walter: »Flucht und Asyl in der Geschichte der Menschenrechte«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 28.2 (2017), S. 170–192, hier S. 170.

[11] Vgl. Felicity G. Attard: The Duty of the Shipmaster to Render Assistance at Sea under International Law, Leiden 2021, S. 18‑28.

[12] Vgl. Buti/Cabantous: De Charybde en Scylla (Anm. 8), S. 250‑252.

[13] Ansprache des Papstes (Anm. 4).

[14] Die Szene aus Lukas 10,25–37 wird ausführlich diskutiert in Luc Boltanski: La souffrance à distance: Morale humanitaire, médias et politique, Paris 1993.

[15] Vgl. zum Einfluss der christlichen Religionen auf die Konzeption der Menschenrechte Samuel Moyn: Christian Human Rights, Philadelphia 2015.

[16] In der Ansprache des Papstes heißt es: »Für eine Wendung zum Guten braucht es keine unilateralen Aktionen, sondern eine weitreichende Politik« und, Elie Wiesel zitierend: »Wenn Menschenleben in Gefahr sind, wenn die Menschenwürde in Gefahr ist, werden nationale Grenzen irrelevant«.

[17] Zur Geschichte dieses Begriffes und besonders seiner Anwendung im Zusammenhang mit Europa auf supranationaler Ebene vgl. Stephan Leibfried: »Staatsschiff Europa«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (2010), S. 41–46.

[18] Amin Maalouf: Le naufrage des civilisations, Paris 2019 (alle weiteren Zitate in meiner Übersetzung direkt im Text).

[19] »Da ich mich an unseren gemeinsamen Ursprung erinnere, nähere ich mich den Menschen, meinen Geschwistern. Da ich mich weigere zu vergessen, ist ihre Zukunft genauso wichtig wie meine«, Elie Wiesel, zit. nach Ansprache des Papstes (Anm. 4).

[20] Bernard-Henri Lévy: »Lampedusa : Le Naufrage de l’Europe«, in: La Règle du Jeu, 13.10.2013.

[21] Bernard-Henri Lévy: »Schiffbruch der Zivilisation«, in: Süddeutsche Zeitung, 7.12.2021.

[22] Vgl. Emmanuel Levinas: De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1992, S. 231‑258.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Schemper: Schiffbruch der Zivilisation. Überlegungen zu einer Metapher, in: ZfL BLOG, 16.2.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/16/lukas-schemper-schiffbruch-der-zivilisation-ueberlegungen-zu-einer-metapher/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220216-01

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Hannes Bajohr: Ein Anfang mit der Sprache. HANS BLUMENBERGS ERSTE PHILOSOPHISCHE VERÖFFENTLICHUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/08/13/hannes-bajohr-ein-anfang-mit-der-sprache-hans-blumenbergs-erste-philosophische-veroeffentlichung/ Mon, 13 Aug 2018 07:00:56 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=856 Wollte man sagen, mit welchem Text Hans Blumenbergs Laufbahn als Philosoph begann, wäre der ›erste‹ unter ihnen nicht leicht zu bestimmen: Ist es Blumenbergs enthusiastische Rezension von Hannah Arendts Sechs Essays von 1948[1] oder doch eher der Aufsatz »Atommoral« von 1946 über die Hiroshima-Bombe?[2] Dieser blieb allerdings, von den Frankfurter Heften abgelehnt, ebenso unveröffentlicht wie Weiterlesen

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Wollte man sagen, mit welchem Text Hans Blumenbergs Laufbahn als Philosoph begann, wäre der ›erste‹ unter ihnen nicht leicht zu bestimmen: Ist es Blumenbergs enthusiastische Rezension von Hannah Arendts Sechs Essays von 1948[1] oder doch eher der Aufsatz »Atommoral« von 1946 über die Hiroshima-Bombe?[2] Dieser blieb allerdings, von den Frankfurter Heften abgelehnt, ebenso unveröffentlicht wie der Essay »Über Dostojewskis Novelle Die Sanfte« von 1945, den die Wandlung nicht druckte.[3] Und freilich wäre für den jungen Blumenberg, der hier an die Öffentlichkeit drängt, auch vor 1945 ein Anfang zu vermuten: Wenn man einen kürzlich veröffentlichten Jugendaufsatz hinzunimmt, verschiebt er sich gar ins Jahr 1938, als der achtzehnjährige Oberprimaner einen länglichen Text über Hans Carossa verfasste.[4]

Doch es gibt einen besseren Kandidaten für den Anfang. An ein philosophisches Fachpublikum richtete sich Blumenberg zuerst mit »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie«, geschrieben 1946 und veröffentlicht im Jahr darauf in der Hamburger Akademischen Rundschau. Die HAR gehörte zu jenen Publikationen der unmittelbaren Nachkriegszeit, die neben der intellektuellen Selbstverständigung auch als Organ demokratischer Reeducation dienen sollten. Gegründet von Karl Ludwig Schneider, Germanist und ehemals Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose, wurden viele ihrer Redakteure – Walter Jens, Ralf Dahrendorf oder Walter Boehlich – später zu bundesrepublikanischen Größen. Die leichte Linksneigung mag, anders als bei ähnlichen Gründungen, statt eines Pathos des Neuanfangs gedämpftere Töne begünstigt haben: Man werde »keine geistige Erneuerung aus dem Boden stampfen«, heißt es im Editorial.[5]

Das steht ganz in Übereinstimmung mit dem Tenor der Blumenberg’schen Skizze, die selbst von den Schwierigkeiten handelt, einen Anfang zu machen. Der Essay von nur vier Seiten zeugt von Blumenbergs Hadern mit allen Versuchen, die Philosophie von Grund auf neu zu errichten. Erstaunlich daran ist nun, dass Blumenberg dabei nicht als Vertreter der Phänomenologie und Anthropologie auftritt, als der er heute vor allem gelesen wird. Stattdessen erscheint er in diesem Anfangstext als Sprachtheoretiker.

Dieser Ansatz geht direkt aus seiner Kritik am Anspruch der Phänomenologie als »strenger Wissenschaft« hervor.[6] Denn die frühe Hoffnung ihres Gründers Edmund Husserl, durch die Klärung von Begriffen die Grundlagen einer exakten Beschreibungssprache zu schaffen, hält Blumenberg für illusorisch. Husserl verstricke sich in seinem Projekt in ein unauflösliches Problem: Sobald der Weg von einem sprachlichen Ausdruck zum damit gemeinten Phänomen genommen ist, eröffnen sich in dessen Analyse immer feinere Unterphänomene, die es wiederum zu beschreiben und zu benennen gilt. Der Prozess der Beschreibung muss immer wieder ansetzen und kommt an kein Ende. Das desavouiert ihn in Blumenbergs Augen zwar nicht – Beschreibung bleibt ein zentrales Motiv und Instrument in seinem Werk –, macht aber alle Hoffnungen auf eine exakte Sprache zunichte. So sehr es die Philosophie auch versucht, dieses »Verfehlen sprachlicher Objektivität« kann sie nicht abwenden (429).

Die »sprachliche Wirklichkeit der Philosophie«, das bezeichnet also ein Problemverhältnis: Wirklichkeit und Sprache lassen sich laut Blumenberg nicht restlos ineinander überführen. Sprache sei zu schwach, zu vage, zu vieldeutig, um exakt zu beschreiben – sei es die Wirklichkeit der Welt oder die der eigenen Gedanken. Und die historische Entwicklung der Philosophie habe diese Tendenz noch verstärkt. Hätten die Griechen ihre Begriffe »in enger Fühlung gerade an die allgemeinsten Elemente des Sprachgebrauchs« geprägt, so habe die Übersetzung des griechischen Denkens ins Lateinische zu einer Verunklarung geführt, an der die Philosophie seither zu laborieren habe (429).

Historisch und systematisch formuliert Blumenberg hier zum ersten Mal ein Leitmotiv, das in seinen späteren Schriften unter dem Titel der egestas verborum, der »Armut der Sprache« firmiert.[7] Dieser Cicero zugeschriebene Stoßseufzer meint bei Blumenberg mehr als die Übersetzungsverlegenheit, vielmehr ist die Armut der Sprache Zeichen einer viel grundsätzlicheren Schwierigkeit: Man kann nicht so viel sagen, wie man denken kann.

Wie folgenreich diese frühe Grundannahme ist, zeigt sich bereits bei der für Blumenberg so wichtigen Frage der Metapher: Weil Sprache nicht exakt beschreibt und das Ideal des reinen Begriffs unerreichbar sei, müsse man gerade den sprachlichen Bildern und Metaphern Aufmerksamkeit schenken, mit denen die Philosophie unbewusst diese Schwäche zu kompensieren suche. Die egestas verborum liegt so unausgesprochen Blumenbergs Metaphorologie zugrunde. Und sie führt, positiv gewendet, überraschenderweise auch zum Komplex der Säkularisierung, dem anderen großen Thema des mittleren Blumenberg. In der Legitimität der Neuzeit zieht er gegen die Annahme zu Felde, bestimmte moderne Phänomene seien bloße »Verweltlichungen« ehemals religiöser Sachverhalte – die Fortschrittsannahme der Wissenschaft nur eine säkularisierte Eschatologie (Löwith), die kapitalistische Ethik nur ein säkularisierter Calvinismus (Weber), die staatliche Souveränität nur eine säkularisierte Gottesallmacht (Schmitt). All das erscheine wie eine direkte Kontinuität der Sache, sei aber nur eine der Worte: »Die Konstanz der Sprache indiziert Konstanz der Bewußtseinsfunktion, aber nicht die Identität des Inhalts.«

Das historische Argument der Legitimität der Neuzeit basiert auf der sprachtheoretischen Annahme der egestas verborum, erkennt aber in dieser Armut einen Anreiz für kreative Umdeutung und so, mittelbar, wieder einen Reichtum, der gerade in der Geschichte immer wieder hervorbricht:

»Daß mehr ausgesprochen wird als im Denken vollzogen werden kann, ist der logisch-ärgerliche Sachverhalt, mit dem wir als einem geschichtsbildenden Faktor ersten Ranges zu rechnen haben. So werden emotionale Intensitäten geschaffen«.

Was die eine Epoche bewegt mag etwas ganz anderes sein als was eine frühere umtrieb, doch die Inkongruenz von Denken und Sprache führt dazu, dass sie »zwar nicht den Inhalt, aber die Dringlichkeit ihres Anspruchs in eben derselben Sprache formuliert, in der dieser Anspruch bis dahin am bewegendsten und nachhaltigsten dargestellt worden ist.«[8]

Erlaubt das Thema der egestas verborum, bereits in »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie« Linien zu erkennen, die sich konsequent durch das spätere Werk ziehen, gibt es andere Aspekte dieses Textes, die Blumenberg bald wieder fallen lässt. Einer davon ist das Gegensatzpaar dialogisch/monologisch, mit dem Blumenberg die Möglichkeiten der Sprache beschreibt. Der Philosophie müsse es darum gehen, dialogisch zu verfahren: »Hinüberzeugen des Gedankens, Objektivierung zu Gemeinsamkeit und Mitvollzug des Denkens« bezeichnen, der Wortarmut zum Trotz und jenseits aller Exaktheitsideale, Anspruch und Möglichkeit philosophischer Sprache. Dagegen entziehe sich eine monologische Philosophie, die weniger Wert auf das Verstandenwerden als auf das Beschreiben allzu tiefer und unartikulierbarer Einsichten lege, »dem Bereich der Wissenschaftlichkeit schon im Formalen« (428). Ohne Frage hat Blumenberg hier vor allem Martin Heidegger im Sinn, über dessen »monologischen« Stil er sich wiederholt auslässt, ihm geradezu Mystik vorwirft.

Die sprachliche Anerkennung des Anderen – in dieser Idee der Dialogizität ist eine Minimaltheorie von Intersubjektivität angelegt, die eine Alternative zum Programm der Phänomenologie formuliert. Sprache soll hier nicht exakt sein und einen Anfang von Grund auf ermöglichen, der ohnehin nicht zu haben ist. Vielmehr geht es darum, den Anderen im selben sprachlichen Horizont anzuerkennen und mit den Mitteln einer schwachen Sprache auf ein gemeinsames Verständnis hinzuarbeiten. Weicht das auch vom Husserl’schen Programm ab, ist es dennoch kein anthropologischer Zugriff. Einen solchen wird Blumenberg erst in den Siebzigerjahren formulieren. Dann nämlich ist es die Sichtbarkeit des Leibes, die das Verhältnis von Ich und Anderen erklärt; der Sprache kommt nur noch eine untergeordnete Rolle zu, sie wird zu einem Instrument unter anderen, um dem Mängelwesen Mensch Distanz zur Wirklichkeit zu verschaffen. Es mag symptomatisch für die Kontingenz aller Anfänge sein, dass in der ersten philosophischen Veröffentlichung Optionen lagen, die Blumenberg sich nicht weiterzuverfolgen entschied.

Daneben aber legt »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie« vielfältige Keime späterer Ideen. Und diese lassen sich besser über das Projekt einer eigenen Blumenberg’schen Sprachphilosophie nachvollziehen als mit Rekurs auf große Erklärungsmuster wie Phänomenologie oder Anthropologie. In ihr ist Sprache einerseits widerständig und schwach, darin aber gleichzeitig stets zu Produktivität und historischen Spontanzeugungen prädisponiert. Ausgeschlossen jedoch bleibt die apriorische Konstruktion von Systemen, die erschöpfend exakte Schilderung der Wirklichkeit, kurz: der absolute Neuanfang.

[1] Hans Blumenberg, »Das Symbol des Paria. Das Problem der mörderischen Familienväter«, in: ders. Rigorismus der Wahrheit, hg. v. Ahlrich Meyer, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 73‑75.

[2] Ders., »Atommoral«, in: ders., Schriften zur Technik, hg. v. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 7-16.

[3] Ders., »Über Dostojewskis Novelle Die Sanfte«, in: ders., Schriften zur Literatur 1945‑1953, hg. v. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 9‑20.

[4] Hans Blumenberg, »Hans Carossa«, in: ders., Schriften zur Literatur, S. 289‑354.

[5] »Zum Geleit«, in: Hamburger Akademische Rundschau 1 (1946/47) 1, S. 3 (Nachdruck 1991, Berlin: Reimer).

[6] Edmund Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: Logos 1 (1910/11), S. 289‑341.

[7] Etwa in Hans Blumenberg, »Sprachsituation und immanente Rhetorik«, in: Ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 120‑135.

[8] Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, 57‑58.

 

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr arbeitet am ZfL im Forschungsprojekt Negative Anthropologie. Geschichte und Potential einer Diskursfigur

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hannes Bajohr: Ein Anfang mit der Sprache. Hans Blumenbergs erste philosophische Veröffentlichung, in: ZfL BLOG, 13.8.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/08/13/hannes-bajohr-ein-anfang-mit-der-sprache-hans-blumenbergs-erste-philosophische-veroeffentlichung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180813-01

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