Nachbarschaft Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/nachbarschaft/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 21 Jun 2024 07:35:08 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Nachbarschaft Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/nachbarschaft/ 32 32 Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/ Thu, 20 Jun 2024 12:27:33 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3312 Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug Weiterlesen

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Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein ›Freilichtmuseum‹ der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen.

Die These, dass die kulturelle Moderne im damals noch sehr viel beschaulicheren Wilmersdorf begann, die steht also schon mal. Aber die Dokumentenlage – und auf die kommt es ihm immer und bei allem an – die ist leider, aber zum Glück für Detlev Schöttker, sehr dürftig. – Noch! Jetzt muss akribisch und mit viel Geschick rekonstruiert werden, wo der Lebensmittelladen stand, in dem Brecht und Simmel zusammengetroffen sein könnten, wer die Besitzer, die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser waren, die oft schon lange nicht mehr stehen. Alte Stadt- und Baupläne müssen gefunden, studiert und mit der jüngeren Stadtentwicklung abgeglichen werden, Postkarten mit unserem Vor-Vorgängerbau sind ausfindig zu machen und zu ersteigern. Es sind aber auch Kontakte zu knüpfen, Netzwerke müssen ausgebildet werden, Projekte geschmiedet, Kooperationen in die Wege geleitet und Ausstellungen geplant werden. Man kann davon ausgehen, dass Detlev Schöttker, der die Gegend seit letztem Jahr systematisch zu Fuß erkundet hat, in der näheren und ferneren Nachbarschaft längst bestens bekannt ist. Pünktlich zum 70. Geburtstag ist der Spurensucher einmal mehr in seinem Element. Wie es sich für einen Detektiv gehört, gibt er sein inzwischen akkumuliertes Wissen strategisch dosiert preis, wittert manchmal Konkurrenten und leidet unter Ignoranten. Er wird schon einmal etwas ungeduldig, wenn jemand versucht, seinen Elan zu bremsen. Er ist nämlich nicht nur ein so skrupulöser wie findiger Forscher, sondern er kann auch ziemlich laut poltern. Als ich ihm aber den neuen Status als Senior Fellow so behutsam wie möglich antrug, grummelte er etwas in sich hinein und war’s zufrieden. – Das ist, muss man schon sagen, eine eher seltene Reaktion.

Das Es-gut-sein-Lassen liegt Detlev Schöttker nämlich eigentlich nicht. Bis heute hat er es mit Walter Benjamin keinesfalls gut sein lassen. 1999 erschien im Suhrkamp Verlag Konstruktiver Fragmentarismus, dessen Untertitel Form und Rezeption erkennen ließ, wie die Deutung der fragmentarischen Form von Benjamins Schreiben in seiner Rezeptionsgeschichte fortwirkt: »So vollendet die Nachwelt, was Benjamin begonnen hatte.« 2006 erschien im gleichen Verlag die unschätzbare Studie über das Verhältnis von Arendt und Benjamin, die die Dokumente im Streit zwischen Scholem, Adorno und Arendt um Benjamins Nachlass erstmalig und mustergültig aufbereitete. 2007 folgte der ebenso wertvolle Kommentar zum vielleicht meistgelesenen Text Benjamins, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2015 in der vierten Auflage). Durchgängig zeichnen sich alle Publikationen und Herausgaben Detlev Schöttkers durch den Vortritt aus, den sie dem Material und den Dokumenten einräumen. Bestimmte und immer wichtige Texte in mühevoller Kleinarbeit mit so viel Sinn für das Detail wie übergreifende Relevanz erst einmal aus den Archiven geklaubt und, perfekt kommentiert, der Nachwelt zur Verfügung gestellt zu haben, gehört zu Detlev Schöttkers größten Verdiensten.

Unter den Dokumenten und Materialien spielen Briefe für ihn schon lange eine besondere Rolle, über die er wiederholt nachgedacht hat, etwa in dem Band Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung (2008). Als Dokumente verstanden, werden Briefe zu einer entscheidenden Schnittstelle zwischen der Person in der Zeitgeschichte, ihrem weiteren Umfeld und der Nachwelt. Aber zum dokumentarischen Charakter der Briefe gehören auch die Briefmarken und zu ihnen wiederum die Stempel. Und beides hat nicht nur ihn, sondern auch Walter Benjamin brennend beschäftigt, wie ein Beitrag in dem von ihm und Dirk Naguschewski gemeinsam herausgegebenen Band Philatelie als Kulturwissenschaft (2019) belegt.

Mit dem erst in jüngerer Zeit hinzugekommenen, manche unter den eingefleischten Benjamin-Expert*innen irritierenden, aber leidenschaftlich und ertragreich verfolgten Interesse an Ernst Jüngers gigantischem Briefkosmos hat sich Detlev Schöttkers Spürsinn neue Jagdgründe erobert und gesichert, die vielleicht nicht ewig, aber doch sehr lange vorhalten werden. Der unter dem Titel Einer der Spiegel des Anderen gemeinsam mit Anja Keith edierte und vielbesprochene Briefwechsel zwischen Gretha und Ernst erschien 2021. Derzeit arbeitet Detlev Schöttker mit Katja Schicht an der Edition des Briefwechsels der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Und das ist erst der Anfang.

Wer Dokumenten auf der Spur ist, kann sich an das Kleinformat einer Briefmarke mit oder ohne Stempel verlieren, aber es zeichnet Detlev Schöttker aus, dass er darüber die Monumente nicht vergisst, die Stein und Bau, Platz und Haus gewordene Geschichte. Ein 2010 im Merkur unter dem Titel Der Beobachter des Parterres erschienener Text über Architektur bei Kafka bildet den Auftakt seiner anhaltenden Auseinandersetzung mit Architektur und Stadtgeschichte. Bei DOM publishers erschien 2019 unter dem Titel Ästhetik der Einfachheit die Geschichte eines Bauhausprogramms, die mit Aristoteles beginnt und in der Spätmoderne endet. Detlev Schöttkers Moderne begann früh und ist noch nicht vorbei. Beim selben Verlag war bereits 2017 unter dem Titel Über Städte und Architekturen eine Anthologie mit Texten von Walter Benjamin erschienen. 2021 schließlich hat Detlev Schöttker mit Kollegen einen Band zu Architekturtexten der Wiener Moderne herausgegeben, darunter Bekanntes, aber auch sehr viel vordem Unbekanntes.

Die mit Architektur befassten Bücher und Editionen sind übrigens ausnehmend schön gemacht. Und zu Detlev Schöttkers Auseinandersetzung mit der Moderne gehört sein eigener an ihr und mit ihr entwickelter Sinn für das Ästhetische. Dieser Sinn lässt nichts aus und ist unbeirrbar. Jüngst waren für unser neues Domizil Möbel für die Lounge auszuwählen. Das uns dabei beratende Team eines Möbelausstatters (Tipp von Detlev Schöttker) hatte seine liebe Not mit uns. Es waren harte Kämpfe ums Ganze. Denn so geht es einem mit Detlev Schöttker: Immer steht mit jedem Detail alles auf dem Spiel. Das kann anstrengend sein, aber wir möchten ihn und seine Moderne nicht missen und zählen weiterhin auf beide.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: Detlev Schöttker zum 70. Geburtstag, in: ZfL Blog, 20.6.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240620-01

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Elke Schmitter: LET’S CALL IT NACHBARSCHAFT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/08/elke-schmitter-lets-call-it-nachbarschaft/ Thu, 08 Feb 2024 10:30:05 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3200 Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Weiterlesen

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Neujahrsempfang, Eberhard-Lämmert-Saal, Begrüßung durch Eva Geulen, Vorstandsvorsitzende der GWZ

Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Forschungsbibliotheken von ZfL und ZAS sowie der Eberhard-Lämmert-Saal. Während des Neujahrsempfangs, mit dem sich ZfL, ZAS und die GWZ am 11. Januar 2024 der unmittelbaren Nachbarschaft vorstellten, entstand die Idee zu dieser Glosse.

Die Redaktion

Der Zettel war klein, das Fenster war groß, dahinter der Bücher viele: So ein freundliches Rätsel am Rande der lauten Straße. Immer gerät man, war’s eben noch schön, an so eine Brache in dieser Stadt, die dem Fußgänger sagt: Hier bist du nicht bedacht. Hier waltet die Schneise, die dich vom anderen Ufer über sechs bis acht Spuren trennt, hier hat ein komatöser Nachkriegspolitiker mal auf den Planungstisch gehauen und einen Platz ausgerufen (der aus einer Kreuzung und einer Unbehaustheit besteht), und immer sind die Ampeln so geschaltet, dass die Kleinen und die Gebrechlichen auf dem Mittelstreifen noch mal daran erinnert werden, dass sie zu klein und zu gebrechlich sind für die Geschäftigen, die Motorisierten, die Durch- und Draufgänger des Verkehrs, die hier nichts suchen und erst recht nichts finden.

Neujahrsempfang, Blick von außen durch das Fenster in den Eberhard-Lämmert-Saal

Doch dann findet so ein Zettel dich und sagt: Wir ziehen hierher und freuen uns schon. Sind, leider schade, kein öffentlicher Ort, aber sprechen doch eine Art Willkommen aus; keine Aufenthaltsgarantie, doch eine Geste, die sagt: Es ist uns nicht egal, wo wir sind, und wir würden auch gerne bleiben.

Und drei Tage später klopfte ich an die Scheibe und ließ mir artig erklären, was für eine Bibliothek das ist (ohne schnippischen Verweis auf die Website, wo ja alles Nötige steht), und noch am Abend schrieb ich eine Mail, ob ich möglicherweise – als Autorin ohne wissenschaftlichen Auftrag – hin und wieder kommen könnte, um ein bisschen zu suchen, zu finden, zu lesen, für einen Roman mit Fußnoten, der gerade entsteht … Und bekam eine freundliche Antwort. Und wiederum zwei Tage später, im tristen Novembergrau, akkreditierte ich mich, ganz offiziell und zugleich angenehm formarm, und mein Blick schnürte einmal die kleinen und großen Gänge entlang, und ich dachte: Hier ist gut sein.

Und schon am übernächsten Tage war es so weit, ein kleiner, urbaner Schicksalsschlag: das Schlüsselmäppchen aus der Tasche gerutscht, darin frisches Geld, die EC-Karte; was einen so zur Bürgerin macht. Und wenn man zu denen gehört, die auf Handtaschen gern verzichten, auf Rucksäcke sowieso, und gern so durch die Straßen flanieren, als wären sie da zu Hause – dann ist das eben der triviale worst case. Dann läuft man noch ein bisschen die Wege ab, und bevor einem klar wird, dass man, natürlich, im Café Manzini oder im Café Piter auf das gewohnte Gesicht Kredit bekäme, um die Zeit zu überbrücken, bis die Mitbewohnerin kommt (und dem Novemberregen so zu entgehen): ist man schon so weit demoralisiert, dass man sich nicht mehr kreditwürdig fühlt.

Aaaber: Da gibt es ja diesen Ort … Und da durfte ich ja auch offiziell hin.

Und da war ich dann auch willkommen.

Legte den schnell dampfenden Mantel ab, ging ein paar Schritte hin und her, vor den Gängen und zwischen den Gängen, nahm die Ruhe auf, die aus den Gesichtern sprach und von den Buchrücken geradezu übersprang. Geriet durch glückliche Fügung in gerade jene Regalreihe, in der das Archiv für Begriffsgeschichte in allen Jahrgängen still und doch selbstbewusst prangt, und damit in aufs Angenehmste nerdig-konzentrierte Aufsätze des Bandes Trost (65,1; hrsg. von Carsten Dutt, Hubertus Busche und Michael Erler), in dem durch die Autoren Gerhard Schreiber und Martin Laube die Erwägungen von Kierkegaard und Blumenberg, von Rodin wie Koselleck miteinander zum Sprechen kamen. Interessant für mich als Ungläubige: Dass Kierkegaard den Trost des Christentums eben nicht als Wohltat versteht, die man spendet (für beispielsweise eine wie mich), dass er eben kein Ersatz sei »für den Verlust zeitlicher Freude, sondern selbst Freude ist, und zwar die der Ewigkeit«. Eine ultimative Hoffnung, für die es keine Begründung gibt, nur einen Entschluss, eine Art performative Selbstschleuderung ins Transzendente. Und dann, überraschend zornig oder auch bitter, vielleicht Adorno-geschult, ein Zitat des Theologen Henning Luther (sic!) von 1998: 

»Trost wird da zur Lüge, wo Sinn suggeriert wird und jeder Anflug eines Verdachts der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit unserer Lebensverhältnisse tabuisiert und verdrängt wird.«

Neujahrsempfang, Keynote Lecture Michael Mönninger, »Der Neubau ACHTUNDEINS und seine Nachbarschaft«

All das interessant für den Kopf, während der Körper, auch als atmosphärisches Wesen gedacht, den tatsächlichen Trost des Obdachs genoss, das ich hier gefunden hatte. Und der mich natürlich bindet, weshalb ich ein glücklicher Gast dieses Hauses zu nennen bin. Erst recht nach der splendiden nachbarschaftlichen Öffnung und Feier am 11. Januar 24, bei der Michael Mönninger historisch-kritischen Aufschluss gab über den Kontext dieser neuen Immobilie, ihre berlintypische Verwobenheit in architektonische wie menschliche Bill wie Unbill; Fuge, Fügung, alles dabei. Als würde die Stadt, dürstend nach Schönheit und städtebaulichem Verstand, abwechselnd aus Lethe und Mnemosyne trinken. Im Unterschied zu den Eröffnungspartygästen, die ganz anderes zu sich nahmen. Aber mit garantiertem Mnemosyne-Effekt!

Elke Schmitter ist Journalistin und Schriftstellerin und wohnt in der Nachbarschaft des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Elke Schmitter: Let’s Call It Nachbarschaft, in: ZfL Blog, 8.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240208-01

 

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Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? STIL UND SOCIAL MEDIA IN DER GEGENWARTSLITERATUR https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/18/pola-gross-hanna-hamel-neue-nachbarschaften-stil-und-social-media-in-der-gegenwartsliteratur/ Wed, 18 Mar 2020 12:51:48 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1388 »Manchmal entstehen große Textteile auf Twitter. Ich kommentiere dort, woran ich gerade arbeite, und probiere aus«, beschreibt Buchpreis-Gewinner Saša Stanišić in einem Interview seinen Umgang mit Twitter, »aber ich würde nie versuchen, Twitter in meinen Texten zu imitieren.«[1] Der Autor weist auf eine intrikate Verbindung von Social Media mit dem Prozess des literarischen Schreibens hin. Weiterlesen

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»Manchmal entstehen große Textteile auf Twitter. Ich kommentiere dort, woran ich gerade arbeite, und probiere aus«, beschreibt Buchpreis-Gewinner Saša Stanišić in einem Interview seinen Umgang mit Twitter, »aber ich würde nie versuchen, Twitter in meinen Texten zu imitieren.«[1] Der Autor weist auf eine intrikate Verbindung von Social Media mit dem Prozess des literarischen Schreibens hin. Denn wenn, wie Stanišić angibt, »große Textteile« auf Twitter entstehen, haben soziale Medien von Beginn an einen wesentlichen Anteil an der Textproduktion – unabhängig davon, ob der spätere Roman Tweets mimetisch abbildet oder nicht. Das Phänomen der so genannten »Twitteratur« ist zwar bereits seit einiger Zeit bekannt, vielleicht sogar schon wieder überholt.[2] Was allerdings geblieben ist, das ist Twitter als Notizbuch, als Bühne für die literarische Selbstinszenierung und als Ort der sozialen – und möglicherweise auch stilistischen – Kontrolle.

Bei einer ganzen Generation jüngerer Autor*innen lässt sich ein ähnlicher Umgang mit Facebook, Twitter, Instagram oder Blogs beobachten. Neu ist im Zusammenhang dieser Literaturproduktion die Rolle der mehr oder weniger anonymen Öffentlichkeit. Nicht nur die Autorenkolleg*innen, auch die Leser*innen können ihren Lieblingsschriftsteller*innen quasi schon während des Schreibprozesses auf die Finger schauen. Es steht ihnen frei, durch Likes, Kommentare und Retweets jedes einzelnen literarischen Postings dessen Erfolg mitzusteuern. Auch wenn es den Anschein hat, dass dadurch traditionelle Gatekeeper wie Verlage, Feuilleton und Literaturhäuser für den Veröffentlichungsprozess an Bedeutung verlieren, bringt die Internetöffentlichkeit doch auch Nachteile mit sich. Die Erstlektüre erfolgt dann nicht mehr im intimen Austausch von Autor*in und Lektor*in, sondern in aller Öffentlichkeit von potentiellen Fans und/oder Hass-Poster*innen. Es lässt sich also eine neue Nahbeziehung zwischen Leser*innen und Autor*innen beobachten, die sich im virtuellen Raum des Web 2.0 entwickelt – mit Auswirkungen auf die klassischen Publikationsorte von Literatur.

Der wohl bekannteste Fall einer im Netz aktiven Autorin, deren Facebook-Posts nachträglich in Buchform veröffentlicht wurden, ist Stefanie Sargnagel: »19.2.2016 Das wird nichts mit dem Bachmanntext heuer«, kann man in der leinengebundenen Rowohlt-Ausgabe ihrer Statusmeldungen nachlesen, und vier Posts später: »19.2.2016 Die Schreibschulenstreber haben ihre Texte sicher alle schon vor einem Monat abgeschickt.«[3] Es fiele schwer, hier auf den ersten Blick auszumachen, welche Anteile Medienschelte, Kritik am Literaturbetrieb, Selbstinszenierung oder bloße Befindlichkeitsäußerungen an den Posts haben. In weiteren Einträgen des gleichen Tages ist die Selbstironie allerdings kaum zu überhören: »19.2.2016 Schreiben ist eigentlich voll lustig, sollte ich öfter machen.« Ebenso in der netzneurotischen Frage: »Kann man an zu vielen E-Mails sterben?« Selbstinszenierung und Medienreflexion gehen hier ebenso Hand in Hand wie Selbstbeobachtung und kommunikative Kollektivpraxis – bei den Leser*innen hat sie damit Erfolg, im Netz wie auch in klassischen Formaten des Literaturbetriebs: Beim besagten Bachmannpreis 2016 gewann Stefanie Sargnagel den Publikumspreis.

Zur Beschreibung der Spannungen zwischen individueller Autorschaft und kollektiver Praxis, zwischen Selbstinszenierung und Selbstironie liegt es nahe, sich auf eine klassische Kategorie der Literaturbetrachtung zu besinnen: auf die des Stils. Denn die Stilfrage war stets verbunden mit der Spannung von Individual- und Kollektivstil, von Originalität und Regel, von Norm und Abweichung, von Authentizität und Inszenierung. Seit der Stilbegriff sich von der Rhetorik emanzipiert hat, ist sein Anwendungsbereich nicht mehr allein auf sprachliche Äußerungen oder künstlerische Artefakte beschränkt, sondern wird spätestens seit 1900 auch auf Handlungen und damit auf nahezu alle Lebensbereiche übertragen. Unter dem Gesichtspunkt des Stils lässt sich deshalb nicht nur die Frage nach möglichen kollektiven »Denkstilen« (Ludwik Fleck) stellen. Stilanalysen könnten auch dabei helfen, den Einfluss von kollektiven Wahrnehmungs- und Handlungsweisen der Social-Media-Kommunikation und deren charakteristischen Schreibweisen in der Literatur zu entdecken: Finden etwa gängige Anglizismen wie »nice« und auffällige Abbreviaturen wie »Was ist das für 1 Life« oder unidiomatische Übersetzungen wie »gönn dir« Eingang in die publizierten Texte? Und wie verhält sich die Literatur zu Eigenheiten der Social-Media-Kommunikation wie der Selbstkommentierung des Textes oder der mitunter vollständigen Ersetzung von Schrift durch Emojis oder Bilder? Zu fragen ist auch nach dem Verhältnis, in dem netzaffine Schreibweisen, die häufig auf Interpunktion gänzlich verzichten sowie umgangssprachliche Wendungen mit standardsprachlichen kombinieren, zu formal hochgradig durchkomponierten Textteilen stehen – wie etwa im Fall von Enis Macis 2018 uraufgeführtem Theaterstück Mitwisser, das von der Presse als »das erste wirkliche Internetdrama« gefeiert wurde. Es finde eine Sprache, in der die »Veränderungen der Wahrnehmung durch das Digitalzeitalter nicht nur wie üblich konstatiert werden, sondern in der sie sich stilistisch wirklich niederschlagen«.[4] Gendersensible Neuinterpretationen der griechischen Mythologie wie »nur wenige glauben an diejenige variation des mythos die also besagt / klytaimnestra habe agamemnon nicht getötet als wütende mutter / sie habe ihn getötet als frau« werden hier mit modernen Liebesgeschichten in Zeiten von »emojis« und »heimliche[n] selfie[s]« kombiniert. Ebenso treffen klassische, chorische Elemente auf umgangssprachliche und von der Interpunktion befreite Redensarten wie »und bei dir muss ne ja muss«.[5]

Wenn man sich allerdings an die Frage eines möglicherweise spezifischen Schreibstils der sozialen Medien und seiner Auswirkungen auf Literatur heranwagt, sollte man nicht nur das ›Endprodukt‹, also den fertigen (Buch-)Text untersuchen, sondern vor allem auch die Bedingungen seiner Hervorbringung. Denn für das Entstehen eines neuen Stils der sozialen Medien spielt die Funktion des Kollektivs eine zentrale Rolle. In Analogie zur soziologischen Beschreibung aktueller urbaner Entwicklungen lassen sich die Beziehungen im Social-Media-Kollektiv als eine Form neuer Nachbarschaft beschreiben: Über die beschleunigte und intensivierte Interaktion in sozialen Netzwerken entstehen neue Geflechte und (virtuelle) Orte, an denen sich dieselben Personengruppen wiedertreffen, lesen und rezensieren – auch wenn sie in völlig unterschiedlichen Stadt- oder Weltteilen leben. Entsprechend können selbstverstärkende und selbstreferentielle Effekte durch Social Media auch für die Literaturproduktion und -rezeption untersucht werden: Markieren Retweets, angeheftete Posts und Hashtags neue Interessen- oder ›Stilgemeinschaften‹[6], die eigene Formen, aber auch Regeln und Zwänge ausbilden?

Nun sind kollektive Produktions- und damit Kontrollmechanismen aus der Literaturproduktion der letzten Jahrzehnte durchaus bekannt – etwa aus den von Stefanie Sargnagel spöttisch erwähnten »Schreibschulen«, d.h. den Studiengängen Literarisches bzw. Szenisches Schreiben an den Hochschulen Leipzig, Hildesheim und Berlin oder Sprachkunst in Wien. Aber geht es in den sozialen Medien so viel freier zu? Welche Kontroll- und Sanktionsmechanismen greifen hier und welchen Gestaltungsspielraum haben die Individuen, sich und ihre Texte nach eigenem Ermessen zu präsentieren?

Die Praxis der sozialen Medien birgt nicht zuletzt das Risiko, Selbstreferentialität und Vorurteile zu verstärken. Das hat nicht nur Konsequenzen für den Schreibstil, sondern auch für den Umgangston. Darauf hat vor kurzem der Autor Thomas Melle in der FAZ aufmerksam gemacht:

»Twitter, das den Puls der Meinungsmache vorgibt, richtet die Inhalte einfach auf diese Weise zu, formatiert sie in toxische Fetzen und süffisante Häppchen. Analogien und Pointen ersetzen Argumente und schaffen mit zunehmender Unschärfe eine Atmosphäre der Intellektuellenfeindlichkeit. Durch Blockierfunktion und ewige Verlinkung ergibt sich immer wieder und fast wie von selbst ein abgezirkelter Konsens, der einen fatalen Hang zum Ausschluss, zur Identität und zur Aburteilung hat. Beleg, Beleg, Witz, Socke, Beleg, Urteil.«

Damit kritisiert er einen Twitter-Stil der Demontage, der nicht mehr den Gegenstand selbst – nämlich die Literatur – in den Vordergrund stellt, sondern vor allem auf Selbstprofilierung und Abgrenzung setzt.

Der Einfluss von Social Media auf den Literaturbetrieb ist damit zumindest ambivalent. Allerdings reflektieren das die aktiv postenden Autor*innen von Beginn an mit, häufig mit Gesten ironischer Selbstüberschätzung, etwa wenn Stefanie Sargnagel fragt: »Bin ich schuld am postfaktischen Zeitalter?«[7] Im Kontext von Social-Media-Literatur lassen sich so zwei gegenläufige Tendenzen erkennen, die die Funktion und Stellung von Autorschaft betreffen. Deutlich wird zunächst, dass die Person des Schriftstellers und der Schriftstellerin erneut im Fokus steht. Denn kaum eine Autorin, kaum ein Autor kommt heute umhin, soziale Medien in irgendeiner Form zu bespielen oder sich zu ihnen zu verhalten. So wird Autor*innen immer stärkere Selbst- und Informationskontrolle abverlangt; gerade auch, weil sie potentiellen Angriffen im Netz häufiger ausgesetzt sind. Andererseits verliert die Person des Autors, der Autorin aber auch an Bedeutung, weil die sozialen Medien kollaborative Schreibpraktiken begünstigen. Kommentare und die direkte Einflussnahme der Leser*innen könnten bereits als Ko-Autorschaft gedeutet werden – ein Umstand, der von Autor*innen gerne ausgeblendet wird, wenn sie mit der Publikation ihrer Literatur auf den Buchmarkt zurückkehren oder dort reüssieren wollen. Zur Frage der Autorschaft im Netz gehört deshalb wesentlich auch die Frage nach der Funktion der Rezipient*innen, die über Bewerten und Teilen der Posts oder Tweets den Erfolg – und den Stil – der Schriftsteller*innen mitsteuern.[8]

 

Die Literaturwissenschaftlerinnen Pola Groß und Hanna Hamel werden diese und weitere Fragen am 19. und 20. November 2020 gemeinsam mit Autor*innen und Wissenschaftler*innen auf der von ihnen organisierten Veranstaltung zum Thema »Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur« im Literaturforum im Brecht-Haus und im ZfL diskutieren.

 

 

[1] »Saša Stanišić über Erinnerungen. Gespräch mit Karin Janker«, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16.6.2019, S. 56.

[2] Vgl. Elias Kreuzmair: »Was war Twitteratur?«, in: Merkur-Blog, 4.2.2016.

[3] Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen. Mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Reinbek 2017, S. 132–133.

[4] Christine Wahl: »Dramatische Analysen«, in: Republik, 5.4.2019.

[5] Enis Maci: Mitwisser, Berlin 2018, S. 37, 62, 27.

[6] Nach Jochen Venus entstehen Stilgemeinschaften in der zeitgenössischen Kulturproduktion folgendermaßen: »Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert sich an diesem Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels.« Ihre Mitglieder finden sich nicht über soziale Rollen zusammen, sondern primär über ihren Status als ›Fans‹, »die vor allem ihre stilistische Vorliebe, darüber hinaus aber nichts Bestimmtes teilen«; vgl. Jochen Venus: »Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie«, in: Marcus S. Kleiner/Tobias Wilke (Hg.): Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden 2013, S. 49–74, hier S. 67, 69.  

[7] Sargnagel: Statusmeldungen, S. 255.

[8] In der aktuellen Situation entfalten sich neue Formen von Nachbarschaft in den Social Media, etwa in Aufrufen zum Zuhausebleiben, digitalen Verabredungen oder Hilfsangeboten und übernehmen dabei wichtige soziale Funktionen. Auch die Auswirkungen auf die Literaturproduktion und den Literaturbetrieb sind in diesem Zusammenhang deutlich zu beobachten, wenn zum Beispiel das Literaturhaus Graz zu einem Corona-Tagebuchprojekt aufruft, an dem eine Reihe von Autorinnen und Autoren beteiligt sind oder Lesungen als Livestreams im Netz stattfinden.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur, in: ZfL BLOG, 18.3.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/18/pola-gross-hanna-hamel-neue-nachbarschaften-stil-und-social-media-in-der-gegenwartsliteratur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200318-01

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Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/ Fri, 06 Mar 2020 08:54:56 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1362 Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen Weiterlesen

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Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen mit den Veränderungen unserer städtischen Umgebung. Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts (2018), ein Buch der Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner, widmet sich auf originelle Weise speziell der Berliner Stadtlandschaft: »Gegenüber der Formgeschichte und dem Interesse an Strukturmerkmalen«, so Wagner über ihren Ansatz, »stehen vielmehr Beobachtungen alltäglicher Symptome im öffentlichen Raum der Stadt zur Debatte« (S. 11).

Komplementär dazu lässt sich das Buch des Architekten und Städtebauhistorikers Vittorio Magnago Lampugnani lesen, Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum (2019). Am Beispiel von – wie er es nennt – »Mikroarchitekturen« (etwa der Telefonzelle), »Objekten« (darunter der Abfallkorb und das Straßenschild) und »Elementen« (z. B. Schaufenstern) schärft er das Bewusstsein für die Vielfältigkeit unserer urbanen Umwelt. Sein Buch ist als ein Glossar angelegt, dessen Geschichten hinter den »kleinen Dingen« einander ähneln: Aus einer praktischen Notwendigkeit, die sich aus einer veränderten sozialen oder technologischen Situation ergibt (Industrialisierung, Aufschwung von Handel und Kommerz, Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel), entsteht etwas Neues, dessen Verbreitung in der Stadt – in der Regel – von den Kommunen finanziell zu stemmen ist:

»Jedes kleine Objekt des Stadtraums ist ein Ort, wo konkrete Bedürfnisse zu einer materialisierten Form finden.« (S. 11)

Während Wagner sich ganz auf Berlin konzentriert, beginnt Lampugnani viele seiner lehrreichen Einträge mit einer Rückschau auf die urbanen Zentren der Antike, um dann die Geschichten seiner Gegenstände durch Ausflüge in die europäischen Metropolen zu verfolgen – bevorzugt London, Paris oder eben auch Berlin. Architektur, Ästhetik und Kritik lassen sich bei dieser Form der Stadterkundung nicht trennen, denn »[d]ie kleinen Dinge im Stadtraum sind […] funktional, technisch und ökonomisch bestimmt und haben dabei oft einen hohen gestalterischen Anspruch« (S. 8). Da Lampugnani diesen Anspruch aber mehr und mehr schwinden sieht, verschafft sich in nicht wenigen seiner Einträge am Ende die mahnende Stimme des Kulturkritikers Gehör. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht das Fazit seiner Ausführungen zum Kiosk:

»Heute, da es kaum mehr Stadtarchitekten gibt, weil diese Position in der Verwaltung faktisch abgeschafft wird, um der Politik mehr Spielraum zu gewähren, werden Gestaltung und Unterhalt der modernen Kioske privaten Firmen überlassen. Sie achten Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und eine gewisse modische Eleganz; Verantwortung für die Stadt und ihre Identität übernehmen sie nicht.« (S. 23)

So mancher Neuerung steht er deshalb skeptisch gegenüber. Kritik erntet beispielsweise die »Gedankenlosigkeit, mit der heute Bänke im städtischen Raum aufgestellt werden«, was aus seiner Sicht zur Verbreitung von »urbanem Kitsch« (S. 80) beitrage. Bei jeglicher Stadtmöblierung, da ist Lampugnani zuzustimmen, geht es eben nicht nur um Funktionalität und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch um ästhetische Fragen, die Auswirkungen auf die spezifische Kultur und Identität konkreter soziale Räume haben. Jedes dieser Dinge, etwa die Straßenlaterne, trägt »städtebauliche Verantwortung« (S. 89). Die Identität einer Stadt wird demnach von langlebigen Objekten (dem Brunnen, dem Straßenschild) ebenso geprägt wie von vergleichsweise kurzlebigen; man denke nur an die grellorangen Straßenmülleimer der Berliner Stadtreinigung mit ihren witzigen Sprüchen, die über die Grenzen der Stadt zu deren frischen Image beigetragen haben. Lampugnanis Ausführungen sind somit nicht frei von normativen Vorstellungen, im Gegenteil. Stadtplaner*innen, Architekt*innen und Kommunalpolitiker*innen täten gut daran, sich eingehender mit ihnen auseinanderzusetzen.

Um Kultur und Identität des städtischen Raums geht es auch bei Monika Wagner. Entlang einiger Beispiele, die ausschließlich dem Berliner Stadtraum entstammen, unternimmt sie »eine historische Rekonstruktion der Produktion, Funktion und Bewertung von Oberflächen sowie der durch sie erzeugten Atmosphären« (S. 11). Die Oberflächen, die sie in den Blick nimmt (Asphalt, Glas, Beton, Naturstein, Keramik usw.), markieren dabei eine Grenze zwischen dem Innenraum der Häuser und ihrem Außen, eine Grenze, mit der die Menschen in der Stadt fortwährend in Berührung geraten. Was eingangs noch ein wenig nüchtern klingt, wird zu einem faszinierenden Parcours durch die jüngere Architekturgeschichte Berlins. Mit dem Aufstieg zu einer Metropole der Moderne in den 1920er Jahren beginnend, widmet sich Wagner im Hauptteil ihres Buches vergleichend der Ausgestaltung von Stalinallee und Hansaviertel, bevor sie abschließend die Friedrichstraße nach dem Fall der Mauer erreicht.

Anhand der nach dem Ersten Weltkrieg vorangetriebenen Asphaltierung der Straßen beschreibt sie die grundsätzliche Ausdifferenzierung der großstädtischen Bevölkerung in Autofahrer und Fußgänger, denen sich die Oberflächen unterschiedlich darstellen. Während die Fußgänger auch weiterhin mit den Oberflächen der Häuser und Straßen in engeren Kontakt kamen (auf dem Gehweg, beim Blick ins Schaufenster), nahmen die Menschen in den Autos Straßenbeläge nur noch vermittelt und die Fassaden der Häuser als rhythmisierte Bewegtbilder wahr. Diese wurden zusätzlich akzentuiert durch Glas und Licht als Elementen einer modernen Architektur, die ihre materiellen Grundlagen zum Verschwinden bringen wollte. Ausführlich bespricht Wagner die Wirkung von Fassadengestaltungen unter den Aspekten Horizontalität und Vertikalität. Sie beruft sich dafür u. a. auf Erich Mendelsohn, verantwortlich für den Umbau des Mossehauses, der die Horizontale mit Demokratie und Freiheit assoziiert, und auf Siegfried Kracauer, der die Vertikale als Ausdruck staatlicher Gewalt interpretiert. Doch erst im komplexen Zusammenspiel der Linien entstehen in der realen Stadt Effekte, die von Bewohner*innen und Besucher*innen abhängig von der jeweiligen historischen Perspektive wahrgenommen werden und differenzierter Interpretationen bedürfen.

Nach dem Krieg und der Teilung Berlins herrschten in Ost und West unterschiedliche Vorstellungen vom öffentlichen Raum, und dabei gerieten auch die Oberflächen zu einem »Schauplatz der Systemkonkurrenz« (S. 12). »Dem öffentlichen Raum der Stadt als Ort staatlicher Repräsentation, sozialer Gemeinschaftsbildung und wechselseitiger Kontrolle kam in der DDR höchste Aufmerksamkeit zu«, schreibt Wagner (S. 70). Sie zeigt dies an der heutigen Karl-Marx-Allee, die im Krieg zerstört und ab 1951 als Stalinallee neu bebaut wurde. Die mehrspurige Fahrbahn, die auch für Aufmärsche herzuhalten hatte, wurde dabei durch monumentale Fassaden gesäumt. Zwar kamen hier überwiegend die gleichen Materialien zum Einsatz, doch die einzelnen Fassaden wurden im Detail unterschiedlich ausgestaltet; dies erschließt sich dem Fußgänger in der Nahsicht aber tatsächlich sehr viel eindrücklicher als dem Autofahrer. Lange Zeit für ihren ›Zuckerbäckerstil‹ verachtet, sind die Wohnhäuser heute wieder extrem angesagt. Im Westteil wurde demgegenüber 1957 das – heute ebenfalls ausgesprochen populäre – Hansaviertel mit seinen freistehenden Hochhäusern inmitten eines durchgrünten Stadtraums präsentiert.[1] So unterschiedlich die beiden städtebaulichen Ansätze auch in politisch-ideologischer Hinsicht waren, sieht Wagner doch Gemeinsamkeiten, was die »erstaunliche Materialvielfalt und die taktilen Angebote« betrifft (S. 95), zumal im Vergleich zum Neuen Bauen der 1920er Jahre mit seinen glatten Oberflächen. In »Einsatz und Gestaltung der Materialien« (ebd.) unterscheiden sich die beiden Vorzeigeprojekte gleichwohl. Überzeugend vertritt Wagner die These, dass in beiden Fällen »Oberflächen aus Naturstoffen und handwerklich verarbeiteten Materialien« geschaffen worden seien, deren Verwendung in Westberlin aber auf eine Integration von modernem Wohnen inmitten gestalteter Natur abgezielt habe, während »die Handwerklichkeit der Oberflächen der Stalinallee […] die Integration in eine Gemeinschaft der Werktätigen« verfolgt habe (S. 110).

Wagner widmet sich überaus anschaulich den Materialien, die den Gebäuden der Stalinallee im Zusammenspiel mit vielfältigen architektonischen Elementen (Balkone, Balustraden, Kolonnaden usw.) abwechslungsreiche Reliefstrukturen verleihen. Anfänglich ließ sich die Opulenz dieser Fassadengestaltung noch als Ausdruck des Reichtums der neuen sozialistischen Gesellschaft deuten, zeugte diese doch nicht zuletzt von großer handwerklicher Kunst. Doch schon bald wollte dieser Stil nicht mehr so recht zur Politik der DDR passen, die an einer stärkeren Industrialisierung des Bauens interessiert war – und deren Verwirklichung dann später in den monotonen Plattenbauten der 1970er Jahre ihren prägnantesten Ausdruck fand. Noch heute bemerkenswert sind die unterschiedlichen Kacheln, die symbolisch »zwischen Tradition und Innovation, zwischen Handwerk und Industrie« (S. 81) stehen. Ihr Ausgangsmaterial Ton, »der ideale Alleskönner«, wird von Wagner als »Scharnier zwischen den materiellen Produktionsbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der staatlichen Gemeinschaftsideologie und der Ästhetik des ›kleinen Mannes‹« interpretiert (S. 84). Dies zeigt sich besonders schön auch an den Bildprogrammen, die sowohl auf den Kacheln als auch an skulpturalen Elementen zum Einsatz kommen (etwa den Keramikreliefs am von Richard Paulick gestalteten Block C der Stalinallee, die deren Aufbau illustrieren).

Zur Stützung ihrer übergeordneten These legt Wagner in ihrer Interpretation des Hansaviertels ein besonderes Augenmerk auf die Gestaltung der Fußgängerwege, deren unregelmäßige Ränder Weg und Grünfläche ineinander übergehen lassen. Ausführlicher betrachtet sie auch den Bau der Akademie der Künste von Werner Düttmann, bei dem u. a. Backstein, Marmorkiesel und Kupfer verwendet wurden:

»Die Materialien betonen ihre Herkunft aus der Natur und evozieren eine scheinbar einfache, handwerkliche Bearbeitung. Damit verstärken sie das Konzept der Stadtlandschaft als Versöhnung von Natur und Moderne.« (S. 109)

Wagners Buch eignet sich hervorragend als Vademecum für ausgedehnte Spaziergänge, sei es durch das Hansaviertel, sei es entlang der Karl-Marx-Allee – oder auch in der neuen Mitte Berlins, wo heute die unterschiedlichsten Architekturstile aufeinandertreffen, in denen das Glatte (Glas, Marmor etc.) und das Raue (etwa Schrottskulpturen, Spolien u. a.) neben- und miteinander angeordnet sind. Hier finden sich städtische Räume – wie etwa die Friedrichstadt-Passagen –, deren Schaffung sich offensichtlich in erster Linie der Logik von Investoren verdankt und weniger urbanistischer Einsicht und Erkenntnis. Beide Bücher tragen dazu bei, derartige Eindrücke zu erklären.

[1] Es ist beispielsweise Schauplatz eines Romans von Helene Hegemann, Bungalow (2018).

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Dirk Naguschewski ist am ZfL zuständig für Wissenstransfer und Kommunikation.

Dieser Text steht unter der Lizenz CC BY‑NC‑ND 3.0 Germany.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Dirk Naguschewski: Auf Tuchfühlung mit deiner Stadt. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani, in: ZfL BLOG, 6.3.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/03/06/dirk-naguschewski-auf-tuchfuehlung-mit-deiner-stadt-berlin-erkundungen-mit-monika-wagner-und-vittorio-magnago-lampugnani/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200306-01

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Hanna Hamel: NACHBARSCHAFTEN. Nachlese zu den ZfL-Literaturtagen https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/12/18/hanna-hamel-nachbarschaften-nachlese-zu-den-zfl-literaturtagen/ Wed, 18 Dec 2019 14:35:29 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1313 Nachbarschaft ist ein ambivalentes Verhältnis. In kaum einer anderen Beziehung liegen Distanz und Nähe, Freundschaft und Feindschaft, Öffentlichkeit und Intimität so nah beieinander. Die räumliche Nähe verlangt eine eigene Form des Abstandhaltens, damit Nachbarn einander über längere Zeit und auf engem Raum ertragen können. Nachbarn sind aneinander gebunden, auch wenn sich ihre Lebensvollzüge bis auf Weiterlesen

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Nachbarschaft ist ein ambivalentes Verhältnis. In kaum einer anderen Beziehung liegen Distanz und Nähe, Freundschaft und Feindschaft, Öffentlichkeit und Intimität so nah beieinander. Die räumliche Nähe verlangt eine eigene Form des Abstandhaltens, damit Nachbarn einander über längere Zeit und auf engem Raum ertragen können. Nachbarn sind aneinander gebunden, auch wenn sich ihre Lebensvollzüge bis auf den geteilten Ort in keiner Weise gleichen. Gerade der Wunsch nach Distanz und klaren Grenzen scheint deshalb oftmals der einzige Berührungspunkt ihrer Interessen zu sein. Der Lyriker Robert Frost hat dieses Verhältnis in seinem Gedicht Mending Wall lakonisch auf den Punkt gebracht: »Good fences make good neighbours.«

Nachbarschaft bedeutet aber auch die exemplarische Beziehung zum Nächsten und steht daher in einer Tradition mit der Nächstenliebe.[1] Der Nachbar oder die Nachbarin tritt nie allein, sondern immer in einem gemeinschaftlichen Gefüge auf. Erst das Geflecht von Beziehungen, und seien sie noch so lose, stiftet Nachbarschaft. Nachbarschaft kann man deshalb auch als Inbegriff zwischenmenschlicher Beziehungen verstehen, als eine Form der Offenheit für den Anderen. Der Philosoph Søren Kierkegaard spricht der Nächstenliebe sogar grundlegendere Bedeutung zu als der Liebe zu ausgewählten Personen, mit denen man freiwillig eine intime Beziehung eingeht:

»[G]ibt es nur zwei Menschen, so ist der andere Mensch der Nächste; gibt es Millionen, so ist jeder von diesen der Nächste, der einem wiederum näher ist als ›der Freund‹ und ›die Geliebte‹, insofern diese beiden, da sie ja Gegenstand einer Vorliebe sind, so ungefähr gemeinsame Sache machen mit der Selbstliebe, die in dem einen ist.«[2]

Nachbarschaftsbeziehungen, die man sich nur bedingt aussuchen kann, stehen in dieser Hinsicht immer auch unter dem Druck eines ethischen Anspruchs.

Nachbarschaften können sich also in einem breiten Spektrum zwischen Abgrenzung, Indifferenz und starken gemeinschaftlichen Gefühlen und Interessen entfalten. Die ZfL-Literaturtage, die am 22. und 23. November 2019 im Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße stattfanden, haben deshalb den Versuch unternommen, unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema zu beleuchten. Dazu waren acht Autor*innen und eine Soziologin eingeladen, aus ihren Texten zu lesen bzw. ihre Forschungsfragen zu präsentieren und im Anschluss über Nachbarschaften zu sprechen. Denn zur Nachbarschaft gehört auch ganz wesentlich der Austausch – im konkreten Fall zwischen den Autor*innen, den wissenschaftlichen Gesprächspartner*innen, dem interessierten Publikum und natürlich zwischen dem ZfL und der langjährigen »Nachbar«-Institution, dem Literaturhaus Berlin.[3]     

Ulrike Vedder (li.), Anke Stelling (re.)
Ulrike Vedder (li.), Anke Stelling (re.)

In den Lesungen wurde rasch die hohe Aktualität des Themas deutlich. Anke Stelling las aus ihrem Roman Schäfchen im Trockenen (2018), der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Vermittelt über die Geschichte der Erzählerin, deren Untermietvertrag sich mit der lange Zeit bestehenden Freundschaftsbeziehung zu den Vermietern aufzulösen droht, thematisiert der Roman die aktuelle Wohnungsknappheit und die Konkurrenz um Wohnraum in Berlin. Mit dem drohenden Verlust der gewohnten vier Wände stellt sich auch die Frage nach der eigenen Lebensform: Der Erzählerin, die als Schriftstellerin mit den Anforderungen ihres Familienlebens kämpft, werden die sozialen Unterschiede zu ihren Freunden – und Vermietern – in eben jenem Moment besonders bewusst, als diese sich zu einer Baugenossenschaft zusammenschließen. Der Blick auf das soziale Umfeld als (potentielle) Nachbarschaft hat auch in Jan Brandts Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt (2019) ernüchternden Charakter. Einmal aus Ostfriesland in die Stadt geflohen, entwickelt der Erzähler in Berlin gegenüber den Gangsta-Rapper-Nachbarn selbst Sanktionsmechanismen, denen er mit dem Ortswechsel vom Land eigentlich entkommen wollte. Umgekehrt erweist sich auch das Haus des Urgroßvaters, das im ostfriesischen Ihrhove steht, nicht als geeigneter Zufluchtsort vor dem sozialen und finanziellen Druck, der das Wohnen und Leben in der Stadt prägt. Reizvoll wirkt häufig das, was man aus dem Fenster und in der Ferne zu sehen glaubt: Helene Hegemanns junge Protagonistin in Bungalow (2018) beobachtet aus der Mietskaserne die attraktiven neuen Nachbarn, ein Schauspielerpaar aus dem Bungalow von gegenüber. Der soziale Neid erscheint in diesem Szenario baulich förmlich in Stein gemeißelt: Angelegt an die reale Architektur des Berliner Hansaviertels befindet sich der Wohnraum einiger weniger Privilegierter inmitten von großen und hohen Mietshäusern.

Aber nicht nur der Blick auf das unerreichbare Andere, auch die plötzliche Nähe des Fremden oder das Hereinbrechen von Gewalt in den geschützten, vertrauten Raum kann die Wahrnehmung der eigenen Nachbarschaft transformieren. Der Erzähler aus Der traurige Gast (2019) von Matthias Nawrat flaniert und sitzt einigermaßen versonnen in Berlin. Als er vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz erfährt, transformiert das Ereignis vorübergehend seine Wahrnehmung der Nachbarn und ihrer Sprachen; Gewohnheit oder auch Ignoranz weichen einer überaufmerksamen Angst. 

Pola Groß (li.), Norbert Scheuer (re.)

Nachbarschaft besteht aber nicht nur zwischen Räumen und Häusern. Im Deutschen bezeichnet der Begriff doppeldeutig auch die Menschen, die zu einem recht losen und potentiell offenen sozialen Gefüge zählen. Das kann eine Zufallsgemeinschaft von Zimmernachbarn im Internat sein, wie in Maruan Paschens Roman Kai (2014), oder eine Gruppe von Ganoven in der Wiener Unterwelt der Nachkriegszeit, die David Schalko in Form der »Erdberger Spedition« in seinem Roman Schwere Knochen (2018) porträtiert. Heute entkoppeln die sozialen Medien die Nachbarschaft außerdem zusehends von der persönlichen Begegnung im geteilten Raum. Soziale Gruppen, die sich Tag für Tag im Supermarktcafé treffen, wie es die kleinstädtische Gemeinschaft von Alten in Norbert Scheuers Roman Am Grund des Universums (2017) tut, wirken unter ihren Zeitgenossen rasch anachronistisch und vom Wandel ihrer Umwelt bedroht.

Hannes Bajohr (li.), Rasha Abbas (re.)
Hannes Bajohr (li.), Rasha Abbas (re.)

Schließlich gibt es Nachbarschaftsbeziehungen auch zwischen Ländern und Sprachen, zwischen denen sich Sprecher*innen und Übersetzer*innen hin- und herbewegen und vermitteln, indem sie neu hervorbringen, was bereits an einem anderen Ort auf andere Weise gesagt wurde. In Rasha Abbas’ Lesung aus Die Erfindung der deutschen Grammatik (2016) wurden die absurden Herausforderungen des Ankommens im scheinbar so weltoffenen Berlin deutlich. Im Humor findet sich aber möglicherweise ein Ausweg, wenn sich die Perspektiven von Außen und Innen verkehren oder verschwimmen können; so etwa, wenn die Protagonistin zum Jobcenter in den Osten der Stadt fährt und in der U-Bahn eine geradezu exotische Begegnung mit »den Deutschen« macht, von denen sie in Neukölln immer nur gehört, die sie aber nie zu Gesicht bekommen hat.

***

Nachbarschaften – so zeigt der erste Eindruck der ZfL-Literaturtage – erschöpfen sich nicht in einem kartographierbaren, räumlichen Areal und sie sind keinesfalls nur positiv konnotiert. Vielmehr gehören zu ihnen auch die Ambivalenzen, die Übergriffe und die uneindeutigen Grenzen. Nachbarschaften können gefährlich sein und nicht zuletzt kompromittieren. Insofern ist es vielleicht bezeichnend, dass ausgerechnet bei Martin Heidegger, der mit seinem Werk selbst in einer höchst problematischen intellektuellen Nachbarschaft steht, eine der treffendsten Bemerkungen zum Thema zu finden ist. In seinem 1957 gehaltenen Vortrag »Zum Wesen der Sprache« lässt sich lesen:

»Man lebt in ihr und käme in Verlegenheit, sollte man sagen, worin die Nachbarschaft bestehe.«[4]

In unserem Forschungsprojekt zu »Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« wird es deshalb nicht so sehr darum gehen, zu definieren, was Nachbarschaft denn nun sei, sondern vielmehr darum, Nachbarschaftsbeziehungen an unterschiedlichsten Orten in ihren verschiedenen Formen ausfindig zu machen und ihre Eigenheiten zu ergründen. Der Gestaltungswille der Literatur zeugt von dem Wunsch, Beziehungen und Nachbarschaften auch dort darzustellen, wo sie bislang nicht oder nur andeutungsweise sichtbar waren. Literatur nimmt sich außerdem derjenigen Nachbarschaften an, die zu fragil oder beweglich sind, um sie in Initiativen und Institutionen zu fassen. Gegenwartsliteratur, die entweder inhaltlich oder über ihren Produktionsort einen Bezug zu Berlin oder dem Berliner Umland hat, bildet deshalb den Ausgangspunkt der Untersuchungen. Die Literatur stellt, wie es auch die Stadtsoziologin Anna Steigemann in ihrem Vortrag bei den ZfL-Literaturtagen getan hat, nicht nur die Frage, was Nachbarschaft ist, sondern auch, »wie sie geht«. Dieser Frage an der Schnittstelle von hochaktuellen sozialen Debatten und Perspektiven der Literatur nachzugehen, wird in den kommenden drei Jahren Aufgabe des Projekts sein. Dazu wollen wir eine Reihe von Veranstaltungen mit Kooperationspartnern an verschiedenen Orten in Berlin durchführen, bei denen Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen und Autor*innen eingeladen sind, sich auszutauschen. Daraus soll schließlich eine öffentlich zugängliche digitale Anthologie hervorgehen, die die verschiedenen Facetten der Nachbarschaft sammelt, abbildet, miteinander verknüpft und dazu einlädt, sich selbst in den Berliner (Literatur-)Nachbarschaften zu bewegen.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das ZfL-Forschungsprojekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«.

 

[1] Vgl. dazu Kenneth Reinhard: »Neighbour«, in: Barbara Cassin (Hg.): Dictionary of Untranslatables. A Philosophical Lexicon, übers. v. Steven Rendall u.a., Princeton u. Oxford 2014, S. 706-712.

[2] Sören Kierkegaard: Der Liebe Tun, Bd. 1, Gütersloh 21989, S. 26.

[3] Die Veranstaltung war zugleich Auftakt des Forschungsprojekts »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«, an dem seit dem Sommer 2019 am ZfL gearbeitet wird.

[4] Martin Heidegger: »Das Wesen der Sprache«, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 31965, S. 159–216, hier S. 188.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Nachbarschaften. Nachlese zu den ZfL-Literaturtagen, in: ZfL BLOG, 18.12.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/12/18/hanna-hamel-nachbarschaften-nachlese-zu-den-zfl-literaturtagen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20191218-01

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