Seenotrettung Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/seenotrettung/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Fri, 27 Jan 2023 08:02:28 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Seenotrettung Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/seenotrettung/ 32 32 Alexandra Heimes: DER EINSATZ NEUER TECHNOLOGIEN IM HUMANITARISMUS UND DIE ›FRAGE NACH DER MORAL‹ https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/01/26/alexandra-heimes-der-einsatz-neuer-technologien-im-humanitarismus-und-die-frage-nach-der-moral/ Thu, 26 Jan 2023 14:11:10 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2836 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik – und später Rettungsflugzeugen – wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Weiterlesen

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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik – und später Rettungsflugzeugen – wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Radius der Einsätze erheblich auszuweiten. Weniger offenkundig ist, in welcher Weise diese Entwicklungen auf das Gefüge der Normen und Werte zurückwirken, das der humanitären Seenotrettung zugrunde liegt, und inwiefern sie daran beteiligt sind, den Schiffbruch als einen bestimmten »Situationstyp« zu definieren.[1] Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich die Herausbildung von Normen und normsetzenden Paradigmen alternativ zu den großen Erzählungen des Humanitarismus beschreiben lässt.

Das Wort ›Situation‹ bezeichnet zunächst ein bestimmtes räumlich-zeitliches Setting, das als Ort einer potenziellen oder einer bereits eingetretenen Gefahr markiert ist. In den 1930er und 1940er Jahren avanciert es, so Anselm Haverkamp, zum »Aktualitätsbegriff par excellence«[2] und wird zum Ausdruck eines akuten Krisenzustands, der einer umgehenden und entschlossenen Reaktion bedarf – ohne jedoch stabile Handlungsrichtlinien zu liefern. Situationen, betrachtet als ein »komplexes Ensemble von Relationen«[3], haben insofern einen höchst ambivalenten Charakter, als in ihnen Momente von Freiheit und Unfreiheit, Zwang und Möglichkeit aufeinandertreffen und ein Handeln erfordern, das innerhalb einer gegebenen Konstellation und zugleich gegen sie erfolgt. 

Hinzu kommt, dass der Situationstyp ›Schiffbruch‹ eine konstitutive Heterogenität aufweist. Die normative Ordnung des Rettungshandelns überschneidet und durchmischt sich mit Normen und Wertsetzungen, die beispielsweise dem politischen oder militärischen Feld entstammen (z.B. hinsichtlich der Markierung territorialer Ansprüche oder der Disziplinierung der Seeleute der eigenen Nation). Dies führt nicht selten zu offenen oder latenten Spannungen, die wiederum ein fortlaufendes Revidieren und Nachjustieren der normbildenden Kriterien erfordern, und zwar gleichermaßen auf symbolischer, diskursiver und praktischer Ebene. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die wechselhaften Dynamiken zwischen moralischer Normativität auf der einen und technischen Innovationen auf der anderen Seite, an denen sich das notorisch strittige Verhältnis zwischen allgemeinen Prinzipien und situativen Faktoren aus einem veränderten Blickwinkel zeigen lässt.

Wenn, wie in den letzten Jahren häufiger der Fall, Formeln wie »humanitäre Maschinerie« – oder, zugespitzter: »humanitär-industrieller Komplex«[4] – zirkulieren, so ist deren polemische Stoßrichtung kaum zu verkennen. Die Polemik zielt vor allem auf solche Entwicklungen, bei denen sich die humanitäre Hilfe, gestützt auf weitreichende technische Infrastrukturen, mehr und mehr in bloße Management- und Ingenieursaufgaben verwandelt oder sich für zweckfremde (monetäre, nationale, militärische) Interessen einspannen lässt. Historisch sind diese Tendenzen eng mit einem epistemischen Wandel verbunden, der seit der Neuzeit mit einem programmatisch rationalen Anspruch auftritt und sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass vormoderne Vorstellungen von (singulärer und unverfügbarer) Gefahr zunehmend durch das Konzept eines (abstrakten und rationalisierbaren) Risikos abgelöst werden. Risikotechnologien, d.h. das weitläufige Netz von Sekuritäts- und Vorsorgesystemen, sind in erster Linie Prognosewerkzeuge, die dazu dienen, Kontingenz als solche zu operationalisieren, so dass vormals unabsehbare Gefahren zu kalkulierbaren Größen im Horizont des probabilistisch Erwartbaren werden.[5]

Festhalten lässt sich zunächst, dass im Zuge eines stetigen Anwachsens der Handlungsspielräume auch die Frage nach der normativen Pflicht zum Handeln neu zu stellen ist. Denn in dem Maße, wie sich die Möglichkeiten des Eingreifens dank der verfügbaren technischen Mittel und des professionellen Know-hows ausweiten, steigt auch die Verpflichtung, in Notsituationen von ihnen Gebrauch zu machen. So wird der moralische Imperativ zur Rettung einerseits noch verschärft, andererseits aber, was seine Praktikabilität und mithin Zumutbarkeit betrifft, gemildert. Das gängige Narrativ jedoch, wonach mit jeder technischen Errungenschaft die Widrigkeiten und Gefahren der Rettungspraxis immer weiter zurückgehen, muss fraglich erscheinen. Ihm steht zum einen der Befund entgegen, dass technische Innovationen in aller Regel höchst mehrdeutige und oftmals gegenläufige Effekte erzeugen: Selbst wenn es mit ihrer Hilfe gelingen mag, bestimmte Anforderungen besser zu bewältigen, so können sie auch wieder neue Gefahrenpotenziale generieren.[6] Abgesehen davon zeigt sich gerade am Beispiel der Seenotrettung, dass auch die beste technische Ausstattung nicht verhindert, dass die Retter unter Umständen selbst ihr Leben riskieren oder während ihrer Aktivitäten zu schwierigen Entscheidungen (wie der Priorisierung bestimmter Hilfsbedürftiger zu Ungunsten von anderen) gezwungen sind.

Angesichts dieser intrikaten Verhältnisse scheint es wenig überzeugend, die handlungsleitenden Normen mehr oder minder direkt aus dem Grad des faktisch Machbaren abzuleiten, was letztlich auf eine merkwürdige Umkehrung des Kant’schen »Du kannst, denn du sollst« in ein »Du sollst, denn du kannst« hinausliefe. Dennoch wird man dieser Argumentation kaum dadurch begegnen können, dass man im Gegenzug auf der schieren Singularität des Einzelfalls beharrt. Der Situationsbegriff eröffnet einen anderen Zugang, mit dem sich die in Rede stehenden Phänomene, hier also: maritime Unglücke und Notlagen, auf einer mittleren Ebene ansiedeln lassen. Damit wird die vermeintliche Alternative, sich dem komplexen Problemfeld entweder mit strikten (und gegebenenfalls vorschnellen) Generalisierungsansprüchen zu nähern oder aber sich an die je partikularen Umstände zu halten, umgangen. Unter diesen Vorzeichen wird es allerdings umso diffiziler, die Bedingungen der Genese und Geltung von normativen Ordnungen genauer zu bestimmen.

Augenfällig ist, dass der Situationsbegriff (oder, mit einer stärker militärischen Konnotation, derjenige der Lage) und korrespondierende Begriffe wie Haltung und Ethos seit dem frühen 20. Jahrhundert ein beachtliches philosophisches Interesse auf sich ziehen. Es sind ganz verschiedene Denker – namentlich Walter Benjamin, Kurt Lewin, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Karl Jaspers oder Jean-Paul Sartre –, die sich an diesen Auseinandersetzungen beteiligen. Und auch wenn sich die Debatten kaum mit humanitären Anliegen im engeren Sinn befassen, entfalten sie eine Reihe von Fragestellungen, die den Humanitarismus im Kern betreffen.

Wenn auch nicht immer explizit, so zieht sich die ›Frage nach der Technik‹ einem roten Faden gleich durch die Debatten zur Situation. Dieser Umstand gibt nicht nur ein wachsendes Bewusstsein dafür zu erkennen, dass die moderne Lebenswelt dem Prozess einer stetig voranschreitenden Technisierung untersteht. Er signalisiert darüber hinaus einen theoretischen Reflexionsbedarf, der diesen Befund an Fragen der lebensweltlichen Orientierung und der moralischen Normsetzungen zurückbindet. Auf die akute Dringlichkeit einer Reflexion über diesen Prozess hat Walter Benjamin bereits 1930 hingewiesen, als er eine »klaffende Diskrepanz zwischen den riesenhaften Mitteln der Technik auf der einen« und »ihrer winzigen moralischen Erhellung auf der anderen Seite« feststellte.[7] In Krisensituationen treten solche Missverhältnisse auf mitunter dramatische Weise zutage, und gerade im Kontext der Seefahrt – nicht zuletzt aufgrund ihrer technischen Voraussetzungen – wird deutlich, dass in dieser Frage so leicht kein fester Boden zu gewinnen ist. Aus denselben Gründen lässt sich nun allerdings auch die These vertreten, dass Seenot-Situationen sich in besonderer Weise eignen, um die Frage nach dem Zusammen- und Widerspiel von moralischen Ansprüchen und technischen Konditionen weiter auszuarbeiten und zu vertiefen. Seenot als Situationstyp fungiert insofern nicht lediglich als ein Beispiel, das relativ umstandslos durch andere Beispiele ersetzt werden könnte. Sie zeigt vielmehr einen systematischen Ort an, um jene Bedingungen theoretisch zu reflektieren, die der Konstitution von Normen in der Moderne zugrunde liegen.

Die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Heimes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL im Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Der Text basiert auf ihrem englischsprachigen Beitrag zu dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), wo alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

[1] Zu diesem Begriff vgl. Henning Trüper: Seuchenjahr, Berlin 2021, S. 28 ff.

[2] Anselm Haverkamp: »Das Skandalon der Metaphorologie. Hans Blumenbergs philosophische Initiative«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57.2 (2009), S. 187–205, hier S. 192.

[3] Pierre Macherey: »Figures of Interpellation in Althusser and Fanon«, in: Radical Philosophy 173 (2012), S. 9–20, hier S. 18 (Übersetzung A.H.).

[4] Volker Heins: »Humanitäre Intervention«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 118–124, hier S. 123. Vgl. auch Eyal Weitzman: The Least of All Possible Evils. A Short History of Humanitarian Violence, London 22017; Alberto Toscano: »The Tactics and Ethics of Humanitarianism«, in: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 5.1 (2014), S. 123–147.

[5] Wie Susanne Krasmann anmerkt, lassen sich Risikotechnologien durchaus als »genuin moralische Technologien« begreifen, allerdings in dem spezifischen Sinn, dass im Fall des Schadenseintritts die Verantwortlichkeiten geregelt werden müssen. Vgl. Susanne Krasmann: »Der ›Gefährder‹ – kriminalpolitisch und epistemologisch gelesen«, in: Archiv für Mediengeschichte 9 (2009), S. 139–148, hier S. 144.

[6] Ein einschlägiges, in seinen Konsequenzen aber vergleichsweise überschaubares Beispiel ist die bis dahin ungekannte Gefahr von Feuerbrand und Explosionsunfällen, die im Zuge der Einführung von motorisierten Rettungsbooten auftrat.

[7] Walter Benjamin: »Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift ›Krieg und Krieger‹. Herausgegeben von Ernst Jünger« [1930], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1991, S. 238–250, hier S. 238.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Alexandra Heimes: Der Einsatz neuer Technologien im Humanitarismus und die ›Frage nach der Moral‹, in: ZfL Blog, 26.1.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/01/26/alexandra-heimes-der-einsatz-neuer-technologien-im-humanitarismus-und-die-frage-nach-der-moral/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230126-01

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Henning Trüper: SEENOT IM ARCHIPEL DER HUMANITARISMEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/12/19/henning-trueper-seenot-im-archipel-der-humanitarismen/ Mon, 19 Dec 2022 11:55:17 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2811 Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von ›Rettung‹. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, whatever it takes, wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, Weiterlesen

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Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von ›Rettung‹. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, whatever it takes, wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, während sie doch zugleich unterlassene Hilfeleistungen ebenfalls strafrechtlich verfolgten. Über lange Zeit hatten Schiffbrüchige im öffentlichen Diskurs die Stelle als privilegierte Zielobjekte unbedingter Rettungsimperative besetzt, die sogar das Risiko eines Selbstopfers in Kauf zu nehmen verlangten. Nun schien es, als sei diese Stelle umbesetzt worden. Dass eine solche Umbesetzung aber überhaupt möglich war, warf nicht zuletzt die Frage danach auf, wie es eigentlich um die Geschichtlichkeit derartiger Imperative insgesamt bestellt ist. Diesem Problemzusammenhang geht das Forschungsprojekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800« nach, indem es unter anderem untersucht, wie die Schiffbrüchigen überhaupt dazu gekommen waren, die fragliche Stelle zu besetzen.

Universalismus Vs. Einzelanliegen

Zunächst ist zu bemerken, dass humanitäre Imperative wie derjenige der Seenotrettung stets von bestimmten, klar abgegrenzten Anliegen ausgehen. Sie sind keineswegs einfach von allgemeinen ethischen Prinzipien her konstituiert. Auch in der gegenwärtigen Situation kann man leicht sehen, dass das Problematischwerden von Imperativen der Seenotrettung gar keinen Einfluss auf andere humanitäre Anliegen hat, zum Beispiel solche der Hilfeleistung bei Hungersnöten. Ebenso wenig lässt sich behaupten, dass mit dem Imperativ der Seenotrettung zugleich ein allgemeineres moralisches Prinzip der Lebensrettung in allen erdenklichen Umständen einer Wandlung unterworfen wäre. Stattdessen scheinen moralische Gebote wie dasjenige der Seenotrettung ganz für sich allein geschichtlich zu sein. Mithin wäre der Imperativ der Rettung Schiffbrüchiger im Gang seiner Entwicklung als Phänomen historisch dokumentierter moralischer Sprache und Praxis nicht an verwandte Lebensrettungsimperative gekoppelt, wie sie etwa die Notfallmedizin oder das Bergsteigen oder das Schwimmen in der Freizeit betreffen. Entscheidend scheint also die Bindung des Gebots an einen bestimmten Situationstyp zu sein; und das heißt auch die Bindung an bestimmte technologische, organisatorische, wirtschaftliche, politische Strukturen, die zur Differenzierung von Situationstypen beitragen.[1] Auch stellt sich die Frage danach, auf welche Weise solche Bindungen jeweils nicht nur geknüpft, sondern auch dauerhaft aufrechterhalten werden.

Das Projekt zielt darauf ab, auf Grundlage dieser Überlegungen ein neues Verständnis der Geschichte der humanitären Moral zu entwickeln. Dadurch sollen auch neue Zugänge zur Geschichte der kulturellen Ordnungen des Moralischen im Allgemeinen erschlossen werden. Zu diesem Zweck wird im Projekt die Geschichte der organisierten Seenotrettung im modernen Europa untersucht. Ab den 1820er Jahren entstand in verschiedenen Ländern, allen voran in Großbritannien und den Niederlanden, eine Reihe allenfalls lose miteinander vernetzter, fast ausschließlich säkular ausgerichteter sozialer Bewegungen, aus denen heraus nationale Hilfsorganisationen zur Rettung der Opfer von Schiffskatastrophen gegründet wurden.[2] Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die Küstenbevölkerung von anderen gesellschaftlichen Gruppen zumeist bürgerlicher Herkunft davon überzeugt, dass die Rettung von Schiffbrüchigen ein universelles und bedingungsloses, außerdem aber ein spezifisch nationales Gebot sei, bei dem das bestehende existentielle Risiko für die Retter selbst hintanzustehen hätte. Diese sozialen Bewegungen waren Teil eines weiter gespannten Phänomens der moralischen Kultur, das man späterhin als ›Humanitarismus‹ zu bezeichnen begann und das sich durch seine Zerstreuung über zahlreiche Einzelanliegen auszeichnete.

Topographie des humanitären Archipels

In der Geschichte des Humanitarismus wird gemeinhin angenommen, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein neuartiges, universelles Prinzip zur Linderung »entfernten Leidens« entstanden sei.[3] Indem eine Vielzahl sozialer Bewegungen begonnen habe, diesem Prinzip in bestimmten Kontexten Geltung zu verschaffen, sei eine ungeordnete Gliederung in Einzelanliegen erfolgt. Jedoch tendiere diese seither expandierende Struktur zur Verallgemeinerung und Systematisierung. Sie zeichne sich durch einen starken Drang zur Schaffung neuartiger Rechtsformen aus, die diese Tendenz durch die Ersetzung moralischer durch rechtliche Normen in die Tat umsetzen sollten.

Dieser allgemeinen Lesart zufolge lassen sich mehrere Hauptgründe für die Umwälzung in der Moralkultur anführen: (1) eine zunehmende Kritik am moralischen Partikularismus (d.h. an der vorrangigen Relevanz moralischer Normen für begrenzte Gemeinschaften); (2) die Entstehung einer neuen Kultur der Inszenierung von Empathie, die insbesondere durch literarische Formen wie den Roman vorangetrieben wurde; (3) die rasche Weiterentwicklung des empirischen und technologischen Wissens über die Ursachen und die Linderung von Leid; und (4) die Entstehung wirtschaftlicher und politischer Formen, die in der Lage waren, neue moralische Praktiken zu stabilisieren und zu fördern, und zwar in Form von Finanzierung, Bürokratisierung und Technisierung.[4]

Demgegenüber ist die Landkarte humanitärer Bewegungen weiterhin ›archipelagisch‹ strukturiert, d.h. durch insulare Hilfsbemühungen für ausgewählte Formen des Leids.[5] Auch sind die rechtlichen Vorgaben nach wie vor uneinheitlich. Die in der historischen Literatur vorherrschende Betrachtungsweise einer nachgerade teleologischen Tendenz zur Verallgemeinerung und Verrechtlichung spiegelt sich im Zustand des Archipels der Humanitarismen gerade nicht wider. Wenn etwa die britische Gesellschaft, die die Bereitschaft zum Selbstopfer für die Rettung Schiffbrüchiger zu verlangen bereit war, zugleich der großen irischen Hungersnot keine allgemeine und durchgreifende Hilfsbewegung entgegenzusetzen gewillt war, oder wenn dieselbe Gesellschaft nach jahrzehntelanger Debatte die Sklaverei formal abschaffte, sich danach aber kaum um das Wohlergehen der ehemaligen Sklaven kümmerte und sie sogar weiterhin einer informellen Unfreiheit unterwarf, kann man dieses groteske, wenn auch in der Gegenwart in vielen anderen Zusammenhängen nur allzu vertraute moralische non sequitur durchaus verurteilen. Man kann aber auch bemerken, dass man einem historischen Befund gegenübersteht, der auch nach einer historischen Erklärung verlangt und einer solchen auch und gerade im Hinblick auf die Kultur des Moralischen zugänglich ist.[6] Bislang scheint in der geschichtlichen Forschung allerdings weder die Unfähigkeit des Humanitarismus, sich von seiner Abhängigkeit von einzelnen Anliegen zu lösen, noch der Prozess der tatsächlichen Entstehung und Auswahl solcher Anliegen ausreichend in den Blick genommen worden zu sein. Dies zu tun, ist eine der Zielstellungen unseres Projekts.

Die Metapher des ›Archipels‹ dient dabei dazu, die Spannungen einer Gesamtheit aus isolierten Einzelnen fassbar zu machen. Wenn man den oberflächlich eng begrenzt und kleinteilig wirkenden Fall der humanitären Seenotrettung über seine zweihundertjährige Dauer hinweg verfolgt, stößt man auf eine Fülle von kontrastiven Positionsbestimmungen, die weit mehr über die Topographie des humanitären Archipels insgesamt aussagen, als die Rede vom ›Fall‹ vermuten lässt. Unser Projekt basiert auf der ›mikrohistorischen‹ Annahme, dass eine vernetzte Fallanalyse eine solidere Grundlage für ein umfassendes historisches Verständnis der humanitären Moralkultur(en) bietet als eine Untersuchung, die von abstrakter Verallgemeinerung, Kategorisierung und vergleichender Klassifizierung ausgeht.

Der humanitäre Bruch

Mit Bezug auf spezifische Anliegen erforscht das Projekt daher die Geschichte der Bewegungen zur Rettung von Schiffbrüchigen und entwickelt eine theoretische Beschreibung der geschichtlichen Entstehung humanitärer moralischer Normen. Die leitende Annahme ist, dass derartige Anliegen als Resultat eines Vorgangs entstehen, den man als humanitären Bruch bezeichnen kann (in Anlehnung an den epistemologischen Bruch bei Gaston Bachelard): Eine etablierte, alltägliche Praxis moralischen Urteilens wird problematisiert, mindestens in Teilen negiert und revidiert. Wurde es beispielsweise zuvor umständehalber als zulässig und sogar unvermeidlich angesehen, Schiffbrüchige ihrem Schicksal zu überlassen, sofern ihre Rettung mehr als ein nur minimales Risiko für die Rettenden barg, so wurde es nun zur Pflicht, das eigene Leben für die Rettung anderer zu riskieren. Immanuel Kant hatte diese Vorstellung in der Kritik der praktischen Vernunft noch keineswegs eingeleuchtet: Im Fall der allseits für besonders moralisch hochwertig gehaltenen Rettung der Schiffbrüchigen würden tatsächlich die Pflichten »gegen sich selbst« vernachlässigt.[7] Eine Generation später war diese Argumentation im Zusammenhang mit dem Situationstyp des Schiffbruchs nicht mehr relevant. Der zu Kants Zeit bereits neu entstehende Imperativ der Inkaufnahme des Selbstopfers hatte sich durchgesetzt; zugleich hob er die Seenotrettungsbewegung von anderen humanitären Lebensrettungsbewegungen ab, mit denen er dennoch die ›biopolitische‹ Dimension, den Zugriff der Gemeinschaft auf das bloße Leben in der Notstandssituation teilte.[8]

Wie ging dieser Wandel vonstatten? Die Gründer der Seenotrettungsbewegung hatten erkannt, dass eine finanzielle Einsatzentschädigung als Anreiz für die freiwilligen Retter nicht ausreichte. Stattdessen musste man vorrangig die Küstenbevölkerung des Risikos entledigen, ihre eigenen Boote und damit die Lebensgrundlage der gesamten Familie aufs Spiel zu setzen. Außerdem musste, obwohl durchaus bescheidene Prämien gezahlt wurden, jenseits solcher Zahlungen ein Gleichgewicht zwischen monetären und moralischen Werten hergestellt werden. Der Rettungseinsatz durfte nicht einfach zur bezahlten Arbeit werden, sondern musste als unbezahlbare, rein moralisch motivierte Leistung markiert bleiben. Um eine hinreichende Stabilität des Spendermilieus und ein hinreichendes Mobilisierungspotential für die Rettungsfreiwilligen zu gewährleisten, erwies sich ferner die nationale Dimensionierung der Rettungsgesellschaften als notwendig.[9] Diese Konstellation bietet auch einen Ausgangspunkt dafür, einen neuen Ansatz für das Problem der ›moralischen Ökonomie‹ zu entwickeln, die sich durch besondere Interdependenzbeziehungen zwischen spezifischen moralischen und monetären Werten konstituiert.

Humanitäre Zeitlichkeit, humanitäres Geschehen

Als Teil des humanitären Bruchs entwickelte die Seenotrettungsbewegung ferner ein spezifisches Zeitverständnis. Dafür war einerseits die Überwindung der Vergangenheit in Gestalt der vorherigen alltagsmoralischen Überzeugungen prägend, andererseits die Vorstellung einer emphatischen, ausgedehnten Gegenwart, die auf der Gleichzeitigkeit von Leid und Hilfsmaßnahmen über große Distanzen gründete. Diese Synchronizität trug zur Vereinheitlichung der weltlichen Zeit bei – ein auch für das moderne Geschichtsverständnis grundlegender Prozess. Die schriftlichen und visuellen Quellen der humanitären Seenotrettung liefern reichlich Material darüber, wie die emphatische Gegenwart der Rettung dazu beitrug, gängige Muster der moralischen Sprache aufzubrechen.[10] Solche Muster hatten stets entweder Personen (als Akteure oder Subjekte) als Träger tugendhafter Dispositionen für moralisch gute und richtige Handlungsweisen privilegiert; oder sie hatten Einzelhandlungen als hauptsächliche Gegenstände moralischer Beurteilung bestimmt. Indem sie dem Situationstyp ein größeres Gewicht beimaß, verlieh die humanitäre Praxis dem bloßen Geschehen, das nicht durch die Handlungen und Absichten von Subjekten allein konstituiert oder kontrolliert werden konnte, also letztlich einem glückhaften (oder unglücklichen) Verlauf, als Ort der Moral eine neue und herausgehobene Bedeutung. Diese Bedeutung wird von der modernen Moralphilosophie nur selten anerkannt. So kann man in der Geschichte der humanitären Bewegungen auch einen bedeutenden Beitrag zur Innovation dessen sehen, was in der modernen europäischen Kultur überhaupt unter Moralität verstanden wird – etwa im Zusammenhang mit dem philosophischen Stichwort vom »moralischen Glück«, bei dem es um die Relevanz von schierem Dusel für die Beurteilung von Handlungen und Subjekten als Teilen eines weiteren Geschehenszusammenhangs geht.[11] Alle diese theoretischen Positionen und Positionsverschiebungen gehören zu jenem Prozess, in dem die Schiffbrüchigen zum Gegenstand eines unbedingten Rettungsimperativs werden.

Revisionspotentiale

Der Humanitarismus gilt seit Langem als ein Phänomen, das den Anspruch moderner Gesellschaften zur Autonomie in der Definition moralischer Normen und Werte verkörpert. Anstatt sich dafür auf religiöse und staatliche Autoritäten zu verlassen, hätten demnach soziale Bewegungen die Gesellschaften ermächtigt, ihre eigenen normativen Ordnungen zu bestimmen. Der Humanitarismus wird in der Logik dieser Perspektive auch zu den unverzichtbaren, ko-konstitutiven Merkmalen der europäischen Moderne gezählt – und zwar sowohl in apologetischer als auch in kritischer Absicht. Die Hilfe für die notleidenden ›entfernten Fremden‹ in Absetzung von einer vorgängigen Vernachlässigung und unter der Voraussetzung einer säkularen normativen Ordnung bildet ein grundsätzliches Schema des ›Engagements‹. Dieses Schema prägt sogar erhebliche Teile der modernen geisteswissenschaftlichen Forschung, die oft einem Muster der Korrektur des Bestehenden folgt und nicht selten mit einem Pathos der ›Rettung‹ – und sei es nur die Rettung des Vergangenen vor dem Vergessenwerden – einhergeht.

Alle diese Denkmuster teilen aber die nur selten reflektierte, meist sogar bloß implizite Annahme eines einheitlichen und prinzipienbasierten humanitären Schematismus. So ist die in die Einheit der Humanitarismen geleistete Investition, wenn auch nicht immer explizit, ein signifikanter Faktor im Kontext des Selbstverständnisses der europäischen Moderne und der modernen Geisteswissenschaften zugleich. Eine Historisierung, die den Archipel der Humanitarismen anders, genauer und pluralistischer kartiert, birgt daher in mehrfacher Hinsicht weitreichende Revisionspotentiale.

Deutsche Bearbeitung: Dirk Naguschewski/Henning Trüper

Der Historiker Henning Trüper leitet am ZfL das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Der Text geht zurück auf seinen englischsprachigen Beitrag zum  Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), in dem alle Projektmitarbeiter*innen ihre Forschungen vorstellen.

[1] Aus meiner Sicht die differenzierteste Darstellung dieser Problemlage ist Maartje Janse: De afschaffers: Publieke opinie, organisatie en politiek in Nederland, 1840–1880, Amsterdam 2007, wo der Prozess der Entstehung moderner Formen politischer Partizipation aus den moralisch motivierten sozialen Bewegungen des frühen 19. Jahrhunderts herausgearbeitet wird.

[2] Dem Spannungsverhältnis zwischen Universalität des humanistischen Anspruchs und Begrenzung des Einzelanliegens geht Nebiha Guiga in ihrem Teilprojekt am Beispiel französischer Seenotrettungsgesellschaften nach.

[3] Nach Luc Boltanski: La souffrance à distance: Morale humanitaire, médias et politique, Paris 1993.

[4] Vgl. besonders Thomas Haskell: »Capitalism and the Origins of the Humanitarian Sensibility«, Teil 1 und 2, in: American Historical Review 90.3/4 (1985), S. 339–361, 547–566; Thomas Laqueur: »Bodies, Details, and the Humanitarian Narrative«, in: Lynn Hunt (Hg.): The New Cultural History, Berkeley 1989, S. 176–204; dies.: Inventing Human Rights, New York 2007; und zur Debatte über die Menschenrechte besonders Samuel Moyn: The Last Utopia: Human Rights in History, Cambridge, Mass. 2010; Stefan-Ludwig Hoffmann: »Human Rights and History«, in: Past and Present 232 (2016), S. 279–310.

[5] Wie etwa auch Abigail Green: »Humanitarianism in Nineteenth-Century Context: Religious, Gendered, National«, in: The Historical Journal 57.2 (2014), S. 1157–1175 herausstreicht. Vgl. außerdem für die Gegenwart Monika Krause: The Good Project: Humanitarian Relief NGOs and the Fragmentation of Reason, Chicago 2014.

[6] In diesem Impetus trifft sich das Projekt auch mit den Überlegungen von Habbo Knoch und Benjamin Möckel: »Moral History: Überlegungen zur einer Geschichte des Moralischen im ›langen‹ 19. Jahrhundert«, in: Zeithistorische Forschungen 14 (2017), S. 93–111.

[7] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft [1788], in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, S. 158.

[8] Hierzu insb. Johannes F. Lehmann: »Infamie versus Leben: Zur Sozial- und Diskursgeschichte der Rettung im 18. Jahrhundert und zur Archäologie der Politik der Moderne«, in: ders./Hubert Thüring (Hg.): Rettung und Erlösung: Politisches und religiöses Heil in der Moderne, München 2015, S. 45–66.

[9] Dem Zusammenhang von Souveränität und Humanitarismus geht Lukas Schemper in seinem Teilprojekt nach.

[10] Die visuelle Kultur des Schiffbruchs untersucht Jonathan Stafford in seinem Teilprojekt.

[11] Die Bezeichnung geht zurück auf Bernard Williams: »Moral Luck« [1976], in: ders.: Moral Luck: Philosophical Papers 1973–1980, Cambridge 1981, S. 20–39.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Henning Trüper: Seenot im Archipel der Humanitarismen, in: ZfL Blog, 19.12.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/12/19/henning-trueper-seenot-im-archipel-der-humanitarismen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221219-01

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Nebiha Guiga: SOZIALE LEBENSWELTEN UND DER ALLGEMEINE HUMANITARISMUS https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/12/06/nebiha-guiga-soziale-lebenswelten-und-der-allgemeine-humanitarismus/ Tue, 06 Dec 2022 09:27:38 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2772 Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im Weiterlesen

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Abb. 1: Farbige gusseiserne Spendenbüchse in Form eines überdachten Rettungsbootes der Hospitaliers Sauveteurs Bretons, Rennes, Musée national de la Marine, Paris, CC BY-SA 4.0

Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren (Abb. 1, Spendenbüchse). Die Seenotrettung war für diese Gesellschaft also nur Teil eines weit größeren Projekts. So sahen die umfangreichen Regularien der SHSB den Aufbau einer Verwaltung vor, zu der auch Priester und Ärzte gehörten, die sich um das Wohlergehen aller Beteiligten kümmern sollten. Eine eigene Sektion zu Disziplinarmaßnahmen legte sogar Strafen für Gewalt gegen Tiere oder Mangel an Höflichkeit fest. Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen.

Dieses Missverhältnis ist von Bedeutung, weil es auf ein weit größeres Problem verweist, und zwar das Verhältnis zwischen der Universalität des Anspruchs und der Begrenzung des Einzelanliegens, das für humanitäre Bewegungen kennzeichnend ist. Um zu verstehen, wie solche Spannungsverhältnisse in einer robusten humanitären Praxis aufgefangen werden, ist es erforderlich, sowohl die an der Rettungsbootbewegung beteiligten Personengruppen, vornehmlich Unterstützer und Rettungskräfte, als auch die Netzwerke verschiedener Akteure, die daraus entstanden sind, zu untersuchen. Die Jahresberichte der SCSN sind hierfür eine ergiebige Quelle, denn sie enthalten nicht nur namentliche Aufstellungen aller Spender, sondern auch Angaben zu deren Beruf und Wohnort und mitunter sogar zur Höhe des gespendeten Betrags.

Mithilfe einer im Rahmen des Teilprojekts eigens eingerichteten Datenbank, die über 5000 Namen ab 1865 verzeichnet, ist es uns mittlerweile möglich, ein genaueres Bild der SCSN in ihrer Anfangszeit zu erstellen: Die Spender wurden von der Gesellschaft selbst in zwei Gruppen eingeteilt, in fondateurs (Gründungsmitglieder), die mehr als 100 Francs gespendet haben bzw. einen Jahresbeitrag von 20 Francs leisteten, und in donateurs (Spender), die weniger spendeten. Zusätzlich gab es ein Statut für Mäzene, die noch größere Summen stifteten, die sogenannten bienfaiteurs (Wohltäter). Unter allen Spendern gab es Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen, doch die meisten von ihnen waren in irgendeiner Form in der Seefahrt tätig, etwa in der Fischerei, im Seehandel oder Versicherungswesen. Hinzu kamen zahlreiche Marineoffiziere und Matrosen, wobei letztere vor allem Sammelspenden entrichteten. Dabei gab es mindestens drei voneinander zu unterscheidende Spenderprofile: 1) wohlhabende Spender aus dem städtischen Raum, die in die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen eingebunden waren, 2) Beamte und Militärangehörige (einschließlich Diplomaten und Kolonialverwalter) und 3) Spender aus den Küstenorten. Obwohl diese vermutlich wohlhabender waren als die Rettungsleute selbst, die wahrscheinlich sogar ebenfalls spendeten (Spenden unter 5 Francs wurden nicht einzeln registriert), dürften sich die beiden Gruppen nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Die SCSN zeichnete sich zudem durch enge Verbindungen zum französischen Staat sowie durch ihre Einbindung in die Netzwerke des Seehandels aus. Diese Netzwerke scheinen sowohl auf lokaler, als auch auf globaler Ebene bestanden zu haben, da zahlreiche Spenden aus den Kolonien oder dem Ausland kamen.

Was die Rettungsleute selbst anbelangt, so existieren für die Zeit bis in die 1950er Jahre kaum Personalverzeichnisse. Die für das 19. Jahrhundert verfügbaren Informationen deuten jedoch darauf hin, dass die Besatzungsmitglieder der Rettungsboote aus Küstengemeinden stammten und meist in der kommerziellen Seefahrt tätig waren, und zwar vor allem als Fischer. Um die Bedeutung des Humanitarismus im Allgemeinen für ihr Leben als Freiwillige besser einschätzen zu können, empfiehlt sich ein mikrohistorischer Ansatz. So lässt sich besser nachvollziehen, wie die Rettungsstationen in die Gemeinschaften vor Ort integriert waren und wie sie mit Vertretern anderer humanitärer Einrichtungen auf lokaler Ebene zusammenarbeiteten.

Die Aufzeichnungen der Carro-Station bei Marseille zeigen beispielsweise, dass die Besatzung der Boote von den 1860er Jahren an bis zum Ende der Aufzeichnungen 1936 größtenteils aus Fischern bestand. Da das örtliche, für die Rettungsstation verantwortliche Komitee in der Regel vom Pfarrer geleitet wurde und der Sekretär häufig der örtlichen Küstenwache angehörte, ist anzunehmen, dass eine zweifache Verbindung bestand, nämlich zu anderen humanitären Akteuren genauso wie zu den staatlichen Behörden. Die Einsatzberichte, die mitunter von den Rettungsbootfahrern selbst verfasst wurden, vermitteln einen Eindruck der Gefahren, denen sie auf See ausgesetzt waren. Und sie verdeutlichen, dass sie nicht als einzige für die Rettungsaktionen verantwortlich waren. Die Fischer, die Hafenbehörden sowie die lokale Bevölkerung spielten dabei ebenfalls eine bedeutende Rolle. Während der Humanitarismus im Allgemeinen in diesen Berichten nur selten erwähnt wird, spiegelt er sich dennoch in der Würdigung der Lebensretter wider, und das auch außerhalb der Rettungsbootbewegung.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Die Historikerin Nebiha Guiga ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL im Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Die englische Originalfassung ihres Beitrags erschien auf dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), wo alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Nebiha Guiga: Soziale Lebenswelten und der allgemeine Humanitarismus, in: ZfL Blog, 6.12.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/12/06/nebiha-guiga-soziale-lebenswelten-und-der-allgemeine-humanitarismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221206-01

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Lukas Schemper: HUMANITARISMUS UND SOUVERÄNITÄT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/24/lukas-schemper-humanitarismus-und-souveraenitaet/ Thu, 24 Nov 2022 09:43:39 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2752 Die Rettung von Menschenleben ist eine von vielen Aktivitäten, deren Regelung souveränen Staaten obliegt. Historisch betrachtet gibt es verschiedene Definitionen von Souveränität. Seit dem 19. Jahrhundert bedeutet sie jedoch überwiegend die Kontrolle von Grenzen und die Verabschiedung von Gesetzen innerhalb derselben. So lassen sich die vielfältigen Verbindungen des Begriffs der Souveränität mit der Geschichte des Weiterlesen

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Die Rettung von Menschenleben ist eine von vielen Aktivitäten, deren Regelung souveränen Staaten obliegt. Historisch betrachtet gibt es verschiedene Definitionen von Souveränität. Seit dem 19. Jahrhundert bedeutet sie jedoch überwiegend die Kontrolle von Grenzen und die Verabschiedung von Gesetzen innerhalb derselben. So lassen sich die vielfältigen Verbindungen des Begriffs der Souveränität mit der Geschichte des Schiffbruchs und der Lebensrettung im 19. Jahrhundert auf zweierlei Weise untersuchen: Erstens ausgehend von der Souveränität als einer Form der rechtlichen, (bio)politischen, diplomatischen, territorialen bzw. maritimen Kontrolle, die zunehmend mit humanitären, kommerziellen und sicherheitspolitischen Fragen verknüpft wurde; zweitens anhand der Figur des Souveräns, der als Schirmherr und Förderer humanitärer Initiativen, einschließlich der Seenotrettungsgesellschaften, fungierte und für die Entstehung und das Selbstverständnis dieser Gesellschaften von zentraler Bedeutung war.

I. Wenn man mit Michel Foucault annimmt, dass Ende des 18. Jahrhunderts das Leben und sein Schutz zum Gegenstand politischer Machtausübung wurden, könnte die Entstehung von Lebensrettungsgesellschaften im Allgemeinen und Seenotrettungsgesellschaften im Besonderen dafür ein Beleg sein. Die erste humane society in Europa wurde 1767 in Amsterdam gegründet. Ab den 1770er Jahren entstanden in Großbritannien und anderen Ländern gut funktionierende örtliche Seenotrettungsgesellschaften, und 1824 wurde die britische Royal National Lifeboat Institution (RNLI) als erste staatliche Seenotrettungsgesellschaft gegründet. Mit ihren Maßnahmen verfolgten diese Gesellschaften das Ziel, verunglückte Seeleute zu retten und wiederzubeleben, statt sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen – ein Ziel, das von religiösen und politischen Autoritäten unterstützt wurde, wodurch wiederum die staatliche Souveränität untermauert wurde.[1]

Ein weiterer potenzieller Faktor bei der Entstehung der Seenotrettungsgesellschaften waren Veränderungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Diese Veränderungen waren wiederum nicht unabhängig von der Entwicklung der biopolitischen Machtausübung im 19. Jahrhundert, da Gerettete in wirtschaftliche Produktionsprozesse eingebunden werden konnten. Darüber hinaus führten Marktexpansion und Industrialisierung zu einem neuen Verantwortungsbewusstsein der bürgerlichen Reformkräfte. Folglich traten diese für die Schaffung einer moralischen Ordnung ein, die den kapitalistischen Erfordernissen entsprach.[2] Dass die Gründung eines Rettungsdienstes wie der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) im Jahr 1865 von Vertretern der Schifffahrts- und Versicherungsbranche unterstützt wurde, ist hierfür ein Beleg.

Zwischen den Rettungsvereinen und staatlichen Institutionen bestanden vielfältige Verbindungen. Die Vereine erbrachten nicht nur eine soziale Dienstleistung, sondern suchten bisweilen auch die institutionelle oder ideologische Nähe zum Staat. Besonders deutlich lässt sich das an der Gleichschaltung der DGzRS im Nationalsozialismus und ihrer Einbindung in Marineoperationen während des Zweiten Weltkriegs zeigen. Weniger kontrovers, aber ebenso aufschlussreich ist die Bedeutung, die die RNLI bis heute der Feier ihrer königlichen Schirmherrschaft beimisst. In imperialistischen Kontexten trugen Seenotrettungsgesellschaften auch zur Schaffung ehrenamtlicher Rettungsdienste in den imperialen Einflusszonen bei (wie z.B. im französischen Protektorat Marokko). Im Osmanischen Reich wurde 1866 ein Rettungsdienst für den Bosporus gegründet, der von einer internationalen Kommission ausländischer Delegierter aus Staaten mit Schifffahrtsinteressen im Schwarzen Meer betrieben wurde. Dies verdeutlicht, dass das Osmanische Reich von den europäischen Diplomaten des 19. Jahrhunderts nur als halbsouveräne Macht behandelt wurde. Diese historischen Beispiele veranschaulichen, wie unterschiedliche Formen der Organisation von Rettungsdiensten verschiedene Konfigurationen von Souveränität widerspiegeln.

II. Souveräne – zunächst Monarchen, später republikanische Staatsoberhäupter – trugen auch selbst maßgeblich zur Gründung von Lebensrettungsgesellschaften und deren Selbstverständnis bei. Zu beobachten ist dies im breiteren Kontext des humanitären Mäzenatentums des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Sicht auf den Souverän veränderte. Dieser wurde nun als wohlwollende, fürsorgliche und patriotische Figur gesehen, die sich auch der Bedeutung sozialer Anliegen bewusst war. Zum einen nutzten Philanthropen und Reformer diese neue Rolle des Souveräns zu ihrem Vorteil, indem sie für ihre Projekte und Organisationen seine Schirmherrschaft gewannen. Zum anderen stärkte die öffentliche Unterstützung von Projekten wie der Lebensrettung das Ansehen der Herrscher und ihrer Familien, selbst in republikanischen oder sozialistischen Kreisen. An Seenotrettungsgesellschaften lässt sich die Dynamik des königlichen Mäzenatentums zeigen: So handelte es sich bei der Unterstützung der RNLI durch den unbeliebten König Georg IV. seit 1824 um den bewussten Einsatz des Mäzenatentums, der die Monarchie in einem positiveren Licht erscheinen lassen sollte.[3]

Insgesamt war der symbolische Wert des königlichen Mäzenatentums sogar größer als der finanzielle, da das Attribut ›königlich‹ den Lebensrettungsgesellschaften einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Vereinigungen verschaffte. Die Monarchen stellten beispielsweise ihre Porträts für Medaillen und Auszeichnungen zur Verfügung, mit denen Leistungen im Bereich der Lebensrettung gewürdigt wurden. Im Jahr 1866 stiftete Königin Victoria zum Gedenken an ihren verstorbenen Mann die prestigeträchtige Albert Medal for Lifesaving, die für besonders mutige Taten bei der Rettung auf See verliehen wurde. In Preußen hatte die von König Friedrich Wilhelm III. schon 1833 gestiftete Rettungsmedaille am Band eine vergleichbare Bedeutung. Beide verweisen auf die Konstruktion eines Idealtyps von bürgerlichem Heldentum und moralisch gefestigtem Charakter im 19. Jahrhundert,[4] der den Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie als Vorbild dienen sollte. Für sie konnte der Erhalt einer solchen Medaille ein wichtiger Akt der Anerkennung sein. Selbstverständlich war die Auszeichnung durch Medaillen und andere Symbole streng geregelt. Als Ausdruck politischer Loyalität und staatlicher Zentralisierung konnten sie ausschließlich vom Souverän persönlich verliehen werden.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Der Historiker Lukas Schemper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL in dem Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Die englische Originalfassung seines Beitrags erschien auf dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), in dem alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

[1] Vgl. Johannes F. Lehmann: »Infamie versus Leben. Zur Sozial- und Diskursgeschichte der Rettung im 18. Jahrhundert und zur Archäologie der Politik der Moderne«, in: ders./Hubert Thüring (Hg.): Rettung und Erlösung. Politisches und religiöses Heil in der Moderne, Leiden 2015, S. 45–66.

[2] Vgl. Thomas L. Haskell: »Capitalism and the Origins of the Humanitarian Sensibility, Part 1«, in: The American Historical Review 90.2 (1985), S. 339–361.

[3] Vgl. Frank Prochaska: Royal bounty: the making of a welfare monarchy, New Haven 1995.

[4] Für Frankreich hat dies Frédéric Caille: La figure du sauveteur: Naissance du citoyen secoureur en France, 1780–1914, Rennes 2006, gezeigt.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Schemper: Humanitarismus und Souveränität, in: ZfL Blog, 24.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/24/lukas-schemper-humanitarismus-und-souveraenitaet/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221124-01

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Jonathan Stafford: DIE VISUELLE KULTUR DES SCHIFFBRUCHS UND DER MORALISCHE BETRACHTER https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/21/jonathan-stafford-die-visuelle-kultur-des-schiffbruchs-und-der-moralische-betrachter/ Mon, 21 Nov 2022 09:39:25 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2738 Das Bild eines Schiffbruchs (Abb. 1): das Schiff selbst links im Bild, ein Durcheinander aus zerfetztem Segeltuch und zersplitterndem Holz, Seeleute, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen, sich an Teilen des Schiffs festklammern oder flehend den Mast in Richtung des Himmels hinaufklettern. Das Schiffswrack liegt bedrohlich nahe am felsigen Ufer, das Gefahrenstätte und Zufluchtsort zugleich Weiterlesen

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Pierre-Jacques Volaire (1729-1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm
Abb. 1: Pierre-Jacques Volaire (1729–1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm

Das Bild eines Schiffbruchs (Abb. 1): das Schiff selbst links im Bild, ein Durcheinander aus zerfetztem Segeltuch und zersplitterndem Holz, Seeleute, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen, sich an Teilen des Schiffs festklammern oder flehend den Mast in Richtung des Himmels hinaufklettern. Das Schiffswrack liegt bedrohlich nahe am felsigen Ufer, das Gefahrenstätte und Zufluchtsort zugleich ist. Die wilde See bricht über die Felsen herein – an manchen Stellen macht der mächtige Sturm es nahezu unmöglich, Wasser, Himmel und Land zu unterscheiden. Eine Rettungsleine verbindet das Schiff mit dem Ufer. Andere Figuren versuchen, den in Not geratenen Seeleuten zu helfen, mit Gebeten, aber auch mit praktischen Maßnahmen, etwa der Sicherung des Seils. In der Mitte des Bildes, auf die das Licht der durch die düsteren Wolken hereinbrechenden Sonnenstrahlen unsere Aufmerksamkeit lenkt, kämpfen Menschen um ihr Überleben. Vier Gestalten versuchen, eine Frau in Sicherheit zu bringen. Ihre Brust ist entblößt und der leblose Körper hängt schlaff herab, eine deutliche Referenz auf die Pietà. Ist sie schon tot oder kann sie wiederbelebt werden? Und was ist mit jenen, die sich noch an Bord befinden? Werden sie es schaffen, das rettende Ufer zu erreichen?

Wir sind heutzutage mit Bildern menschlichen Leids mehr als vertraut. Ob im Fernsehen, auf den Bildschirmen unserer Computer oder Mobiltelefone: überall Menschen, die von Krieg, Hunger, Krankheit, Naturkatastrophen oder anderen humanitären Notsituationen betroffen sind. Ihre Bilder rufen Gefühle des Mitleids hervor, des Mitgefühls und der Empathie. Sie bringen uns dazu, als verantwortungsbewusste Staatsbürger-Subjekte in einer sowohl ethischen als auch emotionalen Weise zu reagieren. Dass eine solche Art der Auseinandersetzung mit der Darstellung von Leid angemessen ist, scheint fast selbstverständlich zu sein. Doch was sind die historischen Ursprünge dieses Topos? Wie lassen sich die diskursiven Tropen, die unsere moralischen und affektiven Begegnungen mit dem humanitären Bild bestimmen – die ›Mitleidsmüdigkeit‹, der Zwang hinzusehen –, durch die Geschichte der Ikonographie des Leidens verfolgen?

Die Darstellung gefährdeter Seeleute nimmt in dieser Geschichte einen besonderen Platz ein: Von der holländischen Malerei des Goldenen Zeitalters um 1600 über die Werke des französischen Malers Claude Joseph Vernet aus dem 18. Jahrhundert bis hin zum Proto-Modernismus J.M.W. Turners hat der Schiffbruch auf See die Künstler anhaltend beschäftigt. Aber auch in anderen Medien, in Büchern und auf populären Drucken, selbst auf Gebrauchsgegenständen war der Schiffbruch ein vertrautes Sujet. Möglicherweise ist er das beständigste Thema in der säkularen Ikonographie des Leidens (obwohl er, wie Volaires Gemälde zeigt, durchaus auch ein wichtiger Schauplatz für die Darstellung religiöser Themen in einem irdischen Kontext sein konnte).

Wie hat sich diese Ikonographie im Laufe der Zeit entwickelt? Welche Art von moralischem Subjekt setzen solche Darstellungen als Betrachter voraus und welche Art von Reaktion lösen sie bei diesem aus? Diese Bilder entstanden parallel zur Entwicklung der sozialen und kulturellen Hegemonie des Bürgertums und der des ›modernen‹ Subjekts, der Privatperson im Sinne des Liberalismus. Das Selbstverständnis dieser Figur (und ihre Klassenzugehörigkeit) hingen zunehmend von einer Reihe von Annahmen über ihre moralische Weltanschauung ab. Bilder von Schiffbrüchigen können uns also viel über die Entstehung dieses modernen Subjekts, die Geschichte der Emotionen und ihre Beziehung zur Moral erzählen.

Zwischen der visuellen Kultur des Schiffbruchs und der Geschichte der Seenotrettung bestehen bemerkenswerte Zusammenhänge. George Manby, der Erfinder eines Leinenschussgeräts, mit dessen Hilfe sich ein in Seenot befindliches Schiff in Küstennnähe durch ein Tau ans Ufer binden ließ, gab Gemälde von bedeutenden Schiffswracks in Auftrag, die, wie er behauptete, den Betrachter sowohl belehren als auch emotional ansprechen sollten. Denn immer wieder geht es in der Geschichte der Seenotrettung auch um eine Logik des Sehens. In Erzählungen, die sich mit den Ursprüngen technischer Innovationen zur Rettung von Menschenleben zur See befassen – etwa dem Rettungsboot oder dem Manby-Mörser – werden Zeugen eines Schiffsunglücks immer wieder als hilflose Beobachter an der Küste dargestellt. Wie Hans Blumenberg ausführlich gezeigt hat, hat diese Trope in der Philosophie eine lange und produktive Geschichte. Dabei ist die unbeteiligte Distanzierung angesichts des Leidens anderer zur Metapher par excellence für wissenschaftliche Objektivität und Äußerlichkeit geworden – eine Position, die, wie Blumenberg schreibt, in der Moderne zunehmend unhaltbar wurde.

Insofern der bürgerliche Angehörige eines Staats mit menschlichem Unglück, Not- und Todesfällen konfrontiert wird, aber nicht in der Lage ist, selbst zu handeln, um diesem Leid entgegenzuwirken, erfindet er technische und soziale Hilfsmittel. Damit soll die Kluft zwischen Ufer und Schiff, Zuschauerschaft und Leiden, Affekt und Handlung überbrückt werden. Dieser Ursprungsmythos findet seine Parallele in der ästhetischen Erfahrung, die Adorno und Horkheimer bereits in der Geschichte von Odysseus und den Sirenen gesehen haben: Das an den Mast gefesselte, bewegungsunfähige bürgerliche Subjekt begegnet dem Kunstwerk als einer Form des reinen Affekts. Die Aufgabe, unbeeindruckt die Arbeit des Ruderns zu verrichten, wird derweil anderen auferlegt.

Abb. 2: J.M.W. Turner (1775–1851), Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth, exhibited 1842. Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)  

Wie zuvor bereits Vernet nutzte Turner das Motiv, sich im Sturm an den Mast eines Schiffes binden zu lassen, um die Wahrhaftigkeit und den Realismus seiner Darstellung der Gewalt des Meeres zu bekräftigen. Jedoch deutet Turners Darstellung eines Dampfschiffs, das in einen wilden Schneesturm gerät (Abb. 2) schon darauf hin, dass der für Gemälde von Schiffbrüchen typische distanzierte, ans Ufer gebundene Blickwinkel nicht länger aufrechterhalten werden konnte.

J.M.W. Turner, Lifeboat and Manby Apparatus Going Off to a Stranded Vessel Making Signal (Blue Lights) of Distress, 1831, Victoria and Albert Museum, London.
Abb. 3: J.M.W. Turner, Lifeboat and Manby Apparatus Going Off to a Stranded Vessel Making Signal (Blue Lights) of Distress, 1831, Victoria and Albert Museum, London.

Im Zeitalter moderner Rettungstechniken, die Turner beispielsweise in seinem 1831 entstandenen Gemälde Lifeboat and Manby Apparatus darstellte, in dem ein Rettungsboot auf ein gestrandetes Schiff zufährt und dabei Blaulicht-Notsignale abgibt (Abb. 3), war die Heldenfigur nicht mehr nur ein an das Ufer ›gefesselter‹ Zuschauer, ein romantischer Betrachter der erhabenen Natur, sondern jemand, der selbst ins Wasser ging, um Leben zu retten. Welche Lehre kann der zeitgenössische Betrachter aus Turners ästhetischer Innovation ziehen? Müssen wir in das Meer der Bilder eintauchen oder doch nur unsere Ohren verschließen, um bloß nicht dem Gesang der Sirenen zu verfallen?

Übersetzung: Dirk Naguschewski

 

Der Kulturwissenschaftler Jonathan Stafford ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL in dem Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Die englische Originalfassung seines Beitrags erschien auf dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), in dem alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Jonathan Stafford: Die visuelle Kultur des Schiffbruchs und der moralische Betrachter, in: ZfL Blog, 21.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/21/jonathan-stafford-die-visuelle-kultur-des-schiffbruchs-und-der-moralische-betrachter/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221121-01

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Lukas Schemper: SCHIFFBRUCH DER ZIVILISATION. Überlegungen zu einer Metapher https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/16/lukas-schemper-schiffbruch-der-zivilisation-ueberlegungen-zu-einer-metapher/ Wed, 16 Feb 2022 08:27:58 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2475 Anfang Dezember 2021 besuchte Papst Franziskus auf seiner Griechenlandreise auch die Insel Lesbos und das dortige Flüchtlingslager Kara Tepe, wo zu der Zeit etwa 2.500 Menschen lebten.[1] Kara Tepe ist das Nachfolgelager des 2020 abgebrannten Lagers Moria, wo der Papst schon 2016 war und dessen Überfüllung und hygienische Zustände das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik drastisch Weiterlesen

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Anfang Dezember 2021 besuchte Papst Franziskus auf seiner Griechenlandreise auch die Insel Lesbos und das dortige Flüchtlingslager Kara Tepe, wo zu der Zeit etwa 2.500 Menschen lebten.[1] Kara Tepe ist das Nachfolgelager des 2020 abgebrannten Lagers Moria, wo der Papst schon 2016 war und dessen Überfüllung und hygienische Zustände das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik drastisch vor Augen geführt hatten. Auch wenn sich die humanitären Zustände im Vergleich zu damals gebessert haben und bedeutend weniger Menschen in Kara Tepe untergebracht sind als im Vorgängerlager, so hat sich doch zwischen den beiden Papst-Besuchen in der europäischen Migrationspolitik nichts grundsätzlich bewegt. Im Gegenteil. Wurden einzelne europäische Staaten damals noch von den Regierungen anderer Staaten sowie der Europäischen Kommission für das Errichten von Zäunen zur Abwehr von Migranten kritisiert, so haben mittlerweile mehrere Mitgliedsstaaten die EU gebeten, sie eben dabei zu unterstützten.[2] Zudem kommt es wieder vermehrt zu Tragödien durch das Kentern von Flüchtlingsbooten. Mindestens 1.500 Menschen starben so 2021 allein im Mittelmeer.[3]

Angesichts dieser bestürzenden Realität sprach der Papst in seiner Ansprache, wie schon fünf Jahre zuvor, von einem »Schiffbruch der Zivilisation«. Das Mittelmeer als Wiege verschiedener Zivilisationen dürfe sich nicht in einen »Spiegel des Todes«, das »Mare Nostrum« dürfe sich nicht in ein »trostloses Mare Mortuum« verwandeln.[4] Die Verwendung von Seefahrtmetaphern hat in der Geschichte des europäischen Denkens Tradition und mag daher nicht besonders originell erscheinen. Im Zusammenhang mit den im Mittelmeer und im Ärmelkanal ertrinkenden Menschen entfaltet sie dennoch große Wirkung. Dem physischen Untergang der Flüchtlingsboote durch unterlassene Hilfeleistung wird der moralisch-zivilisatorische Untergang Europas, ja, der ganzen Menschheit an die Seite gestellt – denn wie der Papst betont, ist Migration nicht nur ein regionales, sondern ein globales Thema. Aufgrund ihrer Prägnanz wurde deshalb wohl auch genau diese Metapher aus der Rede des Papstes weltweit in die Titel der Zeitungsberichte gehievt. Aber was soll durch die Verwendung der Schiffbruchmetapher ausgedrückt werden? Welche Funktion erfüllt sie? Und was ist überhaupt mit Zivilisation gemeint?

Christliche Metaphorik?

Da es sich beim Redner um das Oberhaupt der katholischen Kirche handelt, könnte man auf den ersten Blick einen Zusammenhang mit dem christlich-biblischen Topos vom Schiffbruch vermuten. Neben der alttestamentarischen Geschichte vom Propheten Jonas und dem Wal (die sowohl die Wandlung des vom Wal Ausgespienen als auch die bis in die Tiefen des Ozeans hinabreichende Allmacht Gottes verdeutlicht), fällt einem auch der in der neutestamentarischen Apostelgeschichte enthaltene Schiffbruch des Paulus ein. Wie von einem Engel prophezeit, wird die ganze Besatzung des in Seenot geratenen Schiffes gerettet, mit dem der Gefangene Paulus transportiert wird. Interpretationen dieser Geschichte haben etwa den ›Heilssinn‹ der Rettung vor dem Schiffbruch hervorgehoben (die göttliche Mission des Paulus wird damit gewährleistet), oder die durch den Schiffbruch versinnbildlichte Zäsur zwischen heidnischer und christlicher Welt, in der alle Passagiere – ohne jegliche Unterscheidung – gerettet würden.[5] Dass alle Menschen als Geschwister gleichermaßen an der göttlichen Schöpfung teilhaben sollen und daher auch jedes Menschenleben gerettet werden muss, ist sicherlich ein wichtiger Teil der Ansprache des Papstes.

Beim »Schiffbruch der Zivilisation« geht es aber weder um die Allmacht Gottes noch um den Heilssinn. Es geht vielmehr um den Verlust moralischer Werte. Lange Zeit durch den eurozentrischen Beigeschmack der mission civilisatrice zu Recht in Verruf geraten, scheint der Begriff der Zivilisation wieder in Gebrauch zu kommen.[6] Wie schon im 19. Jahrhundert umfasst er Normen und Institutionen, die es zu propagieren gilt. In diesem Fall erfolgt die Missionierung jedoch nicht in entlegenen Regionen der Erde, sondern in der eigenen Gesellschaft, die – denn das impliziert die Verwendung des Begriffs Zivilisation ja wohl – in die Barbarei zu fallen droht. Dies lässt sich mit dem Schiffbruch gut veranschaulichen, denn sowohl im Deutschen als auch in den romanischen Sprachen (naufrage, naufragio, etc.) beinhaltet die entsprechende Bezeichnung das Wort ›Bruch‹ (im Lateinischen frangere, ›brechen‹). Es ist ein Bruch, der für Tod und Endzeitstimmung stehen kann (wie dies etwa bei Jonas der Fall ist), aber auch allgemeiner für eine »existentielle und gemeinschaftliche Bodenlosigkeit«,[7] die sich auf die Auflösung von Ordnung, Autorität und Moral – auch in einem ganz terrestrischen Kontext – beziehen kann. Auf Französisch ist ein Schiff, das physisch Gefahr läuft Schiffbruch zu erleiden, en perdition; genauso wie ein Mensch in moralischer Weise en perdition sein kann.[8] Das Schiffsunglück der französischen Fregatte Méduse im Jahre 1816 wurde wie kein anderes Ereignis zur Versinnbildlichung der Verbindung zwischen Schiffs- und Zivilisationsbruch, wobei die französische Öffentlichkeit damals von Meuterei und Kannibalismus ebenso moralisch schockiert war wie von der Aufgabe der Besatzung durch den Kapitän und die französische Marine. Das Beispiel zeigt im Übrigen, dass ein Schiffbruch genauso viel über das Schicksal der Ertrinkenden aussagen kann wie über die Moral der Zuschauer, die wiederum Ausdruck der Verfassung einer Gesellschaft ist.[9]

Was könnte man unserer Gesellschaft in ihrem Umgang mit Flüchtenden attestieren? Zumindest zwei große Normen werden gebrochen: die Verpflichtung zur Aufnahme Schutzsuchender und die Verpflichtung, in Seenot geratene Menschen zu retten. Was den ersten Punkt betrifft, so ist der Schutz von Flüchtlingen in Europa eigentlich durch die völkerrechtliche Verpflichtung abgedeckt, dass Staaten die Rechte der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Menschen (Staatsbürger wie Fremde) zu gewährleisten haben.[10] Die moralische Verpflichtung, auf See denjenigen, die in Gefahr sind, Hilfe zu leisten, gibt es seit hunderten von Jahren. Die Häufung maritimer Unfälle im 19. Jahrhundert gepaart mit humanitären Erwägungen haben dieses Prinzip im 20. Jahrhundert dann in diverse internationale Konventionen einfließen lassen.[11] Auch unter Küstenbewohnern hat sich seit dem 18. Jahrhundert eine Kultur des Rettens von Schiffbrüchigen entwickelt. Erklären kann man das unter anderem mit der Schaffung finanzieller Anreize oder der Gründung professioneller Seenotrettungsgesellschaften.[12] Letztere stehen heute in ausländerfeindlichen Kreisen für ihre humanitäre Arbeit vermehrt in der Kritik.

Die Rede des Papstes geht jedoch gar nicht im Detail auf diese konkreten rechtlichen oder gesellschaftlichen Normen ein, sondern bezieht sich viel allgemeiner auf »christliche Wurzeln« humanitären Denkens und Handelns.[13] Da alle Menschen Kinder Gottes sind, die dieser nach seinem Abbild schuf, müssen sich auch alle Menschen geschwisterlich behandeln und jede*n an der Schöpfung teilhaben lassen (ohne Gegenleistung zu verlangen). Das Handeln Jesu versinnbildlichte diese christliche Sozialtätigkeit wie der Verweis des Papstes auf Mt 25,40–45 zeigt (»Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«). Der Einfluss dieses Gedankenguts auf die Entwicklung karitativer, sozialer und humanitärer Initiativen bis in die Gegenwart ist unbestritten. Man denke nur an das calvinistische Umfeld der Rot-Kreuz-Gründer in Genf oder den Einfluss des Quäkertums auf die Antisklavereibewegung. Das Gleichnis des Barmherzigen Samariters, auf das sich auch Papst Franziskus in seiner Rede bezieht, ein spectacle de la souffrance, wurde zum Paradigma des auf Mitgefühl basierenden humanitären Handelns à distance schlechthin.[14]

Man könnte versucht sein aus dieser Geschichte abzulesen (und Papst Franziskus tut dies in gewisser Weise auch), dass das Christentum moderne Menschenrechte bereits in biblischen Zeiten ›erfunden‹ hat. Dabei würde es reichen, in das 19. Jahrhundert zurückzuschauen, um eine Kirche vorzufinden, die sich den heute gebräuchlichen Menschenrechten, aufgefasst als Erbe des Säkularismus der französischen Revolution, widersetzte. Spätestens seit den 1940er Jahren haben sich christliche Kirchen jedoch Begriffe wie Menschenwürde und Menschenrechte angeeignet und zu deren Verteidigung beigetragen.[15] Sie sind daher heute fester Bestandteil christlicher Moral und gehören auch zum Selbstverständnis der genannten Zivilisation ›mit christlichen Wurzeln‹, vor deren Untergang der Papst warnt.

Eine Metapher für die globalisierte Welt

In einer Zeit globaler Herausforderungen wie Flucht, steigender Ungleichheit, Gefährdung von Rechtsstaatlichkeit, Klimawandel und Pandemien ist grenzüberschreitendes, moralisch richtiges Handeln erforderlich. Doch statt der vom Papst in seiner Rede geforderten nationalen Grenzüberschreitung zur Lösung der Probleme[16] kommt es lediglich zu moralischen Grenzüberschreitungen. Hier bietet sich die Metapher des Schiffbruchs offenkundig an, um das kollektive moralische Scheitern zu beschreiben. Statt des seit Aristophanes und Horaz gerne metaphorisch gebrauchten Staatschiffs[17] (das Schiff einer politischen Gemeinschaft) sehen Beobachter aktuell ein ganzes globales Zivilisationsschiff der Moralbefreiten auf Grund laufen. Dieses Bild des Niedergangs hat der französisch-libanesische Schriftsteller Amin Maalouf in seinem 2019 erschienenen Buch Le naufrage des civilisations zum Leitmotiv erhoben.[18]

Die Migrationsfrage ist bei Maalouf nur Symptom eines viel größeren, globalen Schiffbruchs. Diese Metapher sei auf verschiedene Probleme anwendbar, die jedoch dem Autor zufolge alle in der arabisch-muslimischen Welt ihren Ausgang nehmen und sich wie Wellen über den Globus ausbreiten. In einer Mischung aus autobiographischer Beobachtung und historisch-geopolitischer Skizze der vergangenen Jahrzehnte beschreibt Maalouf jene Momente der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, an denen seiner Meinung nach das Zivilisationsschiff von seinem Kurs abkam und auf sein Kentern zusteuerte. Dies begann ihm zufolge mit der unglücklichen Schaffung arabischer Staaten nach westlichen Vorstellungen in Folge des Ersten Weltkriegs. Andere Entwicklungen betreffen das Ausschalten moderner Eliten durch den Westen im Namen des Kampfes gegen den Kommunismus (Indonesien, Iran) und den Aufstieg eines sektenhaften islamischen Kommunitarismus. Für die neuere Zeit konstatiert er eine Desillusionierung der Jugend aufgrund von Ungleichheit und mangels Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, aus der die Hinwendung zu falschen Vorbildern und der Aufstieg extremistischer identitärer Ideologien folge. Dass sich die Erben der bedeutendsten antiken Zivilisationen in Ländern wie Libyen, Syrien oder dem Irak in »wütende und rachsüchtige Stämme« verwandeln konnten, die Steinigungen und Enthauptungen durchführen, ist für Maalouf besonders schmerzlich. Anstatt das Erbe der alten Zivilisationen anzutreten, »flüchten sich ihre Bewohner auf Flößen wie eben nach einem Schiffbruch« (17).

Aber welcher Kurs wäre der richtige gewesen? Als Zivilisation definiert Maalouf alles was unsere Spezies geschaffen hat und worauf wir zu Recht stolz sein können. Besonders stolz ist er auf die Koexistenz verschiedener religiöser, kultureller und sprachlicher Gemeinschaften wie sie bei der Gründung des Libanon geplant und gelebt, jedoch durch zahlreiche äußere kriegerische Konflikte und Einflussnahmen zermürbt wurde. Er ist überzeugt, dass die arabisch-muslimischen Gesellschaften – und damit die ganze Menschheit – eine andere Richtung eingeschlagen hätten, wenn sie diese gelebten levantinischen Werte der Pluralität, Vernunft und Zukunftsgewandtheit übernommen hätten. Stattdessen erkennt Maalouf sowohl im arabisch-muslimischen Raum, als auch global eine Tendenz zu Separatismus, tribalem Egoismus und nationalen Lösungen, die sich bei globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel als fatal herausstellen. Europa habe nicht den Willen dazu, »einen moralischen Kompass zu liefern« (308), ein »Steuermann« zu sein (310) – und der europäische Traum sei bereits dabei, Schiffbruch zu erleiden.

Zwischen Ausweglosigkeit und Warnung

Auf der einen Seite hat die Verwendung der Schiffbruchmetapher etwas Fatalistisches an sich. Maalouf sieht sich nicht nur als Beobachter des Schiffbruchs, sondern wähnt sich mit allen Zeitgenossen an Bord des havarierenden Schiffes. Ein Unglück aber lässt sich nicht vermeiden, wenn man nicht das Steuer in die Hand nimmt. Besonders dann, wenn »eine Spirale am Werk ist, die niemand absichtlich in Gang gesetzt hat, in die wir aber alle zwangsweise hineingezogen werden und die unsere Zivilisationen zu vernichten droht« (335). Auf der anderen Seite haben deklinistische Literatur und ihre Metaphern aber auch einen warnend-präventiven Sinn: Entweder der Schiffbruch ist bereits im Gange, lässt sich aber noch verhindern, oder er bietet die Möglichkeit für einen Neuanfang. Bei allem Pessimismus geht Maalouf davon aus, dass der Menschheit wie nie zuvor die Mittel zur Verfügung stehen, um »eine Ära der Freiheit, des makellosen Fortschritts, der globalen Solidarität und des gemeinsamen Wohlstands« (15) einzuläuten. Und hofft, dass sie sich nicht so einfach mit der Vernichtung all dessen abfinden wird, was sie aufgebaut hat, sobald sie sich des nahenden Zusammenbruchs ihrer Zivilisation bewusst wird. Daher unterstreicht er die Notwendigkeit »zu warnen, zu erklären, zu ermahnen und zu verhindern« (375).

Auch die Rede des Papstes ist eine Warnung. Sein Lösungsvorschlag zielt darauf ab, die der humanitären Situation zugrunde liegenden Ursachen anzugehen – darunter Ausbeutung der Armen, Waffenhandel und Krieg. Der Schiffbruch der Zivilisation sei zwar im Gange, aber man könne, man müsse ihn stoppen. Dabei schreckt der Papst nicht vor Vergleichen mit dem Holocaust zurück, wobei es ihm wohl nicht um eine fragwürdige Äquivalenz geht, sondern um das warnende Beispiel einer Katastrophe, die ebenfalls durch den schleichenden Verfall gesellschaftlicher Normen begünstigt wurde. Immerhin wählt der Papst ein Zitat des Holocaustüberlebenden Elie Wiesel, um seinen wichtigsten Vorschlag zu unterstreichen, nämlich dass man im Anderen den gemeinsamen Ursprung durch das Menschsein erkennen könne. Man müsse in ihm ein einzigartiges Individuum sehen, nicht nur die Kategorie des gesichtslosen Migranten.[19] Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, der immer wieder versucht hat, für die Bewältigung humanitärer Katastrophen zu mobilisieren, und im Scheitern einer humanen europäischen Flüchtlingspolitik bereits 2013 einen »Schiffbruch Europas« sah,[20] will hier eine Reminiszenz an sein intellektuelles Vorbild Emmanuel Levinas erkennen, wenn der Papst uns auffordert, den angsterfüllten Gesichtern der »Nackten und Hungrigen« in die Augen zu schauen.[21] Levinas, dessen Ideen durch seine Erfahrungen mit der Shoah geprägt waren, konzipierte eine Ethik, die das Leiden aus zwischenmenschlicher Perspektive erforschte. Erst durch das Ansehen des Antlitzes des Anderen würde man sich seiner Verantwortung für ihn/sie bewusst und hätte dann keine andere Wahl, als auf die Bedürfnisse des Anderen zu reagieren um ihm/ihr seine/ihre Autonomie zurückzugeben.[22] Eine solche Ethik könnte uns also den Weg zu einer Verhinderung des Schiffbruchs mit Totalschaden weisen. Ohne Zynismus, aber doch in kritischer Absicht muss man sich fragen, ob die päpstliche Warnung ausreichend ist.

Der Historiker Lukas Schemper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL in dem Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«.

[1] Vgl. z. B. Dominik Straub: »Flüchtlinge: Papst Kritisiert ›Schiffbruch der Zivilisation‹«, in: Der Standard, 5.12.2021; Nektaria Stamouri: »Pope Francis Denounces Europe’s Migrant Crisis as ›Shipwreck of Civilization‹«, in: Politico, 5.12.2021; Cécile Chambraud: »›Arrêtons ce naufrage de civilisation !‹: Le discours cinglant du pape François à l’UE sur la question migratoire«, in: Le Monde, 5.12.2021.

[2] Vgl. Jacopo Barigazzi: »EU’s External Walls Are Dividing Bloc Internally«, in: Politico, 20.11.2021.

[3] Vgl. »Shipwrecked Refugee Crossings Leave 164 Dead in Mediterranean, Says UN«, in: The Guardian, 21.12.2021.

[4] Ansprache von Papst Franziskus, Apostolische Reise von Papst Franziskus nach Zypern und Griechenland (2.–6. Dezember 2021), Besuch bei Flüchtlingen, Aufnahmezentrum in Mytilene, 5.12.2021.

[5] Die betreffenden Bibelstellen sind Buch Jona 1,1–2,11 und Apostelgeschichte 27,1–27,44. Für eine genauere Besprechung dieser biblischen Schiffbrüche vgl. Burkhardt Wolf: Fortuna di Mare: Literatur und Seefahrt, Zürich 2013, S. 67‑71.

[6] Der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel hat vor Kurzem den in früheren Zeiten verbreiteten Begriff der Zivilität (civility) ins Spiel gebracht, um interkulturell gültige Formen des Anstands und moralisch ›guten‹ Handelns zu bezeichnen: Jürgen Osterhammel: »Epilogue: From Civilizing Missions to the Defence of Civility«, in: Boris Barth/Rolf Hobson: Civilizing Missions in the Twentieth Century, Leiden 2020, S. 209–228.

[7] Wolf: Fortuna di Mare (Anm. 5), S. 16 f.

[8] Vgl. Gilbert Buti/Alain Cabantous: De Charybde en Scylla: risques, périls et fortunes de mer du XVIe siècle à nos jours, Paris 2018, S. 141 f.

[9] Dies ist eine Untersuchungsrichtung, die u.a. vom zu diesem Thema wegweisenden Blumenberg eingeschlagen wurde: Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979.

[10] Vgl. Manfred Nowak/Antonia Walter: »Flucht und Asyl in der Geschichte der Menschenrechte«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 28.2 (2017), S. 170–192, hier S. 170.

[11] Vgl. Felicity G. Attard: The Duty of the Shipmaster to Render Assistance at Sea under International Law, Leiden 2021, S. 18‑28.

[12] Vgl. Buti/Cabantous: De Charybde en Scylla (Anm. 8), S. 250‑252.

[13] Ansprache des Papstes (Anm. 4).

[14] Die Szene aus Lukas 10,25–37 wird ausführlich diskutiert in Luc Boltanski: La souffrance à distance: Morale humanitaire, médias et politique, Paris 1993.

[15] Vgl. zum Einfluss der christlichen Religionen auf die Konzeption der Menschenrechte Samuel Moyn: Christian Human Rights, Philadelphia 2015.

[16] In der Ansprache des Papstes heißt es: »Für eine Wendung zum Guten braucht es keine unilateralen Aktionen, sondern eine weitreichende Politik« und, Elie Wiesel zitierend: »Wenn Menschenleben in Gefahr sind, wenn die Menschenwürde in Gefahr ist, werden nationale Grenzen irrelevant«.

[17] Zur Geschichte dieses Begriffes und besonders seiner Anwendung im Zusammenhang mit Europa auf supranationaler Ebene vgl. Stephan Leibfried: »Staatsschiff Europa«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (2010), S. 41–46.

[18] Amin Maalouf: Le naufrage des civilisations, Paris 2019 (alle weiteren Zitate in meiner Übersetzung direkt im Text).

[19] »Da ich mich an unseren gemeinsamen Ursprung erinnere, nähere ich mich den Menschen, meinen Geschwistern. Da ich mich weigere zu vergessen, ist ihre Zukunft genauso wichtig wie meine«, Elie Wiesel, zit. nach Ansprache des Papstes (Anm. 4).

[20] Bernard-Henri Lévy: »Lampedusa : Le Naufrage de l’Europe«, in: La Règle du Jeu, 13.10.2013.

[21] Bernard-Henri Lévy: »Schiffbruch der Zivilisation«, in: Süddeutsche Zeitung, 7.12.2021.

[22] Vgl. Emmanuel Levinas: De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1992, S. 231‑258.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Schemper: Schiffbruch der Zivilisation. Überlegungen zu einer Metapher, in: ZfL BLOG, 16.2.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/02/16/lukas-schemper-schiffbruch-der-zivilisation-ueberlegungen-zu-einer-metapher/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220216-01

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Henning Trüper: HUMANITÄRE UND HISTORISCHE BRÜCHE https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/11/24/henning-trueper-humanitaere-und-historische-brueche/ Tue, 24 Nov 2020 09:09:53 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1622 I. Dass die Zeit kontinuierlich verläuft, dass ihre Unterteilung stets ein bloßer Akt der Willkür ist, dass bei jeder Veränderung, gleich wie tief der Einschnitt erscheint, vieles auch unverändert bleibt – diese und ähnliche Annahmen gehören zu den kaum verrückbaren geschichtswissenschaftlichen Grundüberzeugungen, denen gegenüber sich jede kulturwissenschaftliche Frage nach Diskontinuitäten oder Brüchen im historischen Geschehen Weiterlesen

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I. Dass die Zeit kontinuierlich verläuft, dass ihre Unterteilung stets ein bloßer Akt der Willkür ist, dass bei jeder Veränderung, gleich wie tief der Einschnitt erscheint, vieles auch unverändert bleibt – diese und ähnliche Annahmen gehören zu den kaum verrückbaren geschichtswissenschaftlichen Grundüberzeugungen, denen gegenüber sich jede kulturwissenschaftliche Frage nach Diskontinuitäten oder Brüchen im historischen Geschehen von vornherein im Nachteil befindet. Um diesen Nachteil auszugleichen, bietet es sich an, eine Art Umgehungsmanöver zu veranstalten, indem man sich darüber Gedanken macht, wie sich historische Akteure zum Problem des Bruchs mit der Vergangenheit verhalten.

Zum Beispiel in der Geschichte humanitärer Bewegungen seit dem 18. Jahrhundert: Blickt man etwa in die Quellen der abolitionistischen Bewegung, der wenig später entstehenden Bewegung zur Einführung eines Seenotrettungswesens oder auch der in Großbritannien seit den 1820er Jahren bestehenden Bewegung für die weniger grausame Behandlung von Nutztieren, wird schnell deutlich, dass hier ein gemeinsames Muster des Vergangenheitsbezugs besteht. Man nutzt die Rede vom Bruch mit der Vergangenheit, von der historischen Diskontinuität, die die eigene Bewegung bedeute, als Metapher, mit der die Radikalität der eigenen Forderung zum Ausdruck gebracht werden soll. Der britische Pamphletist William Hillary schreibt 1823, durch seinen Aufruf zur Gründung einer nationalen Seenotrettungsgesellschaft werde ein »Schleier« fortgezogen, der den Küstenbewohnern in der Vergangenheit ihre Pflicht, den Schiffbrüchigen zu Hilfe zu kommen, verborgen habe.[1] Hinter dieses schlagartig eingetretene Bewusstsein kann man nicht zurück. Das Verständnis der moralischen Wirklichkeit ist grundsätzlich verändert. Denn dass die fraglichen Werte und Normen Wirklichkeitsbezug haben, ist in dem von Hillary gewählten Sprachspiel unzweifelhaft.

Der Wirklichkeitsbezug der moralischen Sprache – meist unter dem Stichwort der Geltung verhandelt – verkompliziert das Verständnis der Diskontinuität. Man könnte sich ja einfach auf den Gedanken zurückziehen, dass Diskontinuitäten eben Brüche des menschlichen Bewusstseins sind, denen in der nicht geistigen Wirklichkeit nichts entspricht. Doch die moralische Sprache behauptet mehr. Für Hillary war klar, dass die Verpflichtung gegenüber den Schiffbrüchigen immer schon bestanden hatte. Der Schleier, der diese Geltung verhüllte, war ebenso wirklich (eine Wirklichkeit des Bewusstseins). Die Höflichkeit seiner Formulierung ist übrigens bemerkenswert.

Die deutsche Seenotrettungsbewegung, die in den 1860er Jahren entstand, nicht zuletzt unter dem Eindruck, dem britischen Vorbild nacheifern zu müssen, prangerte direkt die Gewohnheiten der Küstenbewohner an, die unter dem sogenannten Strandrecht vom Schiffbruch profitierten und darum den Schiffbrüchigen nicht zu Hilfe kämen (eine recht verkürzte Sichtweise auf die Verhältnisse). Diese Behauptung über das ökonomische Interesse riss dem Schleier selbst den Schleier ab. Keineswegs ging es nur um ein verfehltes Bewusstsein, sondern man hatte es mit wirklichen Körpern zu tun, deren Bedürfnisse das Bewusstsein bestimmten. Der Bruch, um den es gehen sollte, hatte insofern eine nicht auf den bloßen Zusammenhang mit mentalen Prädikaten beschränkbare ontologische Bedeutung. Die Diskontinuität wird solchermaßen zur Eigenschaft der Wirklichkeit selbst.

Die Seenotrettung verlangte, ein Risikokalkül aufzugeben, das die Zeugen eines Schiffbruchs von der Hilfspflicht gegenüber den Schiffbrüchigen entband, sofern Gefahr für ihr eigenes Leben bestand. Die Zeitschrift der französischen Seenotrettungsgesellschaft forderte in ihrem ersten Heft 1866 eine »folie de dévouement«, einen »Wahnsinn der Hingabe« seitens der Rettungsleute, die also aller Rationalität entsagen müssten, um ihrer Pflicht gerecht zu werden.[2] Ein einfaches Erkennen der Geltung der moralischen Norm, wie ehedem noch von Hillary gefordert, reichte als Handlungsmotivation nicht aus. Die einfache praktische Vernunft, und sei sie auch mit moralischem Gefühl angereichert, wie man es aus den Moralphilosophien der Aufklärungszeit kennt, sollte durch das humanitäre Werk geradezu auf den Kopf gestellt werden.

Humanitäre Bewegungen suchen den Bruch mit alltäglichen Gewissheiten über die Geltung und Bedeutung bestimmter moralischer Normen. Sie nutzen dazu ein reichhaltiges Repertoire symbolischer Mittel. Auffällig ist die Analogie zu dem, was Gaston Bachelard unter dem Stichwort des epistemologischen Bruchs für die Naturwissenschaften formulierte: Das wissenschaftliche Wissen entsteht in Absetzung von Gewissheiten des alltäglichen Wissens. Da es aber an diese Entstehungsbedingung gebunden bleibt, lässt sich die Wissenschaft nie vollständig vom gesellschaftlich-kulturell vermittelten Fürwahrhalten ablösen, und die Vorstellung einer vollständigen Systematisierbarkeit des wissenschaftlichen Wissens bleibt Illusion.[3] So auch im Fall der humanitären Bewegungen, in denen moralische Normen in Absetzung von alltagsmoralischen Überzeugungen entwickelt werden. Auch dieser Vorgang bleibt an die konkreten Bedeutungsinhalte der alltäglichen Denkweisen gekoppelt. Obwohl der Humanitarismus als einheit­liches moralisches Gebilde daherzukommen scheint, erweist er sich als Stückwerk, je nach Bewegung gebunden an »single issues«, die jeweiligen Anliegen, um die herum sich wirkmächtige Organisationsformen bilden.[4] Zwar haben die humanitären Bewegungen durchaus Verkehr untereinander. Sie bleiben jedoch in ihrer moralischen Sprache voneinander isoliert, jeweils nach Maßgabe ihres Gegenstands. Eine Überführung dieser Struktur in eine allgemeingültige, etwa anhand der Menschenrechte organisierte Moralität zeichnet sich nicht ab. Stattdessen folgen die Bewegungen allenthalben dem Muster einer Triage, einer Auswahl der dringlichsten Anlässe, die aber auch passiv, unwillkürlich, nach situativen Gegebenheiten erfolgen kann.

Und dennoch passt sich dasjenige Sprachspiel, in dem nicht die konkreten moralischen Normen, sondern die moralische Geltung überhaupt verhandelt wird, nicht an die Erfordernisse der Humanitarismen an. Es erhält weiterhin einen Anspruch auf Einheitlichkeit und systematische Konsistenz moralischer Normen aufrecht, der seit der Aufklärung auch verzeitlicht ist. Dieses System der Moral werde sich allmählich vervollkommnen lassen, indem man es von unten aufbaue, »issue« für »issue«, der allgemeinen Humanität entgegen. Und das hieße auch: Bruch für Bruch mit den moralischen Unvollkommenheiten der Vergangenheit.

II. Die Vorstellung der moralischen Vervollkommnung, die sich (wie man es etwa von Kant und Hegel kennt) in eine rechtlich-politische übersetzt (ewiger Frieden, Rechtsstaat), gehört – gleichgültig, ob in Affirmation oder Gegnerschaft – zu den Grundformen des politischen Denkens der Moderne in Europa. Das Wissen von der Geschichte hat an diesem Denken teil. Die Vorstellung eines einheitlichen Verlaufs ist vielleicht sogar der hauptsächliche Beitrag des Geschichtsdiskurses – nicht nur der Moderne, sondern auch der Vormoderne – zum politischen Denken.

Die Rede von den Epochen orientiert sich am Schema der Abfolge der ›Reiche‹, der imperialen politischen Ordnungen, die dem biblischen Buch Daniel zufolge die Weltzeit bis zu deren Aufhebung durch Gott bestimmt. Der Zeithorizont der Welt ist zunächst der einer unabsehbaren und unkoordinierten Folge von Zeitaltern; Gott offenbart jedoch dem Propheten, wann in der Abfolge das Ende erreicht sein wird. Das Zeitalter, die Epoche wird damit zu einem Instrument, mit dessen Hilfe das Eintreffen des Endes aller Enden bestimmt werden kann. Die kleine Diskontinuität in der Zeit ist so ein mittelbares Offenbarungsereignis, das die große Diskontinuität, das Ende der Weltzeit überhaupt, ermessen lässt. Epochenbrüche, Umstürze imperialer Ordnungen, sind theologische Messinstrumente.

An diesem überkommenen theologischen Bedeutungsgefüge hat nicht nur die Geschichte, sondern auch die Sprache der Moral in der Moderne ihren Teil. Doch anders als die Geschichtsschreibung, die sich gewissermaßen nicht aus eigener Kraft von der Voraussetzung der Einheitlichkeit der Weltzeit gelöst hat, hat die moralische Sprache vermittelt durch die humanitären Bewegungen ein konkretes Verfahren zur Herstellung von Brüchen in der zeitlichen Dauer der Geltung moralischer Normen entwickelt, das sich von der Perspektive der Vervollkommnung einer einheitlichen moralischen Ordnung emanzipiert.

Und es scheint, als imitiere die Geschichtswissenschaft dieses Verfahren. Denn auch in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung gibt es viele unterschwellig mitlaufende Rettungsdiskurse. Die Historie übernimmt das Muster des humanitären Bruchs. Das Vergangene wird vor dem Vergessen überhaupt ›gerettet‹, ähnlich die Opfer vor dem Vergessen der Schuld und Totengedenken und Trauerarbeit vor ihrem Verschwinden. Das Vergessen entspricht dem alltäglichen Umgang mit dem Vergangenen; die Geschichtsschreibung entreißt diesem Vergessen manches, nicht alles, vielleicht auch nie (oder im Gegenteil immer schon) genug. Allerdings ist die Geschichtswissenschaft auch selbst vergesslich. Sie expandiert immer weiter und revidiert beständig ihre bisherigen Leistungen, rettet zunehmend auch Vergangenes vor ihren eigenen vorangegangenen Rettungsversuchen.

Die Geschichtsschreibung steht daher kaum auf einer so soliden Grundlage der Geltung, dass ihre Bemühungen vollständig in Sprache und Praxis der Humanitarismen einzufügen wären. Sie eignet sich bloß ein Element aus der moralischen Sprache an. Diese Aneignung ermöglicht der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung letztlich auch einen Umgang mit Epochenbegriffen, der sich stärker am Muster des humanitären Bruchs als an dem zugleich noch nachwirkenden theologischen Muster der Abfolge von Reichen (bis hin zum Reich Gottes) orientiert. Das Ende aller Enden verschwindet zunehmend aus ihrer Gedankenwelt und wird durch Normen und Werte der Rettung ersetzt. Doch auch diese Entwicklung hat ihre Kosten. Die Anschließung der Sprache des Geschichtlichen an die der humanitären Moral ist auch eine Belastung, die eine vorgeblich bloß an der Faktizität interessierte Geschichtsschreibung zumeist nur ignoriert.

Der Historiker Henning Trüper leitet am ZfL das ERC-Projekt »Humanitäre Imperative. Lebensrettung aus Seenot und Schiffbruch im Modernen Europa«. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltblatt zum Jahresthema des ZfL 2020/21, »Epochenwenden«.

[1] William Hillary: An Appeal to the British Nation on the Humanity and Policy of Forming a National Institution on the Preservation of Lives and Property from Shipwreck, London 1823.

[2] Anon.: »Avant-propos«, in: Annales du sauvetage maritime 1 (1866).

[3] Gaston Bachelard: La formation de l’esprit scientifique: Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective, Paris 1938.

[4] Vgl. Monika Krause: The Good Project: Humanitarian Relief NGOs and the Fragmentation of Reason, Chicago 2014.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Henning Trüper: Humanitäre und historische Brüche, in: ZfL BLOG, 24.11.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/11/24/henning-trueper-humanitaere-und-historische-brueche/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201124-01

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