Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges

Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3] „Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges“ weiterlesen

Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: EVALD ILYENKOV AT 100

Fig. 1: Evald Ilyenkov in the early 1950s. Credits: Elena Illesh

February 18th 2024 marked the centenary of the birth of Evald Ilyenkov (1924–1979) – a brilliant and influential Soviet philosopher whose most important early works remained unpublished during his lifetime (fig. 1). Two days before Ilyenkov’s 100th birthday, Russian opposition leader Alexei Navalny was found dead in a Siberian prison colony; that news overshadowed the little attention given to Ilyenkov’s anniversary in Russia. The manner in which Ilyenkov’s centenary and Navalny’s death were treated reflects memory culture in Putin’s Russia, where the legacies of Soviet Marxism are often suppressed by ultra-nationalist propaganda. Abroad, Ilyenkov’s prestige has seen a remarkable rise in recent years, accompanied by translations and new scholarship in, for example, Sweden, Ukraine, Peru, Turkey, Canada and Cuba. „Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: EVALD ILYENKOV AT 100“ weiterlesen

Zaal Andronikashvili: PHILOSOPHIE ALS SCHÖPFERISCHER AKT. Zum 30. Todestag Merab Mamardaschwilis

Merab Mamardaschwili (1930–1990) ist ein, wenn nicht der bedeutendste Philosoph aus der Sowjetunion. Der »georgische Sokrates« (Jean-Pierre Vernant) genießt in seiner georgischen Heimat und in Russland, wo er mehrere Generationen von Philosoph*innen beeinflusst hat, beinahe kultische Verehrung. Mamardaschwilis Philosophie aber wurde von seinem Kultstatus geradezu erdrückt: Er ist als philosophische Pop-Ikone in Georgien und Russland allgegenwärtig, er wird bewundert, passend oder unpassend zitiert, aber wenig gelesen. Außerhalb der ehemaligen Sowjetunion ist er weitgehend unbekannt geblieben, in deutscher Übersetzung liegen nur einzelne Vorträge und Aufsätze vor. 30 Jahre nach seinem Tod am 25. November 1990 wäre es die beste Würdigung, ihn von seinem Denkmalstatus zu befreien und als einen Philosophen wiederzuentdecken, mit dem die Fragen an die Gegenwart anders zu stellen und möglicherweise auch zu beantworten sind.[1] „Zaal Andronikashvili: PHILOSOPHIE ALS SCHÖPFERISCHER AKT. Zum 30. Todestag Merab Mamardaschwilis“ weiterlesen

Matthias Schwartz: ZUKUNFTSUTOPIEN UND WELTRAUMTRÄUME. Sozialistische Science-Fiction-Filme aus dem Osten Europas

Wenn die 67. Internationalen Filmfestspiele Berlin dieses Jahr ihre Retrospektive unter dem Titel »Future Imperfect« dem Science-Fiction-Film widmen, dann lässt sich dies auch als ein Beitrag zum anstehenden 100. Jahrestag der Oktoberrevolution sehen. Denn schaut man sich die auf der Berlinale präsentierten Filme aus dem sozialistischen Osten Europas heute an, dann ist das auch – wie Boris Groys in Hinsicht auf unsere »postkommunistische Situation« schreibt – ein Blick zurück aus einer neoliberalen Welt der »offenen, heterogenen und pluralistischen Märkte« auf das Projekt einer »universalistischen, aber geschlossenen Gemeinschaft«, die noch lange an der Möglichkeit einer »perfekten Zukunft« festhielt.
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