Ukraine-Krieg Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/ukraine-krieg/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 15 Jul 2024 15:04:40 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Ukraine-Krieg Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/ukraine-krieg/ 32 32 Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/ Fri, 12 Jul 2024 08:03:38 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3328 Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. ›Glas‹) Weiterlesen

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Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3]

Bevor die letzten Folgen überhaupt ausgestrahlt worden waren, gab es auf Ehrenwort eines Kerls bereits in beiden Ländern ein breites Medienecho,[4] wobei die Kritiken kontrovers ausfielen und von enthusiastischer Begeisterung bis zu hellem Entsetzen und kategorischer Ablehnung reichten. In der Ukraine kreiste die Diskussion vor allem um die Frage, ob die Fernsehserie allein schon deshalb gefährliche Kriegspropaganda sei, weil sie aus dem Feindesland kommt. In Russland erregte die vermeintliche Romantisierung der Verbrecherwelt Anstoß. Manche Kritiker deuteten die Serie aber auch als subversiven Zerrspiegel der militärischen Aggression. Was war das aber für ein populärkulturelles Werk, das für so viel Aufmerksamkeit und Aufregung sorgte?

1.

Ehrenwort eines Kerls spielt im Jahr 1989 in Kasan, der Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik Tatarstan, fast 800 Kilometer östlich von Moskau. Der erste sozialistische Staat der Welt befindet sich im Zusammenbruch, und während die staatlichen Behörden zunehmend an Autorität und Macht verlieren, übernehmen Jugendgangs die Herrschaft über die Straße. Die tatarische Hauptstadt gelangte damals unionsweit zu Berühmtheit als einer der gefährlichsten Orte des Landes, wo kriminelle Gruppierungen mit großer Brutalität Schutzgeld erpressten und ihre Einflusssphären verteidigten, was immer wieder zu Todesfällen führte. In dieser Umgebung zeichnet die Serie das tragische Schicksal zweier ca. 14-jähriger Jungen nach, die sich in der Zeit von Glasnost und Perestroika einer dieser Gruppen anschließen. Marat und Andrej unterwerfen sich rigiden Ehrencodes, geraten immer tiefer in den Strudel der Gewalt und landen am Ende in einem Gefängnis für Jugendliche.

Einhellig lobte die Kritik den Realismus der Darstellung des damals so genannten »Kasaner Phänomens« und sah darin einen wesentlichen Schlüssel zum Erfolg der Produktion.[5] Die »dramatische Serie« sei ausgezeichnet gemacht, versuche die wahre Natur der Jugendbanden zu verstehen[6] und biete eine »glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche«.[7] Dieser »Schwanengesang auf den sowjetischen Kollektivismus«,[8] der an Martin Scorseses Gangs of New York (2002) erinnere,[9] sei zugleich »die (freudige und verhängnisvolle) Anerkennung der Macht und Autorität« des Stärkeren über die Schwächeren, weswegen die Serie »von Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Ansichten« gemocht werde.[10] Doch gerade die offen dargestellte Gewalttätigkeit der Jungen gab auch Anlass für Bedenken: die Jüngeren seien fasziniert von der »Exotik«, während Ältere »Nostalgie« überkomme, was vor allem durch die »Romantisierung des Banditentums« hervorgerufen werde.[11]

In Russland stieß die Serie deswegen anfangs gerade von politischer Seite auf teils scharfe Ablehnung.[12] Die Ombudsperson für Kinder in Tatarstan forderte ein vollständiges Verbot, da hier eine »falsche Vorstellung der kriminellen Welt« vermittelt und die »psychische und sittliche Gesundheit der Jugend« gefährdet werde.[13] Auch Duma-Abgeordnete warnten und riefen zur Zensur auf.[14] Aber nachdem Prominente wie der Kinoregisseur Nikita Michalkow und sogar Priester sich positiv über Ehrenwort eines Kerls geäußert hatten,[15] erhielt das Werk in Russland inzwischen eine Vielzahl an Auszeichnungen, darunter einige der renommiertesten Preise für Fernsehserien.[16]

Auf ukrainischer Seite dagegen wurde die Verbotsforderung vor allem mit der Herkunft der Serie begründet und ein angeblicher fundamentaler zivilisatorischer Unterschied zwischen beiden Ländern hervorgehoben. So argumentierte das Ministerium für Kultur und Informationspolitik, die Serie propagiere »Gewalt, Verbrechen und die Ästhetik des Aggressorlandes sowie feindselige Propaganda, was in der Ukraine während des Krieges inakzeptabel ist«.[17] Manche fanden die Serie gar gefährlicher als den russischen Angriffskrieg selbst, wecke sie doch unter den Teenagern Sympathien für ein Land, das »uns alle umbringt«.[18] Der ukrainische Schriftsteller und Drehbuchautor Andrij Kokotjucha kritisierte, dass darin der Ukraine unliebsame Werte vermittelt würden:

»Russische Vorstellungen unterscheiden sich von denen der zivilisierten Welt dadurch, dass sie Gewalt akzeptieren und sie direkt oder indirekt kultivieren […]: Nicht die Diebe sind schlecht, sondern das Leben, das ihnen keine Wahl ließ. Deshalb sollten wir die Verbrecher bemitleiden. Westliche Krimis, vor allem für ein junges Publikum, warnen indes immer wieder davor, dass der Weg des Verbrechens ein Weg ins Nichts ist. Mitglieder von Jugendbanden enden böse und verlieren alles. […] Die westliche Kultur bietet einen ganz anderen Ehrenkodex als die russische Kultur.«[19]

Diese dem ›zivilisierten‹ Westen entgegengestellte, angeblich spezifisch russische Gewaltkultur hebt auch die in New York lehrende Politikwissenschaftlerin Nina Khrushcheva, Urenkelin des sowjetischen Parteisekretärs Nikita Chruschtschow, hervor. Sie sah in der Serie gar eine Vorbereitung zu einem »permanenten Krieg«:

»In dem russischen Kriminaldrama [führt] eine aggressive und chaotische Politik zu Aggression und Chaos auf den Straßen. Wenn die Führung erklärt, dass sich überall Feinde verstecken, oder dass die beste Verteidigung darin besteht, zuerst zuzuschlagen, dann nehmen Paranoia, Intoleranz und Aggression zu. Und so ist es nicht verwunderlich, dass vor dem Hintergrund des von Putin angezettelten Krieges gegen die Ukraine russische Kinder ihre Klassenkameraden schikanieren, Jugendliche Passanten angreifen und dies auf Video festhalten und Erwachsene auf öffentlichen Plätzen Massenschlägereien anzetteln.«[20]

Aber haben diejenigen, die so nachdrücklich die Schädlichkeit der Serie hervorhoben und teils vehement ihr Verbot forderten, die Serie wirklich gesehen?[21] Müsste man ihnen nicht vielmehr entgegnen, dass alles, was sie als gefährliche Folge der Popularität der Serie beschwören, in dieser bereits Gegenstand der Kritik und Reflexion ist?

2.

Die Serie ist ein Werk des Regisseurs Shora Kryshownikow, der zusammen mit Andrej Solotarjow auch das Drehbuch geschrieben hat. Kryshownikow hat als Theaterregisseur und Kurzfilmer begonnen, ehe er im letzten Jahrzehnt vor allem mit Komödien teils äußerst erfolgreich war, die weder Kitsch noch Exzentrik scheuen und meist unverhohlen die neue russische Mittelklasse und das Showbusiness ins Visier nehmen. Dabei steckt hinter dem satirisch-ironischen Zugriff oft ein ernstes sozialpolitisches Anliegen. Die mehrfach preisgekrönte Fernsehserie Rufen Sie DiCaprio an! (Zwonite DiKaprio!, 2018) beispielsweise stellt die ansonsten im Staatsfernsehen kaum thematisierte Verbreitung von HIV-Infektionen unter gut situierten heterosexuellen Erwachsenen ins Zentrum und nimmt zugleich die allgemeine Homophobie und das verlogene patriotische Pathos der russischen Medienbranche aufs Korn.

Satirische Elemente sind in der neuen Serie kaum vorhanden, stattdessen dominiert die von der Kritik so sehr gefeierte realistische Darstellung. Grundlage ist das Sachbuch Ehrenwort eines Kerls. Das kriminelle Tatarstan der 1970er bis 2000er Jahre (2021) des Journalisten Robert Garaev, der 1989 als 14-Jähriger selbst Mitglied einer Straßengang in Kasan wurde und an der Serienproduktion als Berater beteiligt war. Sein Buch basiert auf umfangreichen Interviews mit ehemaligen Mitgliedern und Beteiligten und gliedert die gesammelten Aussagen systematisch nach Themenbereichen, denen kurze Einführungen vorangestellt sind. Das Buch habe, schreibt Garaev im Epilog, ein »psychotherapeutisches« Ziel, es solle die unzähligen traumatisierten »Kerle und ihre Opfer« zum Sprechen bringen und so zum Verständnis des »Kasaner Phänomens« beitragen. Denn nur durch eine »Desakralisierung« des Banditentums ließe sich verhindern, dass dessen falsche Ehrvorstellungen und der damalige »Verfall der moralischen Norm« noch in den heutigen Alltag eindringen.[22]

Auch die gleichnamige Serie von Kryshownikow versteht sich als ein »Sozial- und Bildungsprojekt, das Jugendlichen und ihren Eltern in akuten Situationen helfen soll«, wie es im Abspann jeder Folge heißt. Im Netz und in den sozialen Medien wird dazu begleitend ein umfangreiches Hilfs- und Beratungsangebot angeboten.[23] Entsprechend beginnt die Serie mit der Verführungskraft und Faszination, die die Stadtteilgangs damals auf Teenies ausgeübt haben. Erst wenn man Mitglied einer solchen Gruppierung wurde und ihren Regeln und Ritualen folgte, galt man als richtiger ›Kerl‹ (russ. pazan) und konnte sich so aus den Zwängen familiärer Enge, schulischer Disziplin und staatlicher Obrigkeit befreien. Die Mitgliedschaft versprach ein selbstbestimmtes Leben ohne Rücksicht auf Gesetze und Konventionen. Dem sowjetischen Muff aus autoritärer Erziehung und kommunistischen Phrasen, in dem jegliches abweichendes Verhalten als anstößig gilt, wird in der Serie die schöne neue Welt amerikanischer Baseballcaps, Kung-Fu-Filme, Pornovideos und Popmusik gegenüberstellt. Hierbei sind es vor allem die eingängigen Disco-Hits jener Jahre, die den pubertierenden Jungs aus der Seele sprechen, wie der Song Musyka nas swjasala (1989, Die Musik hat uns verbunden) der russischen Popband Mirage:

»Wieder fliehe ich zu meinen Freunden.
Was mich hierher zieht, weiß ich nicht
Ohne Musik kann ich nicht lange sein.

(Refrain:) Die Musik hat uns verbunden
Dies ist unser Geheimnis.
Auf alles Zureden gebe ich die Antwort:
›Uns trennt man nicht, nein!‹«

Von Anfang an macht die Serie deutlich, dass diese neue Welt ungemein brutal ist. Bereits in der ersten Szene versetzt der halbstarke »Kerl« Marat in der Straßenbahn dem »Loser« Andrej für eine Nichtigkeit einen Faustschlag. Andrej, ein junger Klavierspieler und begabter Schüler, der mit seiner alleinerziehenden Mutter und einer jüngeren Schwester in eher ärmlichen Verhältnissen aufwächst, versteht schnell, dass er sich gegen solche Schikanen alleine nicht behaupten kann. Als er ausgerechnet Marat, dessen Vater Vorsitzender eines großen Rüstungskonzerns ist, Nachhilfe in Englisch geben soll, freunden die beiden sich an und Andrej beschließt, ebenfalls Bandenmitglied zu werden. Damit gerät er in eine raue Jungswelt, in der bedingungslose Unterordnung und gegenseitige Demütigungen, Pöbeln und Prügeleien mit anderen Stadtteilgangs zum Alltag gehören. Bei einem Ausflug nach Moskau, bei dem Andrej einem von Marat fast totgetretenen Punk helfen will, gerät er das erste Mal in Polizeigewahrsam.

Die Sehnsucht, ein cooler Kerl zu sein, wird ständig durch die Konsequenzen des eigenen Handelns konterkariert. Versuchen die Freunde, etwas wiedergutzumachen, wird es nur noch schlimmer. So als Andrejs Mutter in ihrer Naivität beim Hütchenspiel mit Mitgliedern der Gang alles Geld und ihre Pelzmütze verwettet und Marat erst im letzten Moment durch einen falschen Polizeialarm verhindern kann, dass sie auch noch ihren Mantel aufs Spiel setzt. Zwar bekommt er zunächst Ärger von den eigenen Bandenmitgliedern. Doch da der Ehrencode es verbietet, den Familien der »Kerle« zu schaden, stiehlt Marat anschließend die Pelzmütze der Englischlehrerin, um sie im Beisein der ganzen Bande schließlich Andrejs Mutter als Entschädigung zu überreichen. Als die Mutter jedoch später stolz mit der neuen Pelzmütze wegen Andrejs Fehlverhalten bei der Englischlehrerin in der Schule vorsprechen muss, erkennt diese ihr Eigentum, und jene steht als gemeine Diebin dar, worüber sie den Verstand verliert.

Die entscheidende Eskalation setzt ein, als Marats älterer Bruder, ein ehemaliger Boxchampion mit Spitznamen Adidas, aus dem Afghanistankrieg zurückkehrt. Er stürzt die korrupten und in Drogenhandel involvierten Bandenbosse, möchte wieder Disziplin einführen, versucht ein Alkohol- und Rauchverbot durchzusetzen, und statt undurchsichtiger Deals mit anderen Stadtteilgruppierungen will er wieder klare Machtverhältnisse etablieren. Das misslingt gründlich: Schutzgelderpressung und ein Videosalon sind nur begrenzt erfolgreich, die Schlägereien werden immer blutiger. Als schließlich eine andere Gang Marats Freundin entführt und vergewaltigt, Adidas furchtbar gedemütigt wird und letztlich die Peiniger eiskalt erschießt, bricht nicht nur die Welt der starken Kerle zusammen, sondern Andrej und Marat ziehen auch ihre eigenen Familien und Freundinnen mit sich in den Abgrund. Das verführerische Bandenleben erweist sich als Alptraum, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört und sie selbst schwer schädigt.

So geraten die Freunde wiederholt mit dem strengen Ehrenkodex der Kerle in Konflikt: Diese verlangen nämlich nicht nur absolute Loyalität gegenüber der Gruppe und verbieten Entschuldigungen gegenüber allen anderen, sondern folgen auch patriarchalen Rollenbildern, wonach nur ein unschuldiges Mädchen ›rein‹ ist und Umgang verdient, während alle anderen als ›Schlampen‹ und ›Huren‹ ohne Ehre gelten. Gibt man sich dennoch mit ihnen ab, ist man selber ›befleckt‹ und wird als ›Dreckskerl‹ aus der Gang ausgeschlossen. Andrej und Marat versuchen anfangs noch mit teils äußerster Rücksichtslosigkeit ihre erwählten Frauen ›rein‹ zu halten, doch das misslingt. Denn Andrejs geliebte Irina arbeitet bei der Miliz, ist im kommunistischen Jugendverband Komsomol und amüsiert sich mit der subkulturellen Boheme, die dem ›Hooligan‹ Andrej nur Verachtung entgegenbringt. Nicht Andrej schützt Irina, sondern umgekehrt muss die bereits volljährige Irina wiederholt die Folgen seiner Straftaten und Grenzüberschreitungen ausbügeln. Marat wiederum hält seiner Freundin Aigul zwar nach deren Vergewaltigung verzweifelt die Treue. Trotzdem wird sie von der Gang und deren Mädchen als Hure geächtet. Selbst ihre Eltern können die Schande nicht ertragen, bis sie keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. In ihrer besinnungslosen Wut über die eigene Hilflosigkeit werden Andrej und Marat beinahe selbst zu Mördern der vermeintlich schuldigen rivalisierenden Bandenmitglieder.

Das Einzige, was als Trost am Ende bleibt, ist die die Kerle in allen Lebenslagen begleitende Popmusik, und hier insbesondere die Hits der Boygroup Laskowy Mai (Zärtlicher Mai‹). Deren Sänger Juri Schatunow – selber ein Waisenjunge aus einem Jugendheim, der bei der Bandgründung 1986 gerade einmal 13 Jahre alt war – wurde mit seinem androgynen Auftreten zum ersten Teeniestar der Sowjetunion. Seine Songtexte bringen auf den Punkt, was die wilden Kerle nicht in eigene Worte fassen können, wenn sie in der Schlussszene der Serie im Kulturklub des Gefängnisses unter dem roten Banner »Wir preisen die Arbeit, unser Land und die Zeit« mit kahlgeschorenen Köpfen gemeinsam den Refrain von Sedaja notsch (1987, Graue Nacht) grölen:

»Und wieder die graue Nacht, und nur ihr vertraue ich.
Du kennst, graue Nacht, all meine Geheimnisse.
Aber auch du kannst mir nicht helfen, und deine Dunkelheit
Nützt mir rein gar, rein gar nichts.«[24]

Das unheimlich-vertraute Geheimnis der ergrauten Nacht aber, das weiß man am Ende der Serie, sind die traumatischen Gewalterfahrungen, über die gemeinhin auch im Fernsehen nicht öffentlich gesprochen wird.

3.

Die enthusiastischen Filmkritiken hoben vor allem die detailgetreue Darstellung der Bandenkriminalität Ende der 1980er Jahre hervor, deren mediale Aufbereitung eine therapeutische Wirkung entfalten könne und die manche auch als ein spektakuläres Menetekel für die Gegenwart im Angesicht des Krieges deuteten. Doch die Serie ist mehr als das. Denn sie unternimmt zugleich eine Revision gängiger Bilder der Perestroika-Periode und folgt dabei dem aktuellen Zeitgeist innerhalb der Russischen Föderation. Am deutlichsten wird das bei Andrejs Onkel Ildar, der ein leitender Ermittler bei der Kriminalpolizei ist. Unter Einsatz von Bestechung, Gewalt und Erpressung versucht er, seinen Neffen zu Aussagen über die Mitglieder seiner Bande zu bringen. Außerdem beginnt er eine Affäre mit Andrejs Mutter. Doch als er eines Abends Andrejs Freund Marat aus ihrer Wohnung rausschmeißen möchte, hält die Mutter zu ihrem Sohn und weist stattdessen Ildar die Tür. Erst als die an ihrem kriminellen Sohn zerbrechende Mutter psychisch erkrankt, wendet sich Andrej in seiner Verzweiflung erneut an seinen Onkel, um sie vorübergehend aus der gefürchteten Psychiatrie zu holen, wo sie aber letztlich doch besser aufgehoben ist als zu Hause.

Ildar zeigt sich im Laufe der Ermittlungen gegen die Jugendbande immer mehr als ein einfühlsamer und rechtschaffener Mensch, der mit aller Gewalt, aber im Namen der Menschlichkeit den Rechtsstaat und das Gesetz gegen die ausufernde Straßenkriminalität durchsetzen möchte. Hier bekommt die Serie deutlich kontrafaktische Züge – waren in der späten Sowjetunion doch die Korruption der staatlichen Behörden und der Missbrauch der Psychiatrie zur medikamentösen Ruhigstellung widerspenstiger Staatsbürger sprichwörtlich. Diese beabsichtigte Rehabilitierung staatlicher Instanzen zeigt sich noch in der Darstellung der Lehrerinnen, die anfangs klischeehaft aufgedonnert und verstockt wirken, im Laufe der Geschichte aber sympathischere Züge bekommen, halten sie doch angesichts der umgreifenden Jugendkriminalität verzweifelt an zivilisierten Umgangsformen fest.

Am deutlichsten ist die ideologische Ausrichtung der Fernsehserie in der Darstellung des Afghanistankrieges zu erkennen, in den die Sowjetunion nach ihrem Einmarsch im Dezember 1979 ein Jahrzehnt lang bis Februar 1989 involviert war. Eine ganze Generation von zwangsweise in den Kampf geschickten jungen Wehrpflichtigen wurde durch den Guerillakrieg der Mudschahedin traumatisiert. Nach Kriegsende hatten sie massive Probleme, sich in die zusammenbrechende Gesellschaft zu reintegrieren, viele verfielen dem Alkohol und Drogen. All dies kommt in der Serie überhaupt nicht vor, im Gegenteil: Adidas scheint im Krieg gestählt worden zu sein, hasst die US-Amerikaner aufgrund ihrer Waffenlieferungen an die afghanische Opposition, empört sich, dass »wir« die »Demokratische Republik Afghanistan« verraten haben, ist Liebling aller älteren und jüngeren Frauen und übernimmt sofort die Führung der Stadtteilbande.[25] Dass auch er schwer traumatisiert ist, zeigt die Serie nur mittelbar, etwa in der Szene, in der er eine romantische Nacht mit seiner Geliebten Natascha nicht im Bett, sondern mit Gitarre in der Küche verbringt und so lange Afghanistanlieder singt, bis sie weinend ausruft, sie wolle nichts mehr vom Tod hören. Seine Rückkehr in die Gesellschaft misslingt letztlich auf allen Ebenen: Statt militärische Ordnung und Disziplin zu schaffen, schaden alle seine Aktionen der Gruppierung nur; und sein Vater, der als Chef eines Rüstungsbetriebs Karriere als Waffenlieferant für die sowjetische Invasionsarmee gemacht hat, ist am Ende als Vater eines Kriminellen und Mörders ein gesellschaftlich geächteter Mann.[26] Kriegshelden, so die implizite Botschaft, sind fürs Zivilleben nicht zu gebrauchen.

Eng verbunden mit dieser indirekten Kritik an den destruktiven Folgen des Krieges sind Fragen nach der Menschlichkeit. Deren Abwesenheit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Serie, verbildlicht durch diskriminierende Rede, despektierliche Gesten und übergriffiges Verhalten.[27] Vor allem aber entfaltet der omnipräsente Sexismus innerhalb der Gruppierung seine toxische Wirkung. Auch sonst präsentiert die Serie kein idealisiertes Bild der Sowjetunion: Die Mütter der beiden Jungen beispielsweise sind keineswegs emanzipierte Frauen, sondern folgen weitgehend traditionell-weiblichen Rollenmustern. Und der Vorsitzende des örtlichen Komsomol ist ein typischer Karrierist der Wendezeit, der früh die kapitalistischen Zeichen der neuen Zeit erkannt hat und in den Klubräumen eine Produktionsstätte für Bluejeans betreibt.

So erweist sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt einerseits als Versuch, im zunehmend repressiven und autoritären Russland der Gegenwart mit einem populärkulturellen Werk den staatlichen ideologischen und pädagogischen Anforderungen zu genügen, lässt aber andererseits auf subtile Weise auch andere Sichtweisen zu. Deutlich folgt die Serie dem offiziellen Narrativ, dass nur ein starker Staat für Recht und Ordnung sorgen könne und alle Formen von selbstorganisierter Autonomie oder alternative Gemeinschaftsformen nur zu Chaos und blutiger Gewalt führen. Putins Diktum vom Zusammenbruch der Sowjetunion als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« wird anhand des »Kasaner Phänomens« anschaulich demonstriert. Zugleich zeigt die Serie am Beispiel der beiden jugendlichen Protagonisten Marat und Andrej die Faszination, die gegenkulturelle Jugendbewegungen entwickeln können, und die fatalen Konsequenzen, die extreme Gewalt für alle Beteiligten mit sich bringt. Die katastrophalen Folgen des sowjetischen Afghanistaneinsatzes für eine ganze Generation junger Soldaten werden hingegen nur indirekt anhand der Figur des Kriegsveteranen Adidas thematisiert, dem eine Rückkehr in den zivilen Alltag nicht gelingt.

Es dürfte diese gelungene Verknüpfung einer spannenden und mitreißenden Geschichte über jugendliche Alternativkulturen mit einer vielschichtigen Thematisierung der Folgen von Gewalt und Krieg für die eigene Gesellschaft sein, die die enorme Popularität der Serie beiderseits der russisch-ukrainischen Front begründet. Denn, wie Robert Garaev im Nachwort zur Neuauflage seines Buches schreibt:

»Leider ist die Welt der Kerle nicht nur auf die Bildschirme gekommen, sondern auch in unsere Realität zurückgekehrt – und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als man sich vorstellen konnte. Die Sprache der Kerle wird inzwischen von russischen Politikern, Beamten und Talkshow-Moderatoren gesprochen. […] Angesichts der Situation im Jahr 2023, in der die Welt in Chaos und militärischen Konflikten versinkt, möchte ich daran glauben, dass der Leser nach der Lektüre dieses Buches die richtige Schlussfolgerung zieht: Kriege können Gründe und Voraussetzungen haben, aber manchmal ist der Gewinner nicht derjenige, der sich Hals über Kopf in diesen Konflikt gestürzt hat, wie die Helden aus Ehrenwort eines Kerls, sondern derjenige, der sich abseits dieser Kämpfe befand, sich in die Materie vertiefte, sie verstand, sich weiterentwickelte und allem widerstand, ausgehend von seinem Weltverständnis und seinen Ehrregeln.«[28]

Zu verstehen und zu widerstehen: ein solches Angebot enthält auch die Fernsehserie.

Der Slawist Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und leitet das Projekt Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg.

[1] Da Aigel Gaisina, die Sängerin der Band, nach kritischen Äußerungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine emigriert ist, sind später alle Angaben zum Song aus dem Abspann der Serie entfernt worden.

[2] Pazan bedeutet so viel wie ›Kerl, Bursche, Junge‹. Das Substantiv hat im Russischen umgangssprachlich einen herablassenden Beiklang und kann auch die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Gruppierung markieren. Ein Trailer zur Serie mit englischen Untertiteln findet sich auf Youtube. In Deutschland ist die Serie bislang nur mit englischen Untertiteln auf der Filmplattform Soviet & Russian Movies zu sehen. Ich danke Franziska Thun-Hohenstein, Nina Weller, Roman Dubasevych und Dirk Naguschewski für ihre hilfreichen Hinweise.

[3] Vgl. u.a. Anastasija Chochlova: »Zusammenkünfte, Schlägereien und Einflusszonen: Was Jugendliche nach dem Ansehen der Fernsehserie Ehrenwort eines Kerls tun« (auf Russisch), in: Radio 1 (29.11.2023); [Anon.]: »Russische Propaganda: Ukrainische Schulen schlagen wegen der Serie Ehrenwort eines Kerls Alarm« (auf Ukrainisch), in: Gazeta.Ua (4.12.2023). Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen von mir.

[4] Vgl. u.a. Anastasija Gončarenko:»Ehrenwort eines Kerls: Warum man diese Serie in der Ukraine hasste und warum Jugendliche ›süchtig‹ nach ihr wurden« (auf Ukrainisch), in: TSN (11.12.2023); Anna Kundirenko: »Ehrenwort eines Kerls. Warum die skandalträchtige russische Serie in der Ukraine populär wurde« (auf Russisch), in: BBC News (Russkaja služba) (9.12.2023).

[5] Vgl. Varvara Košečkina: »Die Serie Ehrenwort eines Kerls über Jugendbanden zur Zeit des Zerfalls der UdSSR ist erschienen« (auf Russisch), in: Lenta.ru (10.11.2023); Svetlana Stephenson: »Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land« (übersetzt von Ruth Altenhofer), in: Dekoder (2.1.2024). 

[6] Anton Chitrov: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt ist eine hervorragende Serie von Shora Kryshownikow über das kriminelle Kasan der 1980er Jahre, in das sich das Russland der 2020er Jahre zu verwandeln droht« (auf Russisch), in: Meduza (25.11.2023).

[7] Aleksandr Folin: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt: Eine glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche« (auf Russisch), in: KinoReporter (9.11.2023).

[8] Sergey Toymentsev: Review of »Zhora Kryzhovnikov: The Boy’s Word of Honor (TV)«, in: KinoKultura 83 (2024).

[9] Vasilij Stepanov: »Angst haben zu fliehen« (auf Russisch), in: Kommersant’ (3.11.2023).

[10] Anton Dolin: »Ehrenwort eines Kerls wurde zu einer echten Sensation« (auf Russisch), in: Meduza (22.12.2023).

[11] Kundirenko: Ehrenwort eines Kerls (Anm. 4).

[12] Il’ja Litov: »›Sie haben das Land aufgefressen‹: Ist die Serie Ehrenwort eines Kerls wirklich so schädlich für die Jugend?« (auf Russisch), in: Moskovskij Komzomolec (5.12.2023).

[13] Alja Trynova: »Die Ombudsperson für Kinder von Tatarstan bittet Roskomnadzor die Serie Ehrenwort eines Kerls zu überprüfen« (auf Russisch), in: Večernie vedomosti (29.11.2023). Roskomnadzor ist die »Föderale Aufsicht für Informationstechnologie und Massenkommunikation« in Russland.

[14] Sergej Aksenov: »Der Film Ehrenwort eines Kerls erinnert an die Perestroika-Probleme der 80er Jahre« (auf Russisch), in: Svobodnaja Pressa (6.12.2023).

[15] Tass: »Michalkow bezeichnete Forderungen nach einem Verbot der Serie Ehrenwort eines Kerls als eine große Dummheit« (auf Russisch), in: TASS (9.12.2023); Sergij Kruglov: »Verbieten, um sich selbst nicht zu erkennen« (auf Russisch), in: Pravmir (14.12.2023). Bereits Ende 2023 kürten russische Kinokritiker die Serie zur besten des Jahres, vgl. [Anon.]: »Kritiker haben die Serie Ehrenwort eines Kerls zur besten des Jahres 2023 erklärt« (auf Russisch), in: TASS (25.12.2023).

[16] So erhielt die Serie im April 2024 die höchsten Auszeichnungen des Nationalpreises für Webinhalte (National’naja premija v oblasti veb-kontenta). Bei der Preisverleihung des Verbands der Film- und Fernsehproduzenten (Associacija prodjuserov kino i televedenija, Abk. APKiT) in Moskau – etwa vergleichbar den US-amerikanischen Emmy Awards – kam sie im Juni 2024 sogar auf neun Auszeichnungen. Vgl. Susanna Al’perina: »Bondarčuk und Ehrenwort eines Kerls. Die Gewinner des V. Nationalpreises für Webinhalte wurden bekanntgegeben« (auf Russisch), in: Rossijskaja gazeta (16.4.2024); »Ehrenwort eines Kerls erhielt die Hauptauszeichnungen des National Web Content Award« (auf Russisch), in: InterMedia (15.4.2023); Vera Cvetkova: »Das magische Ehrenwort eines Kerls …« (auf Russisch), in: Nezavisimaja gazeta (20.6.2024).

[17] Marija Kabacij:»Ohne Tscheburaschka und Ehrenwort eines Kerls geht es nicht: Welche Filme die Ukrainer im Jahr 2023 gegoogelt haben« (auf Ukrainisch), in: Ukraijns’ka pravda (12.12.2023).

[18] Julija Ljubčenko: »›Seid ihr noch bei Verstand?‹ Irma Vitovska wendet sich an die Zuschauer der russischen Serie Ehrenwort eines Kerls« (auf Ukrainisch), in: RBK-Ukrajina (7.12.2023).

[19] Andrij Kokotjucha: »Das Schweigen des ukrainischen Kerls« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (11.12.2023). Diese Extrapolation aller negativen Seiten der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit als ein genuin russisches, der ukrainischen Kultur fremdes Element, ist kein Sonderfall. Typisch für die filmische Darstellung der Straßengewalt der späten 1980er und der 1990er Jahre ist Oleh Senzows Film Rhino (Nosorih, 2021), dessen Handlung vor allem in der Ostukraine spielt. Er stellt gewissermaßen einen Gegenentwurf zu dem russischen Kult-Film der 1990er Jahre Bruder (Brat, 1997) von Alexei Balabanow dar.

[20] Nina Khrushchova: »Russland bereitet sich auf einen permanenten Krieg vor. Wie es dazu kommt« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (24.1.2024).

[21] Die deutschsprachige Presse hat zwar über den Erfolg und die öffentliche Resonanz auf die Serie in Russland und der Ukraine berichtet, eine genauere Besprechung ihres Inhalts fand aber nur selten statt, vgl. beispielsweise Artur Weigandt: »Wer um Gnade fleht, muss schießen (Russische Serie über Jugendbanden)«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.1.2024), S. 15; Ueli Bernays: »Stammesdenken in Russland. Du gehörst zu uns, alle anderen sind Feinde«, in: Neue Zürcher Zeitung (1.2.2024); Inna Hartwich: »Gewalt, Lügen und Zynismus (Medien in Russland)«, in: tageszeitung (12.12.2023).

[22] Robert Garaev: Slovo pacana, Kriminal’nyj Tarastan 1970–2010-ch [12021], erweiterte Auflage, Moskau 2024, S. 613, 616–617. Garaev hat sich in Interviews wiederholt positiv zu der Verfilmung geäußert, die dem Anliegen seines Buches entspreche, vgl. Polina Chabarova: »Die Gruppierungen waren staatsähnlich«, in: Kommersant’ (4.2.2024).

[23] Vgl. zum Beispiel die Webseite Pacany menjajutsja [Kerle verändern sich].

[24] Mit Szenen aus der Fernsehserie unterlegt: https://www.youtube.com/watch?v=CbbGV1JthRA. Im Russischen gibt es zwei Worte für ›grau‹, zum einen seryj für die Farbe Grau, was aber auch ›trist‹ oder ›langweilig‹ bedeuten kann, zum anderen sedoj, was vor allem auf die Haarfarbe bezogen wird (›grauhaarig, ergraut‹). Der Titel Sedaja noč’ (1988) konnotiert diese Bedeutung im Sinne von einer alt gewordenen Nacht.

[25] Diese geschönte Darstellung des sowjetischen Afghanistaneinsatzes und seiner Folgen ist kein Novum. Nachdem in der Glasnostzeit und Anfang der 1990er Jahre eine schonungslose Auseinandersetzung stattfand – deren im Westen bekanntestes Zeugnis Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman Die Zinkjungen (Cinkovye mal’čiki,1989) ist –, änderte sich das im neuen Jahrtausend langsam. Kameradschaft, Disziplin und Durchhaltewille als militärische Tugenden traten wieder in den Vordergrund, wofür im Bereich der Populärkultur Fjodor Bondartschuks Blockbuster Neunte Kompanie (9 rota, 2005) wegweisend war.

[26] Auch die Flucht ans Meer mit der Geliebten im gestohlenen Auto – wie man sie aus dem Genre des Roadmovies kennt – vermasselt Adidas zum Schluss. Denn zuvor versucht er vergeblich, sich mit seinem Vater zu versöhnen und wird bei einer Polizeiaktion niedergeschossen.

[27] Auffällig ist dabei, dass nationalistische oder identitäre Diskurse keinerlei Rolle spielen, sämtliche Helden sind diesbezüglich auffällig farbenblind. Auch Christentum und Islam kommen nur am Rande vor. In der Tat, das zeigt auch Robert Garaevs Buch, ist der Alltagsrassismus zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erst ein Phänomen der 1990er Jahre.

[28] Robert Garaev: »Posleslovie k izdaniju 2024 goda« [Nachwort zur Ausgabe von 2024], in: ders.: Slovo pacana (Anm. 22), S. 634, 638.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: In der Welt der wilden Kerle. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges, in: ZfL Blog, 12.7.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240712-01

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Nina Weller: WISSENSCHAFTSAKTIVISMUS UND OSTEUROPAFORSCHUNG IN ZEITEN DES KRIEGES https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/30/nina-weller-wissenschaftsaktivismus-und-osteuropaforschung-in-zeiten-des-krieges/ Thu, 30 Nov 2023 08:54:10 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3163 Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Weiterlesen

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Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Politik und Geschichte, Sprache und Kultur eines Raums, der von jahrhundertelangen Grenzverschiebungen, vielsprachigen und multireligiösen Bevölkerungen und generationsübergreifenden Gewalterfahrungen gekennzeichnet ist.

Aufgrund der medialen Berichterstattung infolge des Kriegs ist die Ukraine zwar keine Terra incognita mehr. Doch es bedarf weiterhin der Wissensvermittlung in die breitere Öffent­lichkeit, damit sie und andere ehemalige sow­jetische Länder als eigenständige Akteure und Subjekte der eigenen und europäischen Geschichte und nicht immer nur in Bezug auf Russland wahrgenommen werden. Bela­rus etwa steht weiterhin im Abseits der medialen Aufmerksamkeit, obwohl das belarussische Regime in den aktuellen Krieg verwickelt ist und seit den Protesten 2020 die Repressionen gegen politische Gegner und gegen die nach demokratischen Werten strebende Bevölkerung massiv verstärkt hat. Diese unzureichende Wahrnehmung Osteuropas hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die westliche Slawistik und Osteuropaforschung seit Langem über­wiegend auf Russland fokussiert waren.

Unter den Bedingungen des Kriegs hat sich der Arbeitsalltag der hier Forschenden, Lehrenden und Studierenden verändert: Ko­operationen mit russischen Universitäten mussten aufgekündigt werden, Partnerschaften mit wissenschaftlichen Institu­tionen in der Ukraine und anderen Nachbarländern wurden intensiviert. Es wurden neue Netzwerke aufgebaut und Scholars- und Artists-at-Risk-Programme eingerichtet – nicht nur für aus der Ukraine geflüchtete oder aus Russland und Belarus vertriebene, regimekritische Wissenschaftler:innen und Künstler:innen, sondern auch für diejenigen, die unter je unterschiedlichen Gefahren in ihren Heimatländern weiterarbeiten.[1]

Zugleich wurden die Bemühungen intensi­viert, sich selbstkritisch mit den Prämissen des Fachs auseinanderzusetzen und de­kolo­nisierende Perspektiven mit dem Ziel einer Transformation der Forschungs- und Studieninhalte umzusetzen. Dies ist nicht nur auf den Krieg zurückzuführen, sondern knüpft auch an die schon länger von innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft angestrengten Bemühungen um mehr Diversität und Dekolonisierung an. Dazu gehört bei­spiels­weise die Forderung, die Stimmen von Expert:innen aus dem postsowjetischen Raum ohne paternalistische Impulse in hiesige Debatten einzubeziehen, ganz im Sinne von Wolf Lepenies: »Nicht forschen über, sondern forschen mit.« Dies würde auch dem sogenannten »Westsplaining« entgegenwirken, das auf der Vorstellung von Menschen aus dem Westen basiert, sie verstünden den Osten des Kontinents besser als dessen Bewohner:innen.[2]

Angesichts des Krieges agieren viele Fachvertreter:innen zunehmend sichtbar auch auf persönlicher Ebene: Sie zeigen sich solidarisch auf Demonstrationen, engagieren sich ehrenamtlich in der Geflüchtetenhilfe, intervenieren in öffentliche Debatten. Manche stellen zum Teil klare Forderungen an die Politik, indem sie beispielsweise für eine Ausweitung der Waffenlieferungen plädieren. Die Wissenschaft als unpolitischen Raum fernab des Weltgeschehens zu begreifen, ist kaum mehr möglich, wenn Desinformation und Fake News als hybride Waffen im Krieg eingesetzt werden. So wird die Diskussion über Für und Wider von Waffenlieferungen an die Ukraine oder den Umgang mit russischer Kultur und Literatur nicht nur in den Medien, sondern auch innerhalb der Fachcommunity oft zu einer Grundsatzfrage wissenschaftlicher Ethik und politischer Verantwortlichkeit erklärt. Für ein solches »Aktivwerden von Wissenschaftler:innen« in »gesellschaftspolitischer Absicht« wurde der positiv konnotierte Begriff des scientific political activism geprägt.[3] Ist aber schon von Aktivismus zu sprechen, wenn sich Osteuropawissenschaftler:innen mit ihrer fachlichen Expertise aktiv in öffentliche Debatten einbringen und auf Grund­lage ihrer Forschungen politische Vorschläge und Forderungen formulieren?

Zu beobachten ist, dass sich in jüngster Zeit eine prinzipielle Gegenüberstellung von Wissenschaft und Aktivismus Bahn gebrochen hat, die man so eigentlich längst überwunden glaubte. In der Regel wird Aktivismus als direktes Handeln verstanden, das ein klar definiertes, meistens politisches Ziel hat; demgegenüber sei Wissenschaft einem politisch unabhängigen, objektiven Erkenntnisinteresse und kritischer Distanz zum Forschungsgegenstand verpflichtet. Liegt aber dieser Annahme eines unversöhnlichen Gegensatzes von Wissenschaft und Aktivismus nicht eine Verwechs­lung von partizipativem Engagement mit un­reflektiert-impulsivem Aktionismus oder mit ideologischer Voreingenommenheit zugrunde? ›Aktivismus zu betreiben‹ gerät zum Vorwurf und wird gerade von jenen vorgebracht, die eine auf Objektivität ver­pflichtete ›neutrale‹ Wissenschaft von einem auf moralischen Werteurteilen und Emotionalität beruhenden Aktivismus unterscheiden zu können glauben. So diskreditierte beispielsweise der Politologe Gerhard Mangott den Wissenschaftsaktivismus einiger politisch besonders engagierter Osteuropawissenschaftler:innen am 11.7.2022 auf Twitter als »Auszug aus der Wissenschaft« . Die Osteuropahistorikerin Franziska Davies konterte am Tag darauf:

»Gerade dadurch, dass diese Wissenschaftler:innen ihre eigenen Überzeugungen und Wertesysteme kommunizieren, machen sie diese transparent und reflektieren ihre eigene Zeit- und Standortgebundenheit.«[4]

In der Tat ist nicht ausgemacht, ob Wissenschaft überhaupt werturteilsfrei sein kann.[5] Liegen ihr nicht immer schon normative Positionierungen zugrunde? Wäre dabei nicht auch zu bedenken, dass staatlich finanzierte Forschung und Lehre im Namen eines politisch legitimierten Auftrags handelt? Ist politische Zurückhaltung nicht ihrerseits darin normativ, dass sie diejenigen Wissenschaftler:innen zurechtweist, die Wissensproduktion auch als demokratisch notwendiges gesellschaftliches Engagement verstehen? Der Philosoph Karl Popper beschreibt die Haltung des Aktivisten als »die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens«.[6] In dieser Perspek­ti­ve sind in der Tat alle Wissenschaftler:innen aktivistisch, die in Reaktion auf poli­tische Ereignisse qua ihrer Expertise etwas zur Veränderung konkreter politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse oder zur Auf­merksamkeitsverschiebung in der Ein­ordnung des Weltgeschehens beitragen möchten. Allerdings haben wir es wohl kaum mit Komplexitätsreduktion zugunsten von Emotionalisierung zu tun, wie der Vor­wurf oftmals lautet.[7] Vielmehr zielt ihr Aktivismus umgekehrt darauf, den im Fall des öst­lichen Europa enormen Aufklärungs­bedarf zur komplexen Verflechtungsgeschichte, zu Kulturen und Sprachen der Region zu decken. Sie wirken dabei nicht mehr nur als Expert:innen, die im Hintergrund politische Entscheidungsträger:innen beraten oder sachliche Einschätzungen von Geschehnissen liefern, sondern greifen nun häufiger unmittelbar und kritisch in öffent­liche Debatten ein. So auch, wenn sie anprangern, dass in der Russlandpolitik der letzten Jahre viele folgenschwere Entscheidungen getroffen wurden, bei denen auf eine wissenschaftliche Beratung verzichtet wurde.

Auch in anderen politischen Kontexten – der Entwicklungen im Iran, in der Türkei oder in den USA beispielsweise oder in den Debatten über die Klimakrise und Einwanderungspolitik – tritt die Notwendigkeit des Engagements seitens der Wissenschaft deutlich hervor. Denn über historische, kulturelle, politische Hintergründe zu informieren und differenziertes Wissen verständlich, aber nicht simplifizierend in die breitere Öffentlichkeit zu vermitteln, schafft Orientierungsangebote jenseits bloßer ›Meinungsmache‹. Wissenschaft gerät in schwierige Fahrwasser, wenn sie unter dem Druck erregter Debatten hinter ihre eigenen Standards zurückfällt, aber auch dann, wenn sie das Gebot der Objektivität als Positionierungsverbot missversteht.

Die Slawistin und Komparatistin Nina Weller arbeitet im ZfL-Projekt »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

[1] Wie z.B. die Initiative The University of New Europe (UNE) oder das Science at Risk Emergency Office vom Akademischen Netzwerk Osteuropa (akno e. V.).

[2] Aleksandra Konarzewska/Schamma Schahadat/Nina Weller (Hg.): »Alles ist teurer als ukrainisches Leben«. Texte über Westsplaining und den Krieg, Berlin 2023.

[3] Pascal Germann/Lukas Held/Monika Wulz: »Scientific Political Activism – eine Annäherung an das Verhältnis von Wissenschaft und politischem Engagement seit den 1960er Jahren«, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 30.4 (2022), S. 435–444, hier S. 436.

[4] Nachzulesen auch auf Threadreader.

[5] Zur Geschichte der Debatte um Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft vgl. auch Leonhard Dobusch: »Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 26/27 (2022).

[6] Karl Popper: Das Elend des Historizismus (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 3), Tübingen 81974, S. 7.

[7] Vgl. Alexander Libman: »Osteuropaforschung im Rampenlicht: Ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus«, in: Russland-Analysen 438 (26.6.2023), S. 4–6.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Nina Weller: Wissenschaftsaktivismus und Osteuropaforschung in Zeiten des Krieges, in: ZfL Blog, 30.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/30/nina-weller-wissenschaftsaktivismus-und-osteuropaforschung-in-zeiten-des-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231130-01

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