Warlam Schalamow Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/warlam-schalamow/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 23 Mar 2022 09:28:43 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Warlam Schalamow Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/warlam-schalamow/ 32 32 Franziska Thun-Hohenstein: WARLAM SCHALAMOW AN DEN LESER IM WESTEN. Ein Archivfund https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/01/10/franziska-thun-hohenstein-warlam-schalamow-an-den-leser-im-westen-ein-archivfund/ Mon, 10 Jan 2022 15:35:37 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2434 Am 17. Januar 2022 jährt sich der Todestag des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zum vierzigsten Mal. Mit seinen sechs Zyklen umfassenden Erzählungen aus Kolyma setzte er den Tausenden Toten in den Zwangsarbeitslagern des GULag ein bleibendes literarisches Denkmal. Der Jahrestag bietet nicht nur Anlass, sich mit Schalamows Ringen um eine literarische Aufarbeitung des Weiterlesen

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Am 17. Januar 2022 jährt sich der Todestag des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zum vierzigsten Mal. Mit seinen sechs Zyklen umfassenden Erzählungen aus Kolyma setzte er den Tausenden Toten in den Zwangsarbeitslagern des GULag ein bleibendes literarisches Denkmal. Der Jahrestag bietet nicht nur Anlass, sich mit Schalamows Ringen um eine literarische Aufarbeitung des staatlich organisierten Massenterrors gegen die eigene Bevölkerung auseinandersetzen. Ein Archivfund rückt auch seine Sorge um die Rezeption seiner Texte ins Blickfeld. Da in der Sowjetunion die Erinnerung an Terror und Gewalt tabuisiert wurde, kursierten diese zu Lebzeiten nur in Abschriften des Samisdat (›Selbst-Verlag‹) und blieben für das breite sowjetische Lesepublikum unzugänglich. Die ersehnte Anerkennung blieb ihm verwehrt. Mittlerweile werden seine Werke in Russland gedruckt und aus Anlass des Todestages würdigen Konferenzen seine literarische und menschliche Lebensleistung. Doch Schalamows Imperativ des Erinnerns, der Wahrung des Gedächtnisses an die stalinistischen Verbrechen trifft heute zugleich auf das Bestreben der russischen Machthaber, dieses Gedächtnis erneut mit repressiven Mitteln auszulöschen. Die jüngst vom Obersten Gericht der Russischen Föderation beschlossene »Liquidierung« der Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge Memorial, die mit der Verbreitung eines lügnerischen Bildes von der Sowjetunion begründet wurde, ist nur ein Signal für die Politik einer Re-Stalinisierung.[1]

»Die Geschichte wiederholt sich«, befürchtete Schalamow, »und jede Erschießung des Jahres siebenunddreißig lässt sich wiederholen«.[2] Er glaube zwar nicht mehr an das Vermögen der Literatur, den Menschen besser zu machen, heißt es in der gleichen Notiz weiter, er schreibe aber trotzdem, damit der Leser, wenn er seine Prosa liest, »sein Leben so [gestalten] kann, dass er etwas Gutes tut, wenigstens irgendetwas [Positives]. Der Mensch muss etwas tun«.[3]

In seiner Jugend hatte Schalamow sich der antistalinistischen studentischen Opposition angeschlossen, weshalb er im Februar 1929 verhaftet und zu drei Jahren Konzentrationslager verurteilt wurde. Nach der Entlassung suchte er wieder Anschluss an die journalistischen und literarischen Kreise Moskaus, wurde jedoch im Januar 1937 erneut verhaftet. Es folgten 14 Jahre Lagerhaft wegen ›konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit‹ in der sibirischen Region an der Kolyma. Er überlebte und widmete sich fortan der literarischen Auseinandersetzung mit dem Durchlebten. Auschwitz, Kolyma und Hiroshima bedeuteten für Schalamow einen unhintergehbaren Einschnitt, nach dem es galt, Mensch und Welt neu zu denken und das gesamte Arsenal überkommener narrativer Verfahren einer Prüfung zu unterziehen. Authentizität des Erlebten und »äußerste künstlerische Potenz«[4] des Erzählten – zwischen diesen Polen bewegte sich sein künstlerischer Anspruch.

Die von Chruschtschow in der sogenannten Tauwetterzeit begonnene Aufklärung über den Massenterror weckte die Hoffnung auf ein unzensiertes offenes Sprechen.[5] Doch mit Chruschtschows Sturz im Herbst 1964 wurde die zaghafte Entstalinisierung wieder gestoppt und Schalamows Hoffnungen auf eine Veröffentlichung der Erzählungen aus Kolyma in der Sowjetunion erfüllten sich nicht. Wie andere Autoren seiner Zeit auch, strebte er jedoch danach, seine Texte gedruckt zu sehen.

1965 lernte Schalamow Nadeshda Mandelstam, die Witwe des im GULag umgekommenen Dichters Ossip Mandelstam, kennen. Für einige Jahre gehörte er zu ihrem engsten Freundeskreis, knüpfte Kontakte zu vielen Vertretern der künstlerischen und politischen Dissidenz und fand Gleichgesinnte, die sich der erneuten Tabuisierung der jüngsten Geschichte entgegenstemmten. Aus Protest gegen die im Februar 1966 erfolgte Verurteilung der Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Julij Daniel zu Haftstrafen in Arbeitslagern, weil sie ihre »verleumderischen« und »antisowjetischen« Werke im Westen unter Pseudonym (›Abram Terz‹ bzw. ›Nikolai Arschak‹) veröffentlichten, verfasste Schalamow den Brief an einen alten Freund.[6] Der anonym in Kreisen der Dissidenz kursierende Brief war seine letzte semiöffentliche politische Intervention, getragen von der Hoffnung auf eine Sowjetunion, in der die Freiheit des Gewissens und die Freiheit des Wortes respektiert werden. 1966 deutete nichts darauf hin, dass Schalamow sechs Jahre später gegen die Publikation seiner Erzählungen in russischen Emigrantenzeitschriften in einem offenen Brief an die Literaturnaja gaseta (Literaturzeitung) vehement protestieren würde. Er erklärte darin diese Veröffentlichungen zu antisowjetischer Provokation und brach mit der Dissidenz. Zudem projizierte er seine antiwestliche Haltung auf die 1960er Jahre zurück, obwohl seine damalige Einstellung offenbar ambivalenter war. 

Der Brief an einen alten Freund ist ein Aufruf zum moralischen Widerstand gegen jeglichen Versuch der Einschüchterung. Der Text weist jedoch eine im Hinblick auf seine spätere Ablehnung von Kontakten zum Westen auffallende Leerstelle auf. Zwar verteidigt Schalamow energisch das Recht eines jeden Schriftstellers, unter Pseudonym zu publizieren. Mit keinem Wort aber erwähnt er, dass Sinjawskij und Daniel ihre Werke unter Pseudonym im Westen, im sogenannten Tamisdat publizierten. Der Tamisdat (›Dort-Verlag‹) – ein Sammelbegriff für russischsprachige Zeitschriften und Verlage der Emigration – war in den 1960er Jahren neben dem staatlichen Publikationswesen und dem Samisdat zur wichtigen dritten Säule der russischen Literatur avanciert. Literarische Texte, die in der Sowjetunion nicht erscheinen durften, gelangten aus dem Samisdat in den Westen, vielfach ohne Wissen ihrer Verfasser, und kehrten in gedruckter Form über den (auch durch westliche Geheimdienste finanzierten) Tamisdat in die Sowjetunion zurück.

Es gibt Hinweise darauf, dass Typoskripte der fertigen Zyklen der Erzählungen aus Kolyma mit Schalamows Einverständnis in den Westen gelangten. Recherchen des Slawisten Yakov Klots vom New Yorker Hunter College haben ergeben, dass der amerikanische Mandelstam-Forscher Clarence Brown 1966 ein Exemplar in die USA schleuste – vermutlich über diplomatische Kanäle. Schalamow und Brown waren sich am 24. Mai bei Nadeshda Mandelstam begegnet, wie der Dramatiker Aleksandr Gladkow am 26. Mai in seinem Tagebuch vermerkte. Der Briefwechsel zwischen Brown und dem Chefredakteur der in New York erscheinenden russischsprachigen Zeitschrift Nowyj Shurnal (The New Review) Roman Gul belegt, dass es sich bei dem umfangreichen Manuskript von »explosiver Bedeutung«, welches Brown ihm Mitte September ankündigte, um Schalamows Erzählungen gehandelt hat. Auf die Frage von Brown, ob er nicht Angst vor ihrer Publikation im Westen habe, soll Schalamow geantwortet haben: »Wir sind es leid, Angst zu haben…«.[7]

Schriftliche Aussagen von Schalamow, die eine Übergabe an Brown oder jemanden anderen bestätigen, sind nicht überliefert. Aber im Russischen Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst in Moskau (RGALI) liegt ein bislang unbeachtetes liniertes Schulheft – die Vorschriften seiner Erzählungen in den 1950er und 1960er Jahren erfolgten meist in solchen Heften – mit der Aufschrift »Fon« (Hintergrund). Das auf den ersten Blick unscheinbare Schulheft birgt für die Schalamow-Forschung einige Sprengkraft. Es enthält eine unveröffentlichte, undatierte handschriftliche Notiz, bei der es sich allem Anschein nach um den Entwurf für eine Art Klappentext handelt, in dem Schalamow einem offenbar westlichen Publikum seine Erzählungen aus Kolyma und sich selbst als Autor vorstellt.[8] Der Text enthält Überarbeitungen, wurde aber nie abgeschlossen. Im ersten Teil mit der Überschrift »Umschlag« werden Thema und Anliegen der Erzählungen erläutert (Abb. 1):

Abb. 1: Manuskript Warlam Schalamow. RGALI, f. 2596 V.T. Šalamov, op. 2, ed. chr. 120, l. 3.

1907 geboren, verbrachte Warlam Schalamow 20 Jahre seines Lebens in Konzentrationslagern der Sowjetunion. Der hier veröffentlichte Band enthält drei Folgen von Erzählungen, die in ihrem Heimatland niemals in Umlauf waren, außer in maschinenschriftlichen Kopien.
Sie alle erzählen von der Erfahrung der 17 Jahre Lager, die der Autor in den Goldgruben der Kolyma im Gebiet Magadan verbracht hat.
Sofort drängt sich der Vergleich mit den Zeugnissen Solshenizyns und Jewgenija Ginsburgs auf, umso mehr, als die letztere in dieselbe Region verbannt war wie Schalamow.
Schalamows Blick auf das Lager ist radikal im Kern pessimistisch. Während bei Solshenizyn und selbst bei Jewgenija Ginsburg das menschliche Wesen darum kämpft, seine menschliche Würde zu verteidigen, und das meistens erreicht, senkt und drückt bei Schalamow das Lager Lager [sic] das Menschliche schrittweise nieder, stuft es herab auf das Niveau eines Tiers, tötet in ihm jede Würde.[9]

Danach charakterisiert Schalamow in knappen Worten die Erzählungen, hebt hervor, dass ihr »Ton« den Charakter des »Konstatierens von Fakten« trage und ihre Sprache reduziert sei (»weder Adjektive noch Aufwallungen«).[10] Im zweiten Teil mit der Überschrift Der Autor beschreibt Schalamow sich selbst (Abb. 2):

Abb. 2: Manuskript Warlam Schalamow. RGALI, f. 2596 V.T. Šalamov, op. 2, ed. chr. 120, l. 6

Warlam Schalamow, sowjetischer Dichter und Prosaautor, wurde 1907 in der Stadt Wologda geboren. 1929 wurde er das erste Mal verhaftet und zu 3 Jahren Konzentrationslager verurteilt.
1937 zum zweiten Mal verurteilt, verbrachte er siebzehn Jahre seines Lebens im Lager an der Kolyma. Nach seiner Rückkehr nach Moskau veröffentlicht er 1957 einen ersten Gedichtzyklus »Gedichte über den Norden«; 1961 und 1967 zwei schmale Bücher, die unter anderem Pasternak begeisterten.[11]
Sein Prosawerk ist bislang komplett unpubliziert.
Allerdings ist es dem sowjetischen Publikum bekannt; dieses zählt Schalamow zu den besten zeitgenössischen Schriftstellern, neben Solshenizyn.[12]

Der nachfolgende letzte, schwer entzifferbare Satz erschließt sich, wenn man weiß, dass Publikationen im Tamisdat zum Schutz der Autoren in der Sowjetunion den Vermerk enthielten, sie seien ohne deren Wissen gedruckt worden. In Schalamows letztem Satz hebt ein »wir« hervor, dass man aus »offensichtlich verständlichen Erwägungen« die Verantwortung nur für »diese Ausgabe« übernehmen kann. Damit bricht der Entwurf ab.

Einige Fragen und Irritationen bleiben: Entgegen der naheliegenden Vermutung kann der Text zeitlich nicht mit der möglichen Übergabe eines Typoskripts an Clarence Brown in Verbindung gebracht werden. Diese hätte vor dem September 1966 stattfinden müssen, das Schulheft wurde jedoch, laut Herstellungsdatum, erst im vierten Quartal 1966 produziert. Die Verweise auf Jewgenija Ginsburgs 1967 im Westen erschienene Erinnerungen sowie auf den im gleichen Jahr publizierten eigenen Gedichtband legen ihrerseits nahe, den Entwurf frühestens auf das Jahr 1967 zu datieren.

Irritierend ist vor allem Schalamows literarische Verortung der Erzählungen aus Kolyma. Er stellt sie neben die GULag-Zeugnisse von Autoren, deren Prosa er bekanntlich ablehnte. Den ersten Teil von Jewgenija Ginsburgs Gratwanderung hatte er im Samisdat gelesen und am 29. Mai 1965 in einem Brief an Aleksandr Solshenizyn abfällig als »journalistische Stenographie« und »prätenziösen Pfusch« bezeichnet.[13] Auch die anfängliche Begeisterung für Solshenizyns Prosa war längst einer grundsätzlichen Kritik an Inhalt und Erzählform gewichen. Hier aber fordert er den Vergleich mit beiden regelrecht ein. Er erwähnt zudem, dass die Erzählungen in der Heimat des Autors nur in maschinenschriftlichen Kopien im Umlauf waren. Dem »sowjetischen Publikum« sei gleichwohl aber bekannt, dass Schalamow zu den besten zeitgenössischen Schriftstellern zählt. Wie ist das zu verstehen?

Der Entwurf verrät Schalamows Bedürfnis nach Anerkennung seiner literarischen Leistung. Die Hoffnung auf eine Buchveröffentlichung in der Sowjetunion hatte er zu diesem Zeitpunkt aufgegeben. Die maschinenschriftlichen Kopien hatten ihm in literarischen (vor allem dissidentischen) Kreisen eine gewisse Bekanntheit verschafft, konnten die fehlende öffentliche Resonanz aber nicht aufwiegen. Das vermochte aus seiner Sicht nur eine Publikation der Erzählungen aus Kolyma in der von ihm vorgesehenen Form von Zyklen mit ihrem je eigenen »pulsierenden Erzählrhythmus«[14] – und sei es im Westen. Ging es um literarische Zeugnisse über den GULag, so kannten westliche Leser vor allem Solshenizyn und Ginsburg. Beide Namen waren als Signale an das westliche Publikum gedacht. Sich ihnen gleichzustellen widersprach hingegen seiner Überzeugung: Nicht sie, sondern er hatte eine dem Geschehen adäquate Erzählform gefunden.

Die Textfragmente aus dem Archiv untermauern nicht nur Schalamows unbändiges Bedürfnis, die Erzählungen aus Kolyma endlich gedruckt zu sehen. Sie dokumentieren vielmehr, dass er noch 1967 überlegte, sein Anliegen dem westlichen Lesepublikum selbst zu erläutern. Er wollte selbst die Weichen stellen für die Rezeption der Erzählungen aus Kolyma. Er wollte sicherstellen, dass sie als eine Prosaform wahrgenommen werden, mit der er »den Schock«, den das 20. Jahrhundert »in die Literatur getragen« habe, in Worte zu fassen vermochte.[15] Doch allem Anschein nach gelangten diese Fragmente niemals in den Westen.

 

Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein ist Senior Fellow des ZfL und Herausgeberin der deutschen Schalamow-Werkausgabe. Der Beitrag geht auf eine Passage aus dem Buch Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik zurück, das 2022 bei Matthes & Seitz Berlin erscheint.

NACHTRAG
Eine russische Fassung des Beitrags ist nachzulesen auf der Seite shalamov.ru in der Übersetzung von Anna Gavrilova, herausgegeben von Dmitry Ponomarenko.

 

[1] Zu Memorial vgl. Franziska Thun-Hohenstein: »Das Gedächtnis der Menschen lässt sich nicht vernichten«, in: Geschichte der Gegenwart, 12.12.2021.

[2] Warlam Schalamow: Über Prosa, übers. von Gabriele Leupold, hg. und mit Anmerkungen versehen von Franziska Thun-Hohenstein, mit einem Nachwort von Jörg Drews, Berlin 2009, S. 114–115.

[3] Ebd., eckige Klammern im Original.

[4] Ebd., S. 111.

[5] Der Titel von Ilja Ehrenburgs 1954 erschienenem Roman Tauwetter wurde zum Symbol für die Hoffnung auf ein Ende von Terror und Angst und gab der Zeit ihren Namen.

[6] Schalamows Brief gelangte in die Hände von Aleksandr Ginsburg, der ihn 1966 ohne Angabe des Verfassers in einen Band mit Materialien über den Prozess aufnahm. Der Band erschien 1967 in russischer Sprache im Emigrantenverlag Possev. Dort erschien im gleichen Jahr eine deutsche Übersetzung: Weissbuch in Sachen Sinjawskij – Daniel, zusammengestellt von Alexander Ginsburg, übers. von Elena Guttenberger, Frankfurt a.M. 1967, S. 400–411.

[7] Zitiert nach Jakov Kloc (Yakov Klots): »Varlam Šalamov meždu tamizdatom i Sojuzom sovetskich pisatelej (1966–1978). K 50-letiju vychoda ›Kolymskich rasskazov‹ na Zapade«, Colta, 10.01.2017.

[8] RGALI, f. 2596 V.T. Šalamov, op. 2, ed. chr. 120, ll. 3–7.

[9] Обложка
Родившийся в 1907г. Шаламов провел 20 лет своей жизни в концентрационных лагерях Советского Союза. Сборник, который мы сейчас публикуем, содержит три серии рассказов, которые никогда не находились в обращении в своей родной стране только в форме машинописных копий.
Все они рассказывают об опыте 17 лет лагеря, которые он прожил в золотых рудниках Колымы – Магаданской.
Немедленно напрашивается сравнение со свидетельствами Солженицына и Евгении Гинзбург, тем более, что эта последняя была выслана в тот-же самый район, что и Шаламов.
Точка зрения Шаламова на лагеря радикально в корне пессимистическая. В то время как у Солженицына и даже у Евгении Гинзбург человеческое существо борется чтобы защитить свое человеческое достоинство и чаще всего этого достигает. У Шаламова лагерь лагерь постепенно снижает, спускает Человеческое, низводит его до уровня животного, убивает в нем всякое достоинство. (RGALI, f. 2596 V.T. Šalamov, op. 2, ed. chr. 120, l. 3.)
Die deutsche Übersetzung stammt von Gabriele Leupold.

[10] Тон рассказов имеет характер констатирования фактов: Ни прилагательных, ни порывов […]. (RGALI, f. 2596 V.T. Šalamov, op. 2, ed. chr. 120, l. 4.)

[11] Boris Pasternak, der zwischen 1952 und 1956 in einem intensiven Briefkontakt mit Schalamow stand, starb 1960.

[12] Автор
Варлам Шаламов, советский поэт и прозаик родился в г. Вологде в 1907 году. Был арестован первый раз в 1929 г. и приговорен к 3 годам концентрационного лагеря.
Арестованный во второй раз в 1937 году, он провел семнадцать лет своей жизни в лагере Колымы. После своего возвращения в Москву он публикует в 1957 году первый цикл стихов «Стихи о Севере»; в 1961 г. и 1967 году две тонких книжки, вызвавшие, в частности, восхищение Пастернака.
Его творчество в прозе пока полностью [?] не опубликовано.
Однако, оно известно советской публике, которая ставит Шаламова в ряды лучших современных писателей рядом с Солженицыным. (RGALI, f. 2596 V.T. Šalamov, op. 2, ed. chr. 120, l. 6.)
Die deutsche Übersetzung stammt von Gabriele Leupold.

[13] Vgl.: Warlam Schalamow: Ich kann keine Briefe schreiben … Korrespondenz 1952–1978, übers. von Gabriele Leupold, hg. von Franziska Thun-Hohenstein, Berlin 2022 (im Druck).

[14] Leona Toker: »Samizdat i problema avtorskogo kontrolja v sud’be Varlama Šalamova«, shalamov.ru/research/132/.

[15] Brief Schalamow an Kremenskoj [1972], in: Schalamow: Über Prosa (Anm. 2), S. 101.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Franziska Thun-Hohenstein: Warlam Schalamow an den Leser im Westen. Ein Archivfund, in: ZfL BLOG, 10.1.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/01/10/franziska-thun-hohenstein-warlam-schalamow-an-den-leser-im-westen-ein-archivfund/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220110-01

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Franziska Thun-Hohenstein: LEIDTRAGENDE KÖRPER https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/24/franziska-thun-hohenstein-leidtragende-koerper/ Wed, 24 Jul 2019 12:12:30 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1168 Warlam Schalamow (1907–1982) ist der einzige Schriftsteller in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dem Körpergedächtnis für sein eigenes Schreiben wie für das menschliche Gedächtnis an sich besonderen Stellenwert beimaß. Nahezu all seine überlieferten Prosatexte und Gedichte sind nach den vierzehn Jahren Gefangenschaft in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, verfasst worden. Weiterlesen

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Warlam Schalamow (1907–1982) ist der einzige Schriftsteller in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dem Körpergedächtnis für sein eigenes Schreiben wie für das menschliche Gedächtnis an sich besonderen Stellenwert beimaß. Nahezu all seine überlieferten Prosatexte und Gedichte sind nach den vierzehn Jahren Gefangenschaft in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, verfasst worden. Alles, was er dort, am »Pol der Grausamkeit« des GULag durchleben musste, hat sich unauslöschlich in sein Gedächtnis wie in seinen Körper eingebrannt. Die Goldgrube der Kolyma, in der die Häftlinge bei Temperaturen bis zu minus 55 Grad arbeiten mussten, ließ den Überlebenden zeitlebens nicht los. Seinen eigenen Erfahrungen entnahm Schalamow ein neues, erschreckendes Wissen über die Verfasstheit des Menschen, über »das Gesetz des Verfalls« ebenso wie über »das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall«. Dieses Wissen mit literarischen Mitteln gegen das Vergessen wachzuhalten, hieß vor allem eines: »Wichtig ist das Wiedererwecken des Gefühls.« Eben dieses Heraufholen des damaligen Gefühls ist für ihn die Garantie von Wahrhaftigkeit.

Schalamows bezeugendes Schreiben, seine von ihm selbst so bezeichnete »neue Prosa«, steht – nach Auschwitz, Kolyma und Hiroshima – im Zeichen von Gedächtnis und Erinnerung. In Prosatexten wie in Gedichten vermag das Gedächtnis Unterschiedliches – es bewahrt, quält, schmerzt, schreit, aber es verblasst auch, stirbt ab, verbirgt, ist unzuverlässig oder lügt. Dabei unterscheidet Schalamow zwischen einem mentalen Gedächtnis und dem Gedächtnis des Körpers. Immer wieder aufs Neue lotet er die Relation zwischen beiden aus. Zusammenfassend formuliert er in einem Brief:

Alles wird an der Seele überprüft, an ihren Wunden, alles wird am eigenen Körper überprüft, an seinem Gedächtnis, das in den Muskeln, in den Armen sitzt und manche Episoden wieder auferweckt. Ein Leben, an das man sich mit dem ganzen Körper erinnert, nicht nur mit dem Gehirn. Diese Erfahrung ans Licht zu bringen, wo das Gehirn dem Körper zur unmittelbaren realen Rettung dient und der Körper wiederum dem Gehirn, in dessen Windungen er Sujets aufbewahrt, die man besser vergessen sollte.

Die negativen Erfahrungen und Empfindungen – die Kälte, die Schläge, die harte physische Arbeit – haben den Körper des Lagerhäftlings deformiert, traumatisiert, sie sind in ihm eingekapselt. Der geschundene Körper des Überlebenden trägt das Leid für immer in sich, wird zum Erinnerungszeichen an das Böse. Für Schalamow sind die eigenen Gefühle die Basis der angestrebten Authentizität seiner Prosa: »Das Gefühl muss zurückkommen und die Kontrolle durch die Zeit, den Wandel der Wertungen besiegen.« Um das Gefühl im poetischen Wort »wiedererwecken« und das Trauma gleichsam von innen aufsprengen zu können, denkt er vom Körpergedächtnis her. Geradezu programmatisch bekräftigt er im Gedicht »Das Gedächtnis« (1957), das Hirn könne und wolle nicht bewahren, was die Muskeln, die Haut, das Gedächtnis der Finger, das Gedächtnis der Schultern wüssten. Aus dieser Überzeugung speist sich nicht nur die mit vielen physiologischen Metaphern und Bildern angereicherte Sprache der Erzählungen aus Kolyma, sondern auch ihr starkes gestisches Moment.

Oftmals berichtet ein Erzähler über Veränderungen, die der Mensch unter den inhumanen Bedingungen des Lagers an sich selbst registriert; Veränderungen, denen er sich entgegenzustemmen sucht, obgleich seine schwindenden Kräfte ihn diesen Kampf vielfach verlieren lassen. Unaufhaltsam erscheinen auch die Deformation des Gehirns, der Verlust des Gedächtnisses und der Sprache. Ein wiederkehrendes Motiv ist die Deformation des Körpers bzw. von Körperteilen, insbesondere der Hände, die durch Kälte, Hunger und Schwerstarbeit ihre natürliche, menschliche Gestalt verloren und sich gleichsam in ein bloßes Anhängsel jenes Arbeitsgeräts verwandelten, das den Menschen zu einem Arbeitssklaven degradierte. Beide Hände, stellt die Hauptfigur in »Typhusquarantäne« (1959) nüchtern fest, hatten sich »auf die Dicke des Schaufel- oder Hackengriffs gekrümmt und waren, so schien es Andrejew, für immer erstarrt«. Die Quarantänestation – wie auch die Krankenstation – bedeutet für den Häftling eine Ruhepause, die Möglichkeit, eine zumindest partiell einsetzende ›Wiederbelebung‹ seines Körpers zu beobachten, so dass in ihm die Hoffnung auf den Erhalt seines Körpers keimt und er sich um diesen zu sorgen beginnt. Mehr noch, einzig dem Körper wird die Fähigkeit zugeschrieben, Andrejew am Leben zu erhalten:

[D]er Körper wird ihn nicht betrügen. […] Alle Rechtfertigungen, die das Hirn sucht, sind verkehrt, sind falsch, und Andrejew wußte das. Nur der von der Grube geweckte animalische Instinkt kann ihm einen Ausweg zeigen und zeigt ihn schon.

Allein der im buchstäblichen Sinne leidtragende Körper ist Träger einer Erfahrung, die das Überleben – und damit auch das Bewahren des neuen Wissens über die Abgründe des Menschen – zwar nicht sichert, aber doch befördern kann. Im Gegensatz dazu gibt es, wie etwa im Gedicht »Wunsch«, auch eine andere, rigorose Geste: den Wunsch, es einem »Selbstverstümmler« gleich zu tun und sich von den abgefrorenen Gliedmaßen zu befreien. In solchen Szenen will es scheinen, als könne der Häftling seine Unerschrockenheit – im Leben wie im anklagenden Sprechen – erst entwickeln, wenn sein Körper nichts mehr zu verlieren und der Phantomschmerz die Übermacht gewonnen hat.

Folgt man Schalamows Selbstaussagen, so erprobte er die performative Macht des »wiederbelebten« Wortes gleichsam an sich selbst. Beim Schreiben spreche er immer mit sich selbst, »schreie, drohe, weine«. Seine Erzählungen gehorchten, notierte er, jeweils einem ganz bestimmten Rhythmus, ja Muskelgesetzen. Schalamow hegte keine Zweifel daran, dass er in den Erzählungen aus Kolyma eine neue Poetik gefunden habe, mit deren Hilfe er die Erinnerungen und Gefühle des Überlebenden aus den Tiefen seiner Seele und seines Körpers hochzuholen und ihnen neuen Raum zu geben vermochte.

 

Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein leitet am ZfL das von der DFG geförderte Projekt Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik. Sie ist Herausgeberin der deutschen Werkausgabe Schalamows bei Matthes & Seitz Berlin, der auch sämtliche Zitate entnommen sind. Ihr Beitrag wurde ursprünglich für das Programmheft von Timofej Kuljabins Inszenierung »Am Kältepol. Erzählungen aus dem Gulag vom Warlam Schalamow« am Münchner Cuvilliéstheater (Nr. 12, 2017/18) geschrieben.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Franziska Thun-Hohenstein: Leidtragende Körper, in: ZfL BLOG, 24.7.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/07/24/franziska-thun-hohenstein-leidtragende-koerper/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190724-01

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Stefan Willer: DIE KUNST DES NACHWORTS. (Ein Nachtrag zu »Schalamow. Lektüren«) https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/07/23/stefan-willer-die-kunst-des-nachworts-ein-nachtrag-zu-schalamow-lektueren/ Mon, 23 Jul 2018 07:28:51 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=842 Das kürzlich erschienene Büchlein Schalamow. Lektüren versammelt die Vorträge eines Kolloquiums zum Werk des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow (1907–1982), das im Mai 2016 am ZfL stattfand. Unmittelbarer Anlass war damals der 65. Geburtstag von Franziska Thun-Hohenstein. Sie hat selbst zahlreiche Lektüren seiner Texte vorgelegt – nicht zuletzt in Gestalt der Nachworte in den mittlerweile sieben Weiterlesen

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Das kürzlich erschienene Büchlein Schalamow. Lektüren versammelt die Vorträge eines Kolloquiums zum Werk des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow (1907–1982), das im Mai 2016 am ZfL stattfand. Unmittelbarer Anlass war damals der 65. Geburtstag von Franziska Thun-Hohenstein. Sie hat selbst zahlreiche Lektüren seiner Texte vorgelegt – nicht zuletzt in Gestalt der Nachworte in den mittlerweile sieben Bänden der Schalamow-Werkausgabe, deren Herausgeberin sie ist. Auch wenn der zweite Band kein Nachwort enthält und das Nachwort zum dritten von Michail Ryklin stammt, sind es doch Thun-Hohensteins Nachworte, die die Werke in Einzelbänden in besonderer Weise prägen.

Hinzu kommen weitere editorische Paratexte, insbesondere die erläuternden Anmerkungen. Wer sie konsultiert, mag den Eindruck gewinnen, es handle sich um leicht erreichbare Hintergrundinformationen. Das ist dem Charakter der Ausgabe geschuldet, die einen großen Leserkreis erreichen soll – und tatsächlich erreicht –, die also keine im engeren Sinne wissenschaftliche Ausgabe ist. Tatsächlich aber ist in die Erläuterungen eine Fülle von Wissen eingegangen, das in minutiöser Archivarbeit gewonnen wurde und im Anmerkungsapparat äußerst verknappt und verdichtet erscheint. Umso eindringlicher wird auf diese Weise der historische Ort von Schalamows Schreiben bestimmt: »›Methode Nr. 3‹ – Bezeichnung für die ab Mitte 1937 genehmigte physische Folter während der Untersuchungshaft« (Bd. 6, S. 258); »Umschmiedung – (russ.: perekowka) propagandistisches Schlagwort für die sowjetische Umerziehungspolitik mittels physischer Zwangsarbeit; geprägt Anfang der dreißiger Jahre, bezogen auf die am Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals beteiligten Lagerhäftlinge« (Bd. 6, S. 270).

In den Nachworten kann sich die Herausgeberin mehr Raum geben, doch auch hier ist sie fern davon, in der Sache oder der Rhetorik irgendwie weitschweifig zu verfahren. Im Nachwort des ersten Bands liefert sie eine Übersicht zu Warlam Schalamows Leben und Werk, auf die sie in den folgenden Bänden zurückverweisen kann. Biographische Ausführungen werden also ökonomisch und gezielt eingesetzt. Und schon jene erste Übersicht im ersten Nachwort ist kein Abarbeiten von Lebensdaten, keine pflichtschuldige Erfüllung des Formats l’homme et l’œuvre, sondern dient der Einführung in eine Konflikt- und Problemgeschichte. Ausgangspunkt ist Schalamows Offener Brief von 1972, in dem er sich gegen die Publikation seiner Werke in der russischen Emigrantenpresse wendet. Dadurch wurden seinerzeit die Spannungen zur Dissidentenszene verschärft, und Schalamow wurde zu einer Art Gegenentwurf zu Solschenizyn.

Schalamow als Streitfall, als umstrittener und streitbarer Autor, sein Leben als in jeder Hinsicht problematische Schriftstellerexistenz: Das ist ein entscheidender Faktor in der ›Leben-und-Werk‹-Charakteristik, die Thun-Hohenstein in ihren Nachworten herausstellt. Sie macht damit deutlich, dass es sich hier um einen Autor handelt, der es sich selbst und seinen Zeitgenossen, aber eben auch seinen Lesern, alles andere als einfach macht. Ein weiterer Faktor, durch den die Verbindung von Leben und Werk überhaupt erst ihre historische Schärfe und ihren historischen Sinn erhält, ist das Überleben. Schalamow ist in seiner Autorschaft nur als Überlebender des GULag zu verstehen.

Die Herausgeberin bekräftigt die historische Authentizität des Durchlebens und Durchleidens als Inbegriff von Schalamows Poetik, indem sie seine Schreibweise als dokumentarisch kennzeichnet. Wiederholt zitiert sie in den Nachworten Schalamows Formel, er habe »mit den ›Erzählungen aus Kolyma‹ eine Prosa geschrieben, die […] ›durchlitten ist wie ein Dokument‹« (z.B. Bd. 5, S. 417). Allerdings ist diese Authentizität literarisch nur im Modus der Nachträglichkeit zu haben. Im Nachwort zu Band 4 ist vom »Kampf ums Überleben in den Lagern« die Rede, dem sich Schalamow »im Niederschreiben der ›Erzählungen aus Kolyma‹ nochmals stellte« (Bd. 4, S. 578). Dieses »Nochmals« ist bei der Charakterisierung von Schalamows Schreiben und von Schalamow als Schriftsteller immer mitzubetonen. Ohne dass Thun-Hohenstein jemals die Realität und Unmittelbarkeit der Lagererfahrungen einklammern würde, ist ihr doch daran gelegen, den komplexen Bezug der Texte zu jener Realität genau zu bestimmen.

Wie groß die poetologische Bedeutung der Nachträglichkeit für Schalamows Schreiben ist, zeigt sich auch mit Blick auf seine autobiographischen Texte, die in Bd. 5 der Werkausgabe, Das vierte Wologda, versammelt sind. Auch hier macht das Nachwort deutlich, wie groß der Aufwand an Gedächtnis- und Wiederbelebungskunst ist, den Schalamow betreibt. Das Nachwort trägt den Titel »›fantiki‹ des Lebens«. Damit ist das von Schalamow in seiner Kindheit gespielte Spiel mit gefalteten Bonbonpapieren, den fantiki, gemeint, mit denen er kleine theatralische Szenen erschuf. In Thun-Hohensteins pointierter Lektüre wird dieses Kinderspiel zur ästhetischen Signatur von Schalamows Erinnerungsprojekt: ein weiterer Beleg dafür, dass die Authentizität dieses Lebens immer nur in literarisch geformter Weise vorliegt.

»Schalamow war Dichter«, schreibt Thun-Hohenstein dezidiert. »Seine Prosa, die er selbst als ›schlicht‹ und ›klar‹ bezeichnete, ist die eines Dichters, der über ein besonderes Gespür für Komposition, für Rhythmisierung und Melodik der Sprache verfügte.« (Bd. 4, S. 576) Eben darauf, auf Schalamows Art und Weise der Komposition, wollen die Nachworte hinweisen. Die »Erzählungen aus Kolyma« sind demnach als »ein sorgsam durchkomponiertes literarisches Ganzes« mit einer klaren »poetologischen Struktur der einzelnen Erzählungen wie aller Zyklen« zu verstehen (Bd. 4, S. 582f.). Damit soll nicht suggeriert werden, dass ausgerechnet hier, in der Literatur des Überlebens, ästhetische Perfektion oder gar Totalität zu haben sei. Sehr deutlich macht die Verfasserin immer wieder auf das Fragmentarische und gleichsam Vernarbte von Schalamows Schreiben aufmerksam. Entscheidend ist der Befund des literarisch Komponierten vielmehr als Bestimmung einer Distanz zum Erlebten, die selbst eine historische Distanz ist. Wenn es eine Position Schalamows gibt, dann die der Komposition.

All das wird den Lesern der Gesamtausgabe nicht als gesicherte literaturwissenschaftliche Grundlage der jeweils eigenen Lektüre präsentiert, sondern eben im Nachgang, im Nachwort. »Der große Nachteil des Vorworts«, so Gérard Genette in seinem Buch über Paratexte, »liegt darin, daß es eine versetzte und sogar hinkende Kommunikationsinstanz ist, da der Autor darin dem Leser im Voraus den Kommentar zu einem Text anbietet, den dieser noch nicht kennt.« Wenn man hingegen ein Nachwort vorlege, dann könne »der Autor in beiderseitiger Kenntnis der Sache epilogieren […]: ›Jetzt wissen Sie genauso viel wie ich, also unterhalten wir uns.‹« (Gérard Genette: Paratexte, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 228) Das Nachwort richtet sich demnach »nicht mehr an einen potentiellen, sondern an den tatsächlichen Leser« (ebd., S. 229) – idealiter; denn natürlich kann man auch mit der Lektüre des Nachworts beginnen.

Von Franziska Thun-Hohensteins Nachworten zu den Werken Schalamows kann man sagen, dass sie Nachworte in einem starken Sinn sind: Nachworte, die nicht ebenso gut Vorworte sein könnten, sondern die, indem sie von der Nachträglichkeit der Texte handeln, ihrerseits Nachträglichkeit ausstellen. Sie wollen keine bestimmte Schalamow-Lektüre initiieren oder vorwegnehmen, sondern verstehen sich als Ergänzungen zu einer bereits begonnenen Lektüre – nicht zu einer bereits beendeten, denn sie sind als Anregungen, als Weiterführungen formuliert. Es sind Nachworte auch im Sinn der Allographie, so Genettes Kennzeichnung desjenigen Typus, bei dem das Nachwort nicht vom Autor selbst verfasst wurde, sondern von einem anderen. Das betrifft vor allem solche Fälle, in denen ein toter Autor postum benachwortet wird.

Dieser Befund mag für Werkausgaben trivial erscheinen, weil sie sich ja zumeist toten Autoren widmen. Schalamows Literatur des Überlebens operiert allerdings immer schon auf der Grenze des Todes. Thun-Hohenstein spricht durchaus emphatisch von seiner Fähigkeit, »ein Textgewebe zu schaffen, das der von Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit gekennzeichneten Situation des einzelnen Häftlings in der Lagerwelt adäquat ist und doch – thematisch wie durch die Formgebung – von der grundsätzlichen Überwindbarkeit des Todes kündet«. Darin sieht sie den »ästhetischen wie menschlichen Sieg Schalamows« (Bd. 4, S. 581). Ein solches literarisches Programm bewegt sich, mit Genettes Zitat einer Formulierung von J. Hillis Miller, »zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Rands« (Genette, S. 9, Anm. 2). Man kann Schalamow in dieser Hinsicht als einen paratextuellen Autor kennzeichnen. Indem Franziska Thun-Hohenstein ihm in immer neuen Anläufen nachschreibt, macht sie sich die paratextuelle Verfasstheit ihres Gegenstands auf subtile Weise zu eigen.

Der Literaturwissenschaftler Stefan Willer ist stellvertretender Direktor des ZfL. Der Text geht zurück auf seinen Beitrag zum Symposium »Schalamow. Lektüren« am 12.5.2016 im ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Stefan Willer: Die Kunst des Nachworts. (Ein Nachtrag zu »Schalamow. Lektüren«), in: ZfL BLOG, 23.7.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/07/23/stefan-willer-die-kunst-des-nachworts-ein-nachtrag-zu-schalamow-lektueren/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180723-01

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DER FRAGEBOGEN: Wir fragen, Franziska Thun-Hohenstein antwortet https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/07/28/der-fragebogen-wir-fragen-franziska-thun-hohenstein-antwortet/ Fri, 28 Jul 2017 12:15:43 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=491 Der Proust’sche Fragebogen dient traditionell dazu sich kennenzulernen, sei es in einem französischen Salon, wo er einst entstand, sei es auf der letzten Seite eines deutschen Magazins. Wir haben unseren eigenen Fragebogen für den ZfL-Blog entworfen. Hier antwortet jetzt Franziska Thun-Hohenstein, die Anfang der 1970er Jahre in Moskau an der Lomonossow-Universität in Moskau russische Sprache Weiterlesen

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Der Proust’sche Fragebogen dient traditionell dazu sich kennenzulernen, sei es in einem französischen Salon, wo er einst entstand, sei es auf der letzten Seite eines deutschen Magazins. Wir haben unseren eigenen Fragebogen für den ZfL-Blog entworfen. Hier antwortet jetzt Franziska Thun-Hohenstein, die Anfang der 1970er Jahre in Moskau an der Lomonossow-Universität in Moskau russische Sprache und Literatur studiert hat und aktuell an einem von der DFG geförderten Projekt zu Warlam Schalamow arbeitet.

Meine erste Hausarbeit während des Studiums handelte von …

einem Vergleich zweier Editionen eines Wörterbuchs der russischen Sprache (anhand der Einträge unter dem Buchstaben P). Eigentlich wollte ich mich mit einer Erzählung des russischen Schriftstellers Leonid Andreev auseinandersetzen. Das wurde mir aber verwehrt, da ich als ausländische Studentin an der Moskauer Lomonossow-Universität  eine sprachwissenschaftliche Hausarbeit zu schreiben hatte.

Das Schreiben der Dissertation war für mich …

ein Spagat zwischen Wollen, Können und Dürfen.

Mein liebstes wissenschaftliches Buch:

Kann ich so nicht sagen, das wechselt. Gegenwärtig lese ich »Die Vorbereitung des Romans« von Roland Barthes.

Von allen wissenschaftlichen Autor/inn/en beeindruckt mich am meisten …

in der Slawistik: Renate Lachmann.

Meine Lieblingsbibliothek:

die Bibliothek des ZfL, in der immer wieder Unmögliches möglich gemacht wird.

Die Universität ist ein Ort …

an dem man mit unerwartet anregenden Fragen durch die Studentinnen und Studenten konfrontiert wird.

Dürfte ich noch einmal von vorne beginnen, würde ich heute Folgendes studieren:

Slawistik und Romanistik und/oder Filmwissenschaft.

Wäre ich von allen Zwängen frei, würde ich gerne folgender Frage nachgehen:

Diesen glücklichen Zustand habe ich derzeit, daher würde ich der gleichen Frage nachgehen, mit der ich mich gegenwärtig beschäftige: Ich untersuche das spannungsvolle Verhältnis zwischen Poetik und Biographie im Gesamtwerk des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow.

Meine abseitigste Veröffentlichung?

Ein Artikel über den Besuch in einer Kaserne der Sowjetarmee während der Wendezeit.

Ein Wissenschaftler benötigt vor allem …

Konsequenz im Denken, Neugier und Faszination, ebenso wie Hartnäckigkeit und Zeit.

Forschen bedeutet für mich …

das Eingehen auf ein Wagnis mit offenem Ausgang.

Mein Motto?

»Im Thun nie ruhn.«

 

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Der Fragebogen: Wir fragen, Franziska Thun-Hohenstein antwortet, in: ZfL BLOG, 28.7.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/07/28/der-fragebogen-wir-fragen-franziska-thun-hohenstein-antwortet/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170728-01

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