Weltliteratur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/weltliteratur/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 15 Jul 2024 15:04:40 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Weltliteratur Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/weltliteratur/ 32 32 Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/ Fri, 12 Jul 2024 08:03:38 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3328 Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. ›Glas‹) Weiterlesen

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Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3]

Bevor die letzten Folgen überhaupt ausgestrahlt worden waren, gab es auf Ehrenwort eines Kerls bereits in beiden Ländern ein breites Medienecho,[4] wobei die Kritiken kontrovers ausfielen und von enthusiastischer Begeisterung bis zu hellem Entsetzen und kategorischer Ablehnung reichten. In der Ukraine kreiste die Diskussion vor allem um die Frage, ob die Fernsehserie allein schon deshalb gefährliche Kriegspropaganda sei, weil sie aus dem Feindesland kommt. In Russland erregte die vermeintliche Romantisierung der Verbrecherwelt Anstoß. Manche Kritiker deuteten die Serie aber auch als subversiven Zerrspiegel der militärischen Aggression. Was war das aber für ein populärkulturelles Werk, das für so viel Aufmerksamkeit und Aufregung sorgte?

1.

Ehrenwort eines Kerls spielt im Jahr 1989 in Kasan, der Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik Tatarstan, fast 800 Kilometer östlich von Moskau. Der erste sozialistische Staat der Welt befindet sich im Zusammenbruch, und während die staatlichen Behörden zunehmend an Autorität und Macht verlieren, übernehmen Jugendgangs die Herrschaft über die Straße. Die tatarische Hauptstadt gelangte damals unionsweit zu Berühmtheit als einer der gefährlichsten Orte des Landes, wo kriminelle Gruppierungen mit großer Brutalität Schutzgeld erpressten und ihre Einflusssphären verteidigten, was immer wieder zu Todesfällen führte. In dieser Umgebung zeichnet die Serie das tragische Schicksal zweier ca. 14-jähriger Jungen nach, die sich in der Zeit von Glasnost und Perestroika einer dieser Gruppen anschließen. Marat und Andrej unterwerfen sich rigiden Ehrencodes, geraten immer tiefer in den Strudel der Gewalt und landen am Ende in einem Gefängnis für Jugendliche.

Einhellig lobte die Kritik den Realismus der Darstellung des damals so genannten »Kasaner Phänomens« und sah darin einen wesentlichen Schlüssel zum Erfolg der Produktion.[5] Die »dramatische Serie« sei ausgezeichnet gemacht, versuche die wahre Natur der Jugendbanden zu verstehen[6] und biete eine »glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche«.[7] Dieser »Schwanengesang auf den sowjetischen Kollektivismus«,[8] der an Martin Scorseses Gangs of New York (2002) erinnere,[9] sei zugleich »die (freudige und verhängnisvolle) Anerkennung der Macht und Autorität« des Stärkeren über die Schwächeren, weswegen die Serie »von Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Ansichten« gemocht werde.[10] Doch gerade die offen dargestellte Gewalttätigkeit der Jungen gab auch Anlass für Bedenken: die Jüngeren seien fasziniert von der »Exotik«, während Ältere »Nostalgie« überkomme, was vor allem durch die »Romantisierung des Banditentums« hervorgerufen werde.[11]

In Russland stieß die Serie deswegen anfangs gerade von politischer Seite auf teils scharfe Ablehnung.[12] Die Ombudsperson für Kinder in Tatarstan forderte ein vollständiges Verbot, da hier eine »falsche Vorstellung der kriminellen Welt« vermittelt und die »psychische und sittliche Gesundheit der Jugend« gefährdet werde.[13] Auch Duma-Abgeordnete warnten und riefen zur Zensur auf.[14] Aber nachdem Prominente wie der Kinoregisseur Nikita Michalkow und sogar Priester sich positiv über Ehrenwort eines Kerls geäußert hatten,[15] erhielt das Werk in Russland inzwischen eine Vielzahl an Auszeichnungen, darunter einige der renommiertesten Preise für Fernsehserien.[16]

Auf ukrainischer Seite dagegen wurde die Verbotsforderung vor allem mit der Herkunft der Serie begründet und ein angeblicher fundamentaler zivilisatorischer Unterschied zwischen beiden Ländern hervorgehoben. So argumentierte das Ministerium für Kultur und Informationspolitik, die Serie propagiere »Gewalt, Verbrechen und die Ästhetik des Aggressorlandes sowie feindselige Propaganda, was in der Ukraine während des Krieges inakzeptabel ist«.[17] Manche fanden die Serie gar gefährlicher als den russischen Angriffskrieg selbst, wecke sie doch unter den Teenagern Sympathien für ein Land, das »uns alle umbringt«.[18] Der ukrainische Schriftsteller und Drehbuchautor Andrij Kokotjucha kritisierte, dass darin der Ukraine unliebsame Werte vermittelt würden:

»Russische Vorstellungen unterscheiden sich von denen der zivilisierten Welt dadurch, dass sie Gewalt akzeptieren und sie direkt oder indirekt kultivieren […]: Nicht die Diebe sind schlecht, sondern das Leben, das ihnen keine Wahl ließ. Deshalb sollten wir die Verbrecher bemitleiden. Westliche Krimis, vor allem für ein junges Publikum, warnen indes immer wieder davor, dass der Weg des Verbrechens ein Weg ins Nichts ist. Mitglieder von Jugendbanden enden böse und verlieren alles. […] Die westliche Kultur bietet einen ganz anderen Ehrenkodex als die russische Kultur.«[19]

Diese dem ›zivilisierten‹ Westen entgegengestellte, angeblich spezifisch russische Gewaltkultur hebt auch die in New York lehrende Politikwissenschaftlerin Nina Khrushcheva, Urenkelin des sowjetischen Parteisekretärs Nikita Chruschtschow, hervor. Sie sah in der Serie gar eine Vorbereitung zu einem »permanenten Krieg«:

»In dem russischen Kriminaldrama [führt] eine aggressive und chaotische Politik zu Aggression und Chaos auf den Straßen. Wenn die Führung erklärt, dass sich überall Feinde verstecken, oder dass die beste Verteidigung darin besteht, zuerst zuzuschlagen, dann nehmen Paranoia, Intoleranz und Aggression zu. Und so ist es nicht verwunderlich, dass vor dem Hintergrund des von Putin angezettelten Krieges gegen die Ukraine russische Kinder ihre Klassenkameraden schikanieren, Jugendliche Passanten angreifen und dies auf Video festhalten und Erwachsene auf öffentlichen Plätzen Massenschlägereien anzetteln.«[20]

Aber haben diejenigen, die so nachdrücklich die Schädlichkeit der Serie hervorhoben und teils vehement ihr Verbot forderten, die Serie wirklich gesehen?[21] Müsste man ihnen nicht vielmehr entgegnen, dass alles, was sie als gefährliche Folge der Popularität der Serie beschwören, in dieser bereits Gegenstand der Kritik und Reflexion ist?

2.

Die Serie ist ein Werk des Regisseurs Shora Kryshownikow, der zusammen mit Andrej Solotarjow auch das Drehbuch geschrieben hat. Kryshownikow hat als Theaterregisseur und Kurzfilmer begonnen, ehe er im letzten Jahrzehnt vor allem mit Komödien teils äußerst erfolgreich war, die weder Kitsch noch Exzentrik scheuen und meist unverhohlen die neue russische Mittelklasse und das Showbusiness ins Visier nehmen. Dabei steckt hinter dem satirisch-ironischen Zugriff oft ein ernstes sozialpolitisches Anliegen. Die mehrfach preisgekrönte Fernsehserie Rufen Sie DiCaprio an! (Zwonite DiKaprio!, 2018) beispielsweise stellt die ansonsten im Staatsfernsehen kaum thematisierte Verbreitung von HIV-Infektionen unter gut situierten heterosexuellen Erwachsenen ins Zentrum und nimmt zugleich die allgemeine Homophobie und das verlogene patriotische Pathos der russischen Medienbranche aufs Korn.

Satirische Elemente sind in der neuen Serie kaum vorhanden, stattdessen dominiert die von der Kritik so sehr gefeierte realistische Darstellung. Grundlage ist das Sachbuch Ehrenwort eines Kerls. Das kriminelle Tatarstan der 1970er bis 2000er Jahre (2021) des Journalisten Robert Garaev, der 1989 als 14-Jähriger selbst Mitglied einer Straßengang in Kasan wurde und an der Serienproduktion als Berater beteiligt war. Sein Buch basiert auf umfangreichen Interviews mit ehemaligen Mitgliedern und Beteiligten und gliedert die gesammelten Aussagen systematisch nach Themenbereichen, denen kurze Einführungen vorangestellt sind. Das Buch habe, schreibt Garaev im Epilog, ein »psychotherapeutisches« Ziel, es solle die unzähligen traumatisierten »Kerle und ihre Opfer« zum Sprechen bringen und so zum Verständnis des »Kasaner Phänomens« beitragen. Denn nur durch eine »Desakralisierung« des Banditentums ließe sich verhindern, dass dessen falsche Ehrvorstellungen und der damalige »Verfall der moralischen Norm« noch in den heutigen Alltag eindringen.[22]

Auch die gleichnamige Serie von Kryshownikow versteht sich als ein »Sozial- und Bildungsprojekt, das Jugendlichen und ihren Eltern in akuten Situationen helfen soll«, wie es im Abspann jeder Folge heißt. Im Netz und in den sozialen Medien wird dazu begleitend ein umfangreiches Hilfs- und Beratungsangebot angeboten.[23] Entsprechend beginnt die Serie mit der Verführungskraft und Faszination, die die Stadtteilgangs damals auf Teenies ausgeübt haben. Erst wenn man Mitglied einer solchen Gruppierung wurde und ihren Regeln und Ritualen folgte, galt man als richtiger ›Kerl‹ (russ. pazan) und konnte sich so aus den Zwängen familiärer Enge, schulischer Disziplin und staatlicher Obrigkeit befreien. Die Mitgliedschaft versprach ein selbstbestimmtes Leben ohne Rücksicht auf Gesetze und Konventionen. Dem sowjetischen Muff aus autoritärer Erziehung und kommunistischen Phrasen, in dem jegliches abweichendes Verhalten als anstößig gilt, wird in der Serie die schöne neue Welt amerikanischer Baseballcaps, Kung-Fu-Filme, Pornovideos und Popmusik gegenüberstellt. Hierbei sind es vor allem die eingängigen Disco-Hits jener Jahre, die den pubertierenden Jungs aus der Seele sprechen, wie der Song Musyka nas swjasala (1989, Die Musik hat uns verbunden) der russischen Popband Mirage:

»Wieder fliehe ich zu meinen Freunden.
Was mich hierher zieht, weiß ich nicht
Ohne Musik kann ich nicht lange sein.

(Refrain:) Die Musik hat uns verbunden
Dies ist unser Geheimnis.
Auf alles Zureden gebe ich die Antwort:
›Uns trennt man nicht, nein!‹«

Von Anfang an macht die Serie deutlich, dass diese neue Welt ungemein brutal ist. Bereits in der ersten Szene versetzt der halbstarke »Kerl« Marat in der Straßenbahn dem »Loser« Andrej für eine Nichtigkeit einen Faustschlag. Andrej, ein junger Klavierspieler und begabter Schüler, der mit seiner alleinerziehenden Mutter und einer jüngeren Schwester in eher ärmlichen Verhältnissen aufwächst, versteht schnell, dass er sich gegen solche Schikanen alleine nicht behaupten kann. Als er ausgerechnet Marat, dessen Vater Vorsitzender eines großen Rüstungskonzerns ist, Nachhilfe in Englisch geben soll, freunden die beiden sich an und Andrej beschließt, ebenfalls Bandenmitglied zu werden. Damit gerät er in eine raue Jungswelt, in der bedingungslose Unterordnung und gegenseitige Demütigungen, Pöbeln und Prügeleien mit anderen Stadtteilgangs zum Alltag gehören. Bei einem Ausflug nach Moskau, bei dem Andrej einem von Marat fast totgetretenen Punk helfen will, gerät er das erste Mal in Polizeigewahrsam.

Die Sehnsucht, ein cooler Kerl zu sein, wird ständig durch die Konsequenzen des eigenen Handelns konterkariert. Versuchen die Freunde, etwas wiedergutzumachen, wird es nur noch schlimmer. So als Andrejs Mutter in ihrer Naivität beim Hütchenspiel mit Mitgliedern der Gang alles Geld und ihre Pelzmütze verwettet und Marat erst im letzten Moment durch einen falschen Polizeialarm verhindern kann, dass sie auch noch ihren Mantel aufs Spiel setzt. Zwar bekommt er zunächst Ärger von den eigenen Bandenmitgliedern. Doch da der Ehrencode es verbietet, den Familien der »Kerle« zu schaden, stiehlt Marat anschließend die Pelzmütze der Englischlehrerin, um sie im Beisein der ganzen Bande schließlich Andrejs Mutter als Entschädigung zu überreichen. Als die Mutter jedoch später stolz mit der neuen Pelzmütze wegen Andrejs Fehlverhalten bei der Englischlehrerin in der Schule vorsprechen muss, erkennt diese ihr Eigentum, und jene steht als gemeine Diebin dar, worüber sie den Verstand verliert.

Die entscheidende Eskalation setzt ein, als Marats älterer Bruder, ein ehemaliger Boxchampion mit Spitznamen Adidas, aus dem Afghanistankrieg zurückkehrt. Er stürzt die korrupten und in Drogenhandel involvierten Bandenbosse, möchte wieder Disziplin einführen, versucht ein Alkohol- und Rauchverbot durchzusetzen, und statt undurchsichtiger Deals mit anderen Stadtteilgruppierungen will er wieder klare Machtverhältnisse etablieren. Das misslingt gründlich: Schutzgelderpressung und ein Videosalon sind nur begrenzt erfolgreich, die Schlägereien werden immer blutiger. Als schließlich eine andere Gang Marats Freundin entführt und vergewaltigt, Adidas furchtbar gedemütigt wird und letztlich die Peiniger eiskalt erschießt, bricht nicht nur die Welt der starken Kerle zusammen, sondern Andrej und Marat ziehen auch ihre eigenen Familien und Freundinnen mit sich in den Abgrund. Das verführerische Bandenleben erweist sich als Alptraum, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört und sie selbst schwer schädigt.

So geraten die Freunde wiederholt mit dem strengen Ehrenkodex der Kerle in Konflikt: Diese verlangen nämlich nicht nur absolute Loyalität gegenüber der Gruppe und verbieten Entschuldigungen gegenüber allen anderen, sondern folgen auch patriarchalen Rollenbildern, wonach nur ein unschuldiges Mädchen ›rein‹ ist und Umgang verdient, während alle anderen als ›Schlampen‹ und ›Huren‹ ohne Ehre gelten. Gibt man sich dennoch mit ihnen ab, ist man selber ›befleckt‹ und wird als ›Dreckskerl‹ aus der Gang ausgeschlossen. Andrej und Marat versuchen anfangs noch mit teils äußerster Rücksichtslosigkeit ihre erwählten Frauen ›rein‹ zu halten, doch das misslingt. Denn Andrejs geliebte Irina arbeitet bei der Miliz, ist im kommunistischen Jugendverband Komsomol und amüsiert sich mit der subkulturellen Boheme, die dem ›Hooligan‹ Andrej nur Verachtung entgegenbringt. Nicht Andrej schützt Irina, sondern umgekehrt muss die bereits volljährige Irina wiederholt die Folgen seiner Straftaten und Grenzüberschreitungen ausbügeln. Marat wiederum hält seiner Freundin Aigul zwar nach deren Vergewaltigung verzweifelt die Treue. Trotzdem wird sie von der Gang und deren Mädchen als Hure geächtet. Selbst ihre Eltern können die Schande nicht ertragen, bis sie keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. In ihrer besinnungslosen Wut über die eigene Hilflosigkeit werden Andrej und Marat beinahe selbst zu Mördern der vermeintlich schuldigen rivalisierenden Bandenmitglieder.

Das Einzige, was als Trost am Ende bleibt, ist die die Kerle in allen Lebenslagen begleitende Popmusik, und hier insbesondere die Hits der Boygroup Laskowy Mai (Zärtlicher Mai‹). Deren Sänger Juri Schatunow – selber ein Waisenjunge aus einem Jugendheim, der bei der Bandgründung 1986 gerade einmal 13 Jahre alt war – wurde mit seinem androgynen Auftreten zum ersten Teeniestar der Sowjetunion. Seine Songtexte bringen auf den Punkt, was die wilden Kerle nicht in eigene Worte fassen können, wenn sie in der Schlussszene der Serie im Kulturklub des Gefängnisses unter dem roten Banner »Wir preisen die Arbeit, unser Land und die Zeit« mit kahlgeschorenen Köpfen gemeinsam den Refrain von Sedaja notsch (1987, Graue Nacht) grölen:

»Und wieder die graue Nacht, und nur ihr vertraue ich.
Du kennst, graue Nacht, all meine Geheimnisse.
Aber auch du kannst mir nicht helfen, und deine Dunkelheit
Nützt mir rein gar, rein gar nichts.«[24]

Das unheimlich-vertraute Geheimnis der ergrauten Nacht aber, das weiß man am Ende der Serie, sind die traumatischen Gewalterfahrungen, über die gemeinhin auch im Fernsehen nicht öffentlich gesprochen wird.

3.

Die enthusiastischen Filmkritiken hoben vor allem die detailgetreue Darstellung der Bandenkriminalität Ende der 1980er Jahre hervor, deren mediale Aufbereitung eine therapeutische Wirkung entfalten könne und die manche auch als ein spektakuläres Menetekel für die Gegenwart im Angesicht des Krieges deuteten. Doch die Serie ist mehr als das. Denn sie unternimmt zugleich eine Revision gängiger Bilder der Perestroika-Periode und folgt dabei dem aktuellen Zeitgeist innerhalb der Russischen Föderation. Am deutlichsten wird das bei Andrejs Onkel Ildar, der ein leitender Ermittler bei der Kriminalpolizei ist. Unter Einsatz von Bestechung, Gewalt und Erpressung versucht er, seinen Neffen zu Aussagen über die Mitglieder seiner Bande zu bringen. Außerdem beginnt er eine Affäre mit Andrejs Mutter. Doch als er eines Abends Andrejs Freund Marat aus ihrer Wohnung rausschmeißen möchte, hält die Mutter zu ihrem Sohn und weist stattdessen Ildar die Tür. Erst als die an ihrem kriminellen Sohn zerbrechende Mutter psychisch erkrankt, wendet sich Andrej in seiner Verzweiflung erneut an seinen Onkel, um sie vorübergehend aus der gefürchteten Psychiatrie zu holen, wo sie aber letztlich doch besser aufgehoben ist als zu Hause.

Ildar zeigt sich im Laufe der Ermittlungen gegen die Jugendbande immer mehr als ein einfühlsamer und rechtschaffener Mensch, der mit aller Gewalt, aber im Namen der Menschlichkeit den Rechtsstaat und das Gesetz gegen die ausufernde Straßenkriminalität durchsetzen möchte. Hier bekommt die Serie deutlich kontrafaktische Züge – waren in der späten Sowjetunion doch die Korruption der staatlichen Behörden und der Missbrauch der Psychiatrie zur medikamentösen Ruhigstellung widerspenstiger Staatsbürger sprichwörtlich. Diese beabsichtigte Rehabilitierung staatlicher Instanzen zeigt sich noch in der Darstellung der Lehrerinnen, die anfangs klischeehaft aufgedonnert und verstockt wirken, im Laufe der Geschichte aber sympathischere Züge bekommen, halten sie doch angesichts der umgreifenden Jugendkriminalität verzweifelt an zivilisierten Umgangsformen fest.

Am deutlichsten ist die ideologische Ausrichtung der Fernsehserie in der Darstellung des Afghanistankrieges zu erkennen, in den die Sowjetunion nach ihrem Einmarsch im Dezember 1979 ein Jahrzehnt lang bis Februar 1989 involviert war. Eine ganze Generation von zwangsweise in den Kampf geschickten jungen Wehrpflichtigen wurde durch den Guerillakrieg der Mudschahedin traumatisiert. Nach Kriegsende hatten sie massive Probleme, sich in die zusammenbrechende Gesellschaft zu reintegrieren, viele verfielen dem Alkohol und Drogen. All dies kommt in der Serie überhaupt nicht vor, im Gegenteil: Adidas scheint im Krieg gestählt worden zu sein, hasst die US-Amerikaner aufgrund ihrer Waffenlieferungen an die afghanische Opposition, empört sich, dass »wir« die »Demokratische Republik Afghanistan« verraten haben, ist Liebling aller älteren und jüngeren Frauen und übernimmt sofort die Führung der Stadtteilbande.[25] Dass auch er schwer traumatisiert ist, zeigt die Serie nur mittelbar, etwa in der Szene, in der er eine romantische Nacht mit seiner Geliebten Natascha nicht im Bett, sondern mit Gitarre in der Küche verbringt und so lange Afghanistanlieder singt, bis sie weinend ausruft, sie wolle nichts mehr vom Tod hören. Seine Rückkehr in die Gesellschaft misslingt letztlich auf allen Ebenen: Statt militärische Ordnung und Disziplin zu schaffen, schaden alle seine Aktionen der Gruppierung nur; und sein Vater, der als Chef eines Rüstungsbetriebs Karriere als Waffenlieferant für die sowjetische Invasionsarmee gemacht hat, ist am Ende als Vater eines Kriminellen und Mörders ein gesellschaftlich geächteter Mann.[26] Kriegshelden, so die implizite Botschaft, sind fürs Zivilleben nicht zu gebrauchen.

Eng verbunden mit dieser indirekten Kritik an den destruktiven Folgen des Krieges sind Fragen nach der Menschlichkeit. Deren Abwesenheit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Serie, verbildlicht durch diskriminierende Rede, despektierliche Gesten und übergriffiges Verhalten.[27] Vor allem aber entfaltet der omnipräsente Sexismus innerhalb der Gruppierung seine toxische Wirkung. Auch sonst präsentiert die Serie kein idealisiertes Bild der Sowjetunion: Die Mütter der beiden Jungen beispielsweise sind keineswegs emanzipierte Frauen, sondern folgen weitgehend traditionell-weiblichen Rollenmustern. Und der Vorsitzende des örtlichen Komsomol ist ein typischer Karrierist der Wendezeit, der früh die kapitalistischen Zeichen der neuen Zeit erkannt hat und in den Klubräumen eine Produktionsstätte für Bluejeans betreibt.

So erweist sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt einerseits als Versuch, im zunehmend repressiven und autoritären Russland der Gegenwart mit einem populärkulturellen Werk den staatlichen ideologischen und pädagogischen Anforderungen zu genügen, lässt aber andererseits auf subtile Weise auch andere Sichtweisen zu. Deutlich folgt die Serie dem offiziellen Narrativ, dass nur ein starker Staat für Recht und Ordnung sorgen könne und alle Formen von selbstorganisierter Autonomie oder alternative Gemeinschaftsformen nur zu Chaos und blutiger Gewalt führen. Putins Diktum vom Zusammenbruch der Sowjetunion als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« wird anhand des »Kasaner Phänomens« anschaulich demonstriert. Zugleich zeigt die Serie am Beispiel der beiden jugendlichen Protagonisten Marat und Andrej die Faszination, die gegenkulturelle Jugendbewegungen entwickeln können, und die fatalen Konsequenzen, die extreme Gewalt für alle Beteiligten mit sich bringt. Die katastrophalen Folgen des sowjetischen Afghanistaneinsatzes für eine ganze Generation junger Soldaten werden hingegen nur indirekt anhand der Figur des Kriegsveteranen Adidas thematisiert, dem eine Rückkehr in den zivilen Alltag nicht gelingt.

Es dürfte diese gelungene Verknüpfung einer spannenden und mitreißenden Geschichte über jugendliche Alternativkulturen mit einer vielschichtigen Thematisierung der Folgen von Gewalt und Krieg für die eigene Gesellschaft sein, die die enorme Popularität der Serie beiderseits der russisch-ukrainischen Front begründet. Denn, wie Robert Garaev im Nachwort zur Neuauflage seines Buches schreibt:

»Leider ist die Welt der Kerle nicht nur auf die Bildschirme gekommen, sondern auch in unsere Realität zurückgekehrt – und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als man sich vorstellen konnte. Die Sprache der Kerle wird inzwischen von russischen Politikern, Beamten und Talkshow-Moderatoren gesprochen. […] Angesichts der Situation im Jahr 2023, in der die Welt in Chaos und militärischen Konflikten versinkt, möchte ich daran glauben, dass der Leser nach der Lektüre dieses Buches die richtige Schlussfolgerung zieht: Kriege können Gründe und Voraussetzungen haben, aber manchmal ist der Gewinner nicht derjenige, der sich Hals über Kopf in diesen Konflikt gestürzt hat, wie die Helden aus Ehrenwort eines Kerls, sondern derjenige, der sich abseits dieser Kämpfe befand, sich in die Materie vertiefte, sie verstand, sich weiterentwickelte und allem widerstand, ausgehend von seinem Weltverständnis und seinen Ehrregeln.«[28]

Zu verstehen und zu widerstehen: ein solches Angebot enthält auch die Fernsehserie.

Der Slawist Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und leitet das Projekt Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg.

[1] Da Aigel Gaisina, die Sängerin der Band, nach kritischen Äußerungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine emigriert ist, sind später alle Angaben zum Song aus dem Abspann der Serie entfernt worden.

[2] Pazan bedeutet so viel wie ›Kerl, Bursche, Junge‹. Das Substantiv hat im Russischen umgangssprachlich einen herablassenden Beiklang und kann auch die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Gruppierung markieren. Ein Trailer zur Serie mit englischen Untertiteln findet sich auf Youtube. In Deutschland ist die Serie bislang nur mit englischen Untertiteln auf der Filmplattform Soviet & Russian Movies zu sehen. Ich danke Franziska Thun-Hohenstein, Nina Weller, Roman Dubasevych und Dirk Naguschewski für ihre hilfreichen Hinweise.

[3] Vgl. u.a. Anastasija Chochlova: »Zusammenkünfte, Schlägereien und Einflusszonen: Was Jugendliche nach dem Ansehen der Fernsehserie Ehrenwort eines Kerls tun« (auf Russisch), in: Radio 1 (29.11.2023); [Anon.]: »Russische Propaganda: Ukrainische Schulen schlagen wegen der Serie Ehrenwort eines Kerls Alarm« (auf Ukrainisch), in: Gazeta.Ua (4.12.2023). Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen von mir.

[4] Vgl. u.a. Anastasija Gončarenko:»Ehrenwort eines Kerls: Warum man diese Serie in der Ukraine hasste und warum Jugendliche ›süchtig‹ nach ihr wurden« (auf Ukrainisch), in: TSN (11.12.2023); Anna Kundirenko: »Ehrenwort eines Kerls. Warum die skandalträchtige russische Serie in der Ukraine populär wurde« (auf Russisch), in: BBC News (Russkaja služba) (9.12.2023).

[5] Vgl. Varvara Košečkina: »Die Serie Ehrenwort eines Kerls über Jugendbanden zur Zeit des Zerfalls der UdSSR ist erschienen« (auf Russisch), in: Lenta.ru (10.11.2023); Svetlana Stephenson: »Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land« (übersetzt von Ruth Altenhofer), in: Dekoder (2.1.2024). 

[6] Anton Chitrov: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt ist eine hervorragende Serie von Shora Kryshownikow über das kriminelle Kasan der 1980er Jahre, in das sich das Russland der 2020er Jahre zu verwandeln droht« (auf Russisch), in: Meduza (25.11.2023).

[7] Aleksandr Folin: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt: Eine glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche« (auf Russisch), in: KinoReporter (9.11.2023).

[8] Sergey Toymentsev: Review of »Zhora Kryzhovnikov: The Boy’s Word of Honor (TV)«, in: KinoKultura 83 (2024).

[9] Vasilij Stepanov: »Angst haben zu fliehen« (auf Russisch), in: Kommersant’ (3.11.2023).

[10] Anton Dolin: »Ehrenwort eines Kerls wurde zu einer echten Sensation« (auf Russisch), in: Meduza (22.12.2023).

[11] Kundirenko: Ehrenwort eines Kerls (Anm. 4).

[12] Il’ja Litov: »›Sie haben das Land aufgefressen‹: Ist die Serie Ehrenwort eines Kerls wirklich so schädlich für die Jugend?« (auf Russisch), in: Moskovskij Komzomolec (5.12.2023).

[13] Alja Trynova: »Die Ombudsperson für Kinder von Tatarstan bittet Roskomnadzor die Serie Ehrenwort eines Kerls zu überprüfen« (auf Russisch), in: Večernie vedomosti (29.11.2023). Roskomnadzor ist die »Föderale Aufsicht für Informationstechnologie und Massenkommunikation« in Russland.

[14] Sergej Aksenov: »Der Film Ehrenwort eines Kerls erinnert an die Perestroika-Probleme der 80er Jahre« (auf Russisch), in: Svobodnaja Pressa (6.12.2023).

[15] Tass: »Michalkow bezeichnete Forderungen nach einem Verbot der Serie Ehrenwort eines Kerls als eine große Dummheit« (auf Russisch), in: TASS (9.12.2023); Sergij Kruglov: »Verbieten, um sich selbst nicht zu erkennen« (auf Russisch), in: Pravmir (14.12.2023). Bereits Ende 2023 kürten russische Kinokritiker die Serie zur besten des Jahres, vgl. [Anon.]: »Kritiker haben die Serie Ehrenwort eines Kerls zur besten des Jahres 2023 erklärt« (auf Russisch), in: TASS (25.12.2023).

[16] So erhielt die Serie im April 2024 die höchsten Auszeichnungen des Nationalpreises für Webinhalte (National’naja premija v oblasti veb-kontenta). Bei der Preisverleihung des Verbands der Film- und Fernsehproduzenten (Associacija prodjuserov kino i televedenija, Abk. APKiT) in Moskau – etwa vergleichbar den US-amerikanischen Emmy Awards – kam sie im Juni 2024 sogar auf neun Auszeichnungen. Vgl. Susanna Al’perina: »Bondarčuk und Ehrenwort eines Kerls. Die Gewinner des V. Nationalpreises für Webinhalte wurden bekanntgegeben« (auf Russisch), in: Rossijskaja gazeta (16.4.2024); »Ehrenwort eines Kerls erhielt die Hauptauszeichnungen des National Web Content Award« (auf Russisch), in: InterMedia (15.4.2023); Vera Cvetkova: »Das magische Ehrenwort eines Kerls …« (auf Russisch), in: Nezavisimaja gazeta (20.6.2024).

[17] Marija Kabacij:»Ohne Tscheburaschka und Ehrenwort eines Kerls geht es nicht: Welche Filme die Ukrainer im Jahr 2023 gegoogelt haben« (auf Ukrainisch), in: Ukraijns’ka pravda (12.12.2023).

[18] Julija Ljubčenko: »›Seid ihr noch bei Verstand?‹ Irma Vitovska wendet sich an die Zuschauer der russischen Serie Ehrenwort eines Kerls« (auf Ukrainisch), in: RBK-Ukrajina (7.12.2023).

[19] Andrij Kokotjucha: »Das Schweigen des ukrainischen Kerls« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (11.12.2023). Diese Extrapolation aller negativen Seiten der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit als ein genuin russisches, der ukrainischen Kultur fremdes Element, ist kein Sonderfall. Typisch für die filmische Darstellung der Straßengewalt der späten 1980er und der 1990er Jahre ist Oleh Senzows Film Rhino (Nosorih, 2021), dessen Handlung vor allem in der Ostukraine spielt. Er stellt gewissermaßen einen Gegenentwurf zu dem russischen Kult-Film der 1990er Jahre Bruder (Brat, 1997) von Alexei Balabanow dar.

[20] Nina Khrushchova: »Russland bereitet sich auf einen permanenten Krieg vor. Wie es dazu kommt« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (24.1.2024).

[21] Die deutschsprachige Presse hat zwar über den Erfolg und die öffentliche Resonanz auf die Serie in Russland und der Ukraine berichtet, eine genauere Besprechung ihres Inhalts fand aber nur selten statt, vgl. beispielsweise Artur Weigandt: »Wer um Gnade fleht, muss schießen (Russische Serie über Jugendbanden)«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.1.2024), S. 15; Ueli Bernays: »Stammesdenken in Russland. Du gehörst zu uns, alle anderen sind Feinde«, in: Neue Zürcher Zeitung (1.2.2024); Inna Hartwich: »Gewalt, Lügen und Zynismus (Medien in Russland)«, in: tageszeitung (12.12.2023).

[22] Robert Garaev: Slovo pacana, Kriminal’nyj Tarastan 1970–2010-ch [12021], erweiterte Auflage, Moskau 2024, S. 613, 616–617. Garaev hat sich in Interviews wiederholt positiv zu der Verfilmung geäußert, die dem Anliegen seines Buches entspreche, vgl. Polina Chabarova: »Die Gruppierungen waren staatsähnlich«, in: Kommersant’ (4.2.2024).

[23] Vgl. zum Beispiel die Webseite Pacany menjajutsja [Kerle verändern sich].

[24] Mit Szenen aus der Fernsehserie unterlegt: https://www.youtube.com/watch?v=CbbGV1JthRA. Im Russischen gibt es zwei Worte für ›grau‹, zum einen seryj für die Farbe Grau, was aber auch ›trist‹ oder ›langweilig‹ bedeuten kann, zum anderen sedoj, was vor allem auf die Haarfarbe bezogen wird (›grauhaarig, ergraut‹). Der Titel Sedaja noč’ (1988) konnotiert diese Bedeutung im Sinne von einer alt gewordenen Nacht.

[25] Diese geschönte Darstellung des sowjetischen Afghanistaneinsatzes und seiner Folgen ist kein Novum. Nachdem in der Glasnostzeit und Anfang der 1990er Jahre eine schonungslose Auseinandersetzung stattfand – deren im Westen bekanntestes Zeugnis Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman Die Zinkjungen (Cinkovye mal’čiki,1989) ist –, änderte sich das im neuen Jahrtausend langsam. Kameradschaft, Disziplin und Durchhaltewille als militärische Tugenden traten wieder in den Vordergrund, wofür im Bereich der Populärkultur Fjodor Bondartschuks Blockbuster Neunte Kompanie (9 rota, 2005) wegweisend war.

[26] Auch die Flucht ans Meer mit der Geliebten im gestohlenen Auto – wie man sie aus dem Genre des Roadmovies kennt – vermasselt Adidas zum Schluss. Denn zuvor versucht er vergeblich, sich mit seinem Vater zu versöhnen und wird bei einer Polizeiaktion niedergeschossen.

[27] Auffällig ist dabei, dass nationalistische oder identitäre Diskurse keinerlei Rolle spielen, sämtliche Helden sind diesbezüglich auffällig farbenblind. Auch Christentum und Islam kommen nur am Rande vor. In der Tat, das zeigt auch Robert Garaevs Buch, ist der Alltagsrassismus zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erst ein Phänomen der 1990er Jahre.

[28] Robert Garaev: »Posleslovie k izdaniju 2024 goda« [Nachwort zur Ausgabe von 2024], in: ders.: Slovo pacana (Anm. 22), S. 634, 638.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: In der Welt der wilden Kerle. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges, in: ZfL Blog, 12.7.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240712-01

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Sandra Folie: ASPEKTE SCHWARZER GESCHICHTE(N) IN »BERLIN GLOBAL«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/15/sandra-folie-aspekte-schwarzer-geschichten-in-berlin-global-eine-fuehrungs-und-ausstellungsreflexion/ Thu, 15 Feb 2024 09:45:07 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3224 Februar ist Black History Month[1] und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir – Gianna Zocco und Sandra Folie – im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung« besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir Weiterlesen

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Februar ist Black History Month[1] und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir – Gianna Zocco und Sandra Folie – im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung« besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen.[2] Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, »wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind«[3]. Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen.

Unter dem Titel »Sichtbar werden« führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch – miteinander, aber auch mit der Gruppe – durch die Spuren Schwarzer[4] Geschichte(n) in der Ausstellung.[5] Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung »sichtbar werden«, fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des narrating back und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums[6] begreifen lassen?

Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.[7]

Prolog: Wer denkt hier die Welt?

Abb. 1: Ausstellung »Berlin Global«, Aufbauansicht Weltdenken, © How & Nosm / Kulturprojekte Berlin und Stiftung Stadtmuseum Berlin, Foto: Alexander Schippel

Im ersten Raum der Ausstellung ist ein 360-Grad-Wandbild des Künstlerduos How & Nosm zu sehen (Abb. 1).[8] Bei meinem ersten, schon länger zurückliegenden Ausstellungsbesuch hatte ich dieses Bild mit dem Titel Weltdenken nicht besonders eingehend betrachtet. Einzig an die Porträts von Alexander und Wilhelm von Humboldt darin konnte ich mich gut erinnern – zum einen aufgrund ihrer prominenten Positionierung, zum anderen auch, da sich ihre fotorealistischen Abbildungen vom restlichen Street-Art-Stil (schwarze Outlines, häufig ohne Füllung) absetzen. Doch was zeigt das raumgreifende Wandbild abseits der Namensgeber des umstrittenen Berliner Schlosses? Welche Geschichte wird erzählt? Die Führung beginnt mit Fragen und dem Auftrag, das Wandbild erst einmal zu betrachten.

Abb. 2: Edward Linley Sambourne: »The Colossus of Rhodes: Striding From Cape To Cairo«, Punch Magazine, 1892;  Wikimedia Commons

Die Gruppe trägt zusammen, dass eine Geschichte der Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt abgebildet ist, des Versklavungshandels und des deutschen Kolonialismus. Die Eingangswand zeigt den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688), einen der Bauherren des Berliner Schlosses und Gründer der ersten deutschen Kolonie in Afrika, »Groß-Friedrichsburg« im heutigen Ghana. Auf seine aktive Rolle im transatlantischen Versklavungshandel weisen das Dreieckssymbol, die in Ketten gelegten People of Color und das Schiff hin. Auf der gegenüberliegenden Wand sind die Benin-Bronzen, Bismarck und die Afrika-Konferenz 1884/85 zu erkennen. Nach einer Sammlung erster Eindrücke wird es still. Schmidt fragt nach dem Mann, der übergroß in einer breiten Grätsche dargestellt ist, in einer Hand die Welt, in der anderen eine Karte von Afrika. Die Abbildung beruht auf der populären Karikatur des von Kapstadt bis nach Kairo grätschenden Rhodes Colossus (Abb. 2). Doch was macht Cecil Rhodes im deutschen Kolonialismus? Die Zusatzmaterialien zum Wandbild beantworten die Frage damit, dass das Bild nicht einzig den deutschen, sondern den europäischen Kolonialismus zeige.[9] Das große Schiff neben Friedrich Wilhelm stehe für die Eroberung Amerikas und der britische Kolonialpolitiker Cecil Rhodes versinnbildliche den kolonialen Größenwahn. So betrachtet, wirkt der deutsche Kolonialismus be(un)ruhigend klein.

Abb. 3: Gedenkkopf einer Königinmutter (Iyoba), Ident Nr: III 12507; © Foto: Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin; Fotograf: Jürgen Liepe

Schmidt und Eliot machen auf eine markante Frauenfigur inmitten all der weißen Eroberer und namenlos bleibenden Schwarzen Eroberten aufmerksam. Es handelt sich um den Gedenkkopf einer Königinmutter (Iyoba) aus Benin – erkennbar an der Form ihrer Krone. Amt und Titel der Königinmutter, die eine wichtige politische Position einnahm, wurden im frühen 16. Jahrhundert eingeführt (Abb. 3). Das Ethnologische Museum besitzt eine ganze Reihe solcher Objekte, die im Zusammenhang mit der britischen Eroberung von Benin »vermutlich geplündert« und dem Museum irgendwann »geschenkt« oder »verkauft« wurden.[10] Die Abbildung eines Königinmutter-Gedenkkopfes in den Zusatzmaterialien illustriert zwar einen kurzen Informationstext über »geraubte Kunst«, dieser handelt allerdings nur von den Benin-Bronzen im Allgemeinen und enthält keinerlei Informationen über die Königinmutter oder die dahinterstehende Tradition.[11]

Die erste Station der Führung regt dazu an, über Sichtbarkeit, Kontextualisierung und Publikumsansprache nachzudenken. Der Einführungsraum ist zweifelsohne ein prominenter Ort, um den deutschen Kolonialismus zu thematisieren, aber wird das raumgreifende Wandbild ob seiner Unübersichtlichkeit nicht leicht übersehen bzw. als bloßes Ornament wahrgenommen? Und genügt es, diese Art von »Weltdenken« zu zeigen bzw. darauf zu vertrauen, dass Besucher:innen die digital bereitgestellten Zusatzmaterialien konsultieren? Was oder wen finden sie dort (nicht)? Das Wandbild soll »atmosphärisch« in der Ausstellung willkommen heißen,[12] doch wer heißt in dieser weiß und männlich perspektivierten Darbietung von Ausbeutung und Gewalt wen willkommen?

Begrenzt divers: Eine unvollendete Revolution

Ausstellung »Berlin Global«, Raum: Revolution, Humboldt Forum, Berlin © Clemens Porikys | Kulturprojekte Berlin und Stadtmuseum Berlin

Einer der nächsten Themenräume zur »Revolution« beleuchtet die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Forderung nach Bürgerrechten (Abb. 4). Es stehen die für Deutschland und Berlin zentralen Revolutionsjahre 1848, 1918 und 1989 im Fokus. Etwas abseits, an der Außenseite jener zwei raumgreifenden elliptischen Wände, innerhalb derer sich das »Rad der Geschichte« befindet,[13] ist ein großes Bild der in Berlin lebenden ägyptischen Künstlerin Hanaa El Degham zu sehen: Die Wiedergeburt des Osiris. Ich muss gestehen, dass ich dieses bei meinem ersten Ausstellungsbesuch nicht weiter beachtet hatte. Es sind darauf überwiegend People of Color zu sehen, die durch einschlägige Gesten – erhobene Fäuste, gekreuzte Arme, vier ausgestreckte Finger und eingeklappte Daumen –, ihren Protest ausdrücken. Teils übermalt, teils aber auch gut lesbar in Aussparungen platziert, sind kurze handschriftliche Texte in das Bild integriert. Schmidt und Eliot laden dazu ein, einen dieser Texte gemeinsam zu lesen:

Über die Abwesenheit der Diversität:
Haben Sie sich schon einmal gefragt,
wer alles NICHT ins Museum
geht. wer sich von den prunkvollen
Bauten, goldenen Kuppeln und glänzendem
Kreuz nicht eingeladen fühlt?
Museen sollten ein Ort der Vielen
sein, sowohl die ausgestellten Objekte
und Inhalte, aber auch die Menschen,
die sie besuchen.

In einem aufgezeichneten Gespräch mit Eliot gab El Degham preis, dass sie nicht einfach eingeladen wurde, etwas zur Ausstellung beizutragen. Vielmehr sollte sie bestimmte, vorgegebene Inhalte umsetzen. Erst als sie dies strikt ablehnte, wurden ihr mehr Freiheiten eingeräumt. Sie fasste den Entschluss, sich den Raum zu nehmen, um zu sagen, was sie sagen wollte, und vor allem auch, weiteren Aktivist:innen und Künstler:innen diese Möglichkeit zu geben. Deren Zitate, die sich wie das obige teils sehr kritisch auf das Humboldt Forum und sein Selbstverständnis »als ein Forum der Vielstimmigkeit« beziehen, bilden den Hintergrund des Wandbilds. Sie stellten nicht nur eine wichtige Inspiration für El Deghams Arbeit daran dar, sondern nennen auch das beim Namen, was im Zusammenhang mit dem behaupteten Kosmopolitismus, der Multikulturalität und Diversität des Humboldt Forums gewissermaßen den Elefanten im (Ausstellungs-)Raum darstellt. Im Pressedossier »Kolonialismus« findet sich dazu nur eine etwas verhalten klingende Anmerkung: »Auch werden in dem Wandbild Bezüge auf das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss hergestellt, dem einstigen Sitz der preußischen und deutschen Kolonialherren.«

Eine Künstlerin of Color einzuladen, zu einem zentralen Thema der Ausstellung beizutragen, das nicht unmittelbar mit ihren persönlichen Rassismuserfahrungen in Deutschland zu tun hat, ist ein wichtiger Schritt, aber auch einer, der inzwischen erwartet und eingefordert wird. Schon vor dreißig Jahren beschrieb die afrodeutsche Dichterin und Aktivistin May Ayim die Problematik einer Einladungspolitik, die auf der persönlichen Betroffenheit von Minderheiten basiert: »Die ›Betroffenen‹ waren nur geladen, um über ›ihre Probleme‹ zu sprechen. Sie wurden weder als GesprächspartnerInnen noch als Persönlichkeiten mit vielfältigen Interessen und Arbeitsschwerpunkten ernst genommen.«[14] Das traf auf El Degham, die eingeladen wurde, um zum Thema Revolution zu arbeiten, so nicht mehr zu. Die Versuche, ihren künstlerischen Output zu steuern, und die Platzierung ihres Kunstwerks an den äußersten Rändern des Raumes machen jedoch deutlich, dass eine diversere, von persönlicher Betroffenheit abrückende Einladungspolitik allein nicht garantiert, dass jemand als Gesprächspartner:in, Persönlichkeit und Künstler:in ernst genommen wird.

Grenzenlos unverschämt: Schwarze Deutsche als »Subkultur«

»Berlin bot schon immer Raum für Menschen, die anderswo nicht leben durften, wie sie wollten«, heißt es in einer Beschreibung des Themenbereichs »Freiraum«, der »von Projekten und Utopien« erzählt, »die in den Nischen der großen Stadt gediehen«. Es gibt verschiedene voneinander abgegrenzte Sektionen, etwa über Geschlecht, Kunst oder Subkulturen. In letzterer verweilen wir. Auf einer chronologisch arrangierten Schautafel werden unterschiedliche Beispiele zur Geschichte der Subkulturen in Berlin präsentiert: von der Wandervogelbewegung über die Hippies bis hin zur Vielfalt und Verdrängung der Alternativkulturen heute. Zwischen Hausbesetzungen und Punkfestivals findet sich die »Schwarz-Deutsche Bewegung«, die eigentlich Afrodeutsche oder Schwarze Deutsche Bewegung[15] heißt und seit Mitte der 1980er dafür kämpft, Schwarzes Deutschsein in der weißen Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen. Schmidt gibt zu bedenken, welch verletzende Setzung vorgenommen wird, wenn die Schwarze Deutsche Bewegung – und damit Schwarze Deutsche – als »Subkultur« ausgewiesen werden; wörtlich übersetzt eine Kultur ›unterhalb‹ der gegebenen Kultur, die laut Duden auch eigene Normen und Werte vertritt. Das gilt umso mehr, als die anderen Subkulturen, die auf der Schautafel abgebildet sind, Beispiele für Jugend-, Alternativ- und/oder Gegenkulturen darstellen.[16] Die Schwarze Deutsche Bewegung setzte sich jedoch weder überwiegend aus Jugendlichen zusammen noch ging es ihr in erster Linie darum, die Normen und Werte der Mehrheitsgesellschaft infrage zu stellen. Vielmehr handelte es sich um eine Gruppe von Deutschen, die sich zusammenfand, weil sie im Alltag rassistisch diskriminiert und ihr Deutschsein immer wieder angezweifelt wurde. Die Stadt Berlin war für diesen Prozess des Zusammenfindens zentral, da sich hier afroamerikanische und afrodeutsche Aktivist:innen kennenlernen und vernetzen konnten.

Auf der »Subkultur«-Schautafel ist Audre Lorde abgebildet, die 1984 eine Gastprofessur am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin innehatte und bei der Entstehung der Schwarzen Deutschen Bewegung eine wichtige Rolle spielte. Sie brachte die oft einzeln gegen Rassismus ankämpfenden Schwarzen deutschen Studierenden (vor allem Frauen) zusammen und entwickelte mit ihnen, analog zum Begriff ›African American‹ oder ›Afro-American‹, ›Afro-Deutsche‹ als Eigenbezeichnung. Eine ihrer Studentinnen, May Ayim, sollte das Gesicht und die Stimme der Afrodeutschen Bewegung werden. Bei dem Zitat, das ohne Quellenangabe neben ihrem Bild abgedruckt ist – »ich werde trotzdem / afrikanisch / sein / auch wenn ihr / mich gerne / deutsch / haben wollt / und werde trotzdem / deutsch sein / auch wenn euch / meine schwärze / nicht paßt« –, handelt es sich um den Anfang ihres erstmals 1995 erschienenen Gedichts »grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit«.[17] Der Titel liest sich an dieser Stelle fast wie ein Kommentar auf die Bezeichnung der Schwarzen Deutschen Bewegung als Subkultur bzw. darauf, dass Schwarze Deutsche, die eine Normalisierung Schwarzen Deutschseins einforderten und sich gegen den Schein eines inklusiven, wiedervereinigten Deutschlands wandten, schnell als partikularistisch wahrgenommen wurden.

Die Porträts der beiden Dichterinnen illustrieren die Bedeutung sowohl von Frauen wie auch von Literatur für die Schwarze Deutsche Bewegung.[18] Bereits das von Ayim 1986 mitherausgegebene Gründungsdokument der Bewegung, Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, enthielt neben historischen Abrissen und Interviews Gedichte und kurze Prosaskizzen. Zudem gaben die beiden aus der Bewegung hervorgehenden Vereine Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Afrodeutsche Frauen/Schwarze Frauen in Deutschland (ADEFRA) Literaturzeitschriften heraus. Passend zu ihren Ausführungen zum literarischen Schwerpunkt in der Schwarzen Deutschen Bewegung liest Schmidt abschließend May Ayims Gedicht afro-deutsch I vor. Darin eignet sich die Dichterin eine weiße deutsche Stimme an, die sich an ein Schwarzes ›stummes‹ bzw. für Leser:innen/Hörer:innen nicht vernehmliches Gegenüber richtet. Das weiße Textsubjekt monologisiert vor sich hin und entlarvt sich dabei als das rassistische Ich, das es zu sein verneint:

Sie sind afro-deutsch?
… ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch.
Ist ja ’ne interessante Mischung!
Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch,
     die Mulatten, die würden’s nicht
     so weit bringen
     wie die Weißen

     Ich glaube das nicht.
     Ich meine, bei entsprechender Erziehung …
     Sie haben ja echt Glück, daß Sie
     hier aufgewachsen sind
     Bei deutschen Eltern sogar. Schau an![19]

Epilog: Das andere ewige Dilemma

Ich gehe nach der Führung noch einmal durch die inzwischen fast menschenleere Ausstellung und merke, dass ich nun einiges anders sehe oder überhaupt anderes sehe. Bei meinem ersten Besuch war ich auf eine Art, so banal das klingt, froh, dass Schwarze Geschichten vorkommen und deutscher Kolonialismus und Rassismus ansatzweise kritisch thematisiert werden. Mir war vor allem der sehenswerte Interviewfilm Entertain Berlin von Jermain Raffington in Erinnerung geblieben und ich wundere mich, warum er in der Führung nicht vorkam. Der Film, in dem vier Schwarze Deutsche unterschiedlicher Generationen – Theodor Wonja Michael, Marie Nejar, Langston Uibel und Aminata Belli – von ihren Erfahrungen mit Rassismus in der Unterhaltungsindustrie berichten, wird im Themenraum »Vergnügen« gezeigt. Als ich nun noch einmal an dieser Station vorbeigehe, sticht mir die Triggerwarnung ins Auge, die angesichts des Materials (u.a. Ausschnitte aus NS-Kolonialfilmen) durchaus nachvollziehbar ist. Ich finde den Film immer noch gut, stelle mir aber nun auch die Frage, an wessen »Vergnügen« bei seiner Positionierung in diesem Themenraum gedacht wurde? Wäre es vorstellbar, einen Film über Sexismus in der Unterhaltungsindustrie unter dem Label »Vergnügen« auszustellen? Vielleicht ja, wenn die Kontextualisierung stimmt, wenn nicht der Eindruck entstünde, der ›Frauenbereich‹ im Themenraum »Vergnügen« wäre dem Sexismus gewidmet, und wenn in Begleittexten, die das Konzept des Raumes erläutern, nicht etwa »Spannungen« zwischen den Geschlechtern für die Abgründe der Vergnügungskultur verantwortlich gemacht würden. In der Kurzbeschreibung des Themenraums heißt es allerdings: »Die Vergnügungskultur lebt seit jeher vom internationalen Austausch. Auch in Berlin existiert in Musik und Tanz, Theater und Kino ein Nebeneinander und Miteinander unterschiedlicher kultureller Traditionen, aus dem auch ein Spannungsverhältnis und Abgrenzung entstehen kann.«

Vielleicht haben wir es hier und in der Ausstellung insgesamt mit dem zu tun, was Priya Basil in ihrem Kurzfilm-Essay zur Eröffnung des Humboldt Forums »das andere ewige Dilemma« nannte. Wie soll man sich mit den Fragen danach, wer gewürdigt und erinnert werden soll, »auseinandersetzen, ohne die vergangene Gewalt in anderer Weise zu wiederholen? Wie kann man versuchen, etwas nachzubessern, ohne ungewollt neues Leid zuzufügen?«[20] Diesem Dilemma müssen wir uns mit Sicherheit auch in unserem Projekt stellen, und das nicht einmalig, sondern kontinuierlich. Der Besuch von Orten, an denen Schwarze deutsche Geschichte und Geschichten erzählt werden, und das Gespräch mit Menschen, vor allem auch Schwarzen Deutschen, die sie erzählen, soll das präsent halten. Vielleicht können weiße Sehgewohnheiten mithilfe solcher Exkursionen, Dialoge und rassismuskritischer Vermittlungsangebote wie der Tandemführung von Tanja-Bianca Schmidt und Sophie Eliot ein Stück weit verlernt werden. Und vielleicht lässt sich dieses Verlernen auch in das unmittelbarere eigene Wirkungsfeld – z.B. vom Museum in die Literaturwissenschaft – transferieren. Die Führung »Sichtbar werden« hat jedenfalls fruchtbare Anregungen gegeben, die meinen Blick auf die Ausstellung und auf die darin (nicht) erzählte(n) Schwarze(n) Geschichte(n) nachhaltig verändert haben.

Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Folie arbeitet am ZfL im ERC-Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen«.

 

[1] Der Black History Month (BHM) wird in Deutschland, ebenso wie in den USA, in Kanada und zahlreichen europäischen Ländern, im Februar gefeiert. In Deutschland wurde diese Tradition schon vor über 30 Jahren eingeführt, um auch hierzulande Schwarze Geschichte(n) sichtbar(er) zu machen. Der BHM wurde erstmals von der Initiative Schwarze Menschen (ISD) in Berlin (mit)organisiert. Über das genaue Datum – Dank an Gianna Zocco für den Hinweis – herrscht in der Literatur Uneinigkeit: Ika Hügel-Marshall nennt das Jahr 1985, May Ayim einmal 1989 und ein anderes Mal 1990. Vgl. Ika Hügel-Marshall: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, Frankfurt am Main 2001, S. 94; May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, Münster 22022, S. 93 bzw. S. 153.

[2] Neben Gianna Zocco und mir werden voraussichtlich auch die zwei Doktorand:innen, die das Projektteam ab Herbst 2024 vervollständigen, zu dieser Blogserie beitragen. Orte in Berlin und damit in unserer unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumgebung sollen erst einmal den Ausgangspunkt der Exkursionen bilden – eine räumliche Erweiterung ist aber nicht ausgeschlossen und wird auch von den Lebensumständen und Interessen der zukünftigen Projektmitglieder abhängen.

[3] Ausstellung Berlin Global, »Was Sie erwartet«.

[4] Bei ›Schwarz‹ handelt es sich um eine Selbstbezeichnung von Black, Indigenous (and) People of Color (BIPoC), die über die Hautfarbe hinausgeht und auf einem Verständnis von race als sozialer Kategorie beruht. Die Großschreibung unterstreicht den soziopolitischen Akt des Widerstands gegen die weiße Vorherrschaft. Die Verwendung eines kleinen ›w‹ bei der Schreibweise von ›weiß‹ weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Selbstbezeichnung handelt, sondern um eine Analysekategorie, die von Schwarzen Wissenschaftler:innen geschaffen wurde, um die weiße europäische Norm sichtbar zu machen.

[5] Ich habe die Tandemführung am 20.1.2024 besucht.

[6] Als der Bundestag 2002 für den Wiederaufbau eines Schlosses aus der Zeit der Preußenkönige und des Kaiserreichs, des Militarismus und Kolonialismus, stimmte, formierte sich zivilgesellschaftlicher Widerstand. Kritik von aktivistischer wie auch wissenschaftlicher Seite regte eine längst überfällige öffentliche Debatte über die deutsche koloniale Vergangenheit und Erinnerungskultur an. Zum Humboldt Forum als weiß, kolonial und/oder feudal kodiertem Raum vgl. beispielsweise Nikita Dhawan in einem Radiointerview für Deutschlandfunk Kultur (27.6.2020); das Kurzfilm-Essay zur Eröffnung des Humboldt Forums 2021 von Priya Basil: Locked In and Out (2021); oder auch Fatima el-Tayeb: »The Universal Museum: How the New Germany Built its Future on Colonial Amnesia«, in: Nka 46 (2020), S. 72–82.

[7] Meine folgenden Reflexionen beziehen sich auf ausgewählte Stationen der Führung. Auch hat Tanja-Bianca Schmidt in einem Telefonat mit mir (geführt am 31.1.2024) erläutert, dass die Führung »Sichtbar werden«, die sie schon einige Male durchgeführt hat, nicht immer gleich abläuft. Die Schwerpunkte variieren und werden von ihr teilweise situativ angepasst.

[8] Es gibt die Möglichkeit, das Wandbild online zu besichtigen. Dies birgt den Vorteil, dass die zusätzlichen Informationsmaterialen – im Gegensatz zur Ausstellung vor Ort – gut sichtbar positioniert und leicht zugänglich sind. Weiß blinkende Punkte direkt bei den betreffenden Figuren und Szenen machen auf sie aufmerksam.

[9] Vor jeder Wand finden sich kurze Begleittexte. Für ausführlichere Informationen, etwa zu spezifischen Figuren oder Szenen des Wandbildes, können die Zusatzmaterialien im virtuellen Kiosk in einer Ecke des Raums oder online konsultiert werden.

[10] So die durchwegs ähnlich formulierten Informationen zum Erwerbungskontext der Königinmutter-Objekte, die online nachgelesen werden können, z.B. https://sammlungenonline.humboldtforum.org/en/object-catalogue/146613-gedenkkopf-einer-koeniginmutter.

[11] Zu diesem Text gelangt man in der 360-Grad-Ansicht des Wandbilds über den weißen Punkt über den fotorealistischen Abbildungen der Benin-Bronzen. Detaillierte Informationen über die Plastik der Königinmutter sind auf der Website der Staatlichen Museen Berlin nachzulesen.

[12] Bild 1/4 im Slider »Weltdenken«.

[13] Beim »Rad der Geschichte« handelt es sich um eine elliptische, zentral im Raum positionierte, interaktive Medieninstallation, die in den Pressematerialien als Highlight der Ausstellung vermarktet wird.

[14] May Ayim: »Die Wut der Schwarzen Frauen sollte auch die Empörung der weißen Frauen sein« [1993], in: Ayim: Grenzenlos (Anm. 1), S. 103–109, hier S. 103.

[15] In den 1980er Jahren und darüber hinaus war ›Afro-deutsche Bewegung‹ (auch noch in der heute weniger gebräuchlichen Schreibweise mit Bindestrich) die gängige Bezeichnung. Heute findet sich jedoch eher ›Schwarze Deutsche Bewegung‹, da der Begriff – analog zur Selbstbezeichnung ›Schwarze Deutsche‹ statt ›Afro-Deutsche‹ – inklusiver ist.

[16] Auf der Schautafel sind neben der Schwarzen Deutschen Bewegung folgende »Subkulturen« abgebildet: Wandervogel, Wilde Cliquen, Swing-Jugend, Halbstarke, Rock’n’Roll, Hippies, Student:innenbewegung, Lesben- und Schwulenbewegung, West-Berliner Punk, Tunix-Kongress, Instandbesetzung, Alösa Frühlingsfest, Hip-Hop-Aktivismus, Clubszene auf Leerflächen der wiedervereinigten Stadt.

[17] May Ayim: blues in schwarz weiss. nachtgesang. Gedichte, Münster 2021, S. 69.

[18] Vgl. dazu Tiffany N. Florvil: Black Germany. Schwarz, deutsch, feministisch – die Geschichte einer Bewegung, übers. von Stephan Pauli, Berlin 2023.

[19] May Ayim: blues (Anm. 18), S. 26–27. Auf der Website des Rundfunk Berlin-Brandenburg ist eine Lesung des Gedichts verfügbar.

[20] Basil: Eingeschlossen / Ausgeschlossen (2021), 20:06–20:37 min.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sandra Folie: Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in »Berlin Global«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion, in: ZfL Blog, 15.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/15/sandra-folie-aspekte-schwarzer-geschichten-in-berlin-global-eine-fuehrungs-und-ausstellungsreflexion/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240215-01

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Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/ Mon, 06 Nov 2023 10:55:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3129 So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Weiterlesen

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So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.

Der Unbekannte

Trotz einflussreicher Fürsprecher wie Bertolt Brecht, George Grosz, Thomas Mann, Max Reinhardt und Franz Werfel blieb Borchardt zeit seines Lebens weithin unbekannt. Seine Karriere als Bühnenautor im Berlin der Weimarer Republik mag er aus Angst, wegen der satirischen Darstellung von Deutschtümelei und Franzosenhass seine Stelle als Lehrer zu verlieren, selbst vereitelt haben.[1] Ein Romanprojekt musste Borchardt im sowjetischen Exil abbrechen, und als er später in den USA Stücke und Essays über den christlich-konservativen Widerstand gegen den Faschismus schrieb und seine eigenen Lagererfahrungen festhielt, traf er nicht den dortigen Publikumsgeschmack. So blieben die meisten seiner Texte zu Lebzeiten unveröffentlicht. Im Januar 1951 starb Hermann Borchardt in New York.

Ein erster Versuch, Borchardt posthum als Schriftsteller zu etablieren, wurde über 50 Jahre nach seinem Tod unternommen. Im Auftrag des Exilforschers Hermann Haarmann und des Verlegers Stefan Weidle edierte Uta Beiküfner Borchardts monumentalen Roman Die Verschwörung der Zimmerleute 2005 erstmals in deutscher Sprache.[2] Hans Sahl, ein Freund Borchardts im New Yorker Exil, hatte Weidle gefragt, ob er nicht Lust hätte, »zusammen finanziellen Selbstmord zu begehen«,[3] wohlwissend, dass nur wenige Leser bereit wären, einem unbekannten Schriftsteller 1000 Seiten eines Romans zu folgen, der dessen Enttäuschung über die Linken in der Emigration und seine daraus folgende konservative Wende auf großartige Weise schildert: Nicht Revolutionäre retten in diesem Roman die Republik vor den Faschisten, sondern eine konservative Partei im Verbund mit einem mittelalterlichen Zimmermannsorden. In der Tat blieb die satirische Auseinandersetzung mit dem Faschismus, figurenreich und »bösartig« (Brecht), wie schon 1943 in der gekürzten englischen Fassung, auch 2005 im deutschen Original ein Ladenhüter.

Abb. 1: Porträt Hermann Borchardts aus seinem Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main
Abb. 1: Seite aus Hermann Borchardts Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main

Ein Zufall brachte den Autor einige Jahre später erneut ins Gespräch. Mitte der 1920er Jahre hatte Borchardt sich in Berlin mit Bertolt Brecht angefreundet und war dessen Mitarbeiter geworden (u.a. bei der Heiligen Johanna der Schlachthöfe). Bei der Arbeit an der 2014 erschienenen Edition der Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949[4] stießen Hermann Haarmann und Christoph Hesse auf zwölf Briefe Borchardts, die er aus dem Exil in Frankreich, der Sowjetunion und den USA an Brecht geschrieben hatte. Im April 1933 hatte Borchardt nämlich wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe, die er seinen Schülern gestellt hatte, aus Berlin flüchten müssen. Zunächst kam er in Beauchamp nahe Paris unter, entschloss sich dann aber Anfang 1934, eine Professur für Deutsch als Fremdsprache im sowjetischen Minsk anzunehmen, obwohl er schon ahnte, dass er sich in »pauvreté, Kälte, Verstellung und Maulhalten« begeben werde.[5] Die »Verstellung« machte Borchardt allerdings nur mit, bis er aufgefordert wurde, die deutsche Staatsbürgerschaft gegen die sowjetische einzutauschen, was einen deutlich niedrigeren Lebensstandard und die Gefahr der Verhaftung nach sich gezogen hätte. In der Not ging er mit Frau und Kindern im Januar 1936 zurück nach Berlin, wo er ein halbes Jahr später als gebürtiger Jude und Re-Emigrant verhaftet und in den Konzentrationslagern von Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau interniert wurde. Ein Jahr lang kämpfte Dorothea Borchardt für die Entlassung ihres Mannes und erhielt dabei finanzielle Hilfe von Brecht. Eva und George Grosz, die noch vor der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 in die USA emigriert waren, besorgten schließlich Schiffsfahrkarte und Affidavit, so dass Borchardt aus dem KZ Dachau freigelassen wurde und mit seiner Familie in New York ein neues Leben beginnen konnte.

Mehr als Briefe

Erst im Zuge der Rechteklärung für die Briefe an Brecht stellte sich heraus, dass der Rettungsaktion eine schon lange währende Freundschaft mit George Grosz vorausgegangen war. Borchardts damals noch lebender Sohn Hans (1930–2015) meldete sich aus Delaware mit der Nachricht, es existiere ein umfangreicher Briefwechsel seines Vaters mit dem ebenfalls aus Berlin stammenden Künstler. Ob wir nicht Lust hätten, ihn zu edieren? Hermann Haarmann und Christoph Hesse sagten prompt zu und ich stieß im Sommer 2015 dazu, als es zunächst darum ging, die in Kurrentschrift geschriebenen Briefe Borchardts zu entziffern. Zum Abschluss des Projekts reisten Christoph Hesse und ich nach Durham in North Carolina, um sicherzugehen, dass uns kein Brief von Grosz oder Borchardt entgangen war, denn schließlich hielten wir mit dem Briefwechsel das Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft in den Händen, die auch die Nöte des Exils überstand.

Wie aber war dieser Teil des Nachlasses nach Durham gelangt? An der dortigen Duke University war Borchardts jüngster Sohn Frank (1938–2007), der sich von den drei Kindern am meisten für das Werk des Vaters interessierte, bis zu seinem Tod Professor für Germanistik. In einem 1989 publizierten und bis heute wegweisenden Porträt machte er den Schriftsteller Hermann Borchardt der Exilforschung erstmals näher bekannt.[6] Demgegenüber hatte der älteste Sohn Hans, der in Delaware als Chemiker arbeitete, mit dem Werk seines Vaters nichts zu schaffen, wie er in seiner Autobiographie einräumte. Doch nach dem Tod seines Bruders, so erzählt er in der Trauerrede, habe sich etwas Merkwürdiges zugetragen: Über drei Monate hinweg habe jeden Tag ein Vogel wild an die Fensterscheiben seines Hauses gepickt. Das habe ihn und seine Lebensgefährtin dazu bewegt, im Haus seines Bruders doch noch einmal alles durchzusehen. Wäre der Vogel nicht gewesen, so Hans Borchardt, wären zahlreiche Schriften seines Vaters vernichtet worden. Stattdessen werden sie nun – zu unserem Glück! – in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library der Duke University verwahrt.

Tatsächlich fanden wir im dortigen Nachlass Briefe von Grosz und Borchardt, die in der uns vorliegenden Liste nicht verzeichnet waren, außerdem Fragmente aus Borchardts verschollenem »Lagerbuch« und ein uns bis dahin nicht bekanntes Theaterstück über das Scheitern eines christlich-konservativen Aufstands gegen Hitler. Das war schon weit mehr als erwartet, doch der Inhalt der fünften von insgesamt sechs Boxen übertraf alles: Zwei schwarze Kladden mit zerknitterten Etiketten, darin 400 maschinenschriftliche Seiten, durchgehend paginiert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen, über dem mit Bleistift notiert steht: »Geschichte einer Edelfrau. Liebesroman aus deutscher Vergangenheit« – Borchardts nie veröffentlichter zweiter Roman, in vollständiger Überlieferung!

Ein vergessener Roman

Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)
Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)

Nur gelegentlich, in Briefen an Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel sowie gegenüber seinem Literaturagenten Rudolf Kommer, hat Borchardt selbst von der Geschichte einer Edelfrau gesprochen. Sein Sohn Frank hingegen hat den Roman nie erwähnt. Wir wissen mittlerweile, dass Borchardt die Arbeit daran im Mai 1942 begann, als er noch damit beschäftigt war, Die Verschwörung der Zimmerleute für die amerikanische Ausgabe zu kürzen. Denn trotz geringer Verkaufszahlen von The Conspiracy of the Carpenters hatte der Verlagsvorschuss Borchardt einen Geldsegen beschert, weshalb er darauf bedacht war, gleich den nächsten Roman fertigzustellen. »Wenn Ihnen der Roman gefällt, bitte helfen Sie nur noch einmal!«, bat Borchardt Franz Werfel, der für den ersten Roman ein Vorwort verfasst hatte [7]. Doch dieser starb kurz darauf, und so blieb der Roman, der eine Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, bis heute unveröffentlicht. Daran änderte auch ein wohlwollendes Gutachten des österreichischen Schriftstellers Robert Neumann für die englische Literaturagentin Juliet O’Hea nichts:

»Es ist ein fascinierendes, langes und reiches Buch. Viel leichter zugänglich als Borchardt’s anderer Roman: ›Die Verschwörung der Zimmerleute‹, es ist höchst unterhaltsam, randvoll mit prächtig gezeichneten Charakteren, mit phantastischer Würze und Geschmack erzählt. Da ist mehr Würze und Substanz in diesem Buch als in den Romanen eines gackernden Hühnerhofes von kompetenten und mittelmäßig erfolgreichen Schriftstellern zusammen. Diese Würze bringt beinahe Borchardt’s ganzes Werk in Unordnung, er zersplittert sich leicht, es gibt keinen Charakter an der Peripherie, in dessen Hintergrund und Verästelung er nicht folgen möchte. Die Bühne ist dicht bevölkert, überfließend an Leben und Lebensfreude. Ich sage mit aller Verantwortung, daß Borchardt […] sehr nahe an einen großen Schriftsteller herankommt.«[8]

Möglicherweise lag Neumann mit seiner Befürchtung richtig, dass deutsche Eliten 1945 nicht als liebenswerte Protagonisten, sondern nur als Schurken vorstellbar waren.

Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot
Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot

Mit dem Roman-Fund war Hermann Haarmann, Christoph Hesse und mir klar, dass wir aufs Ganze gehen müssen. Wir wollten Hermann Borchardts Werke edieren (mit Ausnahme der Verschwörung der Zimmerleute, die ja bereits in einer exzellenten Ausgabe vorlag). Fördermittel gab uns zunächst die Fritz Thyssen Stiftung. Nachdem wir in den ersten Jahren unserer Arbeit an der Freien Universität Berlin aus den an unterschiedlichen Orten überlieferten Fragmenten Borchardts sogenanntes Lagerbuch rekonstruiert (Band 1, 2021) und so manches verschollen geglaubte Theaterstück doch noch ausfindig gemacht haben (Band 2, 2022),[9] steht im kommenden Jahr die Edition der Geschichte einer Edelfrau an. Dabei sollen auch die »Geheimen Querverbindungen« (so der Titel eines Kapitels von Borchardts ebenfalls in Band 1 veröffentlichter Autobiographie Der Club der Harmlosen) nachgezeichnet werden, die sich von diesem Roman weit in Borchardts Werk ebenso wie in sein Leben hinein erstrecken. Aufschluss darüber versprechen wir uns von den in Durham zahlreich archivierten Vorarbeiten, deren Entstehung bis ins Jahr 1933 nach Berlin zurückreicht, und von dem im Frankfurter Exilarchiv verwahrten Manuskript, das ich dort jüngst aus einer losen Blattsammlung zusammengesetzt habe. In den noch folgenden Bänden 4 und 5 werden wir Borchardts politische Schriften (u.a. zum Totalitarismus) sowie sein philosophisches Vermächtnis, den Traktat über die Unsterblichkeit, über dem er selbst verstarb, veröffentlichen.

 

Der Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Lukas Laier arbeitet am ZfL gemeinsam mit Christoph Hesse an der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur geförderten »Edition der Werke Hermann Borchardts«.

 

[1] Hinweise darauf finden sich in Hermann Borchardt: »Der dicke Mann, der große Sergeij und die materialistische Ehefrau« [ca. 1943], in: Hermann Borchardt Papers, Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina), und ders.: »Curriculum Vitae II«, in: Hermann Borchardt: Werke, Bd. 1, Autobiographische Schriften, hg. von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier, Göttingen 2021, S. 237.

[2] Die dramatische Urfassung der Verschwörung der Zimmerleute befindet sich heute im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt. Dort befinden sich u.a. ebenfalls die fragmentarische Autobiographie Der Club der Harmlosen und die im amerikanischen Exil entstandenen Theaterstücke Die Brüder von Halberstadt, Der verlorene Haufe und Die Frau des Polizeikomissars sowie das unvollendete Stück Befreiung des Pfarrers Müller, das Borchardt als Ghostwriter für Ernst Toller schrieb und von diesem zu Pastor Hall (1939) umgearbeitet wurde. Zum daraus entstandenen Streit siehe Lukas Laier: »Das klingt doch nicht nach Toller!«, in: Jungle World , 2.12.2022.

[3] Stefan Weidle: »Notiz«, in: Hermann Borchardt: Die Verschwörung der Zimmerleute. Rechenschaftsbericht einer herrschenden Klasse, hg. von Uta Beiküfner, Bonn 2005, Bd. 1, S. 8.

[4] Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse, 3 Bde., Berlin 2014.

[5] Brief an George Grosz vom 28. Januar 1934, in: Hermann Borchardt, George Grosz: »Lass uns das Kriegsbeil begraben!« Der Briefwechsel, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse unter Mitwirkung von Lukas Laier, Göttingen 2019, S. 92. Vgl. hierzu die Besprechung in der Süddeutschen Zeitung.

[6] Frank L. Borchardt: »Hermann Borchardt«, in: John M. Spalek/Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2: New York, Berlin 1989, S. 120–131.

[7] Brief von Hermann Borchardt an Franz Werfel, ohne Datum, vermutlich Februar oder März 1945. Alma Mahler and Franz Werfel Papers, Annenberg Rare Book & Manuscript Library, University of Pennsylvania, Philadelphia.

[8] Robert Neumann an Juliet O’Hea: Undatierter Brief, Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main.

[9] Vgl. hierzu Besprechungen in der taz und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Laier: Edieren aus dem Nachlass, in: ZfL Blog, 6.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231106-01

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Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/06/02/hanna-hamel-spiele-und-ihre-raeume/ Fri, 02 Jun 2023 12:16:48 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3038 Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis Weiterlesen

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Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.[1]

Es ist den Spielen eigen, dass sie Ausflüchte und »Gegenregion[en]« eröffnen können, dass sie ein »Abtasten von Möglichkeiten unter Wahrung einer geschlossenen Immanenz«[2] erlauben – oder schlicht: dass sie Experimentierräume sind. Dabei haben sie häufig bildende, wenn nicht sogar pädagogische Funktionen. Schon Alexander Gottlieb Baumgarten verschränkte Spiel und Übung im Kontext seiner Ästhetik. Spiele sind für ihn Teil der angeleiteten ästhetischen Übung, die die »Kraft« der »schönen Natur« vermehren soll,[3] zum Beispiel »wenn [ein Knabe] plaudert, wenn er spielt, vor allem, wo er Spiele erfindet oder ein kleiner Anführer unter seinen Spielgefährten ist und, mit rührigem Eifer dem Spiel gewidmet, schon ins Schwitzen kommt und vieles aushält«.[4]

Nicht nur Kinder durchlaufen herausfordernde Bildungsprozesse, wenn sie spielen. Noch weitreichender als Baumgarten fasst Schiller die Rolle des Spiels im Kontext ästhetischer Erziehung. Rund um die kanonische Stelle aus den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen – »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« – schreibt er: »[D]er Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen[5] Wie schon zuvor bei Kant und dessen Vorstellung vom freien Spiel‹ der Erkenntniskräfte ohne Begriff und Zweck wird die Untersuchung des menschlichen bzw. subjektiven Potentials von Schiller eng mit der Ästhetik verflochten. Bei Kant steht in diesem Zusammenhang das Naturschöne im Zentrum der ästhetischen Erfahrung, bei Schiller die hervorbringende ästhetische Praxis und damit die Kunst. Die ästhetische Erfahrung wird bei beiden zu einem entscheidenden Spielraum für die Ausbildung menschlicher Lebens- und Gesellschaftsformen.

Im 19. und 20. Jahrhundert tritt die Idee eines »Zwang[s] zum Spiel«[6] (Huizinga, Plessner) in den Vordergrund, genauso wie der gesellschaftliche Druck, Rollenerwartungen zu erfüllen. Gleichzeitg haben selbstauferlegte Zwänge und Regeln zentralen Anteil an der Lust am Spielen. Darauf verweist nicht zuletzt die umfangreiche Literatur, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Spiel widmet – wobei die Zahl entsprechender Abhandlungen bemerkenswerterweise mit derjenigen zur Diätetik konkurriert.[7] Der Zwang als integraler Teil des Spiels hat für Autor:innen bis heute poetologische Relevanz, zum Beispiel für Peter Handke: »Die Kunst ist das Große Spiel (es gibt natürlich viele kleine); oder besser: die Kunst ist das zwingende Spiel.«[8] Unschuldig und leicht zu haben ist das Spiel auch im ästhetischen Kontext nicht: »Viele können nur unernst spielen, und zerstören das Spiel; lieber will ich nicht spielen«,[9] schreibt Handke an anderer Stelle. Sich auf das Spielen einzulassen, führt außerdem nicht zwangsläufig in die Kunstproduktion, im Gegenteil: »Kunst, die im Spiel ihre Rettung vorm Schein sucht, läuft über zum Sport«,[10] konstatiert Adorno. Zwar befreie das Spiel die Kunst von Zwecken und unmittelbarer Praxis, aber es führe sie auch in die Regression, weil »Spielformen« stets »Wiederholung« seien.[11] Wer und was sich nur noch wiederholt und einmal gesetzten Normen blind folgt, wird unfrei.

Ernsthaftigkeit und selbstreflexiver Anspruch gehören zur Geschichte der Spiele ebenso wie der Spaß und die Lust an ihnen, nicht zuletzt, weil das Spielen ernsthafte Folgen haben kann. Dabei ist es immer auch eine Frage politischer oder ökonomischer Entwicklungen, wie im jeweiligen Kontext das Spielverhalten von einzelnen Akteur:innen oder Gruppen gedeutet wird. In Schlagwörtern wie ›Gamification‹ oder ›Serious Games‹ findet aktuell das Bewusstsein Ausdruck, dass man den ausgreifenden sozialen Einfluss von Spielen nicht unterschätzen sollte. Besonders deutlich wird das auch in Debatten um die Relevanz von Computerspielen sowie in den Sorgen und Ängsten, die sich mit der laufenden Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz – insbesondere der Large Language Models GPT3 bzw. GPT4 – verbinden. (Computer-)Spiele und KI-Entwicklung sind ihrerseits eng verflochten. Die Leistungsfähigkeit einer KI bemaß sich lange an ihren Erfolgen in Spielen wie Schach oder Go.[12] Heute artikuliert sich der moderne Kurzschluss von ästhetischer Fähigkeit zum Spiel (und damit zum Menschsein) in der Angst oder auch im Begehren, die Maschine könnte Literatur (bzw. Kunst) genauso gut wie oder sogar besser als ein menschlicher Autor produzieren. Das Zugeständnis, so gut zu spielen, dass dabei Kunst herauskommt, wäre in diesem Zusammenhang die höchste Nobilitierung, die der moderne Mensch aussprechen kann.

Aber so einfach ist es nicht. Es ist nie ein einzelner Akteur, weder Mensch noch KI, der oder die alleine spielt, und, wie man beispielsweise bei Adorno nachlesen kann, geht es (auch in der Kunst) nie allein ums Spielen. Entscheidend ist deshalb, welches Verständnis von Spiel man zugrunde legt, um daraus abzuleiten, ob ein Mensch oder eine KI ein ausgezeichneter Spieler ist – und welche Konsequenzen man aus dieser Fähigkeit ziehen möchte. Spiele sind immer eingebunden in einen sozialen Raum und eine Assemblage aus interagierenden Akteur:innen, zwischen denen sich die Spielpraxis konstituiert. Man könnte auch sagen: Ohne Interaktion existieren weder Spiel noch Spieler:innen. Konkurrenz und Wettstreit sind nur zwei mögliche Formen dieser Interaktionen. Die Frage, wer der oder die Bessere oder wer der »kleine Anführer« (Baumgarten) ist, stellt sich gar nicht bei jeder Form des Spiels. Spiele-Entwickler:innen haben das schon lang durchschaut. Abseits klassischer Gesellschaftsspiele wie Monopoly oder Mensch ärgere dich nicht gibt es komplexe, kooperative Spiele, in denen etwa gemeinsam gegen das Spiel gespielt wird. Man gewinnt zusammen oder gar nicht.

Vor diesem Hintergrund kann es auch erhellend sein, in den Blick zu nehmen, welcher Status Spielen in literarischen oder theoretischen Texten selbst zuwächst und welche Rolle Spiele in unterschiedlichen historischen Situationen einnehmen können – zum Beispiel bei der Wiederentdeckung von Gesellschaftsspielen in der Pandemie oder in den scheinbar spielerischen Formen ästhetischer Selbstinszenierung im Netz. Selbst und gerade im Spiel kann man das Spielen verlieren, wenn man Wiederholungszwängen unterliegt. Deshalb geht es in künstlerischen Arbeiten heute noch und wieder darum, Räume für neue (ästhetische) Erfahrungen offenzuhalten, indem zum Beispiel eine Sache spielerisch unter dem Blickwinkel einer anderen betrachtet wird: »Wie ließe sich, was hiermit folgte, umschreiben, wollte man ausschließlich vom Essen sprechen?«, fragt Teresa Präauer in ihrem jüngst erschienen Buch Kochen im falschen Jahrhundert und lässt als Antwort auf das selbstverordnete Rezept, nur vom Essen zu sprechen (und dabei wörtlich mit dem Essen zu spielen), eine Kaskade von Kirschen, Zitronen, Melonen, aber auch von »benutzten Teller[n]« und »Thunfischdosen« folgen, um vom perpetuierten Internet-Foodporn zu einer anderen Form des Begehrens zurückzufinden.[13]

In der vielstimmigen Literatur und Theorie zum Spiel wird vor allem deutlich, dass es nicht um den einzelnen Spieler und dessen Eigenschaften geht, sondern dass in Spielen kollektive Aushandlungsprozesse stattfinden: über Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen, über Aufgabenverteilung und Formen der Kollaboration, über den Rekurs auf Regeln, ihre Auslegung und Variation. In ihrem Umgang mit Spielen wird so nicht zuletzt ein Einsatz der Texte offenbar, sich zu diesen Aushandlungsprozessen zu verhalten und sie mitzugestalten. Dabei geht es besonders auch um unerwartete, geteilte Räume;[14] zwischen Poker- und Interface, im Spiel zwischen Tier, Mensch und KI, Lesenden und Schreibenden oder auch zwischen Literatur und Theorie. In diesen Zwischenräumen bewegen sich in diesem Jahr die ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die sich dem Thema ›Spiele‹ widmen – mit literarischen Lesungen und Gesprächen und nicht zuletzt einem gemeinsamen Spieleabend mit Autor:innen und Publikum.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«. Sie ist Mitveranstalterin der diesjährigen ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die unter dem Titel »Spiele« stehen. 

[1] Vgl. Tanja Wetzel: »Spiel«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 577–618, hier 586; zum Spiel in der Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert vgl. Stefan Willer: »Gesellschaftsspiele. Fontanes Irrungen, Wirrungen«, in: Peter Uwe Hohendahl/Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg, Berlin, Wien 2018, 123–141; sowie Dorothea Kühme: Bürger und Spiel. Gesellschaftsspiele im deutschen Bürgertum zwischen 1750 und 1850, Frankfurt, New York 1997.

[2] Helmuth Plessner: »Der Mensch im Spiel«, in: ders.: Conditio humana. Gesammelte Schriften VIII, hg. v. Günter Dux u.a., Frankfurt a.M. 22015, 307–313, hier 307 und 313.

[3] Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik, Bd.1, hg. u. übers. v. Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, 41.

[4] Ebd., 45.

[5] Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, 62–63.

[6] Plessner, »Der Mensch im Spiel« (Anm. 2), 310.

[7] Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4.1 (2013), 133–148, hier 144. Deuber-Mankowsky verweist darin auf die Abhandlung von Moritz Lazarus, Die Reize des Spiels (1883), die sich eingangs mit der Popularität und dem Umfang der Literatur zu »Spiel« im Vergleich zur Literatur zu »Diätetik« befasst.

[8] Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts, Berlin, Darmstadt, Wien 1982, 215.

[9] Ebd., 227.

[10] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 192012, 154.

[11] Ebd., 469.

[12] Vgl. zur verflochtenen Geschichte von Computerspiel und KI: Gabriele Gramelsberger u.a.: »›Mind the Game!‹ Die Exteriorisierung des Geistes ins Spiel gebracht«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 21 (2019), 29–38, hier 29. 

[13] Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert, Göttingen 2023, 168.

[14] Gramelsberger u.a., »›Mind the Game!‹« (Anm. 12), 36.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Spiele und ihre Räume, in: ZfL Blog, 2.6.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/06/02/hanna-hamel-spiele-und-ihre-raeume/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230602-01

 

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Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/04/24/franziska-thun-hohenstein-andrej-tarkovskijs-solaris-ein-wiedersehen/ Mon, 24 Apr 2023 08:10:16 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3006 I. Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm Solaris. Auf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen ›besucht‹, die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen Weiterlesen

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I.

Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm SolarisAuf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen ›besucht‹, die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station.

Ich hatte das Glück, bei der einmaligen Filmvorführung dabei zu sein.[1] Aus der DDR kommend, war ich damals Studentin der russischen Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität und wohnte im Wohnheim in einem Seitenflügel des markanten Stalinhochhauses auf den Sperlingsbergen, die damals Leninberge hießen. Das genaue Datum vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren. Der Kinoabend ist mir allerdings schon durch seine ungewöhnlichen äußeren Umstände in Erinnerung geblieben. An Eintrittskarten gelangten meine Freunde und ich nur, weil die russische Freundin eines DDR-Promotionsstipendiaten an der Kasse aushalf. Der Andrang unmittelbar vor der Aufführung war enorm. Im Innern, im Vestibül des Kulturhauses, das sich im Hauptgebäude befindet, versuchte berittene Miliz der von außen immer weiter nachdrängenden Massen Herr zu werden. Ihr Anblick erschreckte mich, obwohl kaum mehr als ein oder zwei Pferde in den Raum gepasst haben konnten.

Die Romanvorlage von Stanisław Lem hatte ich damals noch nicht gelesen und die philosophische Dimension von Tarkovskijs filmischer Auseinandersetzung mit den Grenzen menschlicher Erkennbarkeit des Weltganzen vermochte ich nicht zu erfassen. Der Film beeindruckte mich an jenem Abend vor allem durch seine langen, ungeschnittenen Einstellungen und seine subtilen Detailaufnahmen, die durch Tarkovskijs eigenwillige Bild- und Tonmontage eine ungeheure Suggestivkraft entfalteten. Besonders stark prägten sich mir jene langen Sequenzen ein, die die Sehnsucht des Menschen nach einem harmonischen Aufgehobensein in der vertrauten, heimatlichen Natur beschworen bzw. die im Gegenteil die bedrohlich wirkende Verlorenheit des Menschen in einer zur Betonwüste erstarrten Stadt der Zukunft zeigten.

II.

Andrej Tarkovskij (1932–1986) zählt heute zu den großen, weltweit bekannten russischen Filmregisseuren des 20. Jahrhunderts. Unter Cineasten war er 1972 schon längst kein Geheimtipp mehr; Solaris war sein dritter abendfüllender Spielfilm. Der Sohn des Dichters Arsenij Tarkovskij hatte bis 1960 am Moskauer Staatlichen Filminstitut in der Regieklasse von Michail Romm studiert. Seine Anfänge als Regisseur fielen in die sogenannten Tauwetter-Jahre, als sich der sowjetische Film von der heroischen Ästhetik der Stalinzeit befreite, individuelle Schicksale stärker in den Blick nahm und in Anlehnung an den Avantgardefilm der 1920er Jahre teils mit subjektiver Kameraführung experimentierte.[2]

Mit seinem ersten abendfüllenden Spielfilm Iwans Kindheit (Ivanovo detstvo) von 1962 erwarb er sich den Ruf eines Regisseurs mit einer unverwechselbaren, poetischen Filmsprache. Die in Schwarz-Weiß gedrehte Verfilmung einer Antikriegserzählung des Schriftstellers Vladimir Bogomolov (Ivan; 1957) handelt vom 12-jährigen Kriegswaisenkind Ivan, der Schreckliches durchlebt hat, dann von Soldaten aufgenommen wird und im Dienst der Roten Armee wichtige Aufklärungsaufgaben erfüllt, bis er gefasst und von der Gestapo hingerichtet wird (was im Film nicht gezeigt wird). Der Film feierte bei Festivals und beim Publikum im In- und Ausland überwältigende Erfolge, doch es sollte Jahre dauern, bis das Filmpublikum, vor allem das in der Sowjetunion, einen neuen Film von Tarkovskij zu sehen bekam.

Mit dem 1966 fertiggestellten zweiten Spielfilm Andrej Rubljow über den bedeutenden russischen Ikonenmaler des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts begann Tarkovskijs zäher, oft jahrelanger Kampf gegen die Borniertheit der sowjetischen Filmfunktionäre und die Beschneidungen seiner künstlerischen Freiheit durch die Zensur.[3] Erst im Oktober 1971, Tarkovskij steckte bereits mitten in den Dreharbeiten zu Solaris, erfolgte die endgültige Freigabe von Andrej Rubljow für die Sowjetunion. Die Reaktionen auf den Film waren gespalten und führen in den Kern der Diskussionen über Tarkovskijs ganzes Werk.

Stein des Anstoßes waren nicht nur teils drastische Bilder vom widerspruchsvollen Verhältnis zwischen der Hauptfigur, dem Mönch und Ikonenmaler Andrej Rublev, verschiedenen Schichten der Bevölkerung und der Kirche. Auf Unverständnis stießen auch Tarkovskijs poetische Filmsprache, die vielen langen Sequenzen und die scheinbar nebensächlichen Bilder und Szenen, die aus der Sicht der Kritiker den Film unnötig in die Länge zogen. Diese Eigenheiten zählen jedoch zu den Grundprinzipien seines filmischen Erzählens. In seinen Texten zur eigenen Filmtheorie betont Tarkovskij, die »innere Wahrheit« liege für ihn »nicht nur in der Faktentreue, sondern auch in einer getreuen Wiedergabe von Empfindungen«.[4] Immer wieder thematisiert er darin die zu Erinnerungen geronnene Zeit. Ihn beschäftigen »die inneren, moralischen Qualitäten, die der Zeit immanent sind«,[5] auch die in Gegenständen materialisierte Zeit. Ein häufiges Motiv in seinen Filmen für die vergehende Zeit ist fließendes Wasser.

Film versteht Tarkovskij »nicht als Abbildmedium, sondern als audiovisuelles Denken«.[6] Daher geht es ihm nicht um die Deutung einzelner Symbole, sondern immer um eine komplexe Bild-Ton-Komposition:

»Im Film reizen mich ganz außergewöhnliche poetische Verknüpfungen, die Logik des Poetischen. […] Die poetische Verknüpfung bewirkt eine große Emotionalität und aktiviert den Zuschauer. Gerade sie beteiligt ihn am Erkennen des Lebens, weil sie sich weder auf vorgefertigte Schlußfolgerungen aus dem Sujet noch auf starre Anweisungen des Autors stützt.«[7]

1967 begann Tarkovskij gemeinsam mit Aleksandr Mišarin am stark autobiographischen Drehbuch Die Beichte zu arbeiten, ein Filmprojekt, das dann 1974/75 unter dem Titel Der Spiegel (Zerkalo) seinen Abschluss fand. Wieder gab es massive Einwände gegen das Drehbuch, wieder sollte er daran zahlreiche Änderungen vornehmen, so dass der Beginn der Dreharbeiten sich immer weiter verzögerte. Um nicht ohne Einkommen zu sein, nahm Tarkovskij 1968 das Angebot des Filmstudios Mosfilm an, den Science-Fiction-Roman Solaris (1961) des polnischen Autors Stanisław Lem (1921–2006) zu verfilmen.

III.

Das Drehbuch zu Solaris schrieb Tarkovskij gemeinsam mit dem Schriftsteller Fridrich Gorenstejn (1932–2002). Später bekannte Tarkovskij, dass ihn Lems eigentliche Science-Fiction-Geschichte über das Aufeinandertreffen von menschlicher Vernunft und einem so unergründlichen kosmischen Phänomen wie dem schweigenden, aber offenbar lebendigen Ozean auf dem Planeten Solaris wenig interessiert habe. Deshalb verschob er im Film die Perspektive auf die ethische Dimension jeglichen Handelns des Menschen – sowohl gegenüber seinen Mitmenschen als auch gegenüber der Zukunft der Erde. Der Konflikt mit dem Romanautor war damit vorprogrammiert. 1969 kam es in Moskau zum Treffen zwischen Tarkovskij und Lem, bei dem auch der Literaturkritiker Lazar’ Lazarev anwesend war, der an der Drehbuchbearbeitung mitwirkte. Rückblickend sprach Lazarev von einer schwierigen Gesprächsatmosphäre, da sich Lem herablassend und wenig entgegenkommend zeigte. Zudem habe Tarkovskij den taktischen Fehler begangen, Lem gegenüber sofort ausführlich und voller Begeisterung von seinen Veränderungen der Geschichte zu berichten. Auf Tarkovskijs Rechtfertigung, dies diene der filmischen Plausibilität, habe Lem abweisend reagiert, schließlich jedoch resigniert, da ihm klar geworden sei, dass der Regisseur ohnehin seinen eigenen Vorstellungen folgen werde.[9]

Während er sich auf die Dreharbeiten zu Solaris vorbereitete, formulierte Tarkovskij in einem langen Tagebucheintrag vom 5. September 1970 sein philosophisches Credo: Das Menschliche »bedeutet etwas Begrenztes, in den Rahmen des Menschseins eng Eingezwängtes. Das Menschliche mit dem Kosmos in Verbindung zu bringen ist undenkbar.«[10] Von dieser Warte aus sieht Tarkovskij in der Religion die einzige Sphäre, die dem Menschen zur Verfügung stehe, um das Allmächtige zu erfassen:

»Für jemanden, der nicht imstande ist, das Wesen der Dinge zu erfassen, die außerhalb des Erreichbaren liegen, ist alles Unbekannte, Nichtzuerkennende – Gott. Im ethischen Sinne ist Gott – die Liebe.«[11]

Mit Misstrauen und Unverständnis begegneten dem Projekt bereits Funktionäre im Filmstudio. Tarkovskijs Tagebücher mit dem bezeichnenden Titel Martyrolog geben Einblick in die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte.[12] Einem Eintrag zufolge war der Termin für die formale Abnahme des Films beim Mosfilmstudio der 30. Dezember 1971. Das bedeutete allerdings noch keine Freigabe für den Verleih. Am 12. Januar 1972 notierte Tarkovskij, dass ihn am Tag zuvor eine Vielzahl von Beanstandungen erreicht hatte. Unter den 35 an dieser Stelle notierten Kritikpunkten finden sich u.a. die folgenden:

»3. Aus welcher Formation fliegt Kelvin? Aus dem Sozialismus, dem Kommunismus oder dem Kapitalismus? […]

5. Die Konzeption Gottes tilgen. […]

9. Zum Finale: Kann man nicht entweder
     a) die Rückkehr von Chris ins Haus des Vaters real erscheinen lassen,
     b) verständlich machen, dass Chris seine Mission erfüllt hat.«[13]

Tarkovskij empfand das als Provokation und entschied, ausschließlich solche Korrekturen vorzunehmen, »die entweder meinen eigenen Intentionen entsprechen oder aber die Struktur des Films nicht beeinträchtigen«.[14] Bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai 1972 erhielt der Film den Großen Preis der Jury, kam aber erst Anfang Februar 1973, kurze Zeit nach der eingangs geschilderten Voraufführung in der Lomonossow-Universität, in die Moskauer Kinos. Die Reaktionen waren erneut gespalten. Zwar fand Solaris von Tarkovskijs Filmen insgesamt wohl den größten Anklang beim sowjetischen Publikum, doch Kritiker attestierten ihm wiederum unnötige Längen. Zudem fiel ihr Vergleich mit der Romanvorlage nicht immer zugunsten der Verfilmung aus. Wurden Lems Romane in der Sowjetunion in den 1960er Jahren im Zeichen eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus gelesen, so verschob sich in der Rezeption des Films der Akzent auf das Problem der Vereinbarkeit von technischem und ethischem Fortschritt. Kaum zu überhören war der polemische antikapitalistische Furor jener Zeit. In einer Reaktion hieß es, Tarkovskij habe die von Lem eröffnete Chance einer filmischen Erkundung menschlichen Verhaltens in einer unter irdischen Bedingungen unmöglichen Extremsituation verschenkt und diese vielmehr durch eine »publizistische Predigt«[15] über die moralische Verantwortung des Wissenschaftlers angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution ersetzt.

Beide, Lem wie Tarkovskij, empfanden ein Unbehagen gegenüber dem Glauben, der technische Fortschritt allein könne alle Probleme der Menschheit lösen. Im Film kulminiert dies in einer langen, in Tokio gedrehten Szene – einer endlos scheinenden Fahrt im fahrerlosen Auto durch ein unübersichtliches Gewirr von Straßen und Tunneln. Unterlegt mit einem unangenehm anschwellenden Rauschen, suggeriert die Szene angesichts einer einseitig technizistischen Zukunftsperspektive unausweichliches Grauen. Einen Gegenpol findet Tarkovskij in ebenfalls gedehnten, teils in Zeitlupe gedrehten Bildern der heimischen, eher nördlichen und ländlichen Natur.

Jahre später wird Lem in einem Gespräch seine prinzipiellen Vorbehalte gegenüber Tarkovskijs filmischer Adaption seines Romans zusammenfassen. Er hätte den Planeten Solaris gerne gesehen, aber der Regisseur habe ihm das verwehrt. (Im Film ist der Ozean in der Tat mehr zu hören denn zu sehen.) Auch habe dieser gar nicht Solaris, sondern Schuld und Sühne verfilmt. Lem zufolge sagte der Film nicht mehr aus, als dass »dieser ekelhafte Kelvin« die »arme Harey« in den Selbstmord getrieben und durch ihr Auftauchen immer stärkere Gewissensbisse bekommen habe:

»Dieses sich wiederholende Phänomen der immer wieder auftauchenden Harey war für mich das Exempel einer bestimmten Konzeption, die nachgerade von Kant abgeleitet sein könnte. Denn das ist doch das ›Ding an sich‹, das nicht greifbare ›Ding an sich‹, die andere Seite, zu der man nicht gelangen kann. Mit dem Unterschied aber, daß diese in meiner Prosa ganz anders veranschaulicht und instrumentiert wurde.«[16]

An dieser Stelle erwähnt Lem, dass er zwar das Drehbuch kannte, da er eine Kopie davon erhalten hatte, aber nur zwanzig Minuten des zweiten Filmteils gesehen habe. Voller Zorn fährt er fort: »Und was schon ganz greulich ist – Tarkowski hat in den Film die Familie von Kelvin, sogar irgendeine Tante, eingeführt. Aber vor allem die Mutter – denn die Mutter – das ist ja die mat, das heißt Rossija, Rodina (die Heimat), Zemlja (die Erde). Das hat mich ganz schön in Rage gebracht.« Die eng mit der Solarforschung verbundene »ganze Sphäre der kognitiven und epistemologischen Erwägungen und Probleme«, die für seinen Roman »äußerst wichtig« gewesen sei, sei im Film »ziemlich gründlich kastriert« worden. Auch die Schicksale der Menschen auf der Station lerne der Zuschauer nur in Bruchstücken kennen, sie aber stellen »die große Frage nach der Position des Menschen im Kosmos usw.«.

»Bei mir entschließt sich Kelvin, ohne die leiseste Hoffnung, auf dem Planeten zu bleiben. Tarkowski hingegen hat eine Vision geschaffen, die eine Insel zeigt, und auf ihr eine kleine Hütte, und wenn ich von der Hütte und der Insel höre, könnte ich vor Wut aus der Haut fahren … Diese Gefühlstunke, in die Tarkowski meine Helden getaucht hat, ganz abgesehen davon, daß er die szientistische Landschaft amputierte und eine Menge Wunderlichkeiten einführte, alles das ist für mich einfach unerträglich.«[17]

IV.

Anfang der 1980er Jahre unterstrich Lem, dass die Science-Fiction-Literatur generell von der prinzipiellen Unmöglichkeit geprägt sei, die Vergangenheit zu bewältigen. In welch großem Maße diese Einsicht auf der Erfahrung des Holocaust beruht, hat jüngst Matthias Schwartz herausgearbeitet. Die erhellende Einsicht, Lem habe – nicht zuletzt aus der eigenen Ohnmachtserfahrung unter der deutschen Besatzungszeit in Lemberg (dem heutigen Lwiw) – sein »Unbehagen an der wissenschaftlich-technischen Kultur einer auf individuelle Freiheiten, humanitäre Interventionen und zivilgesellschaftlichen Fortschritt fixierten Menschheit« zum aktuell bleibenden »Bild eines abgründigen, grauenhaften und zugleich bemitleidenswerten, beschränkten Menschen« verfremdet,[18] spielte in der Rezeption Anfang der 1970er Jahre allerdings noch keine Rolle.

Tarkovskijs Film traf in der Sowjetunion stattdessen auf ein Publikum, das Science-Fiction-Szenarien in Literatur und Film vorwiegend im Hinblick auf eine erfolgreich zu gestaltende (sozialistische) Zukunft aufnahm. Eine in diesem Sinne fiktional ausbuchstabierte und ideologisch präparierte Zukunftsvision begann jedoch ihre Anziehungskraft einzubüßen – vor allem angesichts der zunehmend repressiven Kulturpolitik nach dem Ende der Tauwetter-Zeit und des stärker empfundenen Drucks, sich der tabuisierten Geschichte des 20. Jahrhunderts zu stellen.

Es verging fast ein halbes Jahrhundert, bis ich Tarkovskijs Solaris-Verfilmung kürzlich wiedersah. Meine Sehgewohnheiten hatten sich gewandelt. Die Faszination angesichts bestimmter Bildfolgen stellte sich zwar sofort wieder ein und der Film zog mich über weite Strecken erneut in seinen Bann. Gleichwohl fielen mir jetzt deutlicher einige ermüdende Längen auf. Mitunter sind Szenen derart mit symbolträchtigen Details überladen, dass sie ins Kitschige zu kippen drohen. Vielleicht ist diese innere Widersprüchlichkeit der Bildsprache ein Symptom dafür, dass Tarkovskij der Science-Fiction-Stoff trotz aller Bemühungen, ihn sich anzuverwandeln, fremd geblieben war.

Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein ist Senior Fellow des ZfL und Herausgeberin der Warlam Schalamow-Edition

[1] Ausgangspunkt dieser Betrachtung war die ZfL-Klausurtagung 2022, auf der Lems Solaris diskutiert und Tarkovskijs Film geschaut wurde.

[2] International am bekanntesten wurde der Film Die Kraniche ziehen (Letjat žuravli, 1957) von Michail Kalatozov, der 1958 bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewann.

[3] Nach etlichen Beanstandungen und Überarbeitungen wurde dem Film zwar am 6. März 1966 die Freigabe für Zuschauer ab 16 Jahren erteilt, jedoch wurde sie in der Sowjetunion wieder zurückgezogen, nachdem der Film in Cannes 1967 außerhalb des Wettbewerbs gelaufen war und großen Eindruck hinterlassen hatte.

[4] Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, aus dem Russischen von Hans-Joachim Schlegel, Leipzig/Weimar 1989, S. 25. Die Publikationsgeschichte des Buches verweist auf Tarkovskijs Schwierigkeiten in der Sowjetunion: Der gleichnamige Essay erschien 1967 in der sowjetischen Filmzeitschrift Iskusstvo kino. Da Tarkovskij ab 1982 in Westeuropa lebte, erschien sein Buch zuerst 1984 in einer deutschen Ausgabe.

[5] Ebd., S. 62.

[6] Petra Maria Meyer: »Stalker (1979). R: Andrej Tarkovskij«, in: Matthias Schwartz/Barbara Wurm (Hg.): Klassiker des russischen und sowjetischen Films 2, Marburg 2020, S. 147.

[7] Tarkowski: Die versiegelte Zeit (Anm. 4), S. 19f.

[8] Lazar’ Lazarev (1924–2010), der Vater der Germanistin, Historikerin und Memorial-Mitgründerin Irina Scherbakowa, war langjähriger Mitarbeiter der literaturkritischen Zeitschrift Voprosy literatury und von 1992 bis 2010 ihr Chefredakteur.

[9] Vgl. Lazar’ Lazarev: Zapiski požilogo čeloveka. Kniga vospominanij [Notizen eines alten Mannes. Ein Erinnerungsbuch], Moskau 2005, S. 258–260.

[10] Andrej Tarkowskij: Martyrolog. Tagebücher 19701986, aus dem Russischen von Vera Stutz-Bischitzky/Marlene Milack-Verheyden, Frankfurt a.M./Berlin 1989, S. 40 (Übers. modifiziert, FTH).

[11] Ebd.

[12] Die Filmcrew stand schon 1970 fest. Mit dem Komponisten Ėduard Artem’ev, der viel mit elektronischer Musik experimentierte, wird Tarkovskij auch bei Der Spiegel (1975) und Stalker (1979) zusammenarbeiten. Zu den Darstellern zählten u.a. der Litauer Donatas Banionis als Chris Kelvin, der Este Juri Jarvet als Snout, Anatolij Solonicyn (er hatte zuvor den Ikonenmaler Andrej Rublev gespielt) als Sartorius, Vladislav Dvoržeckij als Berton, Nikolaj Grin’ko als Kelvins Vater und Natal’ja Bondarčuk als Harey.

[13] Tarkowskij: Martyrolog (Anm. 10), S. 85 (Übers. modifiziert, FTH).

[14] Ebd., S. 88.

[15] Julij Smelkov: »Propoved’ ili issledovanie?«, in: Voprosy literatury 1 (1973).

[16] Stanisław Lem/Stanisław Bereś: Lem über Lem. Gespräche, aus dem Polnischen von Edda Werfel/Hilde Nürenberger, Frankfurt a.M. 1989, S. 145–146.

[17] Ebd., S. 147.

[18] Matthias Schwartz: »Prosa der Verstörung. Zum 100. Geburtstag von Stanisław Lem«, in: ZfL Blog, 2.9.2021.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Franziska Thun-Hohenstein: Andrej Tarkovskijs »Solaris«. Ein Wiedersehen, in: ZfL Blog, 24.4.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/04/24/franziska-thun-hohenstein-andrej-tarkovskijs-solaris-ein-wiedersehen/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230424-01

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Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/10/10/claude-haas-viel-laerm-um-alles-ueber-das-romanfragment-guerre-aus-dem-nachlass-louis-ferdinand-celines/ Mon, 10 Oct 2022 07:53:28 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2713 Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam.[1] Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen Weiterlesen

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Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam.[1] Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen und dabei umfangreiche Manuskriptkonvolute zurückgelassen, die jahrzehntelang als verschollen galten. Céline selbst war fest davon überzeugt, sie seien ihm gestohlen und möglicherweise auf dem Flohmarkt verkauft worden.[2]

Im Jahr 2005 wurden dem Journalisten Jean-Pierre Thibaudat nach eigener Aussage von einer von ihm selbst lang geheim gehaltenen, erst vor wenigen Wochen effektvoll namhaft gemachten Person Originalmanuskripte Célines im Umfang von ca. 6000 Seiten überantwortet. Offenbar befanden sie sich seit Kriegsende in der Obhut des Résistance-Kämpfers Yvon Morandat, der 1944 Célines Wohnung in Montmartre hatte beziehen dürfen. Morandat war bereits 1972 verstorben, zehn Jahr später seien die Manuskripte zufällig von seinen Erben in einem Keller entdeckt und 2005 schließlich von Morandats Tochter Thibaudat ausgehändigt worden.

Nach Thibaudats Version der Geschichte hatte Morandat selbst Céline in den 1950er Jahren noch eine Übergabe der Schriften angeboten, was dieser jedoch mit dem Hinweis auf die moralische und politische Korruption der Résistance abgelehnt haben soll. Als medienwirksam erweist sich nicht zuletzt die strikte Auflage, die Morandats Erben über eine Veröffentlichung der Texte verhängt hatten. Diese durfte erst nach dem Tod von Célines Witwe Lucette Destouches in die Wege geleitet werden, da sie partout um den Genuss der voraussichtlich üppigen Tantiemen gebracht werden sollte. Erst als Destouches 2019 im Alter von 107 Jahren starb, stand einer Edition nichts mehr im Weg.[3]

Erschienen ist bisher ein einziges, etwa 120-seitiges Romanfragment mit dem Titel Guerre.[4] Céline hat den Text höchstwahrscheinlich zwischen seinen beiden ersten, längst zu Klassikern der Weltliteratur aufgestiegenen Romanen Reise ans Ende der Nacht (1932) und Tod auf Raten (1936) verfasst.[5] Guerre bildet eine Art Scharnier zwischen ihnen. Stilistisch steht das Fragment dem früheren Reise ans Ende der Nacht näher als dem syntaktisch bereits radikaleren und sperrigeren Tod auf Raten, thematisch wiederum präludiert es unzweifelhaft den zweiten Roman. So tauchen die Eltern der Haupt- und Erzählerfigur Ferdinand schon in Guerre in der ganzen materiellen, emotionalen und geistigen Armseligkeit auf, die den Leser*innen von Tod auf Raten vertraut ist.

Wenn Guerre unter werkgenetischem Gesichtspunkt auch als bahnbrechender Fund gelten darf, so geht die Bedeutung des Romans hierin nicht auf. Guerre ist ein Buch nicht allein für die Céline-Philologie, sondern einer der wichtigsten Romane über den Ersten Weltkrieg und damit einer der wichtigsten europäischen Kriegsromane überhaupt. Das lässt sich von Entdeckungen aus Nachlässen trotz gegenteiliger Beteuerungen nur selten behaupten, und es liegt nicht etwa daran, dass in Guerre das Kriegsgeschehen selbst zur Darstellung käme. Keineswegs holt der Roman jene Kriegsschilderung nach, die Reise ans Ende der Nacht mit dem viel zitierten Satz »Und dann geschahen Dinge und wieder Dinge, die jetzt nicht leicht zu erzählen sind, weil, wer heute lebt, sie schon nicht mehr verstehen könnte«[6] recht unvermittelt hatte abbrechen lassen.

Diese »Dinge« spart auch Guerre weitestgehend aus, denn sie werden nicht einmal von dessen Ich-Erzähler ›verstanden‹. Literarisch darstellbar wird der Krieg niemals als solcher, sondern allenfalls in seinen Effekten: in der Ungläubigkeit und in der vollständigen kulturellen Desorientierung, mit denen er den einfachen Soldaten zeit seines Lebens zurücklässt. Diese Desorientierung ist es, die ins Zentrum von Guerre führt und deren Veranschaulichung die unerhörte Intensität dieses Textes verbürgt.

Mit einem Abstand von zwanzig Jahren gibt der Ich-Erzähler Ferdinand einen Einblick in die Wochen, die er seinerzeit nach einer schweren Verwundung im Lazarett verbracht hatte. Hier schließt er Freundschaft mit dem Zuhälter Bébert bzw. Cascade (eine definitive Namensgebung nahm Céline nicht mehr vor), er hat zeitweilig Sex mit einer nekrophilen und mittels des bestimmten Artikels stets abfällig L’Espinasse genannten Krankenschwester und verfällt schließlich der Prostituierten Angèle, der Ehefrau des Zuhälters. Während L’Espinasse für Ferdinand trotz seiner Flucht von der Front einen Militärorden organisieren kann, wird Bébert wegen Selbstverstümmelung hingerichtet. Seine eigene Frau hatte ihn verraten. Das hält Ferdinand nicht davon ab, am Ende mit Angèle und einem ihrer englischen Freier nach London aufzubrechen.

Vom Inhalt her könnte man Guerre eher für einen Sex- als für einen Kriegsroman halten. Aber wie allen großen Autor*innen galten Inhalte auch Céline so gut wie nichts. Das »Ertrinken der Erzählung im Stil«, das Julia Kristeva in ihrer ingeniösen Analyse der Céline’schen Ekeldarstellung für sein gesamtes Œuvre ausmachte, trifft auch den Kern von Guerre.[7] Was zählt, ist die Sprache. Céline benötigt ein anstößiges bis widerwärtiges Vokabular, und er findet ein solches vor allem im Sexualwortschatz des Argot. Allein aus diesem Grund nimmt Sex in seinem Werk einen derart breiten Raum ein. Die obszöne Sprache erfüllt eine denkbar präzise literarästhetische Funktion. Da ein gepflegtes Französisch und die Literatur des Bürgertums den Kriegswahn in den Augen Ferdinands nicht nur nicht verhindert, sondern maßgeblich befördert hatten, ist eine anrüchige Diktion alles, was ihm nach seiner Fronterfahrung an Selbstvergewisserung übrigbleiben kann. Damit steht Céline nichts ferner als eine stupide Erotisierung des Kriegs, wie sie sich mitunter bei einem Autor wie Ernst Jünger beobachten lässt. Das Obszöne wird dem Krieg aber nicht etwa im Sinn einer authentischen Einspruchsmacht gegenübergestellt. Es härtet ab und bietet einen gewissen Halt, auch und gerade im zwanzigjährigen Rückblick auf das Geschehen und damit im Akt des Erzählens:

»Nach so langen Jahren ist sie wirklich ein Kraftakt, die Erinnerung an die Dinge. Was die Leute gesagt haben, ist von Lügen fast völlig verdreht. Da muss man sich in Acht nehmen. Es ist eine Scheiße mit der Vergangenheit, sie zergeht in der Träumerei. Zuerst schickt sie kleine Melodien auf die Reise, um die niemand sie gebeten hat. Dann ist sie wieder da und lungert herum, geschminkt mit Tränen und Reue. Das darf doch nicht wahr sein. Man muss dann schnell den Schwanz um Hilfe bitten, sofort, um sich wieder zurecht zu finden.«[8]

Der ›Schwanz‹ sorgt demnach dafür, dass man ›hart‹ wird und bleibt, dass man sich der Kriegsrealität – irgendwie – stellen und ihr gleichsam ›standhalten‹ kann. Zugleich ist diese Hoffnung illusorisch, denn alles Vulgäre ist allein der eigenen Sprachlosigkeit und Entgeisterung angesichts der Fronterfahrung abgetrotzt. Als Ferdinand L’Espinasse dabei beobachtet, wie sie sich heimlich am Sarg eines gerade verstorbenen und von Wundbrand befallenen arabischen Soldaten zu schaffen macht, fängt er an, sie wüst zu beleidigen und zu beschimpfen: »Ich beschimpfte sie so, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.«[9]

Genau besehen suggeriert der gesamte Roman, dass sein Erzähler schlechterdings nicht weiß, was er sagen könnte, dass er aber auch nicht verstummen darf, wenn er überleben will. Deshalb schreit er eine Obszönität und einen Tabubruch nach dem anderen heraus. Er lässt es krachen.

Krach und Lärm bilden die Keimzelle von Guerre. Das hat zunächst eine einfache Ursache auf der Ebene der Handlung. Neben einem zerschossenen rechten Arm hat Ferdinand eine schwere Verwundung am Ohr erlitten, so dass er unablässig Lärm hört. Der Lärm verfolgt ihn nicht nur auf Schritt und Tritt – selbst der Vogelflug erinnert ihn an das Zischen von Gewehrkugeln –, er wirft ihn auch aus jeder Form von Normalität oder Gemeinschaft unweigerlich heraus:

»Nie wieder, das verstand sich von selbst, würde ich das Leben der anderen führen, das Leben all der Idioten, die glauben, dass sich das von selbst versteht, der Schlaf und die Ruhe, ein für allemal.«[10]

Da die Ruhe ihm unerreichbar geworden ist, muss er in seinem späteren Schreiben Wege finden, gegen den Kriegslärm anzukommen:

»Zwanzig Jahre, da lernt man was. Meine Seele ist härter geworden, wie ein Bizeps. An Leichtigkeiten glaube ich nicht mehr, ich habe gelernt, Musik zu machen, zu schlafen, zu verzeihen und, wie Sie sehen, auch Literatur zu machen, mit kleinen Horrorstücken, die ich dem Lärm entreiße, der trotzdem nie enden wird. Sei’s drum.«[11]

Trotz allem Zynismus der Literatur gegenüber, auch der eigenen, wird dem Lärm hier poetologisches Format zuteil. Die »kleinen Horrorstücke« – und damit auch der Roman selbst – entstammen in den Augen des Ich-Erzählers einem »Lärm«, dem sie erst mühsam »entrissen« werden müssen, damit sie von diesem überhaupt einen Eindruck vermitteln können. In der unerbittlichen Umsetzung dieser Paradoxie besteht der eigentliche Coup von Guerre.

Céline verfügt über ein reiches Repertoire an Strategien, sein Schreiben dem Kriegslärm anzunähern und sich ihm im gleichen Atemzug zu widersetzen. Die eingängigste bildet der erwähnte metaphorische ›Krach‹ des Ich-Erzählers, bilden die Zoten und Wutkaskaden, mit denen er den Lärm im eigenen Kopf zu überbrüllen versucht. Die Sprachlosigkeit, aus der diese Art von Lärm kommt, findet ein wesentlich komplizierteres Pendant in der mündlichen Kommunikationssituation, die letztlich alle Romane Célines simulieren. In einer bahnbrechenden Studie über die Wiederholung und die ungewohnte Wortstellung bei Céline hatte Leo Spitzer die permanente Suggestion der mündlichen Rede bereits 1935 als wichtigsten Fluchtpunkt seines Stils identifiziert.[12] Syntaktisch geben Célines Ich-Erzähler vor, zu einem Adressaten zu sprechen, der von Dingen überzeugt werden soll, die der Erzähler selbst gar nicht fassen kann. Um Dialog ist es Céline dabei allerdings nicht zu tun. Das Gegenüber erfüllt allein die Funktion, die intellektuelle und sprachliche Unbeholfenheit des Ich-Erzählers zu zertifizieren. Dieser ringt um eine Verständlichkeit und eine Klarheit, die seine gesamte Rede unweigerlich verfehlt, denn sie bleibt in ihrem Ordnungsbegehren zutiefst linkisch. Logik und Syntax, aber auch Metaphorik und Symbolik sind in der Regel notorisch schief. Dennoch zeugt ihre stilistische Hilflosigkeit unablässig vom Selbstbehauptungswillen der Céline’schen Ich-Erzähler. Spitzer sprach davon, dass sie sich »an der Sprache festkrallen, wie an einem letzten Brett, das sie vor dem Untergang bewahren könnte.«[13] Auch Guerre ist ein solches »Brett«.

Freilich erweist sich die ungewandte Rede des Romans als mühsam und effektvoll konstruiert, sie ist eine Kunstsprache.[14] Das bedeutet, dass es außerliterarische Möglichkeiten der Kriegsverarbeitung für Céline gar nicht geben konnte. Bei aller Bankrotterklärung der Literatur ist ein emphatischerer Literaturbegriff als derjenige Célines kaum denkbar. Es sind jedenfalls auch und gerade die unzähligen stilistischen Schnitzer, es sind die Grammatikfehler und die Sauereien, die dem Lärm »entrissen« werden müssen und die doch nichts anderes beglaubigen als die Unnachgiebigkeit seines Dröhnens.

Dabei rückt Guerre den Autor Céline zugleich in ein neues Licht, indem der Roman den Ersten Weltkrieg definitiv als ›Urkatastrophe‹ seines Gesamtwerks ausweist. Ist der Erste Weltkrieg die Grundlage für Célines Stil, dann wütet dieser Krieg unweigerlich auch dort, wo er thematisch vollends ausgespart bleibt, wie etwa in Tod auf Raten. Guerre macht die Kindheits- und Jugenderinnerungen dieses Romans nicht als Vor-, sondern als Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs lesbar. Sie müssen vollständig aus der Kriegsperspektive heraus erzählt werden, weil eine andere Perspektive und ein anderer Zugang auch zur eigenen Kindheit nach der Fronterfahrung nicht mehr zur Verfügung stehen. Streng genommen gibt es keinen Satz Célines ohne Kriegslärm, sondern nur unterschiedliche Arten des Umgangs mit ihm.

Eine eher marginale, dafür aber umso eindringlichere Art bildet die Lakonik, die Céline ebenfalls beherrscht wie kein zweiter. Sie ist grausiger als all seine Obszönitäten zusammen, auch dort, wo sie mit diesen in Verbund steht. Im Lazarett versucht Ferdinand immer wieder, sich in sexuelle Erregungen hineinzusteigern und zu masturbieren. Da er aufgrund seiner Verwundung die rechte Hand nicht gebrauchen kann, versucht er es mit der linken: »Ich wichste mit der linken Hand, ich lernte.«[15] Ähnlich unaufgeregt protokolliert er an einigen Stellen das Massensterben, das ihn im Lazarettsaal umgibt: »Aber die, die wimmerten, sie wimmerten gar nicht mehr.«[16] Über sich selbst hält er einmal fest: »Ich war so kalt wie ein Toter, alles in allem, aber es war nur die Kälte.«[17] Dass solche Sätze aus der Suada des Vulgären herausragen, macht sie nur umso beklemmender.

Guerre ist eine literarische Sensation und als solche politisch zwangsläufig problematisch. Dies aus mehreren und ganz unterschiedlichen Gründen. Auf die Idee etwa, dass einem Krieg überhaupt eine politische Bedeutung oder auch nur eine politische Dimension eignen könnte, ist Céline nie gekommen. Der Krieg ist sinnleeres Gemetzel und blindes Geschehen, jede andere Sicht bestenfalls ein »Gefasel von Idioten«, eine »langue de cons«.[18] Aus diesem Grund mag Guerre in seiner ganzen Radikalität gelegentlich etwas wohlfeil anmuten. Aber nicht so wohlfeil wie die Annahme einer Versöhnbarkeit von Literatur und Politik oder Gesellschaft, egal welcher Tendenz. Für diese bleibt das Céline’sche Werk das Horrendum schlechtweg. Und dass Célines politische Stellungnahmen – nicht allein zum Judentum – um einiges idiotischer ausfallen mussten als jede »langue de cons«, steht mitnichten auf einem anderen, es steht auf demselben Blatt.

Der Germanist und Komparatist Claude Haas ist seit 2011 Mitarbeiter am ZfL. Im Wintersemester 2022/23 hat er eine Vertretungsprofessur am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz inne.

[1] Vgl. hierzu den sehr informativen, mittlerweile allerdings überholten Artikel von Claudia Mäder in der NZZ vom 28.6.2022.

[2] Zumindest, wenn man den Einstieg des 1957 erschienenen Romans D’un château à l’autre beim Wort nimmt, in dem es heißt: »… sie haben mir alles gestohlen in Montmartre!… Alles! rue Girardon!… ich wiederhole es… ich kann es gar nicht oft genug wiederholen!… Sie geben vor, mich nicht zu verstehen… nur die Dinge, die sie verstehen müssen!… Ich nenne die Dinge trotzdem beim Namen… Alles!… Leute, Befreier, Rächer sind bei mir reingekommen, sind eingebrochen und sie haben alles mitgenommen und zum Flohmarkt gebracht.« Louis-Ferdinand Céline: D’un château à l’autre, Paris 1973, S. 10. Wo nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von mir. Für wertvolle Ratschläge danke ich Dirk Naguschewski und Oliver Precht.

[3] Inzwischen bekriegen sich u.a. auch Thibaudat, die Erben Destouches und der Herausgeber Pascal Fouché. Thibaudats Sicht der Ereignisse wird voraussichtlich in wenigen Wochen detailliert nachzulesen sein. Vgl. Jean-Pierre Thibaudat: Louis-Ferdinand Céline, le trésor retrouvé, Paris 2022. Angekündigt wurde das Buch für Ende Oktober.

[4] Louis-Ferdinand Céline: Guerre. Édition établie par Pascal Fouché. Avant-propos de François Gibault, Paris 2022.

[5] So lautet der Titel des zweiten Romans Mort à crédit in der (sensationell guten) Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel; Louis-Ferdinand Céline: Tod auf Raten, aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort des Übersetzers, Hamburg 2021.

[6] Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht, aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort des Übersetzers, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 63.

[7] Kristeva spricht von einer »noyade du récit dans le style«; Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980, S. 161.

[8] »À tant d’années passées le souvenir des choses, bien précisément, c’est un effort. Ce que les gens ont dit c’est presque tourné des mensonges. Faut se méfier. C’est putain le passé, ça fond dans la rêvasserie. Il prend des petites mélodies en route qu’on lui demandait pas. Il vous revient tout maquillé de pleurs et de repentirs en vadrouillant. C’est pas sérieux. Faut demander alors du vif secours à la bite, tout de suite, pour s’y retrouver.« (Céline: Guerre, S. 117)

[9] »Je l’injuriais comme ça parce que je ne savais pas quoi dire.« (Ebd., S. 76)

[10] »Jamais, c’était entendu, je ne connaîtrais plus la vie des autres, la vie de tous ces cons qui croient que c’est entendu comme ça le sommeil et le silence, une fois pour toutes.« (Ebd., S. 68)

[11] »Vingt ans, on apprend. J’ai l’âme plus dure, comme un biceps. Je crois plus aux facilités. J’ai appris à faire de la musique, du sommeil, du pardon et, vous le voyez, de la belle littérature aussi, avec des petits morceaux d’horreur arrachés au bruit qui n’en finira jamais. Passons.« (Ebd., S. 28)

[12] Vgl. Leo Spitzer: »Une habitude de style, le rappel chez Céline«, in: Le Français Moderne 3 (1935), S. 193–208.

[13] »Les héros de Céline, très français, sont vraiment des individus vides qui se cramponnent au langage comme à une dernière planche qui devrait les soustraire au naufrage.« (Ebd., S. 204)

[14] Vgl. hierzu das meines Erachtens unerreichte Standardwerk von Godard, der sich völlig zu Recht gegen alle Deutungen ausspricht, die in Célines Stil eine möglichst authentische Nachahmung des gesprochenen Französisch zu erblicken meinen, und der anhand von textgenetischen Detailanalysen eindrucksvoll belegt, wie hart erarbeitet dieser Stil tatsächlich war; Henri Godard: Poétique de Céline, Paris 2014 [1985], insb. S. 36–114.

[15] »Je me branlais de la main gauche, j’apprenais.« (Céline: Guerre, S. 57)

[16] »Seulement, ceux qui gémissaient, ils gémissaient plus.« (Ebd., S. 36)

[17] »J’étais froid comme un mort en somme, mais seulement le froid.« (Ebd., S. 44)

[18] Ebd., S. 106.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Claude Haas: Viel Lärm um alles. Über das Romanfragment »Guerre« aus dem Nachlass Louis-Ferdinand Célines, in: ZfL Blog, 10.10.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/10/10/claude-haas-viel-laerm-um-alles-ueber-das-romanfragment-guerre-aus-dem-nachlass-louis-ferdinand-celines/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221010-01

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Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/26/andreas-lipowsky-performance-oper-feminismus-bemerkungen-zu-7-deaths-of-maria-callas-von-marina-abramovic/ Fri, 26 Aug 2022 09:11:00 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2667 Die Prominenz ist anwesend Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett.[1] Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. Die Szene beginnt in ihrem Schlafgemach am Morgen ihres Weiterlesen

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Die Prominenz ist anwesend

Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett.[1] Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. Die Szene beginnt in ihrem Schlafgemach am Morgen ihres Todes. Nach einigen Minuten schlägt die Verstorbene ihre Augen auf, womit die Darstellerin eine immense Körperbeherrschung demonstriert, denn zuvor lag sie so regungslos, dass man nicht sicher sein konnte, ob sich unter der Totenmaske tatsächlich eine Performerin verbarg. Sie muss mehrfach in das direkt auf ihr Gesicht gerichtete Scheinwerferlicht blinzeln, verzieht aber ansonsten keine Miene. Minutenlang ist dieses Blinzeln die einzig wahrnehmbare Bewegung in dem großen Bühnenraum, während uns eine Tonspur mit dem Bewusstseinsstrom der Verstorbenen konfrontiert.

Als die Tote die Decke zurückschlägt, trifft uns diese Geste mit voller Wucht, denn unsere Aufmerksamkeit ist seit gut zehn Minuten darauf gelenkt, die kleinsten Regungen der Performerin wahrzunehmen. Sie reiht nun Alltagshandlungen aneinander, Bewegungen auf kleinstem Raum, die aufgrund unserer Konzentration aufs Minutiöse übermäßig bedeutsam erscheinen. Der Bewusstseinsstrom wird in der Zwischenzeit in Bewegungskommandos überführt, die wir umgehend ausgeführt sehen: »push the duvet aside – turn – legs over the side of the bed – look into the void – left hand on the mattress – right hand on the mattress – slowly slide down« etc. Die Inszenierung bedient sich teils theatraler, teils performativer Strategien. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass man sich nicht getraut hat, das »Hier und Jetzt«[2] der Performerin für sich wirken zu lassen. Die Tonspur ist jedoch das geringste Problem, das der Konzentration auf die Performance im Wege steht. Denn diese Performerin, es handelt sich um Marina Abramović, muss gegen den Nimbus ihrer eigenen Berühmtheit antreten.

In ihrem Manifest gegen die Interpretation beklagt Susan Sontag – frühe Beobachterin der Performancekunst – die Privilegierung des Intellekts in der westlichen Kultur »at the expense of energy and sensual capability«. Interpretation gilt ihr als »revenge of the intellect upon the world. To interpret is to impoverish, to deplete the world – in order to set up a shadow world of ›meanings‹«.[3] Als Protagonisten dieses Angriffs auf unsere Sensualität sieht sie Karl Marx und Sigmund Freud. Für diese, so Sontag, sei die Welt ohne Interpretation nicht intelligibel. Die von ihnen gelieferten universalistischen Matrizen träten nicht allein an, Welt zu erklären, sondern Welt zu ersetzen. »Manifest content must be probed and pushed aside to find true meaning […] beneath.«[4]

Mit dieser Inszenierung von Marina Abramović verschärft sich die Problemlage, denn die Performerin hat – in jahrzehntelang gepflegtem Personenkult – die Reduktion zum generativen Prinzip ihrer Kunst erhoben. Und so sitze ich im Rang des ausverkauften Hauses, redlich bemüht, mich auf das Geschehen einzulassen, aber alles, was ich denke, ist: »die Abramović, die Abramović, die Abramović«. Für eine Kunstform, deren Anliegen es ist, mit der Präsenz von Körpern im Raum zu arbeiten, kann man sich kaum etwas Verheerenderes vorstellen. Es entsteht förmlich eine Performance zweiten Grades, bei der sich an der eigenen Wahrnehmung beobachten lässt, wie der Erfolg der PR-Maschinerie der Performerin die Prämissen ihrer Arbeit konterkariert. Der Genrewechsel hin zum Celebrity-Kult wird so plakativ zur Schau gestellt, man möchte es für das eigentliche Konzept des Abends halten: zu demonstrieren, wie die Ikonisierung der Ikone das, wofür sie ikonisch steht, zu Grabe trägt. Denn nachdem die verstorbene Kalogeropoulou ins Jenseits abtritt – durch die große Flügeltür zur Rechten, hinein in das Gleißen der Flutlichtanlage – tritt die Abramović zur Linken wieder auf. In einem Abendkostüm aus goldenen Pailletten.

Zur Aura des Reproduzierbaren

Bevor Abramović in Kalogeropoulous Schlafzimmer erwacht, gab es sieben Kurzfilme zu sehen, die als filmische Kommentare auf sieben Bühnentode des klassischen Opernrepertoires konzipiert wurden. In der Reihenfolge ihres Ablebens treten auf: Violetta, Tosca, Desdemona, Cio-Cio-San, Carmen, Lucia und Norma. In den Filmen lässt sich Abramović von deren jeweiligen Todesarten inspirieren: Abramović stürzt von einem Turm, Abramović wird von einer Schlange erwürgt, Abramović zertrümmert im Wahnsinn Mobiliar usw., alles bei ununterbrochenem Einsatz der Zeitlupe. Den Filmen wird die sie jeweils inspirierende Szene live musikalisch zur Seite gestellt, jede Figur dabei von einer anderen Sängerin verkörpert. Allerdings kommen in den meisten Fällen nicht die tatsächlichen Todesszenen der betreffenden Dramatis Personae zur Aufführung, sondern ein Potpourri ihrer vermeintlich schönsten Melodien. Im Falle Violettas scheint man das Addio bel passato noch für eingängig genug zu halten, schon bei Tosca hören wir das Vissi d’arte des zweiten Aktes und nicht das Finale des dritten, Presto! Su, Mario. Von Carmens Habanera bis Normas Casta Diva bleibt uns im Verlauf des Abends kein Kassenschlager erspart.

Das fundamentale dramaturgische Problem der 7 Deaths of Maria Callas erklärt sich aber erst mit Blick auf eine Installation, die Abramović auf Grundlage derselben Zusammenstellung von Film und Musik, allerdings unter Zuhilfenahme von historischen Aufnahmen von Kalogeropoulou präsentiert hat. In dieser Version, unter dem Titel 7 Deaths in der Londoner Lisson Gallery gezeigt,[5] entfaltet sich ein intimer Dialog zwischen deutlich voneinander zu unterscheidenden Medien und Stilen. Die Autonomie der musikalischen Darbietung geht in der Bühnenversion verloren, der Charakter der Installation verschiebt sich in Richtung Stummfilm mit Live-Musik. Letztere hat nur noch begleitende Funktion und kann weder von der Aura des Historischen noch von den stilbildenden Interpretationen der Callas profitieren. Noch in ihrer Abwesenheit stellt Kalogeropoulou aber an performativer Intensität alles zur Aufführung Kommende in den Schatten. Denn während Abramović bei dem Versuch scheitert, sich mit ihrer physischen Präsenz gegen ihren eigenen Celebrity-Status zu behaupten, treten die Sängerinnen des Abends mit dem Medienphänomen Maria Callas in Konkurrenz. Eine Übermacht völlig anderen Kalibers.

Die gegenwärtige Wahrnehmung der Callas ist maßgeblich durch das 1997 von der Plattenfirma EMI begonnene Projekt geprägt, Liveaufnahmen, an denen die Sängerin beteiligt war, unter ihrem Namen zu veröffentlichen. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl der vermeintlich populärsten Melodien zur Begleitung der Bühnentode bei Abramović besonders ärgerlich. Wer Callas’ Norma auf das Casta Diva reduziert, das Abramović als Kontrapunkt ihres Films The Fire wählt, ist, kurz gesagt, nicht auf der Höhe der Zeit. Die Live-Mitschnitte erlauben Einblicke in die Bühnenpräsenz der Interpretin, wie sie in den zuvor erhältlichen Studioeinspielungen nicht zur Geltung kommen konnte. Dies gilt insbesondere für Szenen und Rezitative, in denen Kalogeropoulou eine spontane Gestaltungskraft beweist, die ihresgleichen sucht. Ikonisch für diese, seit 1997 im digitalen Remastering wieder hörbare Dimension ihres sängerischen Erbes ist das Finale II: Dammi quell ferro! in Norma. Niemand hat es je so gesungen wie sie – in der Aufführung an der Mailänder Scala 1955 unter Antonio Votto.[6]

Norma klagt sich in dieser Szene selbst des Hochverrats an, wobei Kalogeropoulou anno 1955 mitten in einer dreieinhalbstündigen Aufführung alle handwerklichen Sicherheiten über Bord warf und stattdessen darauf vertraute, dass sie die Ungeheuerlichkeit der Selbstbezichtigung ihrer Figur in ihrer Tonführung verkörpern kann. Die Szene kulminiert in den Worten »son io« (›ich bin es‹), wobei Kalogeropoulou mit dem ›io‹ auf dem g, dem Wort, mit dem sie ihr Schicksal besiegelt, den musikalischen und theatralen Raum um sich herum förmlich implodieren lässt. Die Obertonzusammensetzung des Tones ändert sich, während Kalogeropoulou ihn erst crescendieren und dann ersterben lässt. Dabei entsteht eine vierteltönige Schwebung, die den Klang kurzzeitig der Tonalität des Stückes entrückt. Über der Generalpause des Ensembles schwebt ihr Glissando auf den Grundton zurück und mit seinem Erreichen hat sie die Zeit ebenso stillstehen lassen, wie sie sich zuvor für den Bruchteil eines Augenblicks der harmonischen Zusammenhänge des Stückes entledigte. »Hier sang jemand um sein Leben«, wie Jens Malte Fischer mit Blick auf einen anderen dieser ›Callas-Momente‹ treffend schreibt.[7] Das Publikum der Scala war sprichwörtlich außer sich. Neben gequälten Brava-Rufen hört man auf dem Mitschnitt hundertfaches Zischen, das die Beifallsbekundungen zum Verstummen bringen will. Als der Chor mit den Worten »Tu? Norma« (›Du? Norma‹) die Szene wieder aufnimmt, lässt sich nicht mehr sagen, ob die auf der Bühne dargestellte oder die im Raum herrschende Fassungslosigkeit die größere ist. So sah Performancekunst aus, zwanzig Jahre bevor sich Abramović in Innsbruck vor entsetztem Publikum mit einer Rasierklinge den Bauch aufschlitzte.[8]

Der Mythos der Ausnahmeinterpretin, der die Callas umgibt, speist sich heute aus einem anderen medialen Archiv als in der prädigitalen Zeit. Ihre Spotify-Discographie etwa verzeichnet 177 veröffentlichte Alben seit dem Jahr 1997, größtenteils Live-Mitschnitte einzelner Aufführungen. Keine faire Ausgangslage für die Sängerinnen der 7 Deaths of Maria Callas. Denn wer im Jahr 2022 Filmkunst auf Opernbühnen stellt, diese mit dem Namen »Maria Callas« bewirbt und dann aber zu scheinbar beliebigen Interpretinnen greift, um einen bunten Arienstrauß zur Aufführung zu bringen, hat keine Chance gegen die Präsenz von Kalogeropoulou auf meiner Spotify-Playlist. Die Selbstmarterungen, mit denen Abramović in den 1970er Jahren die Performanceszene aufmischte, bleiben aus. Das Gesangsensemble hat sich nichts zuschulden kommen lassen, aber ›um ihr Leben‹ sang keine der Darstellerinnen, was mit Blick auf einen Abend, der antritt, die Oper vom Tod ihrer Protagonistinnen her zu erschließen, einer gewissen Ironie nicht entbehrt.

Mitnichten Nur der Schönheit

Für das Programmheft hat die Deutsche Oper Berlin Elisabeth Bronfen gebeten, die Verbindung »Tod, Weiblichkeit und Ästhetik« [9] mit Bezug auf Maria Callas und Marina Abramović zu beleuchten. In Nur über ihre Leiche, ihrer überarbeiteten Habilitationsschrift aus den frühen 1990er Jahren, gelang es Bronfen, die vielfach auf den ersten Blick haarsträubenden Thesen über Frauen und Weiblichkeit der von ihr untersuchten Künstler zunächst als Artikulationen ästhetischer Programme plausibel zu machen, um sie dann schonungslosen psychoanalytischen Deutungen zu unterziehen. Diese virtuose Gratwanderung wird dem Publikum der Deutschen Oper Berlin nicht zugemutet. Im Programmheft ist daher zu lesen:

Die ästhetische Inszenierung des Sterbens einer Heldin hingegen wirkt im Kino wie auf der Theaterbühne ergreifend und ruft Mitleid hervor. Für den erbauenden Effekt ist sowohl Fiktionalisierung entscheidend als auch, dass der Körper, dessen Sterben mit Genuss bekundet werden kann, ein weiblicher ist.[10]

In ihrer einflussreichen Monografie machte Bronfen plausibel, wie weiblicher Schönheit in ästhetischen Praktiken die Funktion zukommt, über menschliche Sterblichkeit hinwegzutäuschen – etwa im Falle der 70 Portraits, die Ferdinand Hodler von der sterbenden Valentine Godé-Darel gemalt hat, deren ästhetisierte Darstellung des Weiblichen den realen Tod des Modells im wahrsten Sinne des Wortes überlebt. Den aus solchen Werken resultierenden Konnex von Tod, Weiblichkeit und Ästhetik nun in den Bühnentod als solchen hineinzuprojizieren, wie es Bronfen im Programmheft tut, entspricht weder ihrer früheren, sehr viel fundierteren Kritik, noch trifft es das Korpus, das Abramović sich aneignet.

Denn letztere, obwohl sie am vorderen Bühnenrand in Blütenweiß gebettet das Titelbild von Bronfens Monografie förmlich zu zitieren scheint (Paul Delaroches La jeune martyre von 1855), hat noch einmal ganz eigene Ansichten über den Tod ihrer Opernheldinnen:

Ich habe Tode ausgesucht, die letztlich aus Liebe erfolgten, durch Strangulation, Erstechen oder Verbrennen, durch einen Sturz, Harakiri, Tuberkulose und Wahnsinn.[11]

Bei ihr muss ›die Liebe‹ als universeller Grund weiblichen Sterbens auf Opernbühnen herhalten. Susan Sontag würde sich im Grab umdrehen. Im Angesicht dieser fragwürdigen Einschätzung scheint es geboten, das zur Aufführung kommende Repertoire noch einmal genauer zu betrachten. In chronologischer Reihenfolge der Uraufführungen gehören die von Abramović unter das Sterben aus Liebe subsumierten und von Bronfen unter dem Topos der schönen Leiche betrachteten Figuren zu folgenden Opern:

Bellini, Norma, 1831
Donizetti, Lucia di Lammermoor, 1835
Verdi, La Traviata, 1853
Bizet, Carmen, 1875
Verdi, Otello, 1887
Puccini, Tosca, 1900
Puccini, Madame Butterfly, 1904

Somit fällt die Wahl auf ein erstaunlich kohärentes Segment der über 400-jährigen europäischen Operngeschichte. Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass diese Werke eine musikhistorische Entwicklung nachzeichnen. Abramović verwendet kanonisierte Werke des (vornehmlich) italienischen Repertoires, die vom Belcanto der 1830er Jahre über die mittlere Schaffensperiode Verdis sowie Bizets Carmen in den Verismo Puccinis führen. Dass Abramović für die Diversität dieser historischen Ästhetiken kein Interesse aufbringt, fällt durch den Vergleich mit den Aufnahmen Kalogeropoulous ins Auge. Denn während Abramovićs filmische Arbeiten jedweden Affekt durch die Zeitlupe glätten, bietet Kalogeropoulou zwischen Bellinis Norma und Puccinis Tosca das volle Arsenal stilistischer Differenzierung aus 70 Jahren italienischer Operngeschichte auf. Dies ist besonders eklatant im Verismo der Tosca und Madame Butterfly, der bekanntlich nach Wegen suchte, das Reale in den Theaterraum einbrechen zu lassen. Während also Abramović in The Leap, dem auf Toscas Vissi d’arte basierenden Film, statuesk vom Hochhaus stürzt, zelebriert Kalogeropoulou an Puccini das Zerbrechen ihres Schönklangs indem sie ihre beiden letzten Atemzüge in Schluchzen überführt. Tosca hat ihr Leben also mitnichten ›nur der Schönheit‹ geweiht, wie es in der deutschen Nachdichtung der Arie heißt. Auf eine vergleichbare Reflektion der eigenen ästhetischen Sprache wartet man bei Abramović vergeblich.

Der Umstand, dass spätestens mit dem Verismo das Hässliche programmatisch Einzug in die musikdramatische Ästhetik hält, betrifft auch den von Bronfen diagnostizierten Zusammenhang von ›Tod, Weiblichkeit und Ästhetik‹. Dieser ist für das zur Aufführung kommende Repertoire kaum haltbar, denn spätestens wenn in Carmen die Protagonistin auf offener Opernbühne erstochen wird, ist mit der Verdrängung des Todes durch die schöne Darstellung der Leiche Schluss. Wer wie Bronfen in diesem Zusammenhang von der ›Erbaulichkeit‹ des Sterbens spricht, belegt allenfalls die fortgeschrittene Domestizierung dieses Repertoires.

Auch wenn am Ende aller der von Abramović zitierten Stücke die weibliche Protagonistin stirbt, lassen sich die Geschlechterpolitiken aus 70 Jahren (vornehmlich) italienischem Opernrepertoire nicht auf die patriarchale Abwehr eines weiblichen Anderen reduzieren – oder gar den symbolischen Femizid, der sich durchaus auch als Lesart aufdrängt. Historisch beginnt diese Serie gleich mit einem unpassenden Fall, denn wie der gemeinsame Tod Normas und Polliones unter dem Topos der schönen weiblichen Leiche zu verhandeln wäre, erschließt sich ja nun wirklich nicht. (Ist hier nur Normas Tod ›erbaulich‹, Polliones aber nicht?) Auch ist Weiblichkeit auf der Opernbühne mit einer Vielzahl von Topoi besetzt. In Norma begegnet uns das Motiv der Kindsmörderin, Carmen hat wie keine Zweite die Rede von der Femme fatale geprägt. Beide kommen als ›schöne Leichen‹, gerade im Sinne einer feministisch-informierten Kritik, schwerlich in Frage.

Am schwersten wiegt die Eliminierung der historischen Verhandlungen von Weiblichkeit aber mit Blick auf Tosca. Denn diese stürzt sich gerade nicht in glühender Hoffnung auf die Wiedervereinigung mit ihrem Geliebten von der Engelsburg, sondern zitiert mit den Worten »O Scarpia, avanti a dio« den von ihr ermordeten politischen Widersacher zum jüngsten Gericht. Sie stirbt als Republikanerin. Es ist natürlich möglich, das Vissi d’arte aus dem Revolutionsdrama im Umfeld der napoleonischen Kriege herauszulösen, dem es entstammt, und zum Soundtrack einer multimedialen Meditation über Schönheit, Weiblichkeit und Tod zu degradieren. Abramovićs Produktion kann sich aber nur deshalb als feministische Aneignung des vermeintlich konservativen Operngenres gebärden, weil sie die Aushandlungen von Weiblichkeit in dem angeeigneten Korpus ignoriert. Im Falle der Tosca tritt dabei zynischer Weise die weibliche Protagonistin nicht länger als politische Akteurin in Erscheinung.

Mit Sicherheit würde sich Bronfen gegen die Reduktion von Kunst auf ein feministisches Identifikationsangebot verwahren, zumal anno 1993, als die Implikationen des massiven Plausibilitätsgewinns dieses Diskurses noch völlig unabsehbar waren. Die folgenden Sätze leiten ihre Monografie ein:

Das direkt Sichtbare […] steht nicht nur für sich selbst, sondern es steht auch für etwas anderes, gerät damit aber gleichzeitig aus dem Blickfeld. Denn sobald eine ästhetische Darstellung dem Betrachter eine tropische, d. h. sinnbildliche Deutung abverlangt, ist sie für ihn als Wirkliches nur noch mit Mühe sichtbar. Möglicherweise sieht er das Wirkliche, während er sich auf die verborgene, die übertragene Bedeutung konzentriert, gar nicht mehr. Das ästhetische Substitut ersetzt das buchstäblich Dargestellte tatsächlich. Das Vorstellungsmuster wird zur Wirklichkeit. Entstellungen sind die Folge.[12]

Gemeint ist damit die weibliche Leiche. Dass sich die Passage im Jahr 2022 ebenso gut auf den von Abramović in die Oper projizierten Zusammenhang von Weiblichkeit, Tod und Ästhetik beziehen lässt, darf zu denken geben. Feministische Kritik ist hier selbst das zur Wirklichkeit gewordene Vorstellungsmuster, das sich – im Beisein eines Massenpublikums – zum Substitut der Oper als musikalischem Genre erhebt.

Der Kultur- und Musikwissenschaftler Andreas Lipowsky verfolgt am ZfL  sein Dissertationsprojekt »Metadeskription. Zur Geschichte der ethnografischen Beschreibung«.

[1] 7 Deaths of Maria Callas. Ein Opernprojekt von Marina Abramović mit Musik von Marko Nikodijević und Szenen aus Werken von Vincenzo Bellini, Georges Bizet, Gaetano Donizetti, Giacomo Puccini und Giuseppe Verdi. Uraufführung am 1. September 2020 im Nationaltheater München. Meine Bemerkungen beziehen sich auf die Aufführung vom 10. April 2022 an der Deutschen Oper Berlin.

[2] So die im Programmheft nachzulesende Minimaldefinition der Performancekunst, vgl. Benedikt Stampfli: »Marina Abramović im Gespräch«, in: Deutsche Oper Berlin (Hrsg.): 7 Deaths of Maria Callas [Programmheft], Berlin 2022, S. 7–13, hier S. 7.

[3] Susan Sontag: »Against Interpretation«, in: Dies.: Essays of the 1960s & 70s, New York 2013, S. 10–20, hier S. 14.

[4] Ebd., S. 13.

[5] Der von Toscas Sturz von der Engelsburg inspirierte Clip The Leap ist auf der Homepage der Galerie zu sehen.

[6] Der Mitschnitt ist unter anderem 2015 bei Mytho erschienen. Die Passage findet sich in allerdings schlechter Tonqualität auf Youtube (2:17:25).

[7] Jens Malte Fischer: Große Stimmen, Frankfurt a. M. 1993, S. 332.

[8] Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 1.

[9] So der Untertitel ihrer Studie. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Deutsch von Thomas Lindquist, München 1996 [1993].

[10] Elisabeth Bronfen: »Diven in der Kunstgeschichte«, in: 7 Deaths of Maria Callas [Anm. 1], S. 20–26, hier S. 22.

[11] Stampfli: »Marina Abramović im Gespräch« [Anm. 1], S. 9.

[12] Bronfen: Nur über ihre Leiche [Anm. 9], S. 10.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Andreas Lipowsky: Performance. Oper. Feminismus. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović, in: ZfL Blog, 26.8.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/26/andreas-lipowsky-performance-oper-feminismus-bemerkungen-zu-7-deaths-of-maria-callas-von-marina-abramovic/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220826-01

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Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/17/brett-winestock-museums-of-shame-dovid-hofshteyns-vision-of-holocaust-remembrance/ Wed, 17 Aug 2022 07:36:26 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2649 In early 1944, shortly after the liberation of Kyiv, the Yiddish poet Dovid Hofshteyn (1889–1952) returned home from evacuation and was confronted firsthand with the horrors of the Holocaust. This encounter moved him to pen the passionate essay Muzeyen fun shand (Museums of Shame).[1] As a writer who had lived through pogroms and civil war, Weiterlesen

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In early 1944, shortly after the liberation of Kyiv, the Yiddish poet Dovid Hofshteyn (1889–1952) returned home from evacuation and was confronted firsthand with the horrors of the Holocaust. This encounter moved him to pen the passionate essay Muzeyen fun shand (Museums of Shame).[1] As a writer who had lived through pogroms and civil war, Hofshteyn was no stranger to expressing his reaction to violence and destruction through literature. When Nazi Germany invaded the Soviet Union in June 1941, he became a member of the Jewish Anti-Fascist Committee (JAC), a group largely made up of Soviet Jewish cultural figures whose work was meant to reach a Jewish audience both within and outside the Soviet Union. In an attempt to rally political, financial, and military support for the Soviet war effort, their work was regularly sent to Yiddish presses in the United States, Canada, and Great Britain but also as far as Argentina and South Africa. It was this position as a member of the JAC which made it possible for Hofshteyn to receive information from the front while he was evacuated, to write, and eventually, along with a group of other writers, return home and survey the devastation.

Soviet writers were among the first to publish their accounts and descriptions of a devastation that was almost incomprehensible at the time. Initially, it was assumed that Nazi violence against Jews would be similar to that of earlier pogroms, yet it turned out to be immeasurably worse. Hofshteyn was moved, in particular, by indisputable, visual, and immediate evidence, the “horrible pictures of massacres and sadistic acts of violence.” Yet, rather than finding himself immobilized by his grief, as was the case with many Soviet Jewish writers, he was ready not just to rebuild what had been lost, but to create something new. He suggested gathering pictures, documents, and tools of this terrible time that were to be displayed in so-called museums of shame in “every major city in the world and in every point of German population.”

Typescript of Dovid Hofshteyn’s Muzeyen fun shand. GARF, f. 8114, op. 1, d. 90, 463-465. Published courtesy of the State Archive of the Russian Federation (Gosudarstvennyi arkhiv rossiiskoi federatsii, GARF).”
Typescript of Dovid Hofshteyn’s Muzeyen fun shand. GARF, f. 8114, op. 1, d. 90, 463-465. Published courtesy of the State Archive of the Russian Federation (Gosudarstvennyi arkhiv rossiiskoi federatsii, GARF).

More than 50 years later, Hofshteyn’s vision has partially come to life: Holocaust memorials and museums are common today in Germany and across the globe. Institutions such as the Munich Documentation Centre for the History of National Socialism, which opened in 2015, aim to gather and display evidence of Nazi crimes for educational purposes. Such sites, however, lack some of the most remarkable features of a museum of shame as envisioned by Hofshteyn. For example, in Muzeyen fun shand, the poet invoked the widespread belief that the Nazis made soap from Jewish corpses, a belief he turned into a powerful symbolic performance: Young Germans were to be lathered with soap made from the bodies of the worst Nazi perpetrators in order to wash off the stain that lay upon the entire German people. Along with passing an exam on the crimes committed during the Holocaust, this cleansing would become a ritual that every young German had to undergo before entering adulthood, becoming a member of society, or even calling themselves a human being (a mentsh). Also absent from today’s Holocaust memorials is what Hofshteyn called the “peripheral work” of his imagined museums of shame – the gallows which should stand in every German city and hang everyone incapable of washing away the savagery of their ancestors.

Hofshteyn had called Kyiv his home since 1907. He first rose to prominence as a member of the so-called “Kyiv Group,” the unofficial name for a loosely connected collective of modernist writers that had begun working around the time of revolution and civil war in the late 1910s. Though he briefly left for Mandatory Palestine during the turbulent 1920s, Hofshteyn remained closely tied to the city of Kyiv for much of his life. Returning to it in 1944, he searched tirelessly for his mother and brother who had been left behind, only to discover that they had been murdered at the Babyn Yar ravine – along with tens of thousands of other Jews in one of the Nazis’ largest mass shootings. Neither a documentation center nor a museum of shame had yet been built at the site of Hofshteyn’s most personal loss. Accordingly, in 1961, the Russian poet Yevgeny Yevtushenko began his famous poem “Babi Yar” (the title reflecting the Russian rather than Ukrainian name of the ravine) with the line, “There are no monuments over Babi Yar…”[2] In the absence of a physical memorial site, Yevtushenko instead erected a literary monument. The first monument was established as late as 1976. However, due to the Soviet nationalities policy which had begun to discourage minority expression and instead sought to unify the country by portraying the entire Soviet people as equal victims, the site did not specifically mention the Jewish victims executed at Babyn Yar. Though there was no explicit Soviet guideline on memorializing the Holocaust, the saying “Do not divide the dead” best expressed a policy which tacitly erased the uniqueness of Jewish suffering.

A menorah-shaped monument in memory of the Jewish victims was erected in 1991 and, before the Russian invasion of Ukraine in February 2022, there were plans to fully open the Babyn Yar Holocaust Memorial Center by 2023 – though those plans have certainly been hindered by the latest war of aggression on the territory of Ukraine. On March 1, Russian forces even damaged the site of Babyn Yar; the symbolism of such an attack was noted by many, including the Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy who asked on Twitter the same day, “what is the point of saying «never again» for 80 years, if the world stays silent when a bomb drops on the same site of Babyn Yar?” However, even prior to the Russian war against Ukraine, the Memorial Center was already shrouded in controversy. Some critics were wary that certain funders – Russian oligarchs with ties to Putin – would seek to turn the site into an outlet for Kremlin propaganda with an anti-Ukrainian bias that focused predominantly on Ukrainian collaborators. While a number of Ukrainians were indeed collaborators during the Holocaust, even more Ukrainians became victims of the Nazis. Other critics thus argue that a sober look at the crimes committed by Ukrainians as well as by the German occupiers is a sign of the mature civil society which has emerged in Ukraine.

Covering a territory of almost 1,500 square kilometers, the Memorial Center would have eventually consisted of museums, research centers, works of art, and other audio-based and visual exhibits, including a 3D topographical map, a mirror field of reflective columns riddled with bullet holes, and a sound sculpture that murmurs the names of the dead in an endless loop. This combination of traditional and modern, interactive elements was criticized for not being somber enough for such a memorial; critics have gone so far as to deride the project as a “Holocaust Disneyland.” Advocates, on the other hand, simply describe it as a modern museum that makes use of all the technological and creative elements at its disposal to educate an audience which is more than three-quarters of a century removed from the crimes of the Holocaust. The tools may thus differ significantly from what Hofshteyn originally imagined, but in its focus on education through sensory immersion, the Babyn Yar memorial site’s aims are not that different from Hofshteyn’s museums of shame.

At a time of great mourning, Hofshteyn’s call for education was remarkable.

“Mir veln onwendn tsu di yunge daytshn di zelbe metodn, vos me vendet on tsu kets un tsu hint: mirn zey shtoysn mitn gantsn gezikht in dem shoyderlekhn heslekhn shmuts, vos dos daytshishe folk hot ongerikht in di yorn fun der milkhome.” [3]

We will use the same methods with the younger German generations that we use with cats and dogs: We will push their entire face into the horrible, disgusting filth that the German people have done during the war. (My translation.)

This focus on the full-bodied and multisensory experience of shame is best understood not as vindictive but as educational. In fact, it was a language of “reeducation” similar to that of the denazification of Germany. Hofshteyn’s museums of shame were thus the very first step away from grievance and toward indictment. The eventual charges made against the perpetrators were built on a mound of evidence provided by the same impetus to collect and document, which forms the basis of the museums of shame. Though they would never be built in accordance with his vision, Hofshteyn foresaw and demanded the will to indict which would eventually become vital in prosecuting the Nazis, in marking the legacy of the Holocaust, and in ensuring the veracity of the words “never again.”

 

Brett Winestock is a research associate at the Leibniz Institute for Jewish History and Culture – Simon Dubnow. He coordinates the project “The Short Life of Soviet Yiddish Literature” that is carried out by the Dubnow Institute, the Professorship for Slavic Jewish Studies at the University of Regensburg, and the ZfL. His article is an extended version of a text that was first published on the Dubnow Institute’s blog Mimeo.

 

[1] The unpublished essay is today found among the materials of the Jewish Anti-Fascist Committee (JAC) in the State Archive of the Russian Federation (Gosudarstvennyi arkhiv Rossiiskoi Federatsii, GARF); Dovid Hofshteyn, “Muzeyen fun sand.” GARF, f. 8114, op. 1, d. 90, 463–465.

[2] The poem was first published in Literaturnaia gazeta on September 19, 1961. It can be found republished in Evgenii Evtushenko, “Babii Iar,” in Stikhotvoreniia i poemy, vol. 1 (Moscow: Sovetskaia rossiia, 1987), 309. An English translation can be found in Yevgeny Yevtushenko, The Collected Poems, 1952–1990, eds. James Regan, Albert C. Todd, and Yevgeny Yevtushenko (New York, NY: Henry Holt and Company, 1991), 102–104.

[3] Hofshteyn, “Muzeyen fun sand.” GARF, f. 8114, op. 1, d. 90, 464.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Brett Winestock: Museums of Shame: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance, in: ZfL BLOG, 17.8.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/17/brett-winestock-museums-of-shame-dovid-hofshteyns-vision-of-holocaust-remembrance/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220817-01

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David Anderson: THE ‘END OF HISTORY’ REVISITED: Christa Wolf’s ‘Kassandra’ and Jeanette Winterson’s ‘Sexing the Cherry’ https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/01/david-anderson-the-end-of-history-revisited-christa-wolfs-kassandra-and-jeanette-wintersons-sexing-the-cherry/ Mon, 01 Aug 2022 09:22:08 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2635 In his article ‘The End of History?’, originally published in the journal The National Interest in Summer 1989, Frances Fukuyama argued that ‘the triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systemic alternatives to Western liberalism.’[1] It was in this respect that history had Weiterlesen

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In his article ‘The End of History?’, originally published in the journal The National Interest in Summer 1989, Frances Fukuyama argued that ‘the triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systemic alternatives to Western liberalism.’[1] It was in this respect that history had reached its ‘end’: the course of history in the sense of ‘mankind’s logical evolution’ had arrived at ‘the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government’ (Fukuyama, p. 4). Despite all the suggestion of apocalypse in its title, Fukuyama’s essay is actually quite upbeat. The answer to all our problems is already here. And yet, in his final paragraph, he strikes a melancholy note:

The end of history will be a very sad time. The struggle for recognition, the willingness to risk one’s life for a purely abstract goal, the worldwide ideological struggle that called forth daring, courage, imagination, and idealism, will be replaced by economic calculation, the endless solving of technical problems, environmental concerns, and the satisfaction of sophisticated consumer demands. In the post-historical period there will be neither art nor philosophy, just the perpetual caretaking of the museum of human history. I can feel it in myself, and see in others around me, a powerful nostalgia for the time when history existed. Such nostalgia, in fact, will continue to fuel competition and conflict even in the post-historical world for some time to come. Even though I recognize its inevitability, I have the most ambivalent feelings for the civilization that has been created in Europe since 1945, with its north Atlantic and Asian offshoots. Perhaps this very prospect of centuries of boredom at the end of history will serve to get history started once again. (Fukuyama, p. 18)

In light of Russia’s attack on Ukraine, Fukuyama’s extraordinary anticipation of a bland technocratic future seems more premature than ever. His own confession of an emergent nostalgia for history as such, conceived in the face of ‘centuries of boredom’ – which sounds remarkably akin to the popular narrative of Vladimir Putin’s toxic immersion in Russian history across just two years of boredom during the COVID-19 pandemic – might well have been replaced by a new nostalgia for a time when a prognosis like ‘The End of History’ seemed possible. If the period since 24th February 2022 has seen history get ‘started once again’, the effect on ‘art and philosophy’ remains to be seen. The rapid reassertion of Cold War narratives has hardly been invigorating for the historical imagination. The idea of the ‘iron curtain’ being lowered once again has appeared to mean that the story has already been written: we are just re-living it.

A look at some of the historical fiction written in the 1980s might suggest ways out of this potential imaginative impasse, offering up alternative possibilities, or Gegenwelten,[2] in place of the dispiriting spectacle of history-on-repeat. Fukuyama himself does not mention literature – the ‘ineluctable spread of consumerist Western culture’ he describes is confined to the presence of colour television sets in China, Beethoven in Japanese department stores and rock music ‘enjoyed alike in Prague, Rangoon and Tehran’ (Fukuyama, p. 3). In fact, the historical fiction of the 1980s reveals a space in which the meaning of ‘history’ is still very much contested and where the threat of the ‘end of history’ in its more obvious sense – in the form of nuclear war or climate apocalypse – emerges as a force that speaks powerfully to the anxiety of our present moment. Two evocative novels that have much to tell us in these respects are Christa Wolf’s Kassandra and Jeanette Winterson’s Sexing the Cherry. Published in 1984 and 1989, these two texts challenged the idea of rational progress and ‘mankind’s logical evolution’ (my emphasis) by raising the prospect of a distinctive feminist poetics – of écriture féminine and ‘what it will do’ as Hélène Cixous had put it in her 1975 essay The Laugh of the Medusa.[3] The Gegenwelten they propose suggest ways out of the macho strait jacket of violence, destruction and impending nuclear war.

In 1979, echoing the future-oriented slant of Cixous’s essay, Wolf wrote of her search for a language capable of recording the trauma of her daily experience of surveillance by the Stasi. Was bleibt, which was not published until 1991, opens with a meditation on the possibility of a language ‘which, as of yet, is in my ear but not on my tongue’: the language in which ‘I would think back on this day, still new and not yet lived out, in ten or twenty years’ time.’[4] In 1984’s Kassandra, Wolf retrospectively reconstructs the experience of a character on the cusp of history and myth, a figure both admired and persecuted within her own society. The result is an account of the Trojan War that reads like an allegory of the Cold War, where the false logics of power and heroism, and the fear of ‘loss of face’, offer a parallel to those of endless investment in weapons and the prospect of mutually assured destruction or – as the acronym appropriately has it – MAD.

In her research for Kassandra, Wolf drew on the English writer Robert Graves’s 1955 compendium The Greek Myths. She seems to have been inspired by Graves’s description of a matriarchal ancient society. At first glance, her ambition to represent Cassandra as she was ‘before anyone wrote about her’ seems to mirror the sentiment of Graves’s great-uncle, the historian Leopold von Ranke, that historical writing should strive to represent the past ‘the way it really was’.[5] Yet her recognition of Cassandra as a human, humane individual has far more in common with Walter Benjamin’s sixth thesis on the concept of history, where ‘articulating the past historically does not mean recognizing it “the way it really was.” It means appropriating a memory as it flashes up in a moment of danger’.[6]

For Wolf, this ‘moment of danger’ was clear enough. As she put it in the third of her lectures on poetics which she delivered in 1982, ‘the thing the anonymous nuclear planning staffs have in mind for us is unsayable; the language which would reach them seems not to exist’ (Wolf, Cassandra, p. 226). In her novel, the narrative itself is figured as a kind of death sentence. As Cassandra puts it, ‘keeping step with the story, I make my way into death’ (Wolf, p. 3 – Jan van Heurck’s translation of Wolf’s more direct ‘mit der Erzählung gehe ich in den Tod’). Yet the note of optimism that resonates through the ebb and flow of Cassandra’s ‘Angst’ is based on the possibility of a distinctive women’s writing, so that Wolf’s restitution of Kassandra, ‘one of the first women figures handed down to us whose fate prefigures what was to be the fate of women for three thousand years: to be turned into an object’ is grounded in the possibility of a new language, a new tradition, to be passed from mother to daughter, ‘so that alongside the river of heroic songs this tiny rivulet, too, may reach those faraway, perhaps happier people who will live in times to come’ (Wolf, p. 227, p. 81).

Kassandra was published in an English translation by Virago press in 1984. A year later Pandora, another of London’s handful of feminist publishing houses, released British author Jeanette Winterson’s Oranges Are Not the Only Fruit. The novel’s stylised account of Winterson’s childhood as the adopted daughter of an evangelical Christian mother in Lancashire is filled with reflections on time as ‘a string full of knots’ and the idea that the protagonist’s multiple selves ‘have not gone forward or back in time, but across in time’.[7] Although she does not explain the title within the novel, Winterson wrote in a 2014 introduction that it was ‘attributed by me to Nell Gwynn, raunchy mistress of Charles 1st, possessor of fabulous breasts, and famously painted as an orange-seller’ (Winterson, Oranges, p. xi).

Charles would resurface in 1989’s Sexing the Cherry, where Winterson depicts his trial and execution while also revisiting the idea of time as an illusory construct. The novel is set partly during the English Revolution and partly in a present threatened by nuclear weapons and environmental catastrophe, a time governed by the false logic that the only way ‘to eliminate the nuclear threat is by ordering more weapons’ and that there is no alternative to the ‘endless stream of plastic’ being thrown into ‘gouged out craters in the countryside.’[8] It blurs the lines between past and present, and even the idea of a linear temporality as such. Its central characters, ‘the Dog Woman’ and ‘Jordan’, appear in both the seventeenth century and in the form of twentieth-century analogues, the former appearing to the latter in strange dreamlike visions. The pleasure-denying ascetism of the Puritans in the seventeenth century – all men, in the novel – holds up an unflattering mirror to the present, while the enormous, violent Dog Woman fulfils the role of a Gravesian mother goddess, operating as Cassandra’s opposite number. Wolf’s idea of narrative as a ‘fabric’ (Wolf, p. 141) or a ‘narrative network’ (Wolf, p. 262) is likewise analogous to Winterson’s idea of reality and narrative as merely ‘empty space and points of light’, of positions in time as mere ‘coordinates’ and of lives running in parallel, erupting across temporal thresholds.

Winterson’s preoccupation with the ideas of a ‘conspiracy of women’ and a ‘private language’ (Winterson, Sexing the Cherry, p. 29), which emerge in various ways across her text, match up with Cassandra’s desire to be heard by ‘a young slave’ who might pass on her story, as well as with the symbols left by Cassandra and the other women in the ‘Gegenwelt’ constituted by the caves at Mount Ida: ‘We called that immortalizing our memory, and laughed’ (Wolf, p. 133). Winterson’s own reference to ‘the Greeks’ early in Sexing the Cherry establishes a similar idea, appearing to allude to Benjamin’s sixth thesis as well as to Cixous’s The Laugh of the Medusa, with its idea of countering the ‘phallocentric tradition’ – according to which ‘the entire history of writing is confounded with the history of reason’ – with a ‘white ink’ (Cixous, p. 164, p. 166). ‘They wrote an ordinary letter’, Winterson asserts, ‘and in between the lines set out another letter, written in milk. The document looked innocent enough until one who knew better sprinkled coal-dust over it. What the letter had been no longer mattered, what mattered was the life flaring up undetected … till now’ (Winterson, Sexing the Cherry, p. 2). The idea of the ‘world turned upside down’ – the title of a song from the revolutionary period, and of a 1972 history of it written by Christopher Hill – is reimagined in this text along gender lines, and thus becomes the key to the future.

The self-styled ‘Leseland’ of the DDR and the condition of literature as ‘Weltersatz’ guaranteed Wolf’s position as a public author.[9] As she put it in an essay from 1968, the author was ‘ein wichtiger Mensch’, an important person whose role in the social fabric was acknowledged partly by virtue of the extreme level of oversight and censorship organised by the state. Kassandra sold half a million copies in the Bundesrepublik within four years. 200,000 copies were sold in the DDR by the fall of the wall. In the UK, Winterson’s position in the cultural marketplace was far from guaranteed. For her part, as outlined in the 1995 text entitled Art Objects, she asserted that literature must hold its own in the cultural marketplace by offering the reader ‘an invitation to believe’, satisfying the voyeuristic curiosity of readers who ‘like to be in on a secret’ and ‘can be taken in by someone who offers truth with a wink and says “I’m telling you stories. Trust me.”’ Winterson’s faith in the power of art – and literature as art – is that it will set the static into motion. ‘Art objects’, she insists, shifting the word ‘objects’ from what seemed to be a noun into a verb.[10] The movement is the same as that attempted by Wolf, whose interest in Cassandra as one of the first female figures ‘handed down to us’ to have suffered being ‘turned into an object’ extends, in her third lecture, to men as well. Women’s situation is so lamentable partly because they ‘are second-degree objects, frequently the objects of men who are objects themselves’ (Wolf, p. 259).

Deploying a similar rhetorical technique, Winterson argues for constant innovation in literature: if the novel is not ‘novel […] then we can only museum it’ (Winterson, Art Objects, p. 176). The transformation of ‘museum’ from noun to verb marks an opposite movement to that of ‘object’, involving a freezing of history into a static image, and the negative sense of the ‘museum’ here has much in common with Fukuyama’s despondent vision of ‘the perpetual caretaking of the museum of human history’. Yet it is precisely by confronting the very real threat of an end to human life, in the sense of nuclear or climate apocalypse, that Wolf and Winterson suggest ways of reinvigorating the historical imagination. Invoking diverse contexts and reading ‘between the lines’ of the historical record, they illuminate the present ‘moment of danger’ and reinstate a positive sense of futurity – with a feminist perspective. ‘Shouldn’t an experiment be made’, Wolf asks, ‘to see what would happen if the great male heroes of world literature were replaced by women? Achilles, Hercules, Odysseus, Oedipus, Agamemnon, Jesus, King Lear, Faust, Julien Sorel, Wilhelm Meister’ (Wolf, p. 260). Cassandra and its accompanying lectures are the working out of that experiment at full scale, and the same might be said of Winterson’s ambition in Sexing the Cherry.

In the context of Fukuyama’s depiction of culture as mere elevator music, it is all the more striking that Cassandra and Sexing the Cherry aspire to be both art and philosophy. At the same time, their connection to high cultural traditions does not preclude the possibility of intervention in the space of the popular. Reading them today – particularly Wolf’s depiction of the accretive false logic of war in Kassandra – is sometimes an uncanny experience. Three decades after Fukuyama’s article, it seems that we find ourselves further than ever from the prospect of a ‘nostalgia for the time when history existed’ and the replacement of ‘risking one’s life for an abstract goal’ with the ‘endless solving of technical problems’ – let alone ‘centuries of boredom’. And yet the renewed actuality of these texts not only makes them more understandable to us, forging connections through history in just the same way they themselves sought to do – it also shows us how re-imagining the past might help revive the prospect of a liveable future.

The literary and cultural scholar David Anderson is a Leverhulme Trust Early Career Fellow at Queen Mary University of London currently working at the ZfL on his project “Representations of History in British and German Popular Culture Since the 1980s.”

[1] Frances Fukuyama, ‘The End of History?’, The National Interest 16 (Summer 1989), p. 3.

[2] ‘Gegenwelten’ is the ZfL’s annual theme 2022/2023. The term might be literally translated as ‘counter-worlds’. In its current usage it can refer to the confected parallel realities of those who deny the existence of COVID-19 or climate change, but it also encompasses a profounder history of utopian projects, dystopian nightmares and their cultural representation. ‘Gegenwelten’ may be completely fanciful or, as in the case of many historical utopian or dystopian imaginaries, they may exert an active shaping force on the reality from which they apparently depart.

[3] Hélène Cixous, ‘The Laugh of the Medusa’ (1975), in Lucy Burke, Tony Crowley and Alan Girvin (eds.), The Routledge Language and Cultural Theory Reader (London: Routledge, 2000), p. 161.

[4] Christa Wolf, ‘What Remains’, in What Remains and Other Stories, trans. Heike Schwarzbauer and Rick Takvorian (New York: Farrar, Strauss and Giroux, 1993), p. 231.

[5] Christa Wolf, Cassandra: a novel and four essays, trans. Jan van Heurck (London: Virago, 1984), p. 273.

[6] Walter Benjamin, ‘On the Concept of History’, in Howard Eiland and Michael Jennings (eds.), Selected Writings: Volume 4, 1938–1940, trans. Harry Zohn (Cambridge, Mass./London: Belknap, 2003), p. 391.

[7] Jeanette Winterson, Oranges Are Not the Only Fruit (London: Vintage, 2014), p. 119, p. 218, p. 216.

[8] Jeanette Winterson, Sexing the Cherry (London: Vintage, 2014), p. 141, p. 147.

[9] See Yvonne Delhey, ‘Das Leseland DDR und die Autorin Christa Wolf’, in Carola Ilmes and Ilse Nagelschmidt (eds.), Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart: Metzler, 2016), p. 322.

[10] Winterson, Art Objects: essays on ecstasy and effrontery (London: Vintage, 1996), p. 176.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: David Anderson: The ‘End of History’ revisited: Christa Wolf’s ‘Kassandra’ and Jeanette Winterson’s ‘Sexing the Cherry’, in: ZfL BLOG, 1.8.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/01/david-anderson-the-end-of-history-revisited-christa-wolfs-kassandra-and-jeanette-wintersons-sexing-the-cherry/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220801-01

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David Anderson: ‘Novel-seeming goods’: RE-READING SALMAN RUSHDIE’S ‘MIDNIGHT’S CHILDREN’ AND PATRICK SÜSKIND’S ‘DAS PARFUM’ 40 YEARS LATER https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/20/david-anderson-novel-seeming-goods-re-reading-salman-rushdies-midnights-children-and-patrick-sueskinds-das-parfum-40/ Mon, 20 Jun 2022 11:39:04 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2612 In a 1984 essay, the American critic Fredric Jameson famously diagnosed postmodernism to be ‘the cultural logic of late capitalism’. Among its distinguishing features was a new mode of ‘aesthetic populism’ grounded in an effacement […] of the older (essentially high-modernist) frontier between high culture and so-called mass or commercial culture, and the emergence of Weiterlesen

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In a 1984 essay, the American critic Fredric Jameson famously diagnosed postmodernism to be ‘the cultural logic of late capitalism’. Among its distinguishing features was a new mode of ‘aesthetic populism’ grounded in an

effacement […] of the older (essentially high-modernist) frontier between high culture and so-called mass or commercial culture, and the emergence of new kinds of texts infused with the forms, categories and contents of that very Culture Industry so passionately denounced by all the ideologues of the modern.[1]

A new alignment between the twin spheres of culture and the marketplace meant that ‘aesthetic production today has become integrated into commodity production generally’. Wherever one looked, one saw ‘the frantic economic urgency of producing fresh waves of ever more novel-seeming goods (from clothing to airplanes), at ever greater waves of turnover’ (Jameson, p. 56).

This remark about ‘novel-seeming goods’ becomes particularly stimulating when the subjects of the discussion are, or at least seem to be, novels. Using the examples of E.L. Doctorow’s American historical novels The Book of Daniel (1971), Ragtime (1975) and Loon Lake (1980), Jameson argues that in ‘a society bereft of all historicity’, ‘what used to be the historical novel’ (my emphasis) ‘can no longer set out to represent the historical past’ (Jameson, p. 66, 68, 71). The ‘postmodern fate’ of the historical novel is to be forced to come to terms with ‘a new and original historical situation in which we are condemned to seek History by way of our own pop images and simulacra of that history, which itself remains forever out of reach’ (Jameson, p. 68, 71).

Salman Rushdie’s Midnight’s Children (1981) and Patrick Süskind’s Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders (1984) stand out as two hugely successful novels from this period that raise questions about historical representation within the space of the popular. They might therefore be used as test cases for Jameson’s concerns. Midnight’s Children is a sprawling story of Indian and British imperial and post-imperial history across the twentieth century. Das Parfum tells the tightly framed tale of a murderous perfumer in eighteenth-century France. Seemingly very different texts, they bear one curious similarity: both feature a protagonist with an unusually sensitive sense of smell.

The oversized nose of Rushdie’s hero Saleem Sinai descends from a literary tradition that takes in works like Tristram Shandy and Cyrano de Bergerac. Within the text it serves to link him to a grandfather, Aadam Aziz, to whom he turns out not to be related, having been swapped at birth by a Portuguese nurse named Mary in a parody of the Christian story. Saleem is born at the precise moment of India’s independence on 15th August 1947; his confused parentage makes him more a child of ‘history’ than of his putative parents, and the coincidence of his birthday sees him invested with bizarre magical powers. His nose becomes the ‘All-India Radio’ that allows him to communicate telepathically with the other ‘Midnight’s Children’, each of whom is themselves endowed with different powers. His picaresque travels through post-independence and later post-partition India – akin to the German odyssey of Oskar Matzerath in Günter Grass’s Die Blechtrommel, which Rushdie named as a direct influence – include a period in which he works as a human sniffer-dog in the Pakistani army, and culminate in him finding employment at a pickle factory. In the narrative present he writes out his story and reads it to his illiterate partner Padma. The chapters of the text are imagined as distinctive pickles, each with its own particular flavour and nostalgic nuance; the pages emit ‘the unmistakeable whiff of chutney’.[2]

Patrick Süskind’s villain Jean-Baptiste Grenouille is born into the picturesque filth of pre-revolutionary Paris. Like Rushdie, Süskind provides an exact date – 17th July 1738 – yet he explains away the fictionality of his creation by virtue of Grenouille’s engagement with ‘das flüchtige Reich der Gerüche’.[3] Orphaned after the execution of his negligent mother, Grenouille is raised as a social outcast before making his way through a parody of the developmental stages of the Bildungsroman. Failing to exhibit any real development aside from becoming technically proficient at the task of manufacturing perfumes, he finally settles down in the perfume-making capital of Grasse. There, he commences a psychopathic killing spree, murdering young girls in order to create a perfect scent from their corpses. Each of these is left ‘kahlrasiert und blendend weiss’ (Süskind, p. 281) after Grenouille finishes soaking up their aura through a process known as ‘enfleurage’, which is described in detail. The resulting product is of such power that it enables him to turn public opinion at his eventual trial, which results not only in his acquittal but also provokes a mass orgy among the townspeople of Grasse. They never speak of this event again, ‘da sie sich später allesamt schämten, überhaupt daran beteiligt gewesen zu sein’ (Süskind, p. 299).

Both novels were critically and commercially successful: Midnight’s Children went on to win the Booker of Bookers; Das Parfum was the first German novel to make a profit in the US since The Tin Drum. Their use of scent as a key motif alludes to the vagaries of memory and nostalgia. Both texts dwell on the capacity of a specific aroma to impress the senses and evoke a precise constellation of remembered feelings. This might also be understood in relation to Rushdie and Süskind’s interest in how their novels would be consumed and digested by readers: an awareness of the text as a ‘product’ that matches the prominence of manufacturing processes – whether of chutneys or perfumes – within each narrative. Finally, the motif of scent cuts through the postmodernist debate on depth and surface in a provocative way. Is smell, after all, the key to a deeper essence, or is it merely a seductive coating that gestures at a profundity it never incorporates?

In keeping with this tension, each text fuses tropes from popular culture – Bollywood cinema in Midnight’s Children; the crime novel in Das Parfum – with more ‘serious’ themes, risking the charge of frivolousness as they attempt to shape the historical novel’s ‘postmodern fate’. Working within a basically comic framework, Rushdie gives his readers in Britain a glimpse of the bleak realities of the British Empire: specific moments such as the Jallianwala Bagh Massacre, as well as the wider atmospherics of a land peppered by the ‘roseate palaces built by pink-skinned conquerors long ago’ (Rushdie, p. 388). Meanwhile, the closing scenes of Das Parfum rehearse ‘ein bekanntes Stück auf überraschend neue Weise’ (as Süskind describes the theatrical character of Grenouille’s trial), revealing the text to be an allegory of German fascism. The description of scent as ‘Aura’ even suggests a subtle interaction with Walter Benjamin’s Kunstwerk essay and a nuanced internal discussion of the ability of art and the aesthetic to lead an ingenuous public astray (Süskind, p. 298).

The differences between the two texts are also instructive. Next to the sheer chaos of Midnight’s Children, the sense of Das Parfum’s narrative closedness stands out. As a historical fable dressed as a period piece that simply evaporates into the fleeting realm of scent, it matches the chamber piece feel of Süskind’s other writing (the one-act play Der Kontrabass from 1981, or the 1988 novella Die Taube, for example). The hybridity of Rushdie’s text, by contrast, where the ‘MCC’ is the ‘Midnight’s Children Conference’ and ‘Marylebone Cricket Club’, where Saleem’s putative grandfather Aadam Aziz is also ‘Dr Aziz’ of E.M. Forster’s A Passage to India (1924), reveals a complex set of conjunctions concerning imperial history and cultural traditions, addressed at a level of prominence not to be found in either Germany at this time. At the same time, the presence of Alec Guinness in blackface in David Lean’s 1984 cinema adaptation of A Passage to India points to the uneasy position of imperial narratives within British culture, something which Rushdie also makes clear in his essays of the period (like 1982’s ‘The New Empire Within Britain’).

For Fredric Jameson, postmodernism came in tandem with ‘an inverted millenarianism, in which premonitions of the future, catastrophic or redemptive, have been replaced by senses of the end of this or that’ (Jameson, p. 53). In part by placing the emphasis on ‘senses’ – that is, the sense of smell – Midnight’s Children and Das Parfum each represent an ‘end’ in strikingly similar ways. The protagonists Saleem Sinai and Jean-Baptiste Grenouille are each rendered as individuals overcome by the masses. In Midnight’s Children, Saleem is haunted by perpetual anxiety about his ability to act as a vehicle for all of India. Writing in his ‘pool of anglepoised light’, Saleem constantly fears breaking apart under the pressures placed on his body by the ‘crowd’ pouring through him as he becomes his nation’s consciousness. The ‘cracks’ that appear on his body ‘widen within’ as he is transformed into ‘Six-hundred million specks of dust, all transparent, invisible as glass’ (Rushdie, p. 535). In the closing pages of Das Parfum, Grenouille slips back to Paris, where he douses himself in his perfume and is consumed by a rabble at the site of his birth. Having mastered the crowd in Grasse, he has nothing left to prove and allows himself to be destroyed by its Parisian analogue. In each case, the tension between the individual and the mass is resolved in the bodily fragmentation of the artist-protagonist. Yet if this appears to represent the impossibility of a compromise between the one and the many, the texts themselves successfully navigate Jameson’s ‘frontier between high culture and so-called mass or commercial culture’ while still retaining a complex approach to ‘historicity’. As literary novels in a marketplace saturated by ‘novel-seeming goods’, they suggest ways in which the space of the popular can form a basis for meaningful interrogation of history and tradition, moving between levity and seriousness while raising difficult questions about historical reckoning and representation.

 

The literary and cultural scholar David Anderson is a Leverhulme Trust Early Career Fellow at Queen Mary University of London currently working at the ZfL on his project “Representations of History in British and German Popular Culture Since the 1980s.”

 

[1] Fredric Jameson, ‘Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism’, New Left Review I, 146 (July/August 1984), p. 54.

[2] Salman Rushdie, Midnight’s Children (London: Vintage, 2013), p. 24.

[3] Patrick Süskind, Das Parfum: die Geschichte eines Mörders (Zürich: Diogenes, 1985), p. 5.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: David Anderson: ‘Novel-seeming goods’: Re-reading Salman Rushdie’s ‘Midnight’s Children’ and Patrick Süskind’s ‘Das Parfum’ 40 years later, in: ZfL BLOG, 20.6.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/20/david-anderson-novel-seeming-goods-re-reading-salman-rushdies-midnights-children-and-patrick-sueskinds-das-parfum-40/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220620-01

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