Wissenschaft Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/wissenschaft/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 21 Feb 2024 13:00:49 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Wissenschaft Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/wissenschaft/ 32 32 Nina Weller: WISSENSCHAFTSAKTIVISMUS UND OSTEUROPAFORSCHUNG IN ZEITEN DES KRIEGES https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/30/nina-weller-wissenschaftsaktivismus-und-osteuropaforschung-in-zeiten-des-krieges/ Thu, 30 Nov 2023 08:54:10 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3163 Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Weiterlesen

Der Beitrag Nina Weller: WISSENSCHAFTSAKTIVISMUS UND OSTEUROPAFORSCHUNG IN ZEITEN DES KRIEGES erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Politik und Geschichte, Sprache und Kultur eines Raums, der von jahrhundertelangen Grenzverschiebungen, vielsprachigen und multireligiösen Bevölkerungen und generationsübergreifenden Gewalterfahrungen gekennzeichnet ist.

Aufgrund der medialen Berichterstattung infolge des Kriegs ist die Ukraine zwar keine Terra incognita mehr. Doch es bedarf weiterhin der Wissensvermittlung in die breitere Öffent­lichkeit, damit sie und andere ehemalige sow­jetische Länder als eigenständige Akteure und Subjekte der eigenen und europäischen Geschichte und nicht immer nur in Bezug auf Russland wahrgenommen werden. Bela­rus etwa steht weiterhin im Abseits der medialen Aufmerksamkeit, obwohl das belarussische Regime in den aktuellen Krieg verwickelt ist und seit den Protesten 2020 die Repressionen gegen politische Gegner und gegen die nach demokratischen Werten strebende Bevölkerung massiv verstärkt hat. Diese unzureichende Wahrnehmung Osteuropas hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die westliche Slawistik und Osteuropaforschung seit Langem über­wiegend auf Russland fokussiert waren.

Unter den Bedingungen des Kriegs hat sich der Arbeitsalltag der hier Forschenden, Lehrenden und Studierenden verändert: Ko­operationen mit russischen Universitäten mussten aufgekündigt werden, Partnerschaften mit wissenschaftlichen Institu­tionen in der Ukraine und anderen Nachbarländern wurden intensiviert. Es wurden neue Netzwerke aufgebaut und Scholars- und Artists-at-Risk-Programme eingerichtet – nicht nur für aus der Ukraine geflüchtete oder aus Russland und Belarus vertriebene, regimekritische Wissenschaftler:innen und Künstler:innen, sondern auch für diejenigen, die unter je unterschiedlichen Gefahren in ihren Heimatländern weiterarbeiten.[1]

Zugleich wurden die Bemühungen intensi­viert, sich selbstkritisch mit den Prämissen des Fachs auseinanderzusetzen und de­kolo­nisierende Perspektiven mit dem Ziel einer Transformation der Forschungs- und Studieninhalte umzusetzen. Dies ist nicht nur auf den Krieg zurückzuführen, sondern knüpft auch an die schon länger von innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft angestrengten Bemühungen um mehr Diversität und Dekolonisierung an. Dazu gehört bei­spiels­weise die Forderung, die Stimmen von Expert:innen aus dem postsowjetischen Raum ohne paternalistische Impulse in hiesige Debatten einzubeziehen, ganz im Sinne von Wolf Lepenies: »Nicht forschen über, sondern forschen mit.« Dies würde auch dem sogenannten »Westsplaining« entgegenwirken, das auf der Vorstellung von Menschen aus dem Westen basiert, sie verstünden den Osten des Kontinents besser als dessen Bewohner:innen.[2]

Angesichts des Krieges agieren viele Fachvertreter:innen zunehmend sichtbar auch auf persönlicher Ebene: Sie zeigen sich solidarisch auf Demonstrationen, engagieren sich ehrenamtlich in der Geflüchtetenhilfe, intervenieren in öffentliche Debatten. Manche stellen zum Teil klare Forderungen an die Politik, indem sie beispielsweise für eine Ausweitung der Waffenlieferungen plädieren. Die Wissenschaft als unpolitischen Raum fernab des Weltgeschehens zu begreifen, ist kaum mehr möglich, wenn Desinformation und Fake News als hybride Waffen im Krieg eingesetzt werden. So wird die Diskussion über Für und Wider von Waffenlieferungen an die Ukraine oder den Umgang mit russischer Kultur und Literatur nicht nur in den Medien, sondern auch innerhalb der Fachcommunity oft zu einer Grundsatzfrage wissenschaftlicher Ethik und politischer Verantwortlichkeit erklärt. Für ein solches »Aktivwerden von Wissenschaftler:innen« in »gesellschaftspolitischer Absicht« wurde der positiv konnotierte Begriff des scientific political activism geprägt.[3] Ist aber schon von Aktivismus zu sprechen, wenn sich Osteuropawissenschaftler:innen mit ihrer fachlichen Expertise aktiv in öffentliche Debatten einbringen und auf Grund­lage ihrer Forschungen politische Vorschläge und Forderungen formulieren?

Zu beobachten ist, dass sich in jüngster Zeit eine prinzipielle Gegenüberstellung von Wissenschaft und Aktivismus Bahn gebrochen hat, die man so eigentlich längst überwunden glaubte. In der Regel wird Aktivismus als direktes Handeln verstanden, das ein klar definiertes, meistens politisches Ziel hat; demgegenüber sei Wissenschaft einem politisch unabhängigen, objektiven Erkenntnisinteresse und kritischer Distanz zum Forschungsgegenstand verpflichtet. Liegt aber dieser Annahme eines unversöhnlichen Gegensatzes von Wissenschaft und Aktivismus nicht eine Verwechs­lung von partizipativem Engagement mit un­reflektiert-impulsivem Aktionismus oder mit ideologischer Voreingenommenheit zugrunde? ›Aktivismus zu betreiben‹ gerät zum Vorwurf und wird gerade von jenen vorgebracht, die eine auf Objektivität ver­pflichtete ›neutrale‹ Wissenschaft von einem auf moralischen Werteurteilen und Emotionalität beruhenden Aktivismus unterscheiden zu können glauben. So diskreditierte beispielsweise der Politologe Gerhard Mangott den Wissenschaftsaktivismus einiger politisch besonders engagierter Osteuropawissenschaftler:innen am 11.7.2022 auf Twitter als »Auszug aus der Wissenschaft« . Die Osteuropahistorikerin Franziska Davies konterte am Tag darauf:

»Gerade dadurch, dass diese Wissenschaftler:innen ihre eigenen Überzeugungen und Wertesysteme kommunizieren, machen sie diese transparent und reflektieren ihre eigene Zeit- und Standortgebundenheit.«[4]

In der Tat ist nicht ausgemacht, ob Wissenschaft überhaupt werturteilsfrei sein kann.[5] Liegen ihr nicht immer schon normative Positionierungen zugrunde? Wäre dabei nicht auch zu bedenken, dass staatlich finanzierte Forschung und Lehre im Namen eines politisch legitimierten Auftrags handelt? Ist politische Zurückhaltung nicht ihrerseits darin normativ, dass sie diejenigen Wissenschaftler:innen zurechtweist, die Wissensproduktion auch als demokratisch notwendiges gesellschaftliches Engagement verstehen? Der Philosoph Karl Popper beschreibt die Haltung des Aktivisten als »die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens«.[6] In dieser Perspek­ti­ve sind in der Tat alle Wissenschaftler:innen aktivistisch, die in Reaktion auf poli­tische Ereignisse qua ihrer Expertise etwas zur Veränderung konkreter politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse oder zur Auf­merksamkeitsverschiebung in der Ein­ordnung des Weltgeschehens beitragen möchten. Allerdings haben wir es wohl kaum mit Komplexitätsreduktion zugunsten von Emotionalisierung zu tun, wie der Vor­wurf oftmals lautet.[7] Vielmehr zielt ihr Aktivismus umgekehrt darauf, den im Fall des öst­lichen Europa enormen Aufklärungs­bedarf zur komplexen Verflechtungsgeschichte, zu Kulturen und Sprachen der Region zu decken. Sie wirken dabei nicht mehr nur als Expert:innen, die im Hintergrund politische Entscheidungsträger:innen beraten oder sachliche Einschätzungen von Geschehnissen liefern, sondern greifen nun häufiger unmittelbar und kritisch in öffent­liche Debatten ein. So auch, wenn sie anprangern, dass in der Russlandpolitik der letzten Jahre viele folgenschwere Entscheidungen getroffen wurden, bei denen auf eine wissenschaftliche Beratung verzichtet wurde.

Auch in anderen politischen Kontexten – der Entwicklungen im Iran, in der Türkei oder in den USA beispielsweise oder in den Debatten über die Klimakrise und Einwanderungspolitik – tritt die Notwendigkeit des Engagements seitens der Wissenschaft deutlich hervor. Denn über historische, kulturelle, politische Hintergründe zu informieren und differenziertes Wissen verständlich, aber nicht simplifizierend in die breitere Öffentlichkeit zu vermitteln, schafft Orientierungsangebote jenseits bloßer ›Meinungsmache‹. Wissenschaft gerät in schwierige Fahrwasser, wenn sie unter dem Druck erregter Debatten hinter ihre eigenen Standards zurückfällt, aber auch dann, wenn sie das Gebot der Objektivität als Positionierungsverbot missversteht.

Die Slawistin und Komparatistin Nina Weller arbeitet im ZfL-Projekt »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

[1] Wie z.B. die Initiative The University of New Europe (UNE) oder das Science at Risk Emergency Office vom Akademischen Netzwerk Osteuropa (akno e. V.).

[2] Aleksandra Konarzewska/Schamma Schahadat/Nina Weller (Hg.): »Alles ist teurer als ukrainisches Leben«. Texte über Westsplaining und den Krieg, Berlin 2023.

[3] Pascal Germann/Lukas Held/Monika Wulz: »Scientific Political Activism – eine Annäherung an das Verhältnis von Wissenschaft und politischem Engagement seit den 1960er Jahren«, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 30.4 (2022), S. 435–444, hier S. 436.

[4] Nachzulesen auch auf Threadreader.

[5] Zur Geschichte der Debatte um Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft vgl. auch Leonhard Dobusch: »Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 26/27 (2022).

[6] Karl Popper: Das Elend des Historizismus (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 3), Tübingen 81974, S. 7.

[7] Vgl. Alexander Libman: »Osteuropaforschung im Rampenlicht: Ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus«, in: Russland-Analysen 438 (26.6.2023), S. 4–6.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Nina Weller: Wissenschaftsaktivismus und Osteuropaforschung in Zeiten des Krieges, in: ZfL Blog, 30.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/30/nina-weller-wissenschaftsaktivismus-und-osteuropaforschung-in-zeiten-des-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231130-01

Der Beitrag Nina Weller: WISSENSCHAFTSAKTIVISMUS UND OSTEUROPAFORSCHUNG IN ZEITEN DES KRIEGES erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Henning Trüper: AKTIVISMUS UND KULTURGESCHICHTE DES MORALISCHEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/21/henning-trueper-aktivismus-und-kulturgeschichte-des-moralischen/ Tue, 21 Nov 2023 09:41:02 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3151 ›Aktivismus‹ wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskrip­tive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts.[1] Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, ins­beson­dere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht Weiterlesen

Der Beitrag Henning Trüper: AKTIVISMUS UND KULTURGESCHICHTE DES MORALISCHEN erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
›Aktivismus‹ wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskrip­tive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts.[1] Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, ins­beson­dere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht dabei häufig um marginalisierte Gruppen und Anliegen. For­derungen nach Ermächtigung und Gleichberechtigung sowie die Herausstellung besonderer Schutzbedürftigkeit stehen im Zentrum. Auch im aktivistischen Umgang mit dem Klimawandel bleibt der Grundgedanke des Schutzes – nun nicht mehr nur menschlicher Akteure, sondern einer ihrer Rechte beraubten Natur – erkennbar.

Bedeutungskonstituierende Kriterien für ›Aktivismus‹ wären demnach erstens politische Partizipation jenseits einer bloß passiven, handlungsfernen Zustimmung oder Ablehnung sowie zweitens das Vorhandensein eines kollektiven Handlungsmusters, das im Hinblick auf Rechte und deren Beschränkungen lesbar ist. Der Begriff setzt drittens ein Grundverständnis von Asymmetrien innerhalb der politischen Partizipation voraus. Damit fallen aus dem gewöhnlichen Verständnis von Aktivismus solche Formen von politischen Bewegungen heraus, in denen es nur um Pseudomarginalisierungen und den Schutz bestehender Privilegien geht. Wenn man etwa auf die Frage antworten will, ob Aktivismus zum Beispiel von (neo-)faschistischen Bewegungen ausgeübt werden könne, lässt sich darauf verweisen, dass dort die elementaren Merkmale Ermächtigung, Gleichberechtigung, Schutzbedürftigkeit nicht oder nur in verzerrter Form auftreten, insofern es vornehmlich um Bemächtigung, Entrechtung und Schädigung anderer geht.

Allerdings erlegen diese drei Kriterien den historischen Konstellationen eine allzu große Einfachheit auf. Schon bei der Arbeiterbewegung, in deren Umfeld der im Umfeld des Expressionismus entstandene Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erst­mals politisch Fuß fasste,[2] handelte es sich keineswegs um eine Bewegung am untersten Ende sozialer Hierarchien, wie etwa die relative Nachrangigkeit der Anliegen der Frauenbewegung in den Ideengebäude der sozialistischen Parteien belegt. Zudem haben politische Bewegungen der Moderne stets ein Problem der Repräsentation. »Frei­schwebende« (Karl Mannheim), nicht vorrangig durch ihre Gruppenzugehörigkeit gekennzeichnete Intellektuelle sollen für andere sprechen oder eine intellektuelle ›Führung‹ der ›Massen‹ anstreben. Stellvertreter- und Fürsprecherschaft, einschließlich der Asymmetrien, die eine solche Position mit sich bringt, sind also ein viertes Merkmal des Aktivismusbegriffs.

Die Frage nach der Teilhabe am politischen Gemeinwesen ist kein ausschließlich mo­dernes Phänomen. Es gibt eine bedeutende frühneuzeitliche Tradition des heute so ge­nannten republikanischen politischen Denkens, für das die Frage nach der Par­ti­zipation immer auch eine Frage der Aus­schluss­kriterien war. Zu den Voraussetzungen legi­timer Teilhabe gehörte die persönliche Tugend, eine erworbene Disposition zum Gutsein. Dieses Gutsein betraf ursprünglich die natürliche Bestimmung des Menschen als eines zoon politikon (Aristoteles): der Mensch, der dieser Bestimmung am nächsten kam, partizipierte am Gemeinwesen. Die militärische Tugend, die aus der Übung im Krieg herstammt, gehörte ebenso zu diesem Gutsein wie diejenige Tugend, die aus dem Besitz, dessen Führung und Erhaltung herrührt. Diese – keineswegs geschlechtsneutralen – Tugenden sind genuin sozial und folglich nur innerhalb der Gemeinschaft erlernbar. Und weil die Tugend der politischen Natur des Menschen entspringt und Tugend das Wesen des Moralischen ausmacht, hat in dieser Tradition das Politische Vorrang vor dem Moralischen.[3]

In der Moderne ändert sich das Verhältnis von Politischem und Moralischem. Die ältere Tugendethik verschwindet oder wird in eng umgrenzte Bereiche zurückgedrängt. Stattdessen entstehen Moraltheorien und moralische Praktiken, in denen die moralischen Subjekte als fundamental gleich angesehen werden und die konkrete Hand­lung zum Hauptgegenstand des mora­lischen Urteils erhoben wird. Parallel dazu entwickelt sich im 18. Jahrhundert eine neue kulturelle Form der moralischen Partizipation in Form des humanitären Engagements, das sich über den sozialen und politischen Nahbereich hinaus auf die Abstellung eines »entfernten Leidens« richtet.[4] Dabei geht es also nicht mehr um eine zur Teilhabe im eigenen Gemeinwesen berechtigende Tugendhaftigkeit, sondern um ein Rettungshandeln, das sich auf einen konkreten, aber institutio­nell adressierbaren Notstand richtet. Das humanitäre Engagement begründet zwar noch eine Tugend, nämlich den retterlichen Heroismus, doch diese Tugend stiftet keine politische Person mehr, sondern bleibt auf einen engen Wirkungskreis beschränkt. Mit der Vervielfachung von Situationstypen des fernen Leidens entstehen Aktivismen (und Heroismen) in unüberschaubarer Zahl, die sich mit den politischen Formen von Aktivismus verschränken. Aktivismus stützt sich dabei auf die gute Tat als wichtigstes Paradigma moralischer Beurteilung.

Wenn heute irgendeinem Aktivismus, wie es oft in polemischer Absicht geschieht, Moralismus unterstellt wird, ist damit auch diese historische Dimension angesprochen und zugleich eine spezifisch moderne Prägung benannt, die neben der vormodernen besteht. Denn der Aktivismus – im Franzö­sischen heißen Aktivist:innen militant-e-s – trägt nach wie vor mehr oder weniger verkappte Züge jener vormodernen Denkfigur der kämpferischen Tugend, die die politische Partizipation ermöglicht und die einen Freiheitsbegriff voraussetzt, der Freiheit als Befähigung zum partizipatorischen Handeln versteht. In der Moderne dominiert hingegen ein anderes Freiheitsverständnis: Rechte konstituieren eine allgemeine, gleiche Frei­heit von bestimmten Beschränkungen.[5] Das oftmals elitäre Selbstverständnis aktivistischer Avantgarden deutet aber an, dass die ermächtigende und privilegierende Tugend keineswegs völlig aus dem politischen Denken verschwunden ist. Im Aktivismus ist die ›alte‹ Freiheit enthalten, die gegenüber anderen Mitmenschen ein Privileg vorzüglicher Teilhabe am politischen Handeln begründet. Das wirft die wichtige Frage nach dem Fortbestand älterer politischer Sprachen innerhalb derjenigen der Moderne auf – und nach anachronistischen Spannungen, die das heutige Denken mitprägen.

Hier kann ein Ansatzpunkt gefunden werden, um das Verhältnis von Aktivismus und Wissenschaft genauer zu fassen. Es ist nämlich auffällig, dass einige der gesellschaftlichen Gruppen, mit denen sich die Rede vom Aktivismus am häufigsten verbindet, an solche institutionellen Zusammenhänge geknüpft sind, in denen man Überreste der vormodernen, ständischen Gesellschaftsordnung entdecken kann: die Universitätsangehörigen, die Akademiker:innen, die Künstler:innen (von denen viele in irgendeiner Form an Akademien gebunden sind). Der Umstand, dass es in diesen Gruppen Ehrverbrechen gibt – man sieht es zum Beispiel deutlich am wissenschaftlichen Plagiat –, die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, zumal juristischen, kaum Relevanz besitzen, ist ein Symptom. Es zeigt an, dass sich bis heute eine Verbindung zwischen Stand und Tugend hält, die wir nur zumeist ignorieren. Und wenn etwa von der Pflicht von Wissenschaftler:innen zum Aktivismus die Rede ist, geht es durchaus noch um einen Typus ständischer Erwartung. Der Stand muss als solcher seine Berechtigung in der sozialen Ordnung erweisen, indem er seine Aufgabe und Bestimmung bestmöglich realisiert. Die Wissenschaft soll nicht einfach aus staatsbürgerlicher Perspektive partizipieren, sondern von ihr wird erwartet, im Funktions­gefüge des staatlichen Baus, der sie finan­ziert, eine wichtige partizipatorische Aufgabe zu erfüllen. Auch privat finanzierte Universitäten wie die bekannten nordamerikanischen, die allesamt auf Steuerprivilegien der Gemeinnützigkeit aufbauen, gehören in dieses staatlich-ständische Funktionsgefüge. Ohne den Staat gibt es in der Moderne keine Wissenschaft.

Deshalb ist es weder überraschend noch neu, dass an staatliche Funktionsträger:innen staatliche Erwartungen gerichtet werden. Das von mancher Aktivismuskritik vorgebrachte Argument, dass Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf so strikt zu trennen seien, wie es die beiden berühmten Vorträge Max Webers zu diesen Themen nahezulegen scheinen,[6] trägt also nicht besonders weit. Vielmehr ist die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus stets zugleich eine nach der Bedeutung von Staatlichkeit für die Wissenschaft. Einerseits geht es dabei um das Fortwirken des älteren politischen Denkens in der Moderne. Andererseits aber treffen sich Aktivismus und Wissenschaft in ihrer gemeinsamen, spezifisch modernen Gegenwarts- und Zukunftsorientierung. So entstehen analoge anachronistische Spannungen. Wissenschaft und Aktivismus sind sich insofern nahe, als für beide das forschende und reflexive Nachdenken über diese Spannungen und ihre theoretischen und praktischen Konsequenzen nötig ist. Wissenschaft setzt zuletzt, trotz aller Neigung zum Staatsdienst, dennoch eine Selbstbehauptung gegen gewisse Ansprüche der Nützlichkeit für das Staatswesen voraus. Auch der Aktivismus behauptet sich in einem experimentellen Austesten der Wirksamkeit bekannter und der Entwicklung neuer Handlungsformate, da sich die staatlichen Institutionen beständig auf Protestformen einstellen und sie zu beherrschen lernen.

Der Historiker Henning Trüper leitet am ZfL das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

[1] Dirk Braunstein/Christoph Hesse: Schiffbruch beim Spagat: Wirres aus Geist und Gesellschaft 1, Freiburg/Wien 2022, S. 17f.

[2] Vgl. Wolfgang Rothe: Der Aktivismus 1915–1920, München 1969, S. 721; Helmut Mörchen: Schriftsteller in der Massengesellschaft: Zur politischen Essayistik und Publizistik Heinrich und Thomas Manns, Kurt Tucholskys und Ernst Jüngers während der Zwanziger Jahre, Stuttgart 1973, S. 7–12; Knut Cordsen: Die Weltverbesserer: Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft? Berlin 2022, S. 23–46.

[3] Vgl. etwa John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition [1975], Princeton 22016.

[4] Vgl. Luc Boltanski: La souffrance à distance: Morale humanitaire, médias, politique, Paris 1993.

[5] Die Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit nach Isaiah Berlin: »Two Concepts of Liberty«, in: ders.: Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 118–172.

[6] Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1917/19], und ders.: Politik als Beruf [1919], in: Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 17, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Henning Trüper: Aktivismus und Kulturgeschichte des Moralischen, in: ZfL Blog, 21.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/21/henning-trueper-aktivismus-und-kulturgeschichte-des-moralischen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231121-01

Der Beitrag Henning Trüper: AKTIVISMUS UND KULTURGESCHICHTE DES MORALISCHEN erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Eva Geulen: Jahresthema 2023/24, AKTIVISMUS UND WISSENSCHAFT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/20/eva-geulen-jahresthema-2023-24-aktivismus-und-wissenschaft/ Mon, 20 Nov 2023 15:48:52 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3126 In den aktuellen Debatten um politischen Aktivismus und institutionalisierte Wissenschaft lässt sich unschwer das alte Muster ›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement erkennen, das zahlreiche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert geprägt hat. Angesichts dieser langen, wechselvollen und produktiven Geschichte könnte man mit dem Thema eigentlich gelassener umgehen als der aufgeregte Ton heute nahelegt. In ihrem Beitrag zu den Osteuropawissenschaften Weiterlesen

Der Beitrag Eva Geulen: Jahresthema 2023/24, AKTIVISMUS UND WISSENSCHAFT erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
In den aktuellen Debatten um politischen Aktivismus und institutionalisierte Wissenschaft lässt sich unschwer das alte Muster ›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement erkennen, das zahlreiche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert geprägt hat. Angesichts dieser langen, wechselvollen und produktiven Geschichte könnte man mit dem Thema eigentlich gelassener umgehen als der aufgeregte Ton heute nahelegt. In ihrem Beitrag zu den Osteuropawissenschaften in Zeiten des Krieges wundert sich auch Nina Weller, dass längst überwunden geglaubte Fronten sich neu formieren. Henning Trüper erinnert daran, dass moderne Wissenschaft immer von politischen Instanzen wie dem Staat abhängt. Patrick Eiden-Offe stellt anhand der Frankfurter Hölderlin-Edition, deren politische Motive einen Paradigmenwechsel in der Editionswissenschaft herbeiführten, die Verträglichkeit von Politik und Wissenschaft exemplarisch unter Beweis. Er zeigt aber auch, dass dem akademischen Erfolg des Projektes dessen politische Motive zum Opfer fielen; bei der Durchsetzung neuer Editionsprinzipien blieb der politisch-aktivistische Impuls auf der Strecke.

Könnte es heute umgekehrt die Wissenschaft sein, die auf der Strecke bleibt? Und wenn es so wäre, könnte das damit zusam­menhängen, dass einerseits die Politik (national und auf EU-Ebene) sowie viele Förderorganisationen eine ›transformative Wissenschaft‹ einfordern? Und dass andererseits immer mehr junge Menschen ihre akademische Entwicklung in den Dienst dieses oder jenes Aktivismus stellen? Haben wir es mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus ›von oben‹ und ›von unten‹ zu tun?

Man muss so vorsichtig fragen, um nicht in das herrschende Reiz-Reaktions-Schema zu fallen.[1] Die allseits beklagten Polarisierungen, so heißt es oft auf beiden Seiten, seien akuten Bedrohungen, Nöten und Krisen geschuldet, deren Bewältigung keinen Aufschub dulde. Aber ob der Klimawandel dadurch gestoppt wird, dass in den Geistes- oder Kulturwissenschaften immer neue Gegenstandsbereiche wie Ecocriticism, Animal- und Plant Studies entstehen, kann man fragen. Die bei Henning Trüper angedeutete Dynamik proliferierender single-issue-Aktivismen hat jedenfalls längst den akademischen Fächer- und Disziplinenkanon erreicht. Weil diese Vielfalt auf die Dauer auch Zerfallseffekte nicht nur in der Wissen­schaft zeitigt, hat der Journalist Knut Cordsen jüngst gefragt: »Wieviel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?«[2]

Unter Umständen heute noch lehrreich ist die Kon­tro­verse zwischen Herbert Marcuse und Jürgen Habermas aus den späten 1960er Jahren. Der Marxist Marcuse vertrat die radikale Ansicht, dass Wissenschaft unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig zum ideologischen Erfüllungsgehilfen des Systems werde. Eine revolutionäre Veränderung der herrschenden Verhältnisse müsse auch »die Struktur der Wissenschaft selbst beeinflussen«. In einem postrevolutionär befriedeten Weltzustand würde die Wissenschaft »zu wesentlich anderen Begriffen der Natur gelangen und wesentlich andere Tatsachen feststellen«.[3]

Jürgen Habermas, für den interessenfreie Erkenntnis weder in der Wissenschaft noch sonst irgendwo möglich war,[4] hat Marcuses Utopie relativiert, indem er ihre historischen Voraussetzungen namhaft machte. Denn erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, als sich verschärfende Krisen den Staat und die moderne, wissenschaftlich unterstützte Sozial- und Wissenschaftspolitik als Korrektiv auf den Plan riefen, bildete sich, was Habermas die »gläserne Hintergrundideologie« nennt, »welche die Wissenschaft zum Fetisch macht«.[5] Mit der zeitgleich einsetzenden Verwissenschaftlichung der Technik habe das zu jenem technokratischen Politikver­ständnis und einer entsprechenden Konfliktvermeidungspraxis geführt, gegen das die 68er-Generation aufbegehrte. In den protestierenden Studierenden des Jahres 1967 erkannte Habermas »Aktivisten«, die das Potential hätten, »auf eine Repolitisierung der ausgetrockneten Öffentlichkeit« hinzuwirken.[6] Das besondere Protestpotential dieser Gruppe verdanke sich auch ihrer wissenschaftlichen Erfahrung. Weil ihre Vertreterinnen und Vertreter »relativ oft aus sozialwissenschaftlichen und philologisch-hermeneutischen Fächern« kämen, erwiesen sie sich als »immun gegenüber dem technokratischen Bewußtsein«, weil ihre »primären Erfahrungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit mit dem technokratischen Grundgedanken nicht zusammenstimmen«.[7] Offenbar ist (oder war) Wissenschaft aufgrund ihrer Eigenlogik zu Selbstimmunisierungsleistungen in der Lage, die sie in der Folge auch zu emanzipatorischen gesellschaftlichen Handlungen sowohl innerhalb wie außerhalb der institu­tionalisierten Wissenschaft ermächtigen.

Aber reichen solche Beobachtungen hin, die aktuellen Debatten um Aktivismus und Wissenschaft vor allem in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu erklären? Welche Rolle spielen die sogenannte Cancel Culture und die Diskussionen um kulturelle Aneignung in der Kunst? Das sind einige der Fragen, denen sich das ZfL in den kommenden drei Semestern widmen möchte.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. Dieser Beitrag erschien erstmals als Editorial auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

[1] Kaum hatte sich die Initiative Scientists for Future konstituiert, um den Forderungen der Klima­aktivist*innen um Greta Thunberg wissenschaftlichen Nachdruck zu verleihen, sahen andere schon die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr und gründeten zu deren Rettung eine Vereinigung für Wissenschaftsfreiheit.

[2] Knut Cordsen: Die Weltverbesserer: Wieviel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?, Berlin 2022.

[3] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 180.

[4] Vgl. Jürgen Habermas: »Erkenntnis und Interesse«, in ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1967, S. 146−168.

[5] Jürgen Habermas: »Wissenschaft als ›Ideologie«, in: ebd. (Anm. 4), S. 48−103, hier S. 88f.

[6] Ebd., S. 101, 100.

[7] Ebd., S. 101.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Jahresthema 2023/24, Aktivismus und Wissenschaft, in: ZfL Blog, 20.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/20/eva-geulen-jahresthema-2023-24-aktivismus-und-wissenschaft/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231120-01

Der Beitrag Eva Geulen: Jahresthema 2023/24, AKTIVISMUS UND WISSENSCHAFT erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN) https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/04/07/eva-geulen-geheimnis-gutachten-mit-hinweisen/ Tue, 07 Apr 2020 08:18:25 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1420 (1) Es ist nicht absehbar, was die Corona-Krise einmal alles zu verantworten haben wird. Zu den Dingen, von denen man behauptet, dass sie ›nicht mehr so sein werden wie vorher‹, könnte die Präsenzlehre an den Universitäten gehören. Gemessen an anderen Vorstellungen, wie etwa dem vorbeugenden Einsatz biometrischer Überwachung aller, wäre das ein kleineres Übel. Hier Weiterlesen

Der Beitrag Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN) erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
(1)

Es ist nicht absehbar, was die Corona-Krise einmal alles zu verantworten haben wird. Zu den Dingen, von denen man behauptet, dass sie ›nicht mehr so sein werden wie vorher‹, könnte die Präsenzlehre an den Universitäten gehören. Gemessen an anderen Vorstellungen, wie etwa dem vorbeugenden Einsatz biometrischer Überwachung aller, wäre das ein kleineres Übel. Hier wie dort gilt jedoch: Sind bestimmte Praktiken erst einmal, sei es auch temporär und zwangsweise, eingeführt, dann kann daraus rasch Alltag werden.[1] Die universitäre Lehre betreffend wäre es dann vorbei mit dem, was Heidegger einmal raunend das »Geheimnis des Seminars«[2] genannt hat.

Die US-amerikanischen Universitäten haben mit den als Marketinginstrument eingesetzten und kommerziell sehr erfolgreichen MOOC-Vorlesungen (Massive Open Online Course) schon länger experimentiert. Hierzulande hat die Fernuniversität Hagen erfolgreich gezeigt, dass Studieren und Lehren auch ›remote‹ möglich sind. Wahrscheinlich beschleunigen die Umstände also bloß eine Entwicklung, die sich schon länger angebahnt hat und überdies auch positive Effekte haben könnte.[3] Denn die technischen Optionen eröffnen neue Möglichkeiten der ›flachen‹, enthierarchisierten Kollaboration und Kommunikation, die nicht nur die Wissenschaft in ihrem E-Mail-Twitter-Facebook-PowerPoint- und PDF-Alltag längst pflegt.[4] Das ominöse »Geheimnis des Seminars« ist wahrscheinlich auch nur ein Element der Auratisierungsmachinationen des akademischen Betriebs, in dem sich Reste charismatischer Herrschaft hartnäckig erhalten haben. Wer mehr darüber wissen möchte, lese das wunderbare Buch von William Clark, das Kuriosa aus der Geschichte der europäischen Universitäten versammelt.[5] Seine Pointe ist, dass es gerade die charismatischen Momente waren, die der modernen Forschungsuniversität zum Durchbruch verhalfen.

Vielleicht ist der gegenwärtige Ausnahmezustand ein guter Zeitpunkt, sich ein paar Gedanken über eine wissenschaftliche Routine zu machen, die immer schon jenseits von Präsenz und Kontakt ablief: das Gutachten. Während ›das öffentliche Leben zum Erliegen kommt‹, der Terminkalender sich leert, weil die vielen Treffen auf einmal doch verzichtbar sind, reißt der Fluss der Gutachten auch in der großen Verlangsamung nicht ab. Und wer glaubt, das sei so, weil an Gutachten eben keine Leben hingen, der irrt. Das Überleben der Begutachteten hängt im wissenschaftlichen Betrieb immer auch an Gutachten.

Wer braucht Gutachten in den Geistes- und Kulturwissenschaften? In unserem evaluierungsbesessenen Betrieb eigentlich jeder und jede sofort und zunehmend für alles.[6] Die Studierenden brauchen Gutachten ihrer Abschlussarbeiten im BA und MA. Recht besehen brauchen sie auch eine Art Mini-Gutachten für jede abgeschlossene Hausarbeit. Das heißt dann aber nicht Gutachten, sondern Feedback. Ob man das als Dozentin im erwarteten Umfang liefert, wird in der Lehrevaluation festgestellt, die kein Gutachten im klassischen Sinne (nämlich ›frei formuliert‹) ist, sondern meistens eine quantitative Abfrage. Diese Statistiken gehen in der Regel bei Beförderungs- und Entfristungsfragen in eine förmliche Begutachtung der Qualität der Lehre ein.

Hinzu tritt, was sich unter ›Forschungsgutachten‹[7] zusammenfassen lässt. Es ist ziemlich viel: Gutachten zu Qualifikationsschriften, also zu Dissertationen (im Schnitt acht bis zwölf Seiten Umfang), zu Habilitationsschriften (unter zehn Seiten geht da eigentlich nichts, an den meisten Unis werden in der Regel fünf Gutachten eingeholt, ergibt mindestens 50 Seiten Gutachten pro Arbeit). Zweitgutachten bleiben jetzt einmal ebenso beiseite wie Drittgutachten, die meistens fällig werden, wenn zwei Gutachtende in der Einschätzung einer Qualifikationsschrift stark voneinander abweichen. Und natürlich braucht man Gutachten für alle Preise und Nominierungen. Zu den Forschungsgutachten gehört außerdem die Begutachtung der Projekte von Promovierenden und Postdocs, die bei Stiftungen und anderen Forschungsfördereinrichtungen Fördergelder beantragen.

Hinzu tritt die Begutachtung von Verbünden wie Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs oder Exzellenzclustern. Da geht es um Personengruppen zwischen acht und 200, deren Existenz bis zu vierzehn Jahre auch von diesen Gutachten abhängt. Die hier fälligen Gutachten gelten als ›Vorbegutachtungen‹, auf die dann im günstigsten Fall eine Vor-Ort-Begehung folgt. Die Begehung ist das Gutachten im Ausnahmefall des Präsenzmodus. Aber natürlich sind die Einschätzungen der Begehungskommission vor Ort anschließend in einem schriftlichen Gutachten zusammenzufassen, das dann in die abschließende Begutachtung und die Entscheidung einfließt. Man kann sich vorstellen, was im Zusammenhang mit der jüngeren Exzellenzstrategie an Gutachten und Gutachten über Gutachten produziert worden ist. Dort trat übrigens ein Notstand ein, weil viele potentielle Gutachterinnen als Antragstellerinnen befangen waren und deshalb nicht selbst gutachten durften.

Und dann gibt es noch die bei jeder Berufung an eine Universität erforderlichen auswärtigen vergleichenden Gutachten, in denen bis zu vier Personen ›nach Aktenlage‹ (also nur nach Maßgabe der vorgelegten Dokumente, einschließlich zur Verfügung gestellter Gutachten zur Lehre) zu beurteilen sind und ein Listenvorschlag zu machen ist. Freilich können sich Berufungskommissionen über die Einschätzungen der Gutachtenden hinwegsetzen, aber das hat Komplikationen in den Gremien zur Folge, der Fakultät, dem universitären Senat und der berufenden Instanz. Um den Sachverhalt anekdotisch zu illustrieren: Ich bin nicht die einzige, deren Gutachtenprosa, in Manuskriptseiten gerechnet, mit den eigenen wissenschaftlichen Publikationen konkurriert. Wie viele Gutachten ich im Laufe der Jahrzehnte gelesen habe, weiß ich nicht, aber wohl, dass ich mich über sehr viele geärgert habe. Deshalb bin ich dazu übergegangen, Gutachten, wann immer möglich, zuletzt zu lesen – und hoffe widersinnig darauf, dass die Kollegen von mir verfasste Gutachten nicht so schnöde behandeln.

(2)

Die Effekte des astronomischen Anwachsens der Gutachten in einem immer mehr auf Evaluierung setzenden Betrieb vorläufig einmal beiseitegelassen, sind zwei Dinge bemerkenswert:

1. Für alles im Wissenschaftsbetrieb innerhalb und außerhalb der Universität gibt es Instruktionen, Anleitungen, Weiterbildungen, Coachings, Handbücher und Ratgeber. Aber wie man ein Gutachten anfertigt, das – mit Verlaub – sagt einem kein Schwein! Stattdessen wird in jüngerer Zeit (bei der Begutachtung von Gutachten) abgefragt, ob es sich um ein ›aussagefähiges‹ handelt oder nicht. Darunter versteht man offenbar etwas, das weder Lobhudelei noch Schmähung ist. Aber wie man ein ›aussagefähiges‹ Gutachten erkennt oder ein solches verfasst, darüber ist nichts zu erfahren: Sapienti sat. Und damit ist man auch schon bei der zweiten Besonderheit.

2. Gutachten sind Geheimkommunikationen unter Eingeweihten. Bei den Gutachten für Qualifikationsschriften ist nicht einmal vorgesehen, dass sie an deren Verfasser weitergleitet werden – nach abgeschlossenem Verfahren, versteht sich! Obwohl eine Disputatio doch viel anregender und fruchtbarer wäre, wenn die Kandidatin Lob und Einwände der Gutachten bereits kennen würde. Bei Forschungsgutachten und Peer-Reviews erhalten die Bewerberinnen vielleicht anonymisierte Kurzfassungen. Es ist jedenfalls immer ein winziger Kreis, den diese in rauen Mengen produzierte Textsorte überhaupt erreicht. Alle Gutachten landen rasch in der Tonne bzw. in den Archiven der Institutionen, denn die müssen die amtlichen Dokumente ziemlich lange aufbewahren. Ans Licht einer Öffentlichkeit gelangen sie nur, wenn sich nach der jahrzehntelangen Sperrfrist jemand wissenschaftshistorisch und fachgeschichtlich für einen Vorgang interessiert. Die Veröffentlichung der elf Gutachten zu Friedrich Kittlers umstrittener Habilitationsschrift zu den »Aufschreibesystemen« ist so ein Fall.[8] Mit großer Verspätung und nur ausnahmsweise enthüllt sich da nicht bloß, dass Gutachten im Wissenschaftsbetrieb über berufliche Existenzen tatsächlich (mit‑)entscheiden, sondern dass sie trotz ihrer rasanten Zunahme Unersetzliches leisten können im Widerspiel von Selbstreproduktion und Transformation ganzer Fächer. Bei der Lektüre von Manfred Schneiders Gutachten über Hans Martin Gaugers Gutachten wird einem das schlagartig deutlich.

Die beiden Besonderheiten der Gutachtenkultur verdanken sich demselben Umstand: Das geisteswissenschaftliche Gutachten ist in all seinen Varianten, vom Referenzschreiben für eine Person (im Englischen letter of recommendation) bis zum anonymen Gutachten eines Verbundprojektes, stets ein Hybrid aus Patronage und Sachverständigen- bzw. Expertenmeinung. Dabei gibt es auf Sender- und Empfängerseite unausgesprochene Erwartungshaltungen, Usancen und Codes, die die Vergleichbarkeit von Gutachten so sichern sollen, dass sie eine Entscheidungshilfe darstellen. Jede Arbeitgeberin weiß bei der Lektüre eines Arbeitszeugnisses um die feinen Unterschiede zwischen ›zur Zufriedenheit‹, ›zur vollen Zufriedenheit‹ und ›zur vollsten Zufriedenheit‹. Beim akademischen Gutachten in den Geisteswissenschaften ist das im Prinzip ähnlich. Dass die Codes dort jedoch sehr viel weniger formalisiert und nicht generalisierbar sind, ruft die Gutachtenhermeneutik auf den Plan. Die kann die unterschiedlichen Konventionen – von Fach zu Fach, Land zu Land, Person zu Person – aber nur sehr bedingt in Rechnung stellen, weil niemand diesen Überblick haben kann.

(3)

Soweit das geisteswissenschaftliche Gutachten an der Idee des Sachverständigengutachtens ausgerichtet ist, sorgt der Expertenstatus der Gutachtenden für dessen Gewicht und Relevanz. Alle Beteiligten einigen sich auf die Illusion, dass der Experte eben mehr weiß, klarer sieht und mehr überblickt als der Begutachtete. Natürlich wissen alle, dass auch bei naturwissenschaftlichen oder juristischen Gutachten ein subjektiver Standpunkt oder mindestens ein Interesse der Argumentation die Wege weist. Darauf reagieren insbesondere geisteswissenschaftliche Gutachten mit nervöser Überkompensation: Je unsicherer der Grund ist, auf dem sie stehen, desto objektivistischer gerieren sie sich. Und in den historisch-hermeneutischen Fächern, die ihre Gegenstände nicht haben, sondern je neu konstituieren müssen, gibt es nun einmal keinen festen Grund. Das kann aber auch einen anderen Effekt zur Folge haben. Weil unsere Fächer keine unbestreitbaren Fundamentalartikel kennen und Kritik zum geisteswissenschaftlichen Selbstverständnis gehört, tun sich manche mit dem Befürworten und Gutheißen von Haus aus schwer. In Verfahren wie denen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wo verschiedene Verbundforschungsprojekte über Fächergrenzen hinweg vergleichend beurteilt werden, kann das einen strategischen Nachteil gegenüber den Naturwissenschaften bedeuten, deren Vertreterinnen möglicherweise solidarischer sind, jedenfalls zu eindeutigen Aussagen neigen.

Die beim Expertengutachten rituell verschattete Subjektivität rückt mit der Dimension der Patronage in den Vordergrund. Das kulturelle Kapital steckt hier im Ansehen der gutachtenden Person. Seit der Antike gibt es die Gattung der Empfehlungsschreiben (litterae commendaticiae), bei der Personen Dritten Zugang zu bestimmten Personen oder Aufnahme in gewisse Kreisen zu verschaffen suchen.[9] Und noch bis vor kurzem verlief die Besetzung von Professuren nach einem Patronageprinzip, das auch dynastische Aspekte einschließen konnte (der ›Nachwuchs‹ der Ordinarien verteilte sich auf die frei werdenden Professuren). Ein neoliberales Wettbewerbsprinzip hat diesem Betrieb die alten Zöpfe abgeschnitten. Paradoxerweise hat die demokratisierende Umstellung auf Evaluationen und Gutachten der Patronage aber zu ihrem Überleben als Cliquenwirtschaft oder Kartell verholfen. Dass wer viel begutachtet wird, auch selbst zunehmend als Gutachterin gefragt ist, kann zur Grundlage von Tauschaktionen vor allem im Drittmittelbereich und bei Nominierungen werden: Nominierst du mich für dieses, nominiere ich dich für jenes, empfiehlst du mich hier, empfehle ich dich dort. (In Parenthese und apropos Patronage: Als ich mir auf einer Gutachtersitzung, in der es um Strategien zur Erhöhung der Nominierungsquote von Frauen ging, die Bemerkung erlaubte, dass mir solche Absprachen unter Frauen nicht bekannt seien, entgegnete ein Kollege, die Frauen müsse man eben ›zum Jagen tragen‹.)

Vielleicht kann man darauf vertrauen, dass diejenigen Organisationen, die mit sehr vielen Gutachten zu tun haben, mit der Zeit auf solche Muster aufmerksam werden. Aber gesichert ist das nicht. Und deshalb bleibt es dabei, dass die beiden Stränge des Gutachtenwesens – Expertenkultur und Patronage – auch und gerade in unserem hyperaktiven Evaluierungsbetrieb nicht zu entwirren sind. Da die immer größere Anzahl von Gutachten (übrigens proportional dazu häufig auch ihr Umfang) im Zuge der steigenden Bedeutung der Drittmitteleinwerbung angesichts unterfinanzierter Universitäten bekanntlich die Kernaufgaben der Wissenschaft an den Rand drängt und die Kontingenzen verschärft, deren man Herr zu werden versucht, sollte man diese verworrene und anfällige Praxis mindestens in einigen Bereichen entweder ganz abschaffen – die VolkswagenStiftung hat bereits ein Programm, in dem das Los über die Förderung mitentscheidet – oder sie, pragmatisch, mit dem geringsten Aufwand nebenher betreiben, »wie man in fremden Tempeln etwa kniet« (Grillparzer).

(4)

Ein quasi flächendeckender Verzicht auf Gutachten aber wäre in seinen Konsequenzen wohl noch fataler als die bisherige Praxis einschließlich ihrer Auswüchse und Probleme. Das Gutachten ist ein unverzichtbares Medium der Selbstverständigung und Selbstveränderung unserer Wissenschaften. Seine Glaubwürdigkeit hängt vom Vertrauen ab – aber gerade nicht vom Vertrauen in die involvierten Personen, sondern vom Vertrauen in das Institut des Gutachtens. Kantisch und mit Vaihinger formuliert: Man muss so gutachten, als ob eine Beurteilung in dieser Form möglich sei.

Die dafür erforderliche Urteilskraft könnte sich an den Besonderheiten des ästhetischen Urteils bei Kant orientieren. Während die bestimmende Urteilskraft das Besondere unter das Allgemeine subsumiert, ist es die (man könnte sagen: unendliche) Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, das Allgemeine zum Besonderen zu finden. Weil dem Geschmacksurteil weder ein subjektiver noch ein objektiver Zweck zugrunde gelegt werden kann, hat es nur die Form der Zweckmäßigkeit und kann seinen Anspruch auf Allgemeinheit nur subjektiv vorbringen, kann ihn den anderen nur ansinnen, aber nicht aufzwingen. Ob man bei dieser Urteilspraxis eher erzählend verfährt, wie in vielen US-amerikanischen Gutachten üblich, oder eher objektivistisch und ›nach Aktenlage‹, ob man die personalen und individuellen Aspekte stark macht oder den Sachverstand, spielt keine große Rolle. Es sind kulturell bedingte Unterschiede, wie es ja auch verschiedene Geschmacksurteile über das Schöne gibt, die aber die Struktur dieses Typus von Urteil nicht tangieren.

Obwohl geübte Gutachtenleserinnen in allen ›aussagefähigen‹ Gutachten genau diese Urteilsstruktur wiedererkennen, kann man kaum verlangen, dass sich der potentielle Gutachter erst einmal in Kants dritte Kritik vertieft. Aber vielleicht lässt sich das Wesentliche doch ins Pragmatische übersetzen. Regeln kann es keine geben, aber ›Hinweise für Gutachter‹.

Wenn es nicht darum geht, ein Partikulares unter ein Allgemeines zu subsumieren, dann erübrigen sich alle quantifizierenden Angaben: Wie viele Bücher, Aufsätze etc. es sind, kann jeder und jede den Unterlagen entnehmen. Relevant wird es nur bei vergleichenden Gutachten, und auch da eigentlich nur, wenn sich Diskrepanzen ergeben, die aber vom Gutachtenden im Gutachten erst aussagefähig gemacht werden müssen. Das Gleiche gilt für die vor allem in der Begutachtung von Qualifikationsschriften grassierende Unsitte der ausführlichen, sich kapitelweise vorarbeitenden Paraphrase. Damit wird zwar das übliche Seitensoll erfüllt, doch Urteilskraft bewährt sich so nicht.

Worauf es ankommt, ist der andere Blick. Die Gutachterin ist in der Pflicht, eine Perspektive auf die zu begutachtende Arbeit (das Projekt oder den Aufsatz) zu gewinnen, die nicht diejenige ihres Verfassers ist. Dabei handelt es sich weder um einen Sachverständigenblick, der ein größeres Feld übersieht (Expertenlogik), noch um den des wohlwollenden (oder missgünstigen) Gönners (Patronage). Dieser andere Blick wird dadurch möglich, dass man unter den Voraussetzungen der jeweiligen Arbeit (des Aufsatzes, des Projekts etc.) möglichst weit mitgeht, also gerade nicht von außen urteilt, sondern erst einmal das nachvollzieht, was Adorno in anderem Zusammenhang und auch an Kunstwerke denkend die »Logik ihres Produziertseins« nannte.[10] Auch wissenschaftliche Werke haben eine Logik ihres Produziertseins. Dann gehört aber zu den Voraussetzungen eines aussagefähigen Gutachtens auch die Bereitschaft, das zu Begutachtende als Herausforderung zu begreifen: Im nachvollziehenden Mitdenken weiterdenkend, sind auch die eigenen Prämissen zu durchdenken. Wenn es gut geht, wirklich gut geht, ändern sich in diesem Prozess der Gegenstand der Begutachtung und der Gutachtende selbst. Und dann erfüllt das Gutachten seine doppelte Funktion als Gatekeeper- und Transformationsinstanz im Wissenschaftsbetrieb.

Jedes Gutachten ist immer auch eine Gelegenheit, etwas Neues kennenzulernen. Schon deshalb und also aus einem gewissen Eigennutz heraus sollte die Geheimkommunikation der Gutachten als integraler Bestandteil des Lehrens und Forschens und d. h. auch der permanenten Auseinandersetzung mit einem sich stetig wandelnden Fach gelten. Aber wo und wie kann man das in systematisch begründeter Ermangelung von Regeln erlernen? Eigentlich schon in und an jeder Hausarbeit! Oder in der Ausübung einer anderen unterschätzten und marginalisierten wissenschaftlichen Routine: der Rezension. Rezensions- und Gutachtenwesen sind mit denselben Problemen und Chancen behaftet.

Mein Vertrauen in die Dauerpräsenz des Gutachtens ist etwas erschüttert worden, seit die FAZIT-STIFTUNG jüngst bekannt gab, dass sie vorläufig über gar keine Anträge mehr entscheiden wird, weil die Konsequenzen der Corona-Krise für ihre Ressourcen derzeit nicht absehbar seien. Ob verschärfte Verteilungskämpfe dem Gutachten zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, darf bezweifelt werden. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass die Prosa noch blumiger (oder gehässiger), der Umfang und die Mengen noch größer werden und das Vertrauen in diese Gattung weiter abnimmt. Das entscheidet sich jedoch an jedem einzelnen Gutachten aufs Neue.

[1] Zu den rechtlichen Implikationen vgl. Florian Meinel/Christoph Möllers: »Eine Pandemie ist kein Krieg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2020.

[2] Martin Heidegger: Seminare (GA 15), Frankfurt a. M. 1986, S. 287.

[3] Vgl. Matthias Buschmeier/Kai Kauffmann: »Ungeübt in der digitalen Lehre«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.4.2020.

[4] Vgl. Pola Groß/Hanna Hamel: »Neue Nachbarschaften? Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur«, in: ZfL BLOG, 18.3.2020.

[5] William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2006.

[6] Vgl. Margit Osterloh/Bruno S. Frey: »Würfeln in der Wissenschaft? Über die Verbindung von Expertenurteilen und Zufall«, in: Forschung & Lehre 23/2 (2016), S. 134–135.

[7] So die Bezeichnung der Leibniz-Gemeinschaft in der Datenabfrage ihrer Mitgliederinstitute.

[8] Ute Holl/Claus Pias (Hg.): »Aufschreibesysteme 1980/2010. In memoriam Friedrich Kittler (1943–2011)«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6/1 (2012), S. 114–192. Zur Diskussion vgl. Claudia Liebrand: »Strong readings, Paranoia und Kittlers Habilitationsverfahren. Prolegomena einer Fallstudie«, in: dies./Rainer J. Kaus (Hg.): Interpretieren nach den »turns«. Literaturtheoretische Revisionen, Bielefeld 2014, S. 217–238.

[9] Vgl. Suzanne Marchand: »Letters of Rec: An Ancient Genre in Need of a Modern Upgrade«, in: Perspectives on History, 4.9.2018.

[10] Theodor W. Adorno: »Valérys Abweichungen«, in: Noten zur Literatur (GS 11), Frankfurt a. M. 1974, S. 158–202, hier S. 159.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Geheimnis Gutachten (mit Hinweisen), in: ZfL BLOG, 7.4.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/04/07/eva-geulen-geheimnis-gutachten-mit-hinweisen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200407-01

Der Beitrag Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN) erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>