Wissensgeschichte Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/wissensgeschichte/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 04 Jul 2022 09:02:08 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Wissensgeschichte Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/wissensgeschichte/ 32 32 Henning Trüper: Taube oder Flughuhn? ÜBER PHILOLOGIE https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/02/23/henning-trueper-taube-oder-flughuhn-ueber-philologie/ Tue, 23 Feb 2021 09:29:04 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1684 Mein Buch über Orientalismus, Philologie und die Unlesbarkeit der modernen Welt nahm seinen Ausgang von einem allgemeinen, mir selbst nur vage fassbaren Unbehagen über Lesen als Methode.[1] Zuvor hatte ich mich mit der Praxis des Schreibens in der Geschichtswissenschaft beschäftigt und dieses Projekt mit einem leichten Bedauern darüber abgeschlossen, dass ich es versäumt hatte, darin eine Weiterlesen

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Mein Buch über Orientalismus, Philologie und die Unlesbarkeit der modernen Welt nahm seinen Ausgang von einem allgemeinen, mir selbst nur vage fassbaren Unbehagen über Lesen als Methode.[1] Zuvor hatte ich mich mit der Praxis des Schreibens in der Geschichtswissenschaft beschäftigt und dieses Projekt mit einem leichten Bedauern darüber abgeschlossen, dass ich es versäumt hatte, darin eine irgendwie tiefergehende Untersuchung des Lesens zu unternehmen. Die verfügbaren theoretischen und kulturhistorischen Untersuchungen über das Lesen zeigen kaum Neigung, sich mit dem Problem der Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens von anderen Wissensbeständen zu beschäftigen; vielleicht, weil es so selbstverständlich scheint, dass die Fähigkeit zu lesen keine Domäne bildet, die exklusives Eigentum einer Wissenschaft sein könnte. Da jedoch viele geisteswissenschaftliche Disziplinen der Vorstellung verhaftet bleiben, dass sie über besondere Methoden des Lesens verfügen, die ansonsten unerreichbares Wissen hervorbringen, klafft hier eine epistemologische Lücke.

Wissen wird als gelehrt oder wissenschaftlich betrachtet, wenn es dem gewöhnlichen Wissen in Bezug auf Zuverlässigkeit, Umfang, Kohärenz und dergleichen überlegen ist. Nach Gaston Bachelard entsteht wissenschaftliches Wissen in einer Absetzbewegung von anderem Wissen, durch die bewusste Zurückweisung und mehr oder weniger radikale Neuschreibung konventioneller Überzeugungen, ein Vorgang, den er als »epistemologischen Bruchs« bezeichnet.[2] Dass diese Bedingung auch für die Geisteswissenschaften gilt, scheint schwer zu bestreiten. Die Neigung zur Bildung von disziplinären Wissensbeständen, die Verwendung einer spezialisierten, nicht alltäglichen Sprache, die Tendenz zur Kritik und Revision vorangegangener wissenschaftlicher Forschungen, das Vertrauen auf Argumentations- und Dokumentationsstandards – all dies markiert Distinktion.

Es stellte sich also die Frage, was die Besonderheit von wissenschaftlichem Wissen gegenüber anderem Wissen für das »Lesen« bedeuten konnte. Wie wurde wissenschaftliches Wissen auf etwas so Alltägliches wie die Explikation – die erklärende Auslegung – sprachlicher Bedeutungen gegründet? Und welche Auswirkungen hatte die entsprechende Wissenschaft ihrerseits auf die Herstellung von Bedeutung, einschließlich eines allgemeineren Verständnisses davon, was »Bedeutung« bedeutet?

Methode ist selbstredend nicht nur eine Frage abstrakter und normativer Aussagen – also der Methodologie –, sondern auch eine der Praxis. Das Interesse an der Praxis verlangt nach einer historischen Behandlung, sofern man auch die Veränderlichkeit von Handlungsmustern zugesteht. So erschien es mir folgerichtig, mein Interesse am Problem des Lesens als Wissenschaft im Kontext der Geschichte der Philologie zu verfolgen, bzw. der Philologien im Plural, jenen Disziplinen also, die nahezu ausschließlich auf Lesepraktiken und der Fähigkeit, diese zu theoretisieren, gegründet sind.

Dabei stellte sich das unstete Nebeneinander von Singular und Plural – von Philologie und Philologien – zunächst als bloß terminologisches Ärgernis, später jedoch als intellektuelles Problem heraus. Das gesamte Feld der philologischen Wissenschaften ist nie ein Musterfall von Einheitlichkeit gewesen, weder in Bezug auf die Methode noch auf die Methodologie. Tatsächlich erschien mir die Uneinheitlichkeit der Philologie mehr und mehr als Schlüssel zu meinen Fragen bezüglich des Lesens, und deshalb zog es mich schnell in jenen Bereich dieses Felds, wo sich die Pluralität der Teildisziplinen am auffälligsten verdichtete. Dieser Bereich war, so schien mir, der Orientalismus in seiner Gestalt als philologisches Wissen.

Vielleicht war meine anfängliche Verwirrung auch Folge eines langanhaltenden Misstrauens gegenüber dem offiziellen, mitunter sterilen Ton gängiger hermeneutischer Theorien und der abstrakten und allgemeinen Kritik, der solche Theorien oft ausgesetzt worden sind. Konnte denn eine allgemeine Theorie des Lesens – sei sie nun hermeneutisch, rezeptionstheoretisch, dekonstruktivistisch, medientheoretisch oder anderswie ausgerichtet – überhaupt plausibel sein? Falls ja, was hatte die Wissenschaftler*innen zu der Annahme veranlasst, dass tatsächlich eine Methodologie des Lesens formuliert werden könne, sofern eine solche Annahme doch zugleich bedeuten musste, dass Lesen auch unmethodisch und daher weder einfach ein einheitlicher Monolith geistiger Aktivität noch bloß eine zerstreute Mannigfaltigkeit sein konnte? Und hatten die rein theoretischen Anstrengungen sich hinreichend bemüht, die Widersprüche und Sinnverschiebungen zwischen der deskriptiven Darstellung und der normativen Regulierung von Methode zu klären?

Im Laufe meiner Lektüren von Forschungsliteratur und Archiven fand mein Unbehagen einen gewissen Orientierungspunkt, als ich auf die Schriften eines heute halb vergessenen Gelehrten stieß, des Semitisten und Turkologen Georg Jacob (1862–1937). So zum Beispiel, wenn man die folgende Passage aus einem Brief Jacobs vom Frühjahr 1914 an seinen langjährigen Mentor, den Semitisten Theodor Nöldeke (1836–1930), betrachtet:

»Auch unter den alten Dichtern gibt es […] gute und schlechte Beobachter. Al-Shanfara gehört zu den ersteren; zu den letzteren gehören diejenigen, die Flughühner mit Tauben verwechseln, was tatsächlich vorkommt. Brehm ordnet jetzt [in der stark überarbeiteten vierten Auflage, 1911ff.] leider alles nach der embryonalen Entwicklung, was für Tierleben völlig irrelevant ist. Die alte Gliederung – die die nachtaktiven Raubvögel noch nicht einem anderen Band als die tagaktiven zuordnete und die Wasservögel nicht auf die verschiedensten Bände verteilte – war die einzig angemessene für die gestellte Aufgabe. In ihrem äußeren Habitus und in ihren Bewegungen sind Tauben und Flughühner sehr unterschiedlich.«[3]

An diesen dicht gedrängten Ausführungen schien mir besonders auffällig, dass Jacob das fragliche Problem überhaupt für bedenkenswert genug gehalten hatte, um es nicht allein in einem ausführlichen Briefwechsel, sondern zugleich auch in mehreren Publikationen abzuhandeln, die sich mit der lexischen Abgrenzung zweier Vogelarten beschäftigten, die auch für einen Laien nicht besonders schwer zu unterscheiden waren.[4] Auch war der dieser Frage gewidmete Aufwand keineswegs ein Ausnahmefall, denn Jacob und viele andere Orientalisten widmeten Untersuchungen dieser Art erstaunliche Mengen an Druckseiten.

Es ist zugegebenermaßen ein Leichtes – und ist auch durchaus üblich –, solche Fragestellungen als Ergebnis ebenjener Mischung aus quälender Pedanterie und lästiger Exzentrik abzutun, die so viel zum schlechten Ruf der Philologie beigetragen hat. Denis Sinor (1916–2011), eine der großen Autoritäten der Zentralasien-Forschung des 20. Jahrhunderts, beschreibt in lebhafter Manier, wie er einmal all seinen Mut zusammennahm, um seinen Lehrer, den berühmten Sinologen Paul Pelliot (1878–1945), zu fragen, warum dieser so viel Zeit damit verbringe, »matters of non consequence«, schiere Belanglosigkeiten, zu untersuchen. Anstatt wie befürchtet tödlich beleidigt zu sein, antwortete Pelliot »fröhlich: ›ça m’amuse, Sinor, ça m’amuse!‹« Sinor schließt daraus, dass seinem Meister »die wesentliche Tugend fehlte«, die für den Beruf des Historikers notwendig sei: »Er war nicht in der Lage beziehungsweise nicht willens, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden.«[5] Die Präokkupationen früherer Generationen von Philologen gaben ihren Nachfolgern schon in der Zwischenkriegszeit ein Rätsel auf. Sinor beschließt, sein Unverständnis, sogar seine Frustration als Reaktion bloß auf den Einzelfall Pelliot, auf dessen persönlichen Egoismus anzusehen. »Er tat, was ihm gefiel« heißt es am Ende der Anekdote (ebd.).

Doch waren Pelliots Interessen gar nicht so sehr Ausdruck seiner persönlichen Idiosynkrasie. In Sinors wegwerfender Disjunktion – »unfähig oder unwillig« – verbirgt sich nicht zuletzt ein enormer Unterschied im territorialen Selbstverständnis der Disziplinen, dessen Züge der jeweiligen Nachwelt leicht entgehen. Wahrscheinlich hätte sich Pelliot sogar noch mehr über die Vorstellung amüsiert, dass seine Arbeit den tugendhaften Standards der historischen Synthese genügen sollte, die sein Schüler so schätzte. Eben jener Sinn für Ernsthaftigkeit, der Sinors Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, zugrunde lag, war ein disziplinärer Standard, der sich erst unter dem Eindruck des Zeitgeschehens – Weltkriege, Exil und Widerstand – bei den Philologen (und den seinerzeit noch sehr wenigen Philologinnen) des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Tatsächlich sind es genau diese Themen, die den Großteil von Sinors Erinnerungen an Pelliot aus der Zeit kurz vor und während dem Zweiten Weltkrieg ausmachen. Die Vorstellung einer tragischen Verfinsterung der europäischen Geschichte bildet den Hintergrund, vor dem Pelliots egoistische Herangehensweise an die philologischen Studien befremdlich, wenn nicht gar frivol erschien.

Diese Sichtweise verdeckt jedoch einen älteren, alternativen Standard der Ernsthaftigkeit, der in etwa dem seit der Renaissance geläufigen Topos des serio ludere, des ernsthaften Spiels, entspricht.[6] Die Philologie hatte sich, könnte man argumentieren, zuvor von der Gravitas der Geschichte abgegrenzt, indem sie sich implizit mit der verblassenden Erinnerung an diesen Gemeinplatz identifizierte. Lange nach dem Ende der Renaissance waren auch die mit dem Topos ursprünglich angesprochenen Paradoxien von Gott und Schöpfung nur mehr tote Überlieferung, nicht mehr lebendiges Anliegen. Die spielerische Ernsthaftigkeit der Philologen des 19. Jahrhunderts stützte sich auf andere Bezugspunkte als die theologischen der vormodernen Gelehrsamkeit.

Georg Jacobs Brief an Nöldeke eröffnet Zugang zu einigen dieser Bezugspunkte. Zunächst sollte die Genauigkeit Al-Shanfaras, eines der prominentesten Autoren im Korpus der früharabischen Dichtung, ästhetisch gerechtfertigt werden.[7] Diese Rechtfertigung konnte der moderne philologische Leser erreichen, indem er die lexikalischen Belege sorgfältig sortierte, um die Beobachtungsschärfe dieses Dichters aus dem 6. Jahrhundert zu rekonstruieren. Dichtung war in erheblichem Maße auf die Übereinstimmung von Sprache und Natur gegründet; darin lag ihr Wert und ihre Bestimmung. In gewissem Sinn hatte die Philologie Anteil an dieser Grundlegung. Im Vorwort zu seiner Übersetzung von Al-Shanfaras berühmtestem Gedicht, dem Lāmiyyāt al-‘Arab, wiederholte Jacob das Urteil des älteren österreichischen Orientalisten und Diplomaten, Alfred von Kremer (1828–1889), wonach die »Bedeutung des Arabertums« in seinem »Empirismus« liege.[8] Al-Shanfaras Präzision in der Beschreibung der Natur veranschaulichte diesen Charakterzug.

In der Frage nach Tauben und Flughühnern klang die ältere Metapher vom »Buch der Natur« an, die Vorstellung einer »lesbaren« Welt, wie Hans Blumenberg formulierte.[9] Das Buch der Natur war die Gesamtheit der Welt der göttlichen Schöpfung, das Gegenstück zum Buch des offenbarten Wissens, der Heiligen Schrift. Die Metapher prägte eine gewaltige intellektuelle Tradition der Strukturierung und Ausbalancierung verschiedener Wissensbestände. Diese Tradition beruhte auf einem Verständnis von Lesen, das teils eine geschichtliche Praxis aufgriff, teils aber auch eine bloße Trope abrief. Jacobs Brief deutet auf die anhaltende Relevanz der metaphorischen Bedeutung von »Lesen« hin, auch wenn sich die Zuschreibung der Fähigkeit, die Natur zu lesen, bereits vom Naturwissenschaftler auf den Dichter verlagert hatte. Was mit dem Buch der Natur in dieser Verlagerung geschah, war dem Buch der Offenbarung schon früher widerfahren, in einem Prozess, in dem die Bibel zunehmend als ein Text gesehen wurde, dessen »Wahrheit« poetisch, nicht wörtlich war.[10]

Alfred Brehms (1829–1884) vielbändiges Kompendium, das die »Gefühle« und »Seelen« der Tiere beleuchtete, erschien ab 1863, also unmittelbar nach Darwins On the Origin of Species (1859), und erlebte zahlreiche Auflagen. Der neuartige Evolutionsbegriff hatte den charakterologischen Anthropomorphismus, für den Brehm eintrat, insofern unterlaufen, als er ein stärker temporalisiertes und kontextualisiertes Verständnis der Unterschiede der Arten hervorbrachte.[11] Brehms Kompendium markiert vermutlich den Moment der Poetisierung des Buchs der Natur, in dem der traditionelle Verwendungszweck der Metapher – als Bezeichnung für die Ordnung der Schöpfung – an Zugkraft zu verlieren begann. Jacobs Ablehnung der wissenschaftlich überarbeiteten vierten Auflage von 1914, die dreißig Jahre nach Brehms Tod unter der Obhut eines akademischen Zoologen erschien, zeugt auch von seiner Nostalgie für einen vergangenen Moment, in dem der poetisierte zoologische »Empirismus« ein ›Hausbuch‹ hervorgebracht hatte, das eine solche Bekanntheit und Verbreitung erlangte, dass man es allein mit dem Nachnamen seines Autors bezeichnete.[12]

Dennoch ist es nicht diese Nostalgie, um die es in dem zitierten Brief eigentlich geht. Vielmehr trifft die Passage eine Aussage über Poetik als solche, für die Brehms Tierleben allenfalls als Symbol einsteht: Die Dichtung selbst hat sich auf »Beobachtung« zu gründen. Vielleicht lässt sich in Jacobs Vorstellungen sogar ein fernes Echo von Giambattista Vicos epochemachenden Ausführungen über das Primat der poetischen Zeichen und Metaphern in der menschlichen Aneignung der Welt durch die Sprache vernehmen.[13] Jedenfalls waren für Jacob natürliche Unterschiede wie die der Vogelarten durch sorgfältige Beobachtung in poetische Sprache übersetzbar. Die Aufgabe der Philologie bestand darin zu erkennen, dass und wo diese Übersetzung stattfand und wo nicht. Die Philologie las also die Lektüren und Fehllektüren, die andere Leute dem Buch der Natur hatten angedeihen lassen – deren Bücher über das Buch der Natur, wenn man so will. Dichtung fungierte als Vermittlerin zwischen der Lektüre des Textes und der Lektüre der Natur, und diese Vermittlung schuf eine Öffnung für philologisches Argumentieren.

Jacob war der Meinung, der Nachweis darüber, dass die poetischen Bilder der Flughühner ein exaktes Abbild der Natur böten, beweise Al-Shanfaras Autorschaft des Gedichtes. Nur ein Dichter, der mit dem Leben der Beduinen zutiefst vertraut gewesen sei, hätte seine Metaphern so genau an das Verhalten der Vögel anpassen können. Auf diese Weise vermochte es die moderne Philologie sogar, die bereits seit Jahrhunderten in der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit verhandelte Streitfrage zu klären, ob die Lamiyyāt tatsächlich nicht das Werk des beduinischen Dichters Al-Shanfara, sondern stattdessen eines arabischen Schriftgelehrten aus dem 9. Jahrhundert sei. Jacob war überzeugt, dass ein solcher gelehrter Fälscher, der nur über Buchwissen verfügte, unweigerlich Flughühner mit Tauben hätte verwechseln müssen und die Poetik der Genauigkeit, die Al-Shanfaras gesamte Bildsprache prägte, nicht hätte reproduzieren können.[14]

Das bedeutete aber auch, dass der moderne Philologe, der nicht über Erfahrungswissen vom Verhalten des Flughuhns verfügte, sich immer noch in der Position des Fälschers befand, der übrigens sein Handwerk stetig verbessern musste. Die Lektüre der Lektüre der Wirklichkeit war nur eine Kopie der poetischen Erfahrung und konnte nie deren Grad an Authentizität erreichen. Was Jacobs Bemerkungen über Al-Shanfara und das Flughuhn also tatsächlich andeuten, ist weniger die Zuversicht, die tatsächliche Natur des eigentlichen Lesens erfassen zu können, sondern vielmehr ein Gefühl der Desorientierung inmitten sich verschiebender, gespaltener Bedeutungen von »Lesen«. Das Buch der Natur ist der Philologie nicht zugänglich; die Welt ist für den Philologen unlesbar. Die Poetisierung des Buchs der Natur ist nur eine Seitwärtsbewegung innerhalb der Explikation der Bedeutung von Lesen. Diese eigentlich defensive Bewegung besteht darin, die Dichtung als Stellvertreterin in Stellung zu bringen, die für die Möglichkeit einer angemessenen Erklärung dafür einstehen soll, wie die Natur als autoritative Quelle sprachlicher Bedeutung betrachtet werden könnte. Aus diesem Ausweichmanöver resultiert ein Gefühl der Unlesbarkeit der Welt; und dieses Gefühl ist das Problem, dem mein Buch nachgeht.

Die Möglichkeit, die Welt als Ganzes, das Leben als Ganzes zu verstehen, war in der Metapher des lesbaren Buchs verdichtet worden, des entschlüsselbaren Texts, geschrieben von einem heimlichtuerischen Autor, dessen Listen dereinst vom menschlichen Scharfsinn aufgedeckt werden könnten – oder auch nicht. In der Tat betrachteten viele Gelehrte, nicht zuletzt Vico selbst, die Vorstellung, dass sich die natürliche Realität zuletzt immer als für den menschlichen Verstand undurchschaubar erweisen werde, als tröstliche Bestätigung der göttlichen Überlegenheit und Allmacht. Aus Blumenbergs Sicht gaben diejenigen, die auf der Unlesbarkeit des Buchs der Natur beharrten, daher vor allem einer Sehnsucht nach theologischer Beruhigung Ausdruck. Seine Analyse befasst sich kaum mit Vorstellungen von der Unlesbarkeit der Welt außerhalb ihrer möglichen Funktion als Komfortzone für das christliche Sentiment. Offenkundig war Blumenberg mehr davon fasziniert, dass wissenschaftliche und technologische Errungenschaften der Metapher der Lesbarkeit der Welt verpflichtet bleiben, während sie gleichzeitig dazu neigen, sie zu untergraben.[15] Ich würde demgegenüber behaupten, dass sich im weitverbreiteten Unbehagen der Philologen an der Lesbarkeit der Welt (zuweilen sogar deren völliger Leugnung) ein interessantes Problem verbirgt. Deshalb möchte ich vorschlagen, die Geschichte der Philologie als ein Repertorium von Varianten dieses Unbehagens zu verstehen, von unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie Sprache auf die Wirklichkeit zugreift, und von einem andauernden Gefühl des unhaltbaren und vergeblichen Charakters solcher Auffassungen. Darüber hinaus scheint mir, dass es insbesondere die Geschichte des Orientalismus ist, die entscheidend dazu beigetragen hat, die Geschichte der Philologie in diese Richtung zu lenken. Flughuhn oder Taube, das lässt sich leicht klären – die Natur der Bedeutung nicht.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

 

Der Historiker Henning Trüper leitet am ZfL das ERC-Projekt »Archipelagic Imperatives: Lifesaving and Shipwreck in European Societies since 1800«.

 

[1] Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines Abschnitts aus dem ersten Kapitel meines 2020 erschienenen Buches Orientalism, Philology, and the Illegibility of the Modern World. Europe’s Legacy in the Modern World. Der Text erscheint auf dem ZfL Blog mit freundlicher Genehmigung durch Bloomsbury Academic Publishing, Imprint von Bloomsbury Publishing.

[2] Vgl. Gaston Bachelard: La formation de l’esprit scientifique: Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective, Paris 1938.

[3] Jacob an Nöldeke, 21. März 1914, Nachlass Theodor Nöldeke, Universitätsbibliothek Tübingen, Md. 782, A4, Nr. 224.

[4] Georg Jacob: »Ḥamam«, in: Der Islam 5 (1915): S. 247f.; ders., »Tauben und Flughühner«, in: Der Islam 6 (1916): S. 99f.; vgl. außerdem Manfred Ullmann: Flughühner und Tauben, München 1982.

[5] Denis Sinor: »Remembering Paul Pelliot«, in: Journal of the American Oriental Society 119 (1999) 3: S. 471; meine Übersetzung.

[6] So untermauert von Rosalie L. Colie: Paradoxia Epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton, NJ 1966, S. xiii mit Hinweisen auf weiterführende Literatur, und allgemein mit Rückgriff auf Johan Huizinga: Homo Ludens. Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur [1938], Verzamelde Werken 5, Haarlem 1950, insb. Kap. 1 über die Wechselbeziehungen zwischen Ernst und Spiel.

[7] Jacob diskutierte auch ausgiebig die Geschichte des Arabischen sowie europäischsprachige Diskussionen und Übersetzungen von Al-Shanfaras Gedicht, das spätestens mit Antoine-Isaac Silvestre de Sacys Aufnahme des Stücks – zusammen mit einer Übersetzung, die Jacob für äußerst fehlerhaft hielt – in seine Chrestomathie arabe, 3 Bde., Paris 1806, 21826/27, einem Lesebuch für arabische Texte, das für die moderne Arabistik grundlegend wurde, zu einem Paradebeispiel früharabischer Dichtung aufgestiegen war. Vgl. Georg Jacob: Schanfarà-Studien 2: Parallelen und Kommentar zur Lâmîja, Schanfarà-Bibliographie, München 1915.

[8] Georg Jacob: Schanfaras Lamijat-al-‘Arab, auf Grund neuer Studien neu übertragen, Kiel 1915, S. 8.

[9] Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981.

[10] Blumenberg diskutiert diesen Prozess unter der Überschrift der »Romantisierung« der Welt, wie sie von einigen der deutschen Romantiker um 1800 betrieben wurde (ebd., Kap. 16).

[11] Vgl. hierzu Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 22002.

[12] Alfred Brehm: Brehms Tierleben: Allgemeine Kunde des Tierreichs, 13 Bde., herausgegeben von Otto zur Strassen, Leipzig, Wien 41911–1918.

[13] In Übereinstimmung mit Blumenberg: Lesbarkeit, S. 171–179. Vgl. Giambattista Vico: The New Science [31744], transl. Thomas Goddard Bergin, Max H. Fisch, Ithaca, NY 1948, Book II; vgl. auch Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie, Frankfurt a.M. 2004.

[14] Georg Jacob: Schanfarà-Studien, 1: Der Wortschatz der Lâmîja nebst Übersetzung und beigefügtem Text, München 1914, S. 16f., Fn. 6.

[15] Das abschließende Kapitel von Blumenberg, Lesbarkeit, über den genetischen »Code« und seine Replikation durch die »lesende« Praxis der Evolution, markiert diese Punkte mit besonderer Klarheit. 

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Henning Trüper: Taube oder Flughuhn? Über Philologie, in: ZfL BLOG, 23.2.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/02/23/henning-trueper-taube-oder-flughuhn-ueber-philologie/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20210223-01

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Patrick Eiden-Offe/Moritz Neuffer: WAS IST UND WAS WILL KULTURWISSENSCHAFTLICHE ZEITSCHRIFTENFORSCHUNG? https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/19/patrick-eiden-offe-moritz-neuffer-was-ist-und-was-will-kulturwissenschaftliche-zeitschriftenforschung/ Mon, 19 Nov 2018 10:01:45 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=893 Inmitten der verheerenden Weltwirtschaftskrise fassten Walter Benjamin und Bertolt Brecht 1929/30 den Plan, eine Zeitschrift zu gründen. Sie sollte Krisis und Kritik heißen und sich nicht nur der »Krise auf allen Gebieten der Ideologie« annehmen, sondern selbst, mit den Mitteln der Kritik, Krise produzieren: »Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen«, schrieb Weiterlesen

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Inmitten der verheerenden Weltwirtschaftskrise fassten Walter Benjamin und Bertolt Brecht 1929/30 den Plan, eine Zeitschrift zu gründen. Sie sollte Krisis und Kritik heißen und sich nicht nur der »Krise auf allen Gebieten der Ideologie« annehmen, sondern selbst, mit den Mitteln der Kritik, Krise produzieren: »Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen«, schrieb Benjamin an seinen Freund Brecht.[1] Ihr reger Austausch über potentielle Themen, Schreibweisen und Beitragende offenbart, dass Benjamin und Brecht nicht nur die Inhalte, sondern auch die sozialen und operativen Dimensionen ihres – letztlich niemals realisierten – Projektes im Blick hatten. Krisis und Kritik, so ihre Überzeugung, würde »die bisher leere Stelle eines Organs einnehmen, in dem die bürgerliche Intelligenz sich Rechenschaft von den Forderungen und den Einsichten gibt, die einzig und allein ihr unter den heutigen Umständen eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion im Gegensatz zu der üblichen willkürlichen und folgenlosen gestatten«.[2]

Benjamins und Brechts Theoretisierung des Zeitschriftenmachens zeigt, dass ihre Wahl genau dieser Waffe der Kritik keine willkürliche war. Das Medium Zeitschrift sahen sie nicht als neutralen Container, sondern als ein durchaus vitales »Organ« eigener Bauart und Wirkweise. Der Einsicht, dass die Zeitschrift kein simpler »cargo truck« für intellektuelles Frachtgut ist, wird inzwischen auch in der Forschung Rechnung getragen.[3] Damit wird nachgeholt, was für die history of books schon längst selbstverständlich ist: Zeitschriften weisen Eigenlogiken auf, die kultur- und wissensgeschichtlich untersucht werden können und sollten. Nicht zuletzt sind sie immer auch Interventionen in eine spezifische historische Situation. Davon zeugt das Beispiel Krisis und Kritik eindrücklich: Die »Krise festzustellen oder herbeizuführen« war eine radikale Antwort auf die Frage Was können, was sollen und was wollen Zeitschriften?

Periodika sind in der Geschichte der Ideen und Theorien, der Künste und der Wissenschaften der Neuzeit allgegenwärtig, und gerade deshalb sind sie theoriebedürftig. Der Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung hat sich 2017 als Initiative von und für Nachwuchsforscher*innen gegründet, die über Perspektiven auf diesen selbstverständlich-unselbstverständlichen Gegenstand nachdenken. In den letzten Jahren hat es methodisch und theoretisch einige Neuansätze zu einer Zeitschriftenforschung gegeben. Der interdisziplinäre Arbeitskreis – die Mitglieder stammen aus den Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften, aus der Soziologie und Politologie, aus der Geschichts- und der Medienwissenschaft – verzichtet bewusst darauf, die verschiedenen Zugänge zu homogenisieren. Stattdessen wollen wir intellektuellen- und ideengeschichtliche, medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven in eine produktive Beziehung setzen. Die bisherigen Jahrestreffen (2017 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, 2018 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen) boten Raum für erste Diskussionen über theoretische und methodische Grundierungen des Feldes und Einblicke in die Quellenkorpora aktueller Forschungen. Das Spektrum reichte dabei thematisch vom Untergrund der Selbstpublizistik bis zum Höhenkamm akademischer Elitenkulturen, chronologisch von der Aufklärung bis zur Gegenwart.

Als ein erstes Produkt der gemeinsamen Arbeit ist nun auf der Website des internationalen Kulturzeitschriftenverbands Eurozine ein mehrsprachiges Dossier zum Thema The worlds of cultural journals erschienen. Den dort frei abrufbaren Essays ist bei aller Diversität gemeinsam, dass sie die genuin politische Dimension des Zeitschriftenmachens – und vielleicht auch des Zeitschriftenforschens? – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Gerade Kulturzeitschriften – »a somewhat awkward placeholder term for periodicals between the arts, the sciences and politics«, so das Editorial des Dossiers – können als Medien betrachtet werden, in denen sich ein politisches Krisen-, ja vielleicht sogar ein epochales Schwellenbewusstsein formiert und Ausdruck verschafft. Wie dies in konkreten historischen und regionalen Kontexten aussehen kann, zeigt beispielsweise der Beitrag von Yvonne Albers über Mawaqif, die bedeutendste arabische Kulturzeitschrift der 1960er und 1970er Jahre, Diskussionsort französischer Theorie und Forum engagierter Intellektueller in konfliktreichen Zeiten. Auch Sven-Eric Liedmans Essay über Ord & Bild, die älteste schwedische Kulturzeitschrift, die 2017 ihr 125jähriges Jubiläum feierte, und Waldemar Kuligowskis Auseinandersetzung mit der polnischen Zeitschriftenlandschaft nach 1989 zeigen, wie Zeitschriften auf Zeitenwenden reagieren und zugleich ihre eigenen Zeiten – Eigenzeiten – ausbilden.

Zeitschriften, und speziell Kulturzeitschriften, formieren und informieren die Öffentlichkeit, wirken dabei aber nicht nur nach außen. Eine Zeitschrift ist, als intellektueller Produktionszusammenhang, selbst ein prekäres soziales Gebilde, das sehr verschiedene Formen annehmen und seinerseits in Krisen und Zusammenbrüche treiben kann. Die Geschichte der meisten Periodika könnte als eine von Zerwürfnissen und Neuaufbrüchen – »Start, stop, begin again« (Yvonne Albers) – erzählt werden: Das Machen von Zeitschriften ist ein kollektiver Prozess, Kreise von Zeitschriftenmacher*innen sind oft auch Freundschaftsbünde. Dass dies gerade im Kontext der politischen und ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts nicht immer trennscharf zu unterscheiden ist, beschreibt Beatriz Colomina in ihrem Beitrag, in dem sie ›kleine‹, ephemere Architekturzeitschriften der 1960er und 1970er Jahre in den Blick nimmt.

Die unhintergehbare Kollektivität des Denkens und Schreibens, die beim Zeitschriftenmachen sichtbar wird, kann dazu führen, dass Zeitschriftenmacher*innen – oder Macherinnen – sich dezidiert als Kollektiv verstehen und ›ihre‹ Zeitschrift auch zum Austragungsort von Widersprüchen werden lassen. Dies zeigt Katharina Lux an der linken feministischen Zeitschrift Die Schwarze Botin, die von 1976 bis 1987 in Westberlin produziert wurde. Zumeist aber wird Kollektivität eher als ein Problem betrachtet, das von ›großen‹ Machern gelöst wird – von »great editors«, deren intellektuelle Physiognomie Matthew Philpotts in seinem Beitrag nachzeichnet. Dass all diese Fragen, Widersprüche und Dynamiken nicht nur Fragen linker und liberaler Medien sind, liegt auf der Hand: Morten Paul und Moritz Neuffer weisen in ihrem Beitrag nach, dass Zeitschriften, als zumindest mittelfristig stabile Plattformen, Übergänge zwischen alten Nazis und Neuen Rechten in der BRD und über sie hinaus ermöglichten.

Der Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung wird sich als Forum des Austauschs und der fachübergreifenden Debatte weiterhin einmal jährlich treffen; eine Mailingliste steht allen Interessierten auf Nachfrage offen. Neben dem Austausch über laufende Projekte sehen wir den Arbeitskreis als einen Ort, an dem eine kritische Reflexion geisteswissenschaftlicher Praxis stattfinden kann. Schließlich waren Zeitschriften seit jeher auch Medien der Selbstbefragung und Selbstvergewisserung zwischen intellektuellen Sphären und ihrem Außen – oder, anders ausgedrückt, Medien der Rechenschaft über »Forderungen und Einsichten«, wie es bei der von Benjamin und Brecht geplanten Zeitschrift der Fall sein sollte. Das Dossier The worlds of cultural journals ist ein erster Schritt, um Reflexionsprozesse intellektuellen und politischen Handelns über Zeiten und Räume hinweg aufeinander zu beziehen – und die Zeitschrift als Krisenmedium theoretisch zu erschließen.

[1] Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 130. Vgl. auch Roman Léandre Schmidt: »Utopisch scheitern. Zwei Zeitschriftenprojekte«, in: Eurozine, 26.05.2010.

[2] Walter Benjamin: Memorandum zur Zeitschrift ›Krisis und Kritik‹, zitiert nach Wizisla: Benjamin und Brecht, S. 115.

[3] Jeffrey J. Williams: »The Rise of the Theory Journal«, in: New Literary History 40 (2009) 4, S. 683–702, hier S. 687.

Der Germanist Patrick Eiden-Offe arbeitet am ZfL im Forschungsprojekt Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik, Moritz Neuffer ist Stipendiat des ZfL-Doktorandenprogramms mit dem Projekt Die journalistische Form der Theorie. Zeitschriftenpublizistik und Theoriebildung in den 1950er bis 1970er Jahren. Beide sind Mitglieder des Arbeitskreises Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung, an dem sich u. a. das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) und das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) beteiligen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe/Moritz Neuffer: Was ist und was will kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung?, in: ZfL BLOG, 19.11.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/19/patrick-eiden-offe-moritz-neuffer-was-ist-und-was-will-kulturwissenschaftliche-zeitschriftenforschung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20181119-01

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Tatjana Petzer: SYNERGIEWISSEN ALS FREIES WISSEN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/12/tatjana-petzer-synergiewissen-als-freies-wissen/ Mon, 12 Nov 2018 09:40:45 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=932 Mit ›Synergie‹ werden kooperative Interaktionen bezeichnet, die zu einer neuen Qualität führen bzw. führen sollen. Spätestens im 19. Jahrhundert wurde auf den von synérgeia (›Mitwirkung, Zusammenarbeit‹) abgeleiteten Gräzismus die Bedeutung des aristotelischen Satzes »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« übertragen.[1] Nicht nur in den Natur- und Geisteswissenschaften, sondern auch in Ökonomie, Technik Weiterlesen

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Mit ›Synergie‹ werden kooperative Interaktionen bezeichnet, die zu einer neuen Qualität führen bzw. führen sollen. Spätestens im 19. Jahrhundert wurde auf den von synérgeia (›Mitwirkung, Zusammenarbeit‹) abgeleiteten Gräzismus die Bedeutung des aristotelischen Satzes »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« übertragen.[1] Nicht nur in den Natur- und Geisteswissenschaften, sondern auch in Ökonomie, Technik und Kunst haben Debatten über Synergien und ihre Effekte seit einiger Zeit Konjunktur. Dabei stellt sich die wissenstheoretische Frage, wie derartige Synergie-Modellierungen in die Generierung und Strukturierung von Wissen eingreifen und welches Innovationspotential sie für die Wissensgesellschaft mit Blick auf die Zukunft haben.

Seit 2010 gehen wir dieser Frage in dem Projekt »Wissensgeschichte der Synergie« aus interdisziplinärer Perspektive nach.[2] Für den fächerübergreifenden Austausch sind digitale Infrastrukturen und eine internetbasierte Wissenskommunikation grundlegend. Von Anfang an wurde die Arbeit am von der VolkswagenStiftung mit einem Dilthey-Fellowship geförderten Projekt transparent und kollaborativ gestaltet. 2011 haben wir die DokuWiki-Plattform SynergieWissen eingerichtet, auf der die laufenden Aktivitäten und Diskussionen im Forschungsnetzwerk sowie die Ergebnisse im Open Access dokumentiert werden. Doch mit der Bereitstellung von Informationen und Texten sind noch lange nicht alle Möglichkeiten erschöpft, die Online-Formate wie Wikis für den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen eröffnen. Wiki-Software basiert auf stark vereinfachten Prinzipien von Wissensmanagementsystemen (KMS) und stellt einer digitalen Community Mittel zur Verfügung, gemeinsam und direkt im Webbrowser Informationen zu sammeln, zu bearbeiten, zu vernetzen und online zu publizieren. Der einfache Einstieg in die Nutzung der ›sozialen Software‹ ist Programm: auf Hawaiisch bedeutet wiki ›schnell‹.

Für acht Monate diente uns das gemeinsam von Wikimedia Deutschland, dem Stifterverband und der VolkswagenStiftung betreute Fellow-Programm »Freies Wissen« als ergebnisorientierter Rahmen, anhand unseres SynergieWikis den eigenen Umgang mit digitaler Kommunikation und offenen Methoden zu überdenken. Open Science basiert auf dem Verständnis von Wissenschaft, die der US-amerikanische Soziologe Robert Merton mit den folgenden vier Prinzipien beschreibt: Universalismus, Kommunismus (im Sinne von Gemeineigentum), Uneigennützigkeit und organisierter Skeptizismus.[3] Die Digitalisierung bietet die Chance, diese Prinzipien konsequent umzusetzen. Wiki-Projekte (wie Wikipedia, WikiData, Wikiversity usw.) erlauben es, Wissen und Wissenschaft offen zu gestalten: d.h. transparent, kollaborativ, nachprüfbar, frei zugänglich und nachnutzbar.[4] Das gilt auch für unser SynergieWiki, dessen Inhalte durch eine überschaubare Wissenschaftscommunity organisiert werden. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die 2019 bevorstehende Beendigung des Forschungsprojekts stellten wir uns die Aufgabe, das SynergieWiki in ein nachnutzbares Projektarchiv umzuwandeln, wozu eben nicht nur der Zugriff auf Forschungsergebnisse, sondern auch der Zugriff auf die Produktionsprozesse dieser Forschungsergebnisse, d.h. auf die Arbeitsprozesse selbst zählt.

Schon 1958 vertrat der französische Philosoph Gilbert Simondon – digitalen Technologien vorauseilend – die Position, dass die Existenzweise technischer Objekte strukturell nicht länger von einer Funktion her, sondern vielmehr als »Synergie für Synergie«[5], als synergetisches Ensemble von Technik und Umgebung zu verstehen sei. Der systemische Blick auf die Gesamtheit von Wechselwirkungen geht der Neuorientierung der Wissenschaften voraus. Im Zeitalter der Netzwerke ist der Universalbegriff der Synergie relevanter denn je. ›Synergie‹ ist, könnte mit Simondon formuliert werden, charakteristisch für ein Milieu vernetzten Wissens. In einer digitalen Umgebung bezeichnet ›Synergie‹ dann Effekte einer kollaborativen (und konkreativen), Wissen potenzierenden Praxis, die sich zunehmend an Offenheit und Teilhabe orientiert, und ist damit im Raum des Freien Wissens zu verorten.

Wie lassen sich also Syn-Energien mittels einer Open-Science-Ressource freisetzen? Für unser SynergieWiki stellten sich konkret drei Aufgaben:

  1. eine bessere Strukturierung und Verschlagwortung (Tagging) für eine allgemeine (wissenschaftliche) Nutzung sowie für gezielteren Zugriff auf Schlüsselbegriffe und Themenfelder des Projekts durch eine Begriffs- bzw. Themennavigation (TopicList),
  2. die Entwicklung weiterer Rubriken und Tools, die offene Inhalte und damit auch deren Weiterverwendung, vor allem aber kollaborative Methoden der Textbearbeitung unterstützen,
  3. die Einrichtung eines Log-Buchs, um den Arbeitsprozess offen zu legen.

Ein Kernstück der Umgestaltung unseres SynergieWikis bildete die Einrichtung eines digitalen Zettelkastens (SlipBox). Die in der Forschung anfallenden Notizen, Befunde, Ideen, kurzum ›Wissensschnipsel‹ konnten nun in ein offenes Ablagesystem integriert werden, das gut Belegbares mit wenig erforschten bzw. noch zu erforschenden Themen, aber auch Disparates, (noch) gänzlich Ungeordnetes oder Unzuordenbares in einer Art Blackbox zusammenführt und durch Tags miteinander verlinkt. Ein derartiger Zettelkasten ist ein Stolperkasten, der stets Neues und Überraschendes bereithält – dafür steht Niklas Luhmanns imposante Notizensammlung Pate. Entscheidend für die SlipBox ist aber die als kollaborative Methode im digitalen Raum angelegte nachhaltige Struktur, die eine offene und gemeinsame Erarbeitung von Inhalten überhaupt erst ermöglicht; dafür zirkuliert ein entsprechender Call for Data.

Der digitale Zettelkasten wird als Methode erprobt, um mit den – trotz der, vielleicht aber auch gerade wegen der gegenwärtigen Konjunktur – erstaunlich vagen Bedeutungen von Synergie (als Begriff, Modell, Methode) umzugehen. Mit seiner Hilfe lässt sich die Genese unterschiedlicher Synergie-Konzepte nachvollziehen, können diese als treibende Kraft der holistischen Modellbildung in interdisziplinären Forschungs- und Praxisfeldern identifiziert werden, kann aber auch die dem Synergie-Begriff immanente Rhetorik des Übersummativen und des damit verbundenen Mehrwerts hinterfragt werden. Daran schließt auch die Rubrik Lab an – ein Raum des Experiments, der die weitere Nachnutzung des Textkorpus SynergieWissen an der Schnittstelle zu Sprachanalyse und Datenvisualisierung anstoßen soll. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Methode einer semiautomatischen digitalen Begriffsgeschichte, wie sie der Philosoph Alexander Friedrich und der maßgeblich an der Entwicklung der Open-Source-Anwendung JoBimText beteiligte Informatiker Chris Biemann vorgeschlagen haben.[6] Damit können nicht nur relative Wortfrequenzen festgestellt, sondern komplexe semantische Cluster bzw. Wortfelder und Bedeutungsrelationen modelliert werden.

Zu Offener Wissenschaft gehört auch, Einsicht in Arbeitsprozesse zu geben, sie nachvollziehbar und wiederholbar zu machen. Das Team des Synergie-Projekts richtete dafür ein LogBook ein, das es erlaubt, in kleinteiligen Schritten Ziele und Versuchsanordnungen, Erprobungen und Ergebnisse festzuhalten. Es liegt sicher nicht nur am Zeitfaktor, dass derartige Formate zu den weniger gängigen Arbeitsmitteln von Geisteswissenschaftlern zählen. Immer wieder stellt sich die Frage, welche Inhalte ohne Einschränkung in der Community verhandelt und zu welchem Zeitpunkt sie unter eine CC-Lizenz gestellt werden können, ohne sich die eigene Forschungsgrundlage zu entziehen. Wesentlicher noch ist aber die Frage nach dem ja ohnehin kaum kalkulierbaren Output webbasierter kollaborativer Arbeit: Hat die offene Sammlung, Rezeption und Nachnutzung von Inhalten überhaupt nennenswerte Bedeutung für das Hervorbringen von Wissen? Werden offene Methoden kurzfristig Forschungsergebnisse zeitigen und neue Forschung anstoßen? Darüber ließe sich im Moment nur spekulieren. Eins ist (digitale) Synergie jedenfalls nicht: ein Automatismus.

[1] Susanne Krasmann: »Synergie«, in: dies./Ulrich Bröckling/Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, S. 251. Hier, wie andernorts auch, wird Aristoteles (Metaphysik, VII, 17 (1041b)), der an dieser Stelle aber nicht von Synergie spricht, verkürzt angeführt. Vgl. Tatjana Petzer: »Einleitung: Begriff und Denkfigur der Synergie«, in: dies./Stephan Steiner (Hg.): Synergie. Kultur- und Wissensgeschichte einer Denkfigur, Paderborn 2016, S. 9–30.

[2] Das Team des Synergie-Projekts einschließlich seiner studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (seit 2016 Hannes Puchta) arbeitet eng mit den Wiki-Administratorinnen des ZfL Berlin, Susanne Hetzer und Ruth Hübner, zusammen, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

[3] Robert K. Merton: »Science and Technology in a Democratic Order« (1942), dt.: »Die normative Struktur der Wissenschaft«, in: ders.: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, übersetzt und mit einer Einleitung von Nico Stehr, Frankfurt am Main 1985, S. 86–99.

[4] Vgl. Open Science Foundation Deutschland: »Open Science« (letzter Zugriff: 01.09.2018).

[5] Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, aus dem Franz von Michael Cuntz, Zürich 2012, S. 32.

[6] Alexander Friedrich/Chris Biemann: »Digitale Begriffsgeschichte? Methodologische Überlegungen und exemplarische Versuche am Beispiel moderner Netzsemantik«, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5 (2016) 2, S. 78–96.

Die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Tatjana Petzer leitet als Dilthey-Fellow am ZfL das Forschungsprojekt Wissensgeschichte der Synergie.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tatjana Petzer: Synergiewissen als freies Wissen, in: ZfL BLOG, 12.11.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/12/tatjana-petzer-synergiewissen-als-freies-wissen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20181112-01

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Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/01/16/eva-axer-kleineformen-ein-sammelband-eroeffnet-neue-medien-und-wissensgeschichtliche-perspektiven/ Tue, 16 Jan 2018 11:26:23 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=644 Als Blogeintrag darf man diesen Text zu den sogenannten kleinen Formen zählen, die Wert auf Kürze und Prägnanz legen. Allerdings beklagte bereits Alfred Polgar, der den Begriff der kleinen Form in den 1920er Jahren prägte, das folgenreiche Missverständnis, dass ein Text, der sich in fünf Minuten lesen lässt, eine geeignete Lektüre sei, wenn man nur Weiterlesen

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Als Blogeintrag darf man diesen Text zu den sogenannten kleinen Formen zählen, die Wert auf Kürze und Prägnanz legen. Allerdings beklagte bereits Alfred Polgar, der den Begriff der kleinen Form in den 1920er Jahren prägte, das folgenreiche Missverständnis, dass ein Text, der sich in fünf Minuten lesen lässt, eine geeignete Lektüre sei, wenn man nur fünf Minuten Zeit hat (in der Straßenbahn etwa oder in der Mittagspause). Kleine Formen seien, so Polgar, keineswegs literarische ›Leichtgewichte‹, sondern zeitgemäße Literatur für ein hektisches Zeitalter. Dass literarische Verfahren der Verkürzung gerade auch gegenteilige Effekte für die Rezeption haben können, die dann sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als die bloße Lektüre, war ihm natürlich bewusst.

Mittlerweile gehört der Begriff der kleinen Form (wie auch André Jolles’ ›Einfache Formen‹) ganz selbstverständlich zum Begriffsrepertoire der Literaturwissenschaften. Insofern hat eine wissenschaftliche Nobilitierung dieser Formen stattgefunden, die, wenn sie auch nicht alle Außenseiter eines lange behüteten disziplinären Kanons sind, doch eine Tendenz zur Randständigkeit haben. Kleine Formen sind eben keine etablierten Gattungen. Der Begriff erlaubt daher, ein weites Feld gerade auch neuer oder emergierender Formen zum Gegenstand der literatur-, medien- und kulturwissenschaftlichen Untersuchung zu machen. In diesem Sinne betrachtet der Sammelband Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (hg. v. Michael Gamper und Ruth Mayer, Bielefeld: Transcript 2017) nicht nur Apophthegmata, Aphorismen und Rätsel, sondern auch Tweets oder Smartphone-Videos.

Kürze gilt dabei als »exemplarische Figur der Moderne« (S. 9). Zwar hat sie mit der rhetorischen Kategorie der brevitas eine lange Tradition, und der Band greift bis in die Frühe Neuzeit zurück (vgl. Maren Jäger). Aber erst seit der Moderne steht Kürze im Zeichen einer krisenhaften Beziehung von Subjekt und Zeit, die aktuell unter dem Stichwort Beschleunigung verhandelt wird. Auf Zeitknappheit und Beschleunigung haben Literatur- und Kunstschaffende in sehr verschiedenen Formaten und Medien reagiert und so die damit verbundenen gesellschaftlichen Prozesse mitgestaltet. Es ist daher sinnvoll, die kleinen Formen, wie hier geschehen, in eine breitere literatur- wie mediengeschichtliche Perspektive zu rücken.

Verschiedene Beiträge zeigen dabei auf, dass in kleinen Formen häufig auch Praktiken anderer Medien oder anderer kultureller Bereiche in den Blick genommen wurden, um deren zeitsensible und zeitsensibilisierende Verfahren zu emulieren, zu affirmieren oder sich davon abzusetzen. So hatte etwa die Chronofotografie gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Segmentierung von (Bewegungs-)Prozessen in einzelne Phasen möglich gemacht (mit Auswirkungen u.a. auf die industrielle Produktion, die sich eine Rationalisierung der Arbeitsabläufe versprach). Die Prinzipien der Serialisierung und Wiederholung adaptierte auch Gertrude Stein für ihre Prosa (vgl. Heike Schäfer). Über die Reihung zumeist kurzer und minimal variierter Sätze rückte sie den gegenwärtigen Moment in den Fokus. Kürze tritt so in den Dienst eines gedehnten und erweiterten Augenblicks.

Gleich mehrere der 17 Beiträge verhandeln das Verhältnis bzw. die Konkurrenz von Literatur und dem sehr viel schneller zu rezipierenden Bild. Während im 18. Jahrhundert lange Debatten über die medialen Besonderheiten von Bild und Literatur geführt wurden (vgl. dazu Janine Firges), zeigt der Band, dass Verfahren wie die Serialisierung in sehr unterschiedlichen Medien Anwendung finden und nicht nur ästhetische, sondern auch gesellschaftliche Effekte erzeugen. Heutzutage spielen dabei vor allem die sozialen Medien und ihre Möglichkeiten zur Interaktion und Verknüpfung sowie zur weiten Verbreitung von schnell konsumierbaren Inhalten eine besondere Rolle, die uns zu ›rezipierenden Prosumern‹ machen (vgl. Elke Rentmeister).

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen aktuellen Formen ist zu begrüßen, und Ruth Mayer und Michael Gamper heben in ihrer erfreulich instruktiven Einleitung gerade auch auf die Frage ab, wie kleine Formen unsere kulturellen Wissensbestände erzeugen, verbinden oder trennen und distribuieren. Neben der mediengeschichtlichen Perspektive rücken Mayer und Gamper einen spezifischen Zusammenhang von Wissen und Erzählen in den Vordergrund. Der Begriff des Erzählens wird von ihnen einerseits recht weit gefasst, andererseits auf die Verfahren der Verknappung und Verdichtung verpflichtet, die zur »Wissenskondensation« (S. 12) beitragen. Besonders einleuchtend sind ihre Beobachtungen dazu, wie dies zu einer Verzeitlichung und Dynamisierung von Wissen in kleinen Formen beiträgt.

Dass allerdings die Untersuchung von Formen vor dem Hintergrund eines starken Formbegriffs in eine ganz andere Richtung führen kann als ausgehend von einem medienübergreifenden Begriff des Erzählens, zeigt der (gewiss angejahrte) Ansatz von André Jolles, der die je spezifischen formalen Eigenheiten seiner verschiedenen Gegenstände en détail zu beschreiben suchte. Anders gesagt: Es ist fraglich, ob der Fokus auf das Erzählen in allen Fällen geeignet ist, die literarische bzw. mediale Spezifik des jeweiligen Gegenstandes herauszustellen. Positiv vermerkt sei jedoch, dass der Fokus auf die Beziehung von Erzählen und Wissen einen roten Faden durch die Beiträge zieht, den man in vielen Sammelpublikationen vermisst.

Das Fazit (kurz & knapp): Der Band eröffnet sowohl in historischer wie in medialer Perspektive eine breitere Auseinandersetzung mit dem Feld der kleinen Formen und erweitert damit Gegenstandsbereich und methodischen Zugang.

Die Germanistin Eva Axer  leitet seit 2017 am ZfL das Forschungsprojekt Formen und Funktionen von Weltverhältnissen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven, in: ZfL BLOG, 16.1.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/01/16/eva-axer-kleineformen-ein-sammelband-eroeffnet-neue-medien-und-wissensgeschichtliche-perspektiven/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180116-01

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