Zeitschriftenforschung Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/zeitschriftenforschung/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Thu, 07 Mar 2024 09:41:13 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.1 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Zeitschriftenforschung Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/zeitschriftenforschung/ 32 32 Sebastian Truskolaski: AKTIVISMUS, OFFENSIV UND POLEMISCH: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/ Thu, 07 Mar 2024 09:19:22 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3249 Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch Weiterlesen

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Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch gestaltenden vita activa. Zur Veranschaulichung nennt sie eine »Kontroverse zwischen Herbert Marcuse und Jürgen Habermas aus den späten 1960er Jahren«, in der Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Praxis verhandelt wurden. In der Folge wird die Frage aufgeworfen, ob denn die Polarität von »›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement« unter heutigen Bedingungen so noch bestehe oder ob wir es nicht eher »mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus ›von oben‹ und ›von unten‹ zu tun« haben.

Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. So könnte man auch fragen, was denn die erwähnte Konvergenz für die vielleicht bekannteste Formulierung des Spannungsverhältnisses von Aktivismus und Wissenschaft bedeutet, nämlich für die Marx’sche Forderung, die Philosophie (und damit stellvertretend die Geisteswissenschaft) habe die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern.[1] Jedenfalls hätte der berühmte letzte Abschnitt aus den Thesen über Feuerbach im gegenwärtigen universitären Rahmen eine ganz andere Resonanz als noch bei Habermas und Marcuse. Die Konvergenz von Aktivismen von oben und unten müsste dann auch heißen: die Aufhebung eines kritisch-transformativen Imperativs. Im Zeitalter des Impact-Faktors wäre Wissenschaft dann nicht mehr kritisches Medium transformativer Praxis, sondern nur noch affirmativer Leistungsträger; und Aktivismus wäre kein direkter Eingriff mehr in bestehende Ungerechtigkeiten, sondern ein Aspekt korrekter Abrechnungsmethodik. Aus Negation müsste sich folglich Affirmation ergeben (Adorno ahnte dies schon früh); das kritisch-polemische Moment des Aktivismus »von unten« ginge verloren.

Nun lässt sich gewiss nicht leugnen, dass den Aktionen von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion Polemik innewohnt (ikonoklastische Angriffe auf bekannte Kulturgüter oder die Stillstellung großstädtischen Pendlerverkehrs seien hier angeführt). Obwohl sie von wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgehen (zum Beispiel den Berechnungen der katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung), stehen diese Gruppen – wohl auch aus strategischem Kalkül – in keinem klaren Verhältnis zu dem, was gemeinhin Wissenschaft genannt wird. So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert?

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Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt.[2] Die Rede ist vom sogenannten »literarischen Aktivismus«,[3] auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom »Umfeld des Expressionismus« spricht, in dem der »Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste«. Was hat es hiermit auf sich?

Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) – deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist – diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 »Literarischer Aktivismus« als Name der von ihm gegründeten, »ethisch-politischen« Bewegung beschlossen worden sein.[4] Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist, in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt (der Untertitel änderte sich im Laufe der Jahre mehrmals, etwa 1919–20, als die Zeitschrift in Das Ziel: Jahrbücher für geistige Politik umbenannt wurde). 1924 wurde sie jedenfalls endgültig von der Zensur verboten. In der Zwischenzeit trat Hiller unter anderem zusammen mit Magnus Hirschfeld aktiv für Schwulenrechte ein und agitierte als Teil des »Rates geistiger Arbeiter« im Kontext der Münchener Räterepublik gegen den Kapitalismus; bis zu seinem Tod im Jahre 1972 mischte er die publizistische Landschaft Deutschlands weiter auf.[5]

Mit seiner Zeitschrift aber ging es dem jungen Hiller vornehmlich um eins: um die Literatur als politisches Werkzeug im Dienste radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Schon aus diesem Grund empfiehlt sich für die Literaturwissenschaft die Auseinandersetzung mit seinen Positionen. In seinem die erste Ausgabe beschließenden Beitrag Philosophie des Ziels[6] schreibt Hiller im charakteristisch hochtrabendem Duktus des abtrünnigen Expressionisten (der stets angriffslustige Hiller zerstritt sich alsbald mit vielen expressionistischen Wegbegleitern): »Ziel« sei »die Weltverbesserung« (34), die von der Ablehnung des Weltkriegs und des Zustands allgemeiner geistiger Verkümmerung auszugehen habe (41). Dieses Ziel sei durch »Erziehung […] der Jugend, des Volkes« zur »Aktivität« zu erreichen (35), vor allem durch die Herausbildung eines »tätige[n] Geistes« (42), welcher wiederum an anderer Stelle mit »Verantwortung« (38) gleichgesetzt wird. Voraussetzung derartiger Tätigkeit sei eine spezifische Gemeinschaftsform, zu deren Formierung Hiller explizit aufruft: ein »Bund« der Geistigen (42), der »in lauter kleine Einzelbünde« (50) zu unterteilen wäre. Nicht umsonst spricht Hiller anderenorts von seiner »Reverenz« für den für seine Generation wohl bedeutendsten politisch-literarischen Aktivisten, Gustav Landauer, trotz aller Abneigung gegenüber dessen Anarchismus.[7] Das Modell des Bundes – das Wort lässt Freiwilligkeit und Konkordanz vermuten – versteht der Marx-Kritiker Hiller allerdings gar nicht demokratisch, sondern ausgesprochen elitär. So schreibt er etwa: »Es bleibt ein Irrtum, die Pyramide der menschlichen Gesellschaft […] von der Basis her bearbeiten zu wollen«, wo doch die »kräftigere Methode« die »von oben« sei (44). Hiller beruft sich auf eine prophetische Form von Führerschaft, eine quasiplatonische »Monarchie – des Besten« (53), in der vor allem »der Literat von morgen« zum »große[n] Verantwortliche[n]« stilisiert wird, dessen »Intellekt […] die Tat nicht mehr hemmt« (48).

Obschon die Platon-Analogie spätestens mit dem Auftritt des Literaten endet, nimmt Hiller hier sein späteres Lob dessen, was er Logokratie nennt, vorweg. Das brachte ihm schließlich die durchaus berechtigte Kritik seines ehemals ebenso jugendbewegten Zeitgenossen Walter Benjamin ein.[8] Es folgen in der Philosophie des Ziels einige aktivistische Gedanken zur Rolle der Wissenschaft und zum Begriffspaar »Geist und Praxis« (46). So sei die Wissenschaft im Zuge der modernen Arbeitsteilung »zerfallen in nützliche […] und überflüssige« Wissenschaft, wobei angeblich nur letztere in irgendeiner residualen Verbindung zum Geist zu stehen vermag. An die Stelle der arbeitsteiligen Pseudowissenschaft müsse laut Hiller eine andere treten, nämlich eine aktivistische, die den historisch gewachsenen Gegensatz von Geist und Praxis aufzuheben verstünde. So behauptet er apodiktisch: »Geist und Praxis – das war ehemals eine Antithese; heute bezeichnen diese Worte korrelative Abhängigkeit« (47), wenn auch nur im Horizont des Ziels: »Der Geist setzt die Ziele, die Praxis verwirklicht sie« (47) – man müsse nur wollen. Ob dies wirklich so einfach geht, darf man bezweifeln. Die eigentlichen Ziele des Ziels folgen am Ende des Textes. Unter anderem beinhalten sie die »Abschaffung der Todesstrafe« und des »Krieges«, die »Umgestaltung der höheren Erziehung«, die »Gewährung eines Existenzminimums«, und eben die »Einführung der Monarchie – des Besten« (51–53). Manchem davon kann man vielleicht heute noch etwas abgewinnen; anderen Forderungen bestimmt nicht, wie etwa jener nach »Rationalisierung der Kindererzeugung nach eugenischen Gesichtspunkten« (53), die Hillers elitären Bund-Gedanken zur Gänze disqualifiziert.

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Wozu nun dieser historische Exkurs, wo doch Hillers Programm eines literarischen Aktivismus unter heutigen Gesichtspunkten – sachte formuliert – problematisch erscheinen muss (das war es wohl schon immer)?

Einen Grund liefert eine Randbemerkung Hillers, in der es um die Charakterisierung des von ihm geforderten aktivistischen Bundes als »offensiv« geht. Dieser Bund zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich polemisch von dem absetzt, was er seinem Selbstverständnis nach nicht zu sein hat. So teilt Hiller zum Beispiel in dem »Durchstoß zum Aktivismus« betitelten Abschnitt seiner Autobiographie aufs Schärfste gegen Hegel aus, der als ein »zum Riesen aufgeblasener Denkknirps und Pfuscher« verunglimpft wird; »wann«, wird hier etwa gefragt, »steigt aus dem Wellenschaum« des überflüssigen Hegel-Erbes endlich »die Aphrodite einer Doktorarbeit, die Opus für Opus […] das Fäkalische der Hegelprodukte nachweist?«[9] Derartige Stellen gibt es bei Hiller viele. Offensiver, polemischer, zugespitzter geht es kaum.

Nun berufen sich die prominenten Aktivismen von heute wohl aus guten Gründen nicht auf Hiller (ohnehin kann man das Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus schwerlich mit Verweis auf Genealogien dieser Art bestimmen). Gleichwohl ist das marginale historische Interesse der Literaturwissenschaft an Hillers Person doch auch dies: wissenschaftlich; und als wissenschaftliches – zumal als literaturwissenschaftliches – darf es vielleicht den bescheidenen Anspruch erheben, Hillers Aktivismus doch zumindest diesen polemischen (sprich: offensiven) Zug abzugewinnen, just jenen also, der im heutigen, zum Affirmativen tendierenden Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus allzu oft fehlt.

Der Komparatist Sebastian Truskolaski ist Lecturer (Assistant Professor) in German Cultural Studies an der University of Manchester; am ZfL bearbeitet er als Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung sein Projekt »Gesten von Gemeinschaft: Hölderlin bei Benjamin, Landauer und Rosenzweig«.

[1] Vgl. Karl Marx: »Ad Feuerbach«, in: Karl Marx / Friedrich Engels Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1998, S. 21.

[2] Vgl. Matthias Heine: »Aktivisten aller Länder, vereinigt euch!«, in: Die Welt, 26.2.2014.

[3] Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, Frankfurt am Main 1981.

[4] Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Hamburg 1969, S. 98. Vgl. Daniel Münzer: Kurt Hiller: Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015.

[5] Vgl. Wolfgang Rothe: »Einleitung«, in: Der Aktivismus, 1915–1920, hg. von Wolfgang Rothe, München 1969, S. 7–21.

[6] Kurt Hiller: »Philosophie des Ziels«, in: Der Aktivismus, 1915–1920 (Anm. 5), S. 29–54. Alle Nachweise erfolgen direkt im Text.

[7] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 138.

[8] Vgl. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 179. Vgl. auch Lisa Marie-Anderson: »Translator’s Preface: Kurt Hiller, Anti-Cain: A Postscript to Rudolf Leonhard’s Our Final Battle Against Weapons«, in: Walter Benjamin: Toward the Critique of Violence: A Critical Edition, hg. von Peter Fenves und Julia Ng, Stanford 2021, S. 179–185.

[9] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 99–100.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sebastian Truskolaski: Aktivismus, offensiv und polemisch: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs, in: ZfL Blog, 7.3.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240307-01

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Moritz Neuffer/Morten Paul: Periodische Formgebung. ZEITSCHRIFTEN UND ÖFFENTLICHKEIT IN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/09/moritz-neuffer-morten-paul-periodische-formgebung-zeitschriften-und-oeffentlichkeit-in-der-fruehen-bundesrepublik/ Thu, 09 Jun 2022 07:03:14 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=2589 In der Geschichte moderner Gesellschaften sind Zeitschriften und Öffentlichkeit so eng aufeinander bezogen, dass sie nahezu synonym erscheinen. Schließlich soll Öffentlichkeit derjenige Raum sein, in dem freie Menschen sich als Gleiche begegnen und über Belange kommunizieren, die von allgemeinem Interesse sind. In Gemeinwesen, in denen gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung nicht durch unmittelbaren Kontakt garantiert sind, Weiterlesen

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In der Geschichte moderner Gesellschaften sind Zeitschriften und Öffentlichkeit so eng aufeinander bezogen, dass sie nahezu synonym erscheinen. Schließlich soll Öffentlichkeit derjenige Raum sein, in dem freie Menschen sich als Gleiche begegnen und über Belange kommunizieren, die von allgemeinem Interesse sind. In Gemeinwesen, in denen gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung nicht durch unmittelbaren Kontakt garantiert sind, helfen Zeitschriften dabei, Öffentlichkeit – oder ausdifferenzierte Teilöffentlichkeiten – herzustellen. Sie tun dies, indem sie Texte und Bilder, Gattungen und Disziplinen, Stimmen und Stimmungen versammeln und bündeln, und indem sie in mal mehr, mal weniger regelmäßiger Folge öffentlichen Austausch auf Dauer stellen.

Unzählige Zeitschriftentitel und -manifeste proklamieren ein Verständnis von Journalen und Magazinen als Medien des Zeitgemäßen bzw. der geistigen Situation ›ihrer‹ oder ›der‹ Zeit. Dieser Zeitbezug wirkt in dem Status nach, den Zeitschriften als Quellen historischer Forschung genießen: Medien, die einmal viel über die eigene Zeit zu sagen hatten, werden auch im historiografischen Rückblick als Zeugen herangezogen. Doch Zeitschriften sind immer auch eigensinnige Akteure und somit Indikatoren und Faktoren historischer Bewegung zugleich. Das Verhältnis von Zeitschriften und Öffentlichkeit(en) ist von Heteronomie und Kontingenz, Interessen, Konflikten und Aushandlungsprozessen geprägt. Was Öffentlichkeit sein soll und darf, ist nicht selbstverständlich, sondern umkämpft und historisch wandelbar. Daher lohnt es sich zu fragen, welche Zeitschriften unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten Öffentlichkeit produzieren: Welche Bilder ›ihrer‹ Zeit entwerfen sie und mit welchen Absichten und Effekten tun sie es?

Am 31. März und 1. April 2022 richtete das Deutsche Literaturarchiv Marbach in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und dem Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung deshalb die Tagung Wandlungszonen: Zeitschriften und Öffentlichkeit, 1945–1969 aus.[1] Ihr Gegenstand war die Konstitution und Rekonstitution von Öffentlichkeit im Medium Zeitschrift im langen Nachkrieg und vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Überlegungen galten dabei nicht nur der Frage, wofür oder für wen Zeitschriften Öffentlichkeit (wieder-)herstellten, sondern auch, wie sie das als Zeitschriften taten. Journale, so die Ausgangsthese, sind aufgrund ihrer spezifischen Gestalt und Machart ›Zonen‹, in denen sich etwas ereignen kann: Sie sind mediale Räume, die Wandel und Prozess, Anfang und Aufbruch versprechen und vollziehen.

Folgerichtig gehören Brüche, Kontinuitäten und Übergänge zu den zentralen Figuren, die die Diskussion auf der Tagung dominierten, und die bereits in den Selbstbeschreibungen politisch-intellektueller Zeitschriften nach 1945 angelegt waren. Im Fokus standen Periodika, die sich in Form und Themensetzung teilweise erheblich voneinander unterscheiden und dennoch allesamt an der Neubegründung bundesrepublikanischer Öffentlichkeit mitwirkten: vom Merkur zur Constanze, von der Historischen Zeitschrift zur alternative, von der twen zum studentischen Forum Academicum. Einen historischen Idealtypus für die Untersuchung des Verhältnisses von Zeitschriften und Öffentlichkeit scheint dabei das intellektuelle Kulturjournal zu modellieren, für das auf der Tagung insbesondere die Monatsschrift Die Wandlung stand. Bereits an ihrem Titel ist das Versprechen des Übergangs abzulesen, das ihr die Gründungsmitglieder Dolf Sternberger, Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber einschrieben. Zeitschriften, die sich derart als Foren der Erneuerung präsentierten, erlebten besonders in den Zwischenjahren 1945 bis 1949, also während der Besatzungszeit bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, eine Blüte. Sie bauten dabei nicht zuletzt auf Traditionen und Netzwerken auf, die schon das intellektuelle Leben der Weimarer Republik geprägt hatten. Zu den Intellectual Journals, die in der Regel ein weiter Kulturbegriff auszeichnet und in deren Zentrum die Gattung des Essays steht, zählen in dieser Zeit auch Der Ruf, Merkur, die Frankfurter Hefte oder Wiedergründungen wie die Neue Rundschau. Von diesem Modell lassen sich andere Typen absetzen, die auf je unterschiedliche Weise ebenfalls zwischen Tradition und Erneuerung manövrierten: wissenschaftliche Fachzeitschriften, literarische, politische oder breitenwirksamere Publikumszeitschriften mit ihren jeweils eigenen Öffentlichkeiten und Öffentlichkeitskonzepten. Diese Typen, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, lassen sich selten klar voneinander trennen bzw. weisen sie vielfach Übergänge und Zwischenformen auf. Damit bestätigen sie nicht zuletzt eine zentrale These kulturwissenschaftlicher Zeitschriftenforschung, nämlich dass Zeitschriften Medien sind, die sich eindeutigen Typologisierungen und Definitionen entziehen und gerade darin ihre spezifische Produktivität finden.[2]

Neben Genredefinitionen standen in Marbach die spezifischen Techniken und Verfahren im Mittelpunkt, mit denen Zeitschriften nach 1945 Bezüge zu ihrer‹ Zeit herstellten. Im Falle wissenschaftlicher Zeitschriften war es nicht selten die Rezension, die es ermöglichte, in ›kleiner Form‹ Position zu Gegenwärtigem und damit auch zur Vergangenheit des Nationalsozialismus zu beziehen – selbst in einem vermeintlich gegen den direkten Gegenwartsbezug abgedichteten fachwissenschaftlichen Journal wie der Historischen Zeitschrift. Besondere Aufmerksamkeit fand die Rolle dokumentarischer Techniken und Strategien. Denn in der Konfrontation mit den deutschen Verbrechen war das Zugänglichmachen von Tatsachenmaterial, etwa in der Wandlung und der Gegenwart, ein aufklärerischer Akt in serieller Folge. Von dieser Politik des Faktischen zehrte noch die linksintellektuelle Publizistik der späten 1950er und 1960er Jahre, die ihre Analyse, Theorie und Kritik mit der ausgestellten Evidenz von sogenannten Dokumentationen verband. Gebündelte Veröffentlichungen von Dokumenten oder Kompilationen von Zitaten schufen die Grundlage der politischen Kritik am Bestehenden, wobei schließlich auch ein naiver Begriff von Tatsachen selbst zum Gegenstand der sich etablierenden Ideologiekritik werden konnte.

Den Massenmedien hingegen wird in der von links als restaurativ wahrgenommenen Adenauer-Ära statt der Ausprägung eines kritischen Bewusstseins traditionell eher kulturindustrielle Affirmation zugeschrieben. Doch auch populäre Zeitschriften wie Constanze oder twen lassen sich gewinnbringend auf ihre Produktionsweisen von Öffentlichkeit hin befragen: Im Nebeneinander der Text- und Bildsorten (zum Beispiel der Werbung) fallen dort insbesondere Verfahren auf, mit denen die oft einseitig wirkende Kommunikation zwischen Zeitschriften und Leserschaften erweitert wurde. Die Frage, ob die Einbeziehung von Leserbriefen dabei tatsächlich der Herstellung einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion oder nicht doch eher der Inszenierung von Partizipation diente, verweist auf ein Auseinanderfallen von Adressierungsrhetorik und Adressierungsleistung von Zeitschriften.

Der Blick auf die komplexe Kommunikationssituation und Vielstimmigkeit von Zeitschriften steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu der Beobachtung, dass in der Intellectual History – aus forschungstechnisch naheliegenden Gründen – starke Herausgeber:innen- und Autor:innenfiguren zentrale Rollen einnehmen. Die Zeitschrift tritt als Verkörperung der Intentionen ihrer Macher:innen auf, die sich der Zeitschrift als Organ der Umsetzung geistig-politischer Programmatiken bedienen. Was sich an den veröffentlichten Heften nicht immer ablesen lässt, zeigt der spätere Blick in die Archive. In Selbstzeugnissen und Briefwechseln werden Aushandlungsprozesse und Spannungsverhältnisse sichtbar, denen nicht zuletzt der Umgang mit der eigenen historischen Erfahrung und Verstrickung eingeschrieben und in denen der positive Bezug auf die neue demokratische Öffentlichkeit keineswegs immer ausgemacht war. Viele Akteure blickten mit Skepsis auf den Entstehungsprozess der zweiten parlamentarischen Demokratie in Deutschland, den sie mit Unsicherheit und Chaos verbanden.[3] Das sollte sich erst im Zuge der Konsolidierung der Bundesrepublik ändern, die sich im Medium Zeitschrift in ihrer Prozesshaftigkeit ebenso nachvollziehen lässt wie der Wandel von Bildungsvorstellungen und öffentlich-intellektuellen Kommunikationsweisen, die vielerorts noch von einem elitären Aufklärungsverständnis geprägt waren.

Die Zentralperspektive auf Intention und Selbstverständnis der »great editors«[4] und ihrer Autor:innen, die bestimmte Zeitschriftentypen wie das intellektuelle Kulturjournal oder Textsorten wie den Essay privilegiert, lässt sich, auch das ist eine Erkenntnis der Marbacher Tagung, durch dezentrierende Forschungen darüber ergänzen, was genau den Text der Zeitschrift hervorbringt bzw. die Möglichkeiten seiner Hervorbringung bestimmt. Dazu gehören nicht zuletzt die materiellen Bedingungen und Abhängigkeiten, die Auswahl, Zirkulation und Transfer von Text – und damit Öffentlichkeit – begünstigen oder einschränken. Die Zeitschrift wird so nicht nur als Dokument und Quelle der geistigen Situation ihrer Zeit, sondern als Akteurin, die dieser Situation periodisch Form gibt, lesbar. Den produktiven Austausch über solche methodischen Perspektiven und Zugriffe auf Dauer zu stellen, ist das fortlaufende Anliegen des Arbeitskreises Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung, der allen Interessierten zur Teilnahme offensteht. 

 

Der Historiker Moritz Neuffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL, wo sein Projekt zur »Erforschung des persönlichen Archivs der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner« von der DFG gefördert wird.

Der Germanist Morten Paul ist einer der Herausgeber des August Verlags und Lektor im Verlag Matthes & Seitz Berlin..

 

[1] Konzipiert wurde die Tagung von Anna Kinder (DLA Marbach), Barbara Picht (ZfL Berlin), Anke Jaspers (Universität Graz) sowie den Autoren dieses Beitrags. Referent:innen waren Rainer Bayreuther, Jan-Eike Dunkhase, Gunilla Eschenbach, Moritz Neuffer, Barbara Picht, Philipp Pabst, Roman Yos, Jens Hacke, Aleš Urválek und Paweł Zajas. Auf der Abendveranstaltung diskutierten Liliane Weissberg und Udo Bermbach über den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger. Das Programm zum Nachlesen findet sich hier. – Im Rahmen der Tagung fand auch das Jahrestreffen des Arbeitskreises Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung statt, der sich methodischen und theoretischen Fragen der Erforschung periodischer Publikationen widmet. Dabei sprach Stefan Reiners-Selbach über die interaktive Erschließung von Zeitschriftenkorpora mithilfe digitaler Methoden und Petra Boden über die Geschichte interdisziplinärer Praxis im Spiegel von Fachzeitschriften. Das nächste Treffen des Arbeitskreises, der seit 2017 Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen zusammenbringt, findet voraussichtlich im Herbst 2022 statt.

[2] Gustav Frank/Madleen Podewski/Stefan Scherer: »Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ›kleine Archive‹«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34.2 (2009), S. 1–45, hier S. 4.

[3] Zu dezidiert demokratiefeindlicher Publizistik nach 1945, die nicht Gegenstand der Marbacher Tagung war, vgl. Moritz Neuffer/Morten Paul: »Rechte Hefte. Zeitschriften der alten und neuen Rechten nach 1945«, in: Eurozine (Dossier Worlds of Cultural Journals), 7.11.2018.

[4] Matthew Philpotts: »What makes a great magazine editor? Seven theses on editorial plurality«, in: Eurozine, 4.5.2018.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Moritz Neuffer/Morten Paul: Periodische Formgebung. Zeitschriften und Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik, in: ZfL BLOG, 9.6.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/09/moritz-neuffer-morten-paul-periodische-formgebung-zeitschriften-und-oeffentlichkeit-in-der-fruehen-bundesrepublik/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220609-01

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Moritz Neuffer: PREKÄRE THEORIE, oder: Wer ist Hildegard Brenner? https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/01/14/moritz-neuffer-prekaere-theorie-oder-wer-ist-hildegard-brenner/ Thu, 14 Jan 2021 10:29:07 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=1673 »What makes a great magazine editor?«, fragte der britische Literaturwissenschaftler Matthew Philpotts kürzlich in einem Essay für Eurozine und stellte eine Typologie von Herausgebertypen auf, die in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutende Rollen spielten. In dieser Typologie finden sich charismatische und ›performative‹ Leitfiguren wie Herwarth Walden (Der Sturm) oder Karl Kraus (Die Fackel), nüchterne Weiterlesen

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»What makes a great magazine editor?«, fragte der britische Literaturwissenschaftler Matthew Philpotts kürzlich in einem Essay für Eurozine und stellte eine Typologie von Herausgebertypen auf, die in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutende Rollen spielten. In dieser Typologie finden sich charismatische und ›performative‹ Leitfiguren wie Herwarth Walden (Der Sturm) oder Karl Kraus (Die Fackel), nüchterne und bescheidene Verwalter wie Carl von Ossietzky (Die Weltbühne) oder Herbert Steiner (Corona), aber auch Jongleure zwischen diesen Extremen wie Peter Suhrkamp (Neue Rundschau) oder Jean Paulhan (Nouvelle Revue Française). Der einzelgängerische Criterion-Herausgeber T.S. Eliot wird dem ›kollektiven‹ Stil von Sartres Les Temps Modernes gegenübergestellt, während Thomas Mann als Co-Herausgeber von Mass und Wert wiederum dazwischen steht. Der Kanon der ›großen‹ verlegenden Männer legt den Gedanken nahe, dass Hildegard Brenner (*1927) in der intellektuellen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts eine Ausnahmeerscheinung darstellte.

Tatsächlich war die 1952 promovierte Germanistin, die zunächst als Journalistin und später als Professorin an der Universität Bremen arbeitete, in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 1970er Jahre hinein die einzige Frau, die ein intellektuelles Journal von überregionaler Bedeutung herausgab. Von 1964 bis 1982 leitete sie in West-Berlin die Literatur- und Theoriezeitschrift alternative, die mit Heften zur materialistischen Ästhetik, zum Strukturalismus, zur Literatur der DDR, des Exils und der Arbeiterbewegung eine Auflage von bis zu 10.000 Exemplaren pro Nummer erreichte. Der Erfolg gründete zum einen auf weitreichenden Verbindungen nach Paris und Potsdam, Riga und Rom, hinein in Verlage und Zeitschriftenredaktionen, akademische Institutionen und dissidente Zirkel. Er verdankte sich aber wohl ebenso dem strengen Stil, mit dem Brenner einstigen Redaktionsmitgliedern im Gedächtnis geblieben ist: »Ein Gedanke pro Satz genügt!«, erinnert sich Helmut Lethen, 1966 und 1967 Redakteur der Zeitschrift, in seiner jüngst erschienenen Autobiografie an das oberste Gebot seiner damaligen »Chefin«.[1]

Obwohl Zeitgenossen wie Lethen und sein Mitredakteur Heinz Dieter Kittsteiner gelegentlich an Brenner erinnert haben,[2] ist ihr Name nur wenigen geläufig. Dabei hinterließ sie Spuren in der Geschichte der Kritischen Theorie, als sie in der alternative die Editionspolitik von Theodor W. Adorno, Rolf Tiedemann und Peter Unseld kritisierte und eine »wissenschaftliche Öffentlichkeit« für die nachgelassenen Schriften Walter Benjamins forderte.[3] Ebenso wird in der Forschung zum Nationalsozialismus gelegentlich ihr Buch Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus zitiert, das 1963 in der populären Sachbuchreihe rowohlts deutsche enzyklopädie erschien und damaligen Rezensenten als eine der besten Analysen der Zerschlagung und Gleichschaltung der Kultur unter dem Hakenkreuz galt. Andere Arbeiten und Aktivitäten Brenners hingegen sind kaum bekannt, geschweige denn erforscht – was auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie sich nach der Einstellung der alternative im Jahr 1982 fast vollständig aus der intellektuellen Öffentlichkeit zurückzog. Auch im Internationalen Germanistenlexikon ist ihr kein Eintrag vergönnt.

Abb. 1, Vorlass Hildegard Brenner; Foto: Dirk Naguschewski/ZfL

In Anlehnung an eine Begriffsprägung aus der Ideengeschichte der Frühen Neuzeit ließe sich Brenners Lebenswerk somit als ein Fall »prekären« Wissens betrachten, dessen Fortbestand unsicher und ungesichert ist.[4] Der umfangreiche persönliche Vorlass, der im Jahr 2019 dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zur Sichtung übergeben wurde (Abb. 1), ermöglicht es nun, im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts Brenners Rolle als Wissenschaftlerin und Herausgeberin erstmals zu ergründen. Die dafür zu erschließenden Materialien umfassen Manuskripte, Korrespondenzen, Verlagsdokumente, Zeitungsausschnitte, Tonbänder und vieles Weitere, was den Redaktionsnachlass der alternative im Deutschen Literaturarchiv Marbach ergänzt.

Wovon aber lässt sich anhand eines intellektuellen Werdegangs wie desjenigen Hildegard Brenners erzählen, wenn er einmal rekonstruiert ist? Ein erster Problemkomplex liegt auf der Hand: Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive lässt sich insbesondere für die alte Bundesrepublik ein eklatanter Mangel an Studien zur Geschichte weiblicher Intellektueller ausmachen. Auffallend ist dabei, dass deren Situation und Repräsentation bereits zu Brenners eigenen Arbeitsinteressen gehörten: Sie gab die bis heute einzige deutschsprachige Edition von Texten der lettischen Dramaturgin und Theatertheoretikerin Asja Lācis (1891–1979) heraus, die ohne diese Publikation hauptsächlich als Co-Autorin Walter Benjamins und aus dessen Essay über das proletarische Kindertheater bekannt wäre. Ebenso war Brenner daran gelegen, das Werk der Kunsttheoretikerin und Schriftstellerin Lu Märten (1879–1970) in Erinnerung zu halten. Der Vorlass zeugt damit von publizistischen und archivischen Möglichkeiten, mit der Marginalisierung von Autorinnen in der Intellektuellengeschichte umzugehen.

In der Generation der Achtundsechziger, deren Traditionsbezüge Brenner maßgeblich mitprägte, nahm sie eine Sonderstellung ein. 1927 geboren, war sie im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre älter als die studentischen Redakteur*innen der alternative, für die sie damals die Funktion einer Mentorin hatte. So vermittelte Brenner zwischen älteren theoretischen Traditionen und den Ansätzen der sich ab ca. 1960 formierenden Neuen Linken. Ihr theoretisches Interesse galt immer auch den historischen Erfahrungen, die Intellektuelle wie Karl Korsch, Carl Einstein oder Walter Benjamin, die in den 1960er Jahren wiederentdeckt wurden, in ihren Theorien verarbeitet hatten. Brenners Erlebnisse in den Kulturbetrieben des geteilten Nachkriegsdeutschland verliehen ihr ein praktisches Wissen über Verquickungen von Ästhetik und Politik, das sie zu einer Instanz im Umfeld der Studentenbewegung werden ließ. Zu ihren prägenden Arbeitserfahrungen, die sie auch mangels akademischer Festanstellung in den 1950er Jahren gemacht hatte, gehörten eine Hospitanz bei Bertolt Brecht am Berliner Ensemble und ihre freie Tätigkeit für den Hessischen und den Süddeutschen Rundfunk, für die sie über die Theater- und Intellektuellenszene in Ostberlin berichtete.

Da Hildegard Brenners Werk in einer außergewöhnlichen Vielfalt akademischer und journalistischer, monografischer und kollaborativer Schreibweisen vorliegt, stellt ihr Vorlass ein wichtiges Quellenkorpus an der Schnittstelle von Medien- und Intellektuellengeschichte dar. Theoretische Schriften zirkulierten ab den 1950er Jahren zunehmend in schnelllebigen, leicht zugänglichen Publikationsformen wie Zeitschriften, Taschenbüchern, Broschüren oder Raubdrucken, und in der Medienlandschaft der Nachkriegsgesellschaften wurden die Zeitung, das Radio und das Fernsehen vermehrt als Orte des Transfers zwischen akademischer Wissenschaft und Öffentlichkeit eingesetzt. Ihr persönliches Archiv dokumentiert, wie Brenner diese Vielfalt medialer Möglichkeiten über Jahrzehnte hinweg nutzte.

Vor diesem Hintergrund lässt sie sich in mehrfacher Hinsicht als Akteurin eines intellektuellen Formenwandels begreifen, dem die Ideen- und Intellektuellengeschichte allerdings noch lange hinterherhinkte: Bei denjenigen Intellektuellen, die sich weniger durch das ›große‹ Werk exponierten als durch editorische, dokumentarische und journalistische Tätigkeiten, verstärkt derartige publizistische Vielseitigkeit die Gefahr der Vernachlässigung durch die Geschichtsschreibung – es sei denn, sie werden irgendwann als ›große‹ Herausgeberfiguren kanonisiert. Wem diese Aufmerksamkeit zuteilwird, ist eine Frage von Interesse und Auswahl. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, Hildegard Brenners Archiv in zweifacher Absicht zu erschließen: nicht nur, um ihren Platz im Kanon der »great editors« zu bestimmen, sondern auch, um der Geschichte dieses Kanons selbst zu begegnen.

Der Historiker Moritz Neuffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL, wo sein Projekt zur »Erforschung des persönlichen Archivs der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner« von der DFG gefördert wird.

[1] Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin 2020, S. 382.

[2] Heinz Dieter Kittsteiner: »Unverzichtbare Episode. Berlin 1967«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008) 4, S. 31–44, insb. S. 31.

[3] Vgl. Redaktion alternative: »Zu diesem Heft«, in: alternative 56/57 (1968), S. 47.

[4] Mit dem Begriff des »prekären Wissens« erfasst Martin Mulsow (Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, S. 14f.) den ungesicherten Status von materiellen Wissensträgern, aber auch von gesellschaftlich marginalisierten Gelehrten, ihren Sprecherrollen und Aussagen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Moritz Neuffer: Prekäre Theorie, oder: Wer ist Hildegard Brenner?, in: ZfL BLOG, 14.1.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/01/14/moritz-neuffer-prekaere-theorie-oder-wer-ist-hildegard-brenner/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20210114-01

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Patrick Eiden-Offe/Moritz Neuffer: WAS IST UND WAS WILL KULTURWISSENSCHAFTLICHE ZEITSCHRIFTENFORSCHUNG? https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/19/patrick-eiden-offe-moritz-neuffer-was-ist-und-was-will-kulturwissenschaftliche-zeitschriftenforschung/ Mon, 19 Nov 2018 10:01:45 +0000 http://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=893 Inmitten der verheerenden Weltwirtschaftskrise fassten Walter Benjamin und Bertolt Brecht 1929/30 den Plan, eine Zeitschrift zu gründen. Sie sollte Krisis und Kritik heißen und sich nicht nur der »Krise auf allen Gebieten der Ideologie« annehmen, sondern selbst, mit den Mitteln der Kritik, Krise produzieren: »Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen«, schrieb Weiterlesen

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Inmitten der verheerenden Weltwirtschaftskrise fassten Walter Benjamin und Bertolt Brecht 1929/30 den Plan, eine Zeitschrift zu gründen. Sie sollte Krisis und Kritik heißen und sich nicht nur der »Krise auf allen Gebieten der Ideologie« annehmen, sondern selbst, mit den Mitteln der Kritik, Krise produzieren: »Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen«, schrieb Benjamin an seinen Freund Brecht.[1] Ihr reger Austausch über potentielle Themen, Schreibweisen und Beitragende offenbart, dass Benjamin und Brecht nicht nur die Inhalte, sondern auch die sozialen und operativen Dimensionen ihres – letztlich niemals realisierten – Projektes im Blick hatten. Krisis und Kritik, so ihre Überzeugung, würde »die bisher leere Stelle eines Organs einnehmen, in dem die bürgerliche Intelligenz sich Rechenschaft von den Forderungen und den Einsichten gibt, die einzig und allein ihr unter den heutigen Umständen eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion im Gegensatz zu der üblichen willkürlichen und folgenlosen gestatten«.[2]

Benjamins und Brechts Theoretisierung des Zeitschriftenmachens zeigt, dass ihre Wahl genau dieser Waffe der Kritik keine willkürliche war. Das Medium Zeitschrift sahen sie nicht als neutralen Container, sondern als ein durchaus vitales »Organ« eigener Bauart und Wirkweise. Der Einsicht, dass die Zeitschrift kein simpler »cargo truck« für intellektuelles Frachtgut ist, wird inzwischen auch in der Forschung Rechnung getragen.[3] Damit wird nachgeholt, was für die history of books schon längst selbstverständlich ist: Zeitschriften weisen Eigenlogiken auf, die kultur- und wissensgeschichtlich untersucht werden können und sollten. Nicht zuletzt sind sie immer auch Interventionen in eine spezifische historische Situation. Davon zeugt das Beispiel Krisis und Kritik eindrücklich: Die »Krise festzustellen oder herbeizuführen« war eine radikale Antwort auf die Frage Was können, was sollen und was wollen Zeitschriften?

Periodika sind in der Geschichte der Ideen und Theorien, der Künste und der Wissenschaften der Neuzeit allgegenwärtig, und gerade deshalb sind sie theoriebedürftig. Der Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung hat sich 2017 als Initiative von und für Nachwuchsforscher*innen gegründet, die über Perspektiven auf diesen selbstverständlich-unselbstverständlichen Gegenstand nachdenken. In den letzten Jahren hat es methodisch und theoretisch einige Neuansätze zu einer Zeitschriftenforschung gegeben. Der interdisziplinäre Arbeitskreis – die Mitglieder stammen aus den Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften, aus der Soziologie und Politologie, aus der Geschichts- und der Medienwissenschaft – verzichtet bewusst darauf, die verschiedenen Zugänge zu homogenisieren. Stattdessen wollen wir intellektuellen- und ideengeschichtliche, medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven in eine produktive Beziehung setzen. Die bisherigen Jahrestreffen (2017 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, 2018 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen) boten Raum für erste Diskussionen über theoretische und methodische Grundierungen des Feldes und Einblicke in die Quellenkorpora aktueller Forschungen. Das Spektrum reichte dabei thematisch vom Untergrund der Selbstpublizistik bis zum Höhenkamm akademischer Elitenkulturen, chronologisch von der Aufklärung bis zur Gegenwart.

Als ein erstes Produkt der gemeinsamen Arbeit ist nun auf der Website des internationalen Kulturzeitschriftenverbands Eurozine ein mehrsprachiges Dossier zum Thema The worlds of cultural journals erschienen. Den dort frei abrufbaren Essays ist bei aller Diversität gemeinsam, dass sie die genuin politische Dimension des Zeitschriftenmachens – und vielleicht auch des Zeitschriftenforschens? – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Gerade Kulturzeitschriften – »a somewhat awkward placeholder term for periodicals between the arts, the sciences and politics«, so das Editorial des Dossiers – können als Medien betrachtet werden, in denen sich ein politisches Krisen-, ja vielleicht sogar ein epochales Schwellenbewusstsein formiert und Ausdruck verschafft. Wie dies in konkreten historischen und regionalen Kontexten aussehen kann, zeigt beispielsweise der Beitrag von Yvonne Albers über Mawaqif, die bedeutendste arabische Kulturzeitschrift der 1960er und 1970er Jahre, Diskussionsort französischer Theorie und Forum engagierter Intellektueller in konfliktreichen Zeiten. Auch Sven-Eric Liedmans Essay über Ord & Bild, die älteste schwedische Kulturzeitschrift, die 2017 ihr 125jähriges Jubiläum feierte, und Waldemar Kuligowskis Auseinandersetzung mit der polnischen Zeitschriftenlandschaft nach 1989 zeigen, wie Zeitschriften auf Zeitenwenden reagieren und zugleich ihre eigenen Zeiten – Eigenzeiten – ausbilden.

Zeitschriften, und speziell Kulturzeitschriften, formieren und informieren die Öffentlichkeit, wirken dabei aber nicht nur nach außen. Eine Zeitschrift ist, als intellektueller Produktionszusammenhang, selbst ein prekäres soziales Gebilde, das sehr verschiedene Formen annehmen und seinerseits in Krisen und Zusammenbrüche treiben kann. Die Geschichte der meisten Periodika könnte als eine von Zerwürfnissen und Neuaufbrüchen – »Start, stop, begin again« (Yvonne Albers) – erzählt werden: Das Machen von Zeitschriften ist ein kollektiver Prozess, Kreise von Zeitschriftenmacher*innen sind oft auch Freundschaftsbünde. Dass dies gerade im Kontext der politischen und ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts nicht immer trennscharf zu unterscheiden ist, beschreibt Beatriz Colomina in ihrem Beitrag, in dem sie ›kleine‹, ephemere Architekturzeitschriften der 1960er und 1970er Jahre in den Blick nimmt.

Die unhintergehbare Kollektivität des Denkens und Schreibens, die beim Zeitschriftenmachen sichtbar wird, kann dazu führen, dass Zeitschriftenmacher*innen – oder Macherinnen – sich dezidiert als Kollektiv verstehen und ›ihre‹ Zeitschrift auch zum Austragungsort von Widersprüchen werden lassen. Dies zeigt Katharina Lux an der linken feministischen Zeitschrift Die Schwarze Botin, die von 1976 bis 1987 in Westberlin produziert wurde. Zumeist aber wird Kollektivität eher als ein Problem betrachtet, das von ›großen‹ Machern gelöst wird – von »great editors«, deren intellektuelle Physiognomie Matthew Philpotts in seinem Beitrag nachzeichnet. Dass all diese Fragen, Widersprüche und Dynamiken nicht nur Fragen linker und liberaler Medien sind, liegt auf der Hand: Morten Paul und Moritz Neuffer weisen in ihrem Beitrag nach, dass Zeitschriften, als zumindest mittelfristig stabile Plattformen, Übergänge zwischen alten Nazis und Neuen Rechten in der BRD und über sie hinaus ermöglichten.

Der Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung wird sich als Forum des Austauschs und der fachübergreifenden Debatte weiterhin einmal jährlich treffen; eine Mailingliste steht allen Interessierten auf Nachfrage offen. Neben dem Austausch über laufende Projekte sehen wir den Arbeitskreis als einen Ort, an dem eine kritische Reflexion geisteswissenschaftlicher Praxis stattfinden kann. Schließlich waren Zeitschriften seit jeher auch Medien der Selbstbefragung und Selbstvergewisserung zwischen intellektuellen Sphären und ihrem Außen – oder, anders ausgedrückt, Medien der Rechenschaft über »Forderungen und Einsichten«, wie es bei der von Benjamin und Brecht geplanten Zeitschrift der Fall sein sollte. Das Dossier The worlds of cultural journals ist ein erster Schritt, um Reflexionsprozesse intellektuellen und politischen Handelns über Zeiten und Räume hinweg aufeinander zu beziehen – und die Zeitschrift als Krisenmedium theoretisch zu erschließen.

[1] Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 130. Vgl. auch Roman Léandre Schmidt: »Utopisch scheitern. Zwei Zeitschriftenprojekte«, in: Eurozine, 26.05.2010.

[2] Walter Benjamin: Memorandum zur Zeitschrift ›Krisis und Kritik‹, zitiert nach Wizisla: Benjamin und Brecht, S. 115.

[3] Jeffrey J. Williams: »The Rise of the Theory Journal«, in: New Literary History 40 (2009) 4, S. 683–702, hier S. 687.

Der Germanist Patrick Eiden-Offe arbeitet am ZfL im Forschungsprojekt Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik, Moritz Neuffer ist Stipendiat des ZfL-Doktorandenprogramms mit dem Projekt Die journalistische Form der Theorie. Zeitschriftenpublizistik und Theoriebildung in den 1950er bis 1970er Jahren. Beide sind Mitglieder des Arbeitskreises Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung, an dem sich u. a. das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) und das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) beteiligen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe/Moritz Neuffer: Was ist und was will kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung?, in: ZfL BLOG, 19.11.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/11/19/patrick-eiden-offe-moritz-neuffer-was-ist-und-was-will-kulturwissenschaftliche-zeitschriftenforschung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20181119-01

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