Hannah Arendt

geb. 14.10.06 Hannover,  gest. 4.12.75 New York

HA.s Elternhaus war war ‘reformjüdisch’, wie HA es mit ihren frühen rabbinischen Bezugspersonen bezeichnete: es war in der deutschen Gesellschaft verankert, sodaß die ethnische Zuschreibung im persönlichen Umfeld keine dominierende Rolle spielte. Insofern war HA eine jüdische Deutsche -  die inverse Polarisierung zu einer (deutschen) Jüdin wurde durch die spätere rassistische Verfolgung erzwungen. Den deutschen Bezugsrahmen, insbesondere zur deutschen Sprache, bewahrte sie auch in den späteren Emigrationsstationen.

HA ist in Königsberg aufgewachsen, wo ihre Schulkarriere alles andere als gradlinig verlief. Erst nach Umwegen machte sie 1924 ein externes Abitur. Danach studierte sie in München, Freiburg und Marburg Philosophie und Gräzistik, also mit einer „klassischen“ Ausrichtung. Im Studium hatte sie eine enge (zeitweise auch amouröse) Beziehung zu Heidegger. Sie studierte bei Husserl und promovierte schließlich 1928 bei Karl Jaspers, mit dem sie zeitlebens intellektuell verbunden blieb.

Jüdische Fragen waren für sie definiert durch die antisemitische Repression, die in moderne gesellschaftliche Verhältnisse ethnische Ausgrenzungen einzog. Insofern entdeckte sie sich als Betroffene. Sie bearbeitete das gespiegelt an der Biographie von Rahel Varnhagen, einer Jüdin in der deutschen Romantik, [1] und ging analytisch gegen den fundamentalistischen Rückzug auf eine jüdische Besonderheit an (zeitgenössisch in der nostalgischen Romantisierung des Ghetto bzw. des osteuropäschen Stetl beschworen, wie es literarisch etwa von Sholem Alejchem [Solomon Rabinovich, 1859-1916] inszeniert worden war). Sie definierte ihr Vorhaben als Rekonstruktion der gesellschaftlich mobilisierten Vorstellungen, gegen deren ethnische Naturalisierung. Den Schlüsselbegriff dafür fand sie bei Max Weber mit dessen Kategorie des Paria

Das intellektuelle Projekt der Auseinandersetzung mit der rassistischen Ausgrenzung und Verfolgung setzte sie praktisch in der Mitarbeit in zionistischen Hilfsorganisationen um, die auf die Auswanderung nach Palästina ausgerichtet waren (die im jüdischen Kontext als Calija, den "Aufstieg" ins gelobte Land Zion, bezeichnet wurde). Für sich selbst schloß sie diese Option aus, weil sie sich bewußt als deutsche bzw. europäische Intellektuelle verstand, wofür sie auch bei einer längeren Reise nach Palestina 1935 in Verbindung mit dieser Arbeit eine anschauliche Bestätigung fand. Obwohl die zionistische Auswanderung im Sinne der "völkischen" (und damit nationalsozialistischen) Neuordnung in Deutschland war, galt das nicht für deren jüdische Selbstorganisation; daher wurde HA im Juli 1933 von der Gestapo inhaftiert. Nach der Entlassung emigrierte sie über Tschechien und die Schweiz nach Frankreich, wo auch Günther Stern (alias Anders) war, mit dem sie seit dem gemeinsamen Studium (insbesondere auch bei Heidegger) verbunden war und den sie 1929 auch geheiratet hatte. Als explizit politisch Aktiver im Umfeld kommunistischer Organisationen war er bereits bei der Machtübergabe an die NSDAP nach Frankreich eimigriert. HA zog zu ihm nach Paris, wo sie zunächst auch zusammen wohnten, ohne aber ihre eheliche Gemeinschaft zu praktizieren; 1937 wurden sie geschieden.[2]

Auf Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus hatte HA mit dem Bruch ihrer Beziehung reagierte (die sie allerdings nach dem Krieg wieder aufnahm). In Paris war sie im engen Kontakt zu den dortigen Exilkreisen und weiter in zionistischen Organisationen tätig. Enge Beziehungen hatte sie dort zu Walter Benjamin und dann vor allem zu dem früheren kommunistischen Funktionär Heinrich Blücher (1899-1970), den sie 1940 nach der Scheidung von G. Stern heiratete und mit dem sie 1941 über Spanien und Portugal in die USA auswanderte. Politische Vorbehalte verzögerten dort ihre Einbürgerung, die erst 1951 erfolgte – bis dahin war sie staatenlos, nachdem sie 1937 in Deutschland ausgebürgert worden war. Das Leben in den USA führte zu einer Schärfung ihrer politischen Reflexion: sie bewunderte dort die freiheitliche Gesellschaftsordnung - und verabscheute die soziale Umsetzung im Alltagsleben. Insofern blieb sie eine Deutsche (bzw. Europäerin): in einem Brief an Günther Stern schrieb sie nach der Ankunft, daß sie das Land kennen, aber nicht lieben lernte (Q: Briefe 51). Zunächst hatte sie eine redaktionelle Stelle bei der Exilanten-Zeitschrift Aufbau. 1953 erhielt sie eine (befristete) Stelle am Brooklyn College in New York, 1963 eine Professur an der Universität Chicago, dann von 1967 bis zu ihrer Emeritierung 1975 eine Professur für Philosophie an der New School of Social Research in New York.

Ihre Veröffentlichungen spannen im weiten Feld der politischen Wissenschaft, bestimmt von einem intervenierenden, publizistisch umgesetzten Impuls, der auch zu öffentlichen Kontroversen führte wie insbesondere bei ihrer Berichterstattung (und den damit verbundenen Analysen) zum Eichmann-Prozeß 1961.[3] Ein publizistischer Erfolg, der erheblich zu ihrer Karriere in den USA beigetragen hat, war ihr Totalitarismus-Buch.[4] Mit dem Versuch, formal-institutionell totalitäte Herrschaftsformen unabhängig von den damit ausgetragenen gesellschaftlichen Verhältnissen (kapitalistisch gegenüber sozialistisch) zu isolieren, hat dieses erhebliche Kontroversen ausgelöst.[5] Ein durchgehender Zug, der ihre Arbeiten im politologischen Feld auszeichnet, ist ihr Versuch einer umfassenden historischen Rekonstruktion der konzeptuellen Ressourcen, von denen im politischen Diskurs Gebrauch gemacht wird. Entsprechend ihrem Studium griff sie dazu extensiv auf antike (insbesondere griechische) Quellen zurück, so besonders in ihrem als anthropologischem Entwurf angelegten The human condition.[6]

Zwangsläufig spielen sprachliche Fragen in ihren Werken eine Rolle, so in dem Totalitarismus-Buch mit einem langen Kapitel über Propaganda. Damit stellte sie allerdings auf organisatorische Aspekte der „Bewegungen“ ab. [7] Insofern geht es dort um die Verwendung von Sprache, mit der Unterscheidung ihrer Nutzung in der Auseinandersetzung mit den Gegnern (als Alternative zur Gewalt) gegenüber ihrer Funktion im Umgang mit den Anhängern auf der Line von Indoktrination. In diesem Sinne wird ihre Auseinandersetzung mit Sprache als begrifflich zu bearbeitendem Gegenstand in ihren politologisch ausgerichteten Veröffentlichungen nicht sichtbar. Anders ist es in ihren jetzt veröffentlichten Arbeitsheften, in denen sie die Möglichkeiten einer begrifflichen Abklärung durchspielt. [8]Im Vordergrund stehen für sie als Gräzistin die Vorgaben der antiken Reflexionstradition: bei Platon und Aristoteles sowie der rhetorischen Weiterführung  vor allem bei Cicero. Den argumentativen Gegenpol bildet in ihrer Argumentation die kritische Philosophie im Ausgang von Kant (vor allem bei dessen Kritik der Urteilskraft). Dabei ist die anthropologische Zielsetzung ihres Unternehmens durchgängig deutlich (vgl. die Parallele bei G. Stern), die für sie die begriffliche Klärung zu einem Balanceakt macht: mit der Abgrenzung zur in diesem Sinne unmenschlichen Logik auf der einen Seite, dem Animalischen (Leiblichen) als materialer Bedingung auf der anderen (der Gemeinsamkeit mit den nicht-menschlichen Tieren).

Sprache ist ein Moment der Praxis, und daher bestimmt in der Zeit (hier mit von ihr auch explizit gemachten Anklängen an Heideggers Analyse in Sein und Zeit). Bei der erkenntnistheoretisch definierten philosophischen Ausgangsposition ist der Gegenstand zunächst intellektuell gefaßt: als Denken und Gedachtes. Greifbar wird dieses aber nur durch die sprachliche Artikulation: als Gesagtes (als λεγόμενον, wie es schon Aristoteles in seiner ‚Metaphysik‘ bestimmte). Denken ist „stumm“, wenn es nicht sprachlich artikuliert wird (vgl. S. 528). Sprache definiert den Menschen durch die mit ihr eröffnete Freiheit gegenüber dem faktisch Gegebenen – mit der Lüge als deutlichstem Indiz (S. 627). Die sprachliche Artikulation nimmt auf, was in der Existenz des Menschen fraglich wird (vgl. wieder die Parallele bei G. Stern). Insofern ist die Logik anthropologisch gegenstandslos: die logische Form hat kein Subjekt (Subjekt ist bei ihr niemand, S. 122 und öfters). Logik kann nur formale Verknüpfungen explizieren (wie beim Schließen, dem aristotelischen Syllogismus): sie macht nur parasitär zur Sprache Sinn (S. 214).

Gegen eine formal ausgerichtete Theorietradition hebt sie hervor, daß Sprache in der Sprachpraxis fundiert ist (dem διαλέγεσθαι der platonischen Dialoge), die immer sozial artikuliert ist; auch in der Reflexion als Gespräch mit sich selbst wird eine Zweiheit aufgespannt (S. 214 u.ö.). In diesem Sinne werden auch die Fragen der Geltung des Gesagten sozial ausgetragen. Die philosophische Fixierung auf die Wahrheit führt als „Tyrannei der Vernunft“ (S. 502) von der anthropologischen Fragestellung nur ab: menschlich sind (im Gegensatz zur „unmenschlichen“ Logik) Meinungen (δόξα), die im Gespräch zur Geltung gebracht werden. So wie Mensch nur in der Pluralität seine Existenz findet (und nicht nur ein Individuum in der seriellen Realisierung eines Typus ist), so ist Sprache im Zwischen des sozialen Lebensraums definiert: die Grundstruktur sprachlichen Handelns ist die Ansprache des andern (z.B. S. 426).

Damit sind allerdings nur die Möglichkeiten der menschlichen (Sprach-) Praxis umschrieben. Diese werden nicht notwendig realisiert, wie beim Austausch sprachlicher Floskeln. Das verweist aber nicht nur auf den trivialen Alltag, sondern hat eine politische Dimension in totalitären Gesellschaftsformen. Für sie war das der formale Nenner, auf den sie ihre Konfrontation mit Eichmann beim Prozeß in Jerusalem als Banalität des Bösen gebracht hatte (s.o. Fn. 3). In diesen Notizen griff sie diese Problemstellung in systematischer Perspektive wieder auf (Vgl. z.B. S. 314) – damit auch in Reaktion auf die heftige Kritik, die sie für ihre Darstellung erfahren hatte.

Für ihr anthropologisches Projekt gilt aber auch, daß Sprache als kognitiv kontrollierte Artikulation nicht das gelebte Menschliche bewahrt. Dieses kann nur in symbolischer Form gezeigt werden – nicht aber artikuliert (vgl. das parallele Unternehmen bei Helmuth Plessner). Einen Ausdruck dafür hat sie in ihren Gedichten gefunden, in denen sie durchgängig diesen Bezug mit dem Herz anspricht.[9] Dabei arbeitete sie kontinuierlich an der Überwindung eines einfachen Dualismus von der vita activa gegenüber der vita contemplativa (der noch die Argumentation in ihrem Buch von 1958 bestimmte, s. Fn. 6): Denken und seine sprachliche Artikulation sind eben auch eine Form von Arbeit (im Sinne von Hegel und Marx, auf die sie in diesem Sinne durchgängig zurückgreift).

Insofern hat sie sich auf einer sehr grundsätzlichen Ebene mit Sprache auseinandergesetzt, wobei  Sprache durchweg eine emphatische Bedeutung hat, im Heideggerschen Sinne abgegrenzt gegen das Geschwätz, das Sprache „zerredet“ (vgl. z.B. S. 664): Sprache wird für sie als Artikulation des Denkens zur Geltung gebracht; beide sind eng gekoppelt. Damit wird ein Spannungsfeld aufgemacht: einerseits in der kognitiven Dimension mit der Überwindung der partikulären Eindrücke durch ihre konzeptuell allgemeine sprachliche Artikulation, andererseits aber deren anthropologisch konstitutive Pluralität (vgl. z.B. S. 484). Immer wieder thematisiert sie diese Spannung in der Sprachreflexion: mit den hypostasierenden Analysen der philosophischen Tradition, die Aussagen durch die Form analysieren, in der sie über etwas ausgesagt werden (das in ihnen besprochen wird), gegenüber der damit bewerkstelligten Praxis, die gesprochen wird (vgl. z.B. S. 643). Das Sprechen über etwas (und damit im Sinne seiner sprachlichen Fundierung auch das Denken über etwas) erfolgt in der Pluralität der sozial artikulierten Praxis, in einer Distanz zu dem Erleben (damit auch zum Fluß es Denkens als kognitiver Prozeß), vgl. z.B. S. 249, 279 u.ö. 

Sprachstrukturelle Fragen im engeren Sinne spielen bei ihren Überlegungen keine sonderliche Rolle, auch wenn sie gelegentlich schon mal darauf verweist (z.B. mit Bezug auf Humboldt, vgl. im "Denktagebuch" S. 690), Insofern gehören ihre einschlägigen Arbeiten zwar in das weitere Feld der Sprachforschung, aber ohne Bezüge zur Sprachwissenschaft.

Q: E. Young-Bruehl, Hannah -Arendt. For Love of the world. New Haven: Yale univ. pr. 1982 (dt. Frankfurt: Fischer 1986). Außerdem ihr Briefwechsel mit Günther Anders (hg. von K. Putz), Schreib doch mal hard facts über Dich. München Beck 2016.

 

[1] Rahel Varnhagen von Else (1771-1833) war eine jüdische Schriftstellerin, die  einen für die deutsche Romantik wichtigen Salon in Berlin unterhielt. Im Sinne der Aufklärung geht es in ihren Schriften (dazu gerechnet ein ausgedehnter Briefwechsel) um Emanzipation, vor allem auch der Frauen. H.A brauchte lange, um das Buch fertigzustellen. Es erschien als Rahel Vanhagen erst 1958 in London (bei East and West).

[2] Ihre Beziehung wurde von ihnen intellektuell in einem ausgedehnten Briefwechsel weitergeführt, s. die Ausgabe K. Putz (Hg.), H.A. - G. Anders: Schreib doch mal hard facts über Dich. Briefe 1939 bis 1975. München: Beck 2016.

[3] Erschienen 1963 fortlaufend in The New Yorker, dann gesammelt als Buch Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil. New York: Penguin 1963 (dt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Piper, München 1964). Ihre politisch reflektierte Analyse wurde vor allem auch von jüdischer Seite kritisiert, z.B. von Gershom Sholem, der daraufhin den Kontakt zu ihr abbrach (zu diesem s. bei Benjamin). 

[4] Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper 1955 – als Überarbeitung der ersten englischen Version New York 1951 (spätere englische Auflagen übernehmen die deutsche Neubearbeitung).

[5] S. dazu H.A. / Eric Voegelin, Disput über den Totalitarismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015.

[6] Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1958. Dt. unter dem Titel (mit dem sie nicht glücklich war) Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 1967.

[7] In der dt. Ausgabe, 20. Auflage 2017: 726 -766.

[8] H.A, Denktagebuch 1950 – 1973. München: Piper 2002, 2 Bände.

[9] Ihre Gedichte sind in das „Denktagebuch“ eingelassen, vgl. dort zu Herz z.B. S. 91-2, 119 u.ö.