Bossert, Hellmut Theodor
B. studierte nach dem Abitur (in Karlsruhe) in Heidelberg, Straßburg, München und in Freiburg im Hauptfach Kunstgeschichte, in dem er 1913/1914 auch mit einer Untersuchung über einen Tiroler Altar bzw. dessen Bildhauer promovierte. Danach war er zwei Jahre beim Freiburger Museum angestellt. Im Ersten Weltkrieg war er Reserveoffizier. In den folgenden Jahren arbeitete er im Bereich der Kunstgeschichte bei dem Berliner Verlag Wasmuth. Er veröffentlichte mehrere volks- bzw. völkerkundlich ausgerichtete Werke über ornamentale Kunst, die auch international Verbreitung fanden (Übersetzungen ins Englische, Französische und Spanische).[1] Mit diesen Werken verdiente er ein kleines Vermögen, das ihm eine Existenz als Privatgelehrter erlaubte. Bemerkenswert ist dabei sein Interesse für moderne dokumentarische Techniken, das sich nicht nur in diesen historischen Bildbänden zeigt, sondern auch in gegenwartsorientierten Werken: So veröffentlichte er drei Bände zur Geschichte der Fotographie »Aus der Frühzeit der Photographie 1840-1870«;[2] »Kamerad im Westen. Ein Bericht in 221 Bildern«[3] und »Wehrlos hinter der Front. Leiden der Völker im Krieg«;[4] von denen die beiden letztgenannten von der Zusammenstellung der oft (nach eigenen Angaben im Vorwort) »von der Zensur unterdrückten« Aufnahmen und der Bildunterschriften Antikriegsbücher sind.[5]
B. begann sich früh systematisch in die alt-mediterranen Kulturen einzuarbeiten, mit dem Plan eines enzyklopädischen Werkes dazu, von dem 1921 als erster Teil ein Band über »Altkreta«[6] erschien. Schon damals beschäftigten ihn systematisch Entzifferungsprobleme, wie seine Studie über mutmaßliche Götternamen in der hieroglyphen-kretischen- und hethitischen Überlieferung »Santas und Kupapa«[7] zeigt (mit Entsprechungen bei Meriggi). Den Abschluß des begonnenen zweiten Bandes über den zyprisch-syrischen Kulturkreis stellte er zurück, um systematischer zu den damals intensiv diskutierten kleinasiatischen Funden zu arbeiten. Seine Anträge auf Finanzierung einer eigenen Forschungsreise dazu hatten zunächst keinen Erfolg, aber 1933 erlaubte ihm die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft in Verbindung mit der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, sich an der Expedition von Kurt Bittel nach Boğazköi zu beteiligen. Hier trat er offen als NSDAP-Mitglied und Aktivist auf, offensichtlich bestimmt auch von der Hoffnung, so Karriere machen zu können.[8] Als B. später allerdings in Istanbul gegen den Direktor des dortigen Deutschen Archäologischen Instituts, Schede, und seinen Assistenten, Bittel, intrigierte, um selbst auf diese Stelle zu kommen, wurde er aus der Partei ausgeschlossen, so Güterbock, was auch dem Hinweis in dem Scurla-Bericht entspricht. Persönlich zeigte er offensichtlich, wie Güterbock berichtet, keinerlei Anzeichen von rassistischen Verhaltensweisen.[9] Er hatte allerdings bis Kriegsende offensichtlich keinerlei Probleme, in Deutschland zu publizieren (s.u.) – wobei er auch seine jüdischen Fachkollegen gebührend zitierte (so z.B. Güterbock).[10]
Seit 1934 war er am Archäologischen Institut der Universität Istanbul tätig, wo er die Abteilung für alte Sprachen und Archäologie des Nahen Ostens aufbaute. Sein späterer Arbeitsschwerpunkt waren entsprechend die altanatolischen Sprachen, ausgehend vom Hethitischen, zu dem er in Istanbul auch Lehrwerke verfaßte. Sein umfassendes kulturgeschichtliches Unternehmen bekam hier ein neues Fundament: 1942 erschien als zweiter Band »Altanatolien. Aufgehen in der griechischen Kultur«,[11] als Lehrbuch mit breiter Fotodokumentation (1217 Abb.) und einem umfassenden Kommentarteil und Bibliographie,[12] dem auch noch auf Türkisch erschienene Lehrwerke an der Seite stehen. Für den vorher schon begonnenen dritten Teil zum östlichen Mittelmeerraum war das Bildmaterial während des Weltkrieges schon gesetzt; der Band konnte nach dem Kriegseintritt der Türkei von B. nicht mehr fertiggestellt werden. Da B. nach dem Krieg durch seine Ausgrabungen in Karatepe (s.u.) gebunden war, übertrug er die redaktionelle Bearbeitung N. Naumann: »Altsyrien«.[13] Das Buch bietet wiederum eine umfassende Dokumentation (archäologisches Material aus Zypern, Syrien, Palästina, Transjordanien, Arabien, ergänzt durch Karten, Schrifttafeln u.dgl.) – im Vorwort protestiert B. gegen die Rezeption bei Fachkollegen, die in seinen Arbeiten nur »Bilderbücher« sehen wollen. In dieser Zeit nahm er seine frühen Studien zur Entzifferungsproblematik auf, zu der er einige monographische Detailstudien beisteuerte: In »Ein hethitisches Königssiegel«[14] dokumentiert und analysiert er vollständig das überlieferte Wortmaterial (hier des Palaischen); »Asia«[15] ist eine etymologische Studie, die wiederum auf eine umfassende quellenkritische Dokumentation der Belege (und ihre sprachwissenschaftliche Beschreibung) gestützt ist.
Durch die von ihm mit seinen türkischen Mitarbeitern entdeckten hethitischen Anlagen bei Karatepe (östl. Türkei, bei Adana; die Anlagen stammen aus dem 8. Jhd. v. d. Z.) bekam seine Arbeit eine neue Basis. Der türkische Staat übertrug ihm, der 1947 auch türkischer Staatsbürger wurde, offiziell die Ausgrabung, über die er 1945-1950 in den Istanbuler Universitätsschriften (auf Türkisch) publizierte. Die Bedeutung der Funde lag insbes. bei den phönizisch/hieroglyphen-hethitischen Bilinguen von Karatepe, auf deren Grundlage er wichtige Beiträge zur Schriftgeschichte und Sprachform beitrug (s. etwa »Die phönizisch-hethitischen Bilinguen von Karatepe«).[16] Von hier aus erweiterte er seine Untersuchung systematisch auf die weiteren altanatolischen Sprachen, insbes. das Luwische, aber auch das Hurrische u.a., wobei er systematische sprachstrukturelle Argumente benutzte, s. etwa »Ist die B-L Schrift im wesentlichen entziffert?«;[17] »Zur Vokalisation des Luwischen«;[18] »Scrittura e Lingua di Side in Pamfilia«[19] – wo er, wiederum anhand von Bilinguen, auf die Möglichkeit der Erforschung eines Substrats für das anatolische Griechisch verweist. Später führte er noch weitere Ausgrabungen in Kilikien durch (in Misis, dem alten Mopsuhestia), die aber keine Ergebnisse brachten.
Die Einheit seines wissenschaftlichen Projektes machte er bei diesen Arbeiten immer wieder deutlich: Auch da, wo er explizit die sprachliche Form analysiert, war er bemüht, über Stilanalysen der Quellen kulturelle Zusammenhänge zu erfassen. So schon in einer frühen Arbeit über die prä-hellenische mediterrane Poetik »Gedicht und Reim im vorgriechischen Mittelmeergebiet«,[20] wo er den Bogen von den Etruskern und Kelten über das minoische Kreta bis nach Anatolien spannt, sowie an der Analyse von reihenden Ausdrücken (wie bei Haus und Hof, Kind und Kegel), deren dominant auf- oder absteigende Form ihm ein Kriterium für die Sonderstellung des Hethitischen im Feld der anderen altanatolischen Sprachen/Kulturen liefert (»Über die Gradation in einigen altkleinasiatischen Sprachen«).[21] 1959 wurde er an der Univ. Istanbul emeritiert, las dort aber noch weiter. Die Verbindung zur deutschen Wissenschaft war für ihn wohl nie abgebrochen: So gab er seit 1949 (gemeinsam mit F. Steinherr) hier auch das Jahrbuch für Kleinasiatische Forschung heraus. Nach seiner Emeritierung wurde er in Freiburg/Br. zum Honorarprofessor ernannt.
Q: Widmann 1973; DBE 2005. Nachrufe von U. B. Alkim in: »Anadolu Arastirmalari« (Gedenkschrift für H. Th. Bossert),[22] Istanbul: Edebiyat Fakültesi Basimevi 1965, dort S. XIX-XXVII B.s Bibliographie; E. Weidner in: A. f. Orientf. 20/1963: 305-306.Würdigung in der elektronischen Liste Hethitologie: www.hethitologie.de (Robert Oberheid, Jan. 2009).
[1] S. seine Bibliographie im National Union Catalogue Pre-1956.
[2] Frankfurt: Societät 1930.
[3] Frankfurt: Societät 1930.
[4] Frankfurt: Societät 1931.
[5] Die pazifistische Haltung ist bei dem 1931 erschienenen Band im Vorwort explizit: »Dieses Buch klagt den Krieg an«, heißt es da.
[6] »Alt Kreta. Kunst und Kunstgewerbe im Agäischen Kulturkreise«, Berlin: Wasmuth 1921, das den geographischen Horizont bis nach Ägypten spannt, einen umfassenden »technischen« Abbildungsteil (u.a. auch Grundrisse zu Ausgrabungen) mit geschmäcklerischen Illustrationen eines »Publikumsbuchs« verbindet. Sprachliche Interessen zeigen sich hier bei den dokumentierten Quellentexten (S. 45-65).
[7] Leipzig: Harrassowitz 1932.
[8] Darüber zirkulieren verschiedene Aussagen, die auf ein Rundschreiben von Güterbock zurückgehen, mit dem dieser Kollegen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg über den Zustand der deutschen Altorientalistik in der Zeit des Nationalsozialismus informiert. Dieser bezeichnet B. dort als Nazi und berichtet ironisch von dessen enthusiastischem Auftreten dort, s. auch Bittel »Reisen und Ausgrabungen in Ägypten, Kleinasien, Bulgarien und Griechenland 1930-1934«, Stuttgart: Steiner 1998 (bes. S. 381ff.), sowie auch den Scurla-Bericht (Grothusen 1987: 131), nach dem er daraufhin aus der NSDAP ausgeschlossen wurde. Auf dieser Grundlage auch Hinweise bei S. Stadnikow, »Die Bedeutung des alten Orients für deutsches Denken. Skizzen aus dem Zeitraum 1871-1944«, dort Abdruck des Briefes von Güterbock S. 16-19 (http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/volltexte/2007/40/, Jan. 2009).
[9] Ansonsten hatte er wohl ein gespanntes Verhältnis zu vielen Emigranten, wo er in Briefen als »ekelhafter[r] Nazi-Spitzel« bezeichnet wird, s. Hoss (2007: 120).
[10] Z.B. in: Geistige Arbeit 5 (Heft 18, Sept. 1938), passim.
[11] Berlin: Wasmut.
[12] Als zeitgenössisches Stilistikum darf wohl nicht überbewertet werden, wenn dort (S. 9) der »altanatolische Geist dem griechischen durch Sprache und Rasse (sic!) als engverwandt« behauptet wird.
[13] Tübingen: Wasmuth 1951.
[14] Berlin: Istanbuler Forschungen 1944 (= Bd. 18 dieser Reihe).
[15] Istanbul: Universite Matbasi 1946.
[16] In: H. Kronasser (Hg.), »Mnemes Xarin. Gedenkschrift P. Kretschmer I«, Wien: Wiener Sprachgesellschaft 1956: 40-51.
[17] In: Orientalia NS 29/1960: 423ff.
[18] In: Orientalia NS 30/1961: 314-322.
[19] In: La Parola di Passato 13/1950: 32-46 – zuerst auf Türkisch erschienen.
[20] In: Geistige Arbeit 5 (18)/1938: 7-10.
[21] In: Bibliotheca Orientalia 12/1955: 51-54.
[22] Für die Mithilfe bei der Durchsicht des türkisch redigierten Bandes danke ich F. D. Aslan.