Fahrner, Rudolf
Geb. 30.12.1903 in Arnau (Nordböhmen), gest. 28.2.1988 in Landeck (Österr.) (IGL: 29.2.1988).
Nach dem Abitur 1921 (in Linz) Studium der Germanistik, Philosophie und Archäologie in Heidelberg, Kiel und Marburg, wo er 1925 promovierte (mit einer rein literarischen Arbeit: »Hölderlins Begegnung mit Goethe und Schiller«).[1] Von seiner Selbstauffassung und seinem Werk her war er Literaturwissenschaftler, der vor allem über die neuere deutsche Literatur (Hölderlin, Hofmannsthal, Goethe, Schiller...) arbeitete. Für die Habilitation 1928 ergänzte er dieses Spektrum in der »Alten Abteilung«.[2]
Die Habilitationsschrift »Wortsinn und Wortschöpfung bei Meister Eckehart«[3] präsentierte er literaturgeschichtlich in einem geistesgeschichtlichen Horizont. Zentral ist dabei aber die systematische Betrachtung der sprachlichen Form. Sein literaturwissenschaftliches Selbstverständnis ist wohl in seiner Ablehnung des für ihn dominanten sprachgeschichtlichen (»junggrammatischen«) Verständnisses der Sprachwissenschaft (der »Alten Abteilung«) begründet – programmatisch vertritt er eine »ganzheitliche« Position von der Einheit eines »sprachlichen« Faches. Faktisch ist seine Habilitationsschrift deskriptiv angelegt: sie erfaßt die Neologismen bei Eckehart im Bereich der Wortbildung und unternimmt eine semantische Analyse des Wortschatzes strikt im jeweiligen Kontext. Insofern ist die Arbeit ohne weiteres als Beitrag zur Lexikologie anzusprechen - was allerdings zeitgenössisch für F. ganz im Sinne der akademisch etablierten Sprachwissenschaft eine formal-etymologische und wortgeschichtliche Untersuchung verlangt hätte. Für sein Selbstverständnis war seine Zugehörigkeit zum George-Kreis ausschlaggebend, die wohl mit einer Festlegung auf ein deskriptives Handwerk unverträglich war.[4]
Am deutlichsten wird F.s sprachanalytische Position (wegen der ich ihn hier aufgenommen habe) in einer späten Schrift »Leichte Einführung in die Wortkunde«:[5] ein sprachphilosophischer Essay, in dem er im Gestus einer autobiographisch bestimmten Skizze mit jugendbewegten Zügen eine systematische Sprachreflexion in sprachbiographischer Perspektive entwirft. In heftiger Abgrenzung gegen alle Formen normativer Reduktion von Sprache (vor allem gegen die Vorstellung von Sprache als definierbarer Nomenklatur) insistiert er auf der Heterogenität des kulturellen Materials der Sprachpraxis auf der einen Seite (mit ihren sozialen und regionalen Differenzierungen; Sonder- und Fachsprachen; konnotativ strukturierten Gemeinsamkeiten von Generations-, Freundes- u. dgl. Sprachen), der synthetischen Funktion von Sprachbewußtsein (wertender Sprachhandlungen) auf der anderen Seite, die zu bewußten Stilisierungen führt (zwangsläufig in der Pubertät, ästhetisch ausgearbeitet in der Kunst). Autobiographische Züge werden deutlich, wenn er die Entdeckung (der Sprache) des »einfachen Mannes« beim Militär anspricht oder das Spracherleben in der Fremdsprache beim Leben im Ausland, das das muttersprachliche Bewußtsein (die Sprachbewertung) ändert. Der Essay versteht sich explizit als Einführung in eine Sprachanalyse, die überhaupt erst eine sinnvolle formale (grammatische) Sprachbetrachtung fundieren kann (S. 398-399) – und als solche korrespondiert sie verblüffend mit dem, was damals gleichzeitig »studentenbewegt« als Reform der Sprachwissenschaft in den »Alten Abteilungen« gefordert wurde (Stichwort »Soziolinguistik«), wobei F. in der Ausdifferenzierung der Sprachpraxis mit dem Akzent auf der Integration im Sprachbewußtsein bzw. der Sprachbewertung/konnotativer Strukturen Fragestellungen antizipierte, die erst 10-15 Jahre später artikuliert wurden. Soweit ich sehe, ist F.s Beitrag in diesen Debatten nicht zur Kenntnis genommen worden; dagegen sprach sein wissenschaftsferner Gestus – und wohl auch der persönliche Status des Autors.
F. lehrte nach seiner Habilitation 1928 in Marburg »das gesamte Gebiet der neueren Deutschen Literatur« (so die Venia). 1934 wurde er mit der gleichen Venia a.o. Prof. in Heidelberg; er lehrte 1934 und 1936 dieses Fach auch auf den Sommeruniversitäten in Santander (im republikanischen Spanien!). Obwohl ihn die Studentenschaft in Heidelberg zunächst begeistert empfing, kam es bald zu politischen Kontroversen, da sich F. den Zumutungen, »ihn zu einer Gemeinschaft heranzuziehen«, entzog, und so »gegenüber der Aufbauarbeit der nationalsozialistischen Universität vollkommen versagte« (Zitate aus der Stellungnahme des Dekans H. Güntert 1936). Ende 1935 ließ er sich zunächst aus Gesundheitsgründen vom Dienst beurlauben.[6] Die Universitätsleitung versuchte, F. abzuschieben – fand aber keine formale Handhabe dazu. Im Sommer 1936 wurde er für vier Jahre aus »Gesundheitsgründen« beurlaubt (was dem offiziellen Auftrag des Reichserziehungsministeriums nicht widersprach, gleichzeitig in Santander zu lehren). Daraufhin schied F. auf eigenen Antrag hin aus dem Staatsdienst aus, wurde aber zum nicht beamteten a.o. Professor ernannt (ohne Lehrtätigkeit) und erhielt eine monatliche Beihilfe. Seit 1937 bemühte F. sich wieder, seinen Dienst aufzunehmen (er bekräftigte dazu u.a. auch seinen »Treueeid auf den Führer«); die Universität intervenierte dagegen. In dieser Zeit wurde F. von der Notgemeinschaft als »displaced scholar« avisiert (in den Listen von 1937). Er konnte in dieser Zeit keine Arbeiten im Reich veröffentlichen.
Als im Sommer 1938 die griechische Regierung beim REM einen Kandidaten für die neugeschaffene germanistische Professur in Athen anforderte, wurde F. dafür vorgesehen, der diese auch annahm.[7] Wegen Unklarheiten in der Besoldungsfrage trat er den Dienst erst im Oktober 1939 an. 1941-1944, in der Zeit der deutschen Okkupation, leitete er in Athen auch das Deutsche Wissenschaftliche Institut.[8] 1945 sollte er zum o. Professor im Reichsdienst ernannt werden; der Ernennungsakt fand formal aber nicht mehr statt (der Kürschner verzeichnete ihn allerdings 1941 schon als »beurlaubt« und als »ordentlichen Professor der Universität Athen«). Er behielt seine Funktion in Athen auch bis 1945, also noch nach dem deutschen Abzug aus Griechenland im Oktober 1944 (über seine konkreten Aktivitäten in dieser Zeit habe ich nichts in Erfahrung gebracht).
Seine politischen Aktivitäten sind einigermaßen unklar: nach Ausweis der Unterlagen im Bundesarchiv war er nicht Parteimitglied; aber 1933 war er der Reiter-SA beigetreten, s. Buselmeier [Q] (1985: 64), und er hatte auch das »Bekenntnis der Professoren...zu Adolf Hitler« (1933) unterzeichnet. Auch seine publizistischen Aktivitäten paßten in die Legitimationsbeschaffung für die angestrebte imperialistische Neuordnung Europas im 2. Weltkrieg. Aus der SA war er alledings 1935 wieder ausgetreten und in Heidelberg verweigerte er sich allen Formen der Zusammenarbeit mit NS-Aktivitäten, was entsprechende Widerstände gegen ihn auslöste. [9]
1942 publizierte F. in Deutschland die Übersetzung eines Manifestes der romantischen neugriechischen Bewegung des 19.Jhdts. (»Neugriechisches Gespräch. Der Dialog des Dionysos Solomos«),[10] in dem der Kampf des griechischen Volkes gegen die türkische Fremdherrschaft auf die gleiche Stufe wie der Kampf für die Dhimotiki gegen die Katharewusa gestellt wird.[11] Wenn F. in seinem pathetisch geschriebenen Vorwort das als einen für die deutschen Leser wichtigen Beitrag zum Verständnis des »neuen griechischen Volkes, des jüngsten Geschwisters der europäischen Kulturvölker« (S. 6 der unpaginierten Einleitung) präsentierte, dann paßte das zu parallelen kulturbeflissenen propagandistischen Schriften zu den Balkanvölkern, die damals publiziert wurden.[12] Andere seiner Schriften bewegen sich im Pathetisch-Großartigen, mit dem das Schicksal beschworen wird, etwa seine Rede »Zum Hölderlintag«, gehalten am 20. März 1940 vor den Schülern der Deutschen Schule in Athen.[13]
Nach dem Krieg wurde F. nicht entnazifiziert und blieb bis 1950 ohne Anstellung.[14] Von 1950 bis 1958 war er dann o. Prof. für deutsche Sprache und Literatur an der Univ. Ankara, wo er in seinem alten Stil weitermachte, s. etwa seine pathetische Rede »Schiller unter den Deutschen« (mit einer weiteren interpretatorischen Arbeit in: »Schillergedenkschrift«).[15] Von 1958 bis zu seiner Emeritierung 1970 war er o. Prof. für Literaturwissenschaft an der TH Karlsruhe (1965/1966 für eine Gastprofessur in Kairo beurlaubt). 1969 erschien eine Festschrift,[16] die zwar keinen eigenen Personalschrifttumsteil enthält, deren Hg. aber F. als Kämpfer »gegen den Geist der Zeit« (mit Hinweis auf die Niederlegung der Professur in Heidelberg) rühmt, der auch dem Widerstandskreis des 20. Juli. nahegestanden habe. Tatsächlich war F. über den George-Kreis den Brüdern Stauffenberg persönlich verbunden und vielleicht auch literarisch beim Entwerfen für Zukunftsperspektiven im Neuen Deutschland nach dem geplanten Sturz Hitlers tätig. Gedichte eines der beiden Brüder gab er später auch mit einem georgianisch stilisierten Nachwort heraus (»Alexander Schenk Graf zu Stauffenberg: Denkmal«).[17] Bei den Beiträgen der FS fehlen, F.s Selbstverständnis entsprechend, sprachwissenschaftliche Arbeiten. Außer literaturwissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte F. zahlreiche belletristische Schriften (Gedichte, Prosa, »Dramolette«), meist als Privatdruck, in ungebrochener Kontinuität seit seiner Studentenzeit, in der er zum Umfeld des Kreises um Stefan George gehörte.
Q: Kürschner (auch 1941); Gundlach/Auerbach 1979; Buselmeier 1985; IGL (K. Buselmeier); Personalakten im Univ. Archiv Heidelberg; S. Bianca, »R. F. – ein Lebensbild«, in: Sezession 4/2004: 2-8 (hg. vom Institut f. Staatspolitik); Nachruf (D. P.) in: Badische Neueste Nachrichten v. 4.3.1988; Köhler 2005.[18]
[1] Marburg: Elwert 1925.
[2] Zu seiner Habilitation und den Aktivitäten in Marburg, s. Köhler 2005: 283-285; 386.
[3] Marburg: Elwert 1929.
[4] S. dazu die autobiographische Darstellung seiner Rolle in diesem Kreis (bes. zu Wolters) in: R. Boehringer, »Mein Bild von Stefan George«, München: Küpper 1951: 219-220; dort auf S. 144 ein frühes Foto von F.
[5] In: FS Simon Moser (»Die Philosophie und die Wissenschaft«), Meisenheim: Glan 1967: 383-399.
[6] Bianca (Q) suggeriert, daß er damit einer dienstlich veranlaßten Entlassung wegen politischer Unzuverlässigkeit zuvorgekommen sei; zu den Konflikten in Heidelberg, s. auch Kühlmann in Eckart u.a. 2006: 362-364.
[7] Daß F. im REM Unterstützung fand, gehört zu den widersprüchlichen Spannungen im NS-Regime. Dabei spielte offensichtlich Scurla eine Schlüsselrolle (s. Bianca, Q), der für die großdeutsche Außenpolitik im Wissenschaftssektor zuständig war, s. hier bei den Türkei-Emigranten.
[8] Zu seinen Aktivitäten am Deutschen Wissenschaftlichen Institut in Athen, s. Hausmann 2001, passim.
[9] Für detaillierte Hinweise dazu s. J. Riecke, Eine Geschichte der Germanistik und der germanistischen Forschung in Heidelberg. Heidelberg: Winter 2016:83 - 86.
[10] München: (Selbstverlag?) 1943.
[11] Dhimotiki (»Volkssprache«), die Umgangssprache, Katharewusa (»reine« [Sprache]), die am Altgriechischen ausgerichtete Hochsprache (inzwischen obsolet).
[12] Etwa von Thierfelder.
[13] O.O. und o.J. – wohl München 1940.
[14] Er gehörte zur Gruppe der »131-er Professoren«, die sich in den Anfangsjahren der BRD als Lobby-Gruppe formierten und nach 1953 meist auch wieder in den Dienst aufgenommen wurden, s. Maas (2016): 224.
[15] Ankara: Philosophische Fakultät (Türk Tarih Kurumu Basimevi) 1956.
[16] G. Großklaus (Hg.), Geistesgeschichtliche Perspektiven, Bonn: Bouvier.