Freudenthal, Hans
Geb. 17.9.1905 in Luckenwalde, gest. 13.10.1990 in Utrecht/NL.
In seiner Autobiographie (Q) beschreibt er, wie er in einer jüdischen Familie aufgewachsen ist, wozu auch die intimen Kenntnisse nicht nur des Hebräischen, sondern auch weiterer (alt-)semitischer Sprachen gehörten. 1923 Abitur in Luckenwalde. Seine breiten (auch künstlerischen!) Interessen bestimmten seine Studienzeit 1923-1930, nicht nur der Mathematik, Physik und Philosophie, sondern auch mit einem mehr literarisch bestimmten Semester in Paris, sowie in Berlin auch der Besuch der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Bereits während des Studiums arbeitete er als Hilfskraft am Jb. f. Fortschritte der Mathematik. Seit 1927 hatte er Kontakte zu Brouwer, dem führenden mathematischen Grundlagenforscher in den Niederlanden (der »intuitionistischen« Richtung).[1]
1930 legte er seine Dissertation vor (»Über die Enden topologischer Räume«[2]), mit der er im folgenden Jahr promoviert wurde; im Jahr darauf wird er dort auch habilitiert. Da er in Deutschland keine Möglichkeit sah, eine Stelle zu bekommen, war er bereits vorher schon einer Einladung Brouwers an dessen Institut in Amsterdam gefolgt, wo er von 1931-1941 tätig war. In dieser Zeit publizierte er zu grundlegenden Fragen der intuitionistischen Mathematik und zur Übersetzbarkeit "klassischer" Kalküle in diese.[3]
Von der deutschen Besatzung wurde er 1941 entlassen. 1943 wurde er in einem Arbeitslager interniert, aus dem er 1944 fliehen konnte; bis Kriegsende lebte er danach im Untergrund. 1946 erhielt er eine mathematische Professur an der Univ. Utrecht, die er bis zur Emeritierung 1976 innehatte (zwischenzeitlich war er dort auch Rektor). Neben seinem Hauptforschungsgebiet Topologie hat F. breit in der mathematischen Grundlagenforschung gearbeitet (im Sinne einer phänomenologischen Fundierung der Mathematik, wie sie die Intuitionisten betrieben; er hatte aber auch enge Kontakte zum Wiener Kreis, bes. zu O. Neurath) sowie auch in der Mathematikdidaktik. Obwohl er von dort aus Bedenken gegen die neue formale Mathematik hatte (die sog. Bourbaki-Richtung), betrieb er (nach eigener Aussage) deren Einführung in den Niederlanden. Ohnehin bildeten didaktische Fragen in den letzten Jahren seinen Arbeitsschwerpunkt: 1971 begründete er ein Institut für Mathematikunterricht an der Universität Utrecht, IOWO (nach seinem Tod in Freudenthal-Institut umbenannt). In der internationalen Mathematikerszene gehört er zu den Großen, wie die zahlreichen Ehrungen, Präsidentschaften von Kongressen u. dgl. zeigen.
F. hat sich intensiv mit sprachwissenschaftlichen Grundlagenproblemen auseinandergesetzt, wie sein Buch »Lincos. Design of a language for cosmic intercourse. Part I«[4] zeigt. In der Linie der intuitionistischen Metamathematik hat er dort eine Kalkülsprache entwickelt, die über alle Probleme zu kommunizieren erlaubt – also nicht nur auf Aussagen beschränkt ist und überhaupt im Bereich der Semantik sehr reich ist (verglichen mit den logistischen Kalkülsprachen der Russell-Carnap-Tradition). Wieweit der Anspruch des »cosmic intercourse« ernst gemeint ist, bleibt offen: er steht polemisch gegen konventionalistische Sprach- (sprich: Mathematik-) Auffassungen. Da der Kalkül konstruktivistisch aufgebaut ist, ist er prinzipiell von jedem intelligenten Wesen rekonstruierbar – insofern eben auch von extraterrestrischen.[5] Die Auseinandersetzung mit syntaktischen Kategorien der »natürlichen« Sprachen, die Bezugspunkt für diese Konstruktion sind, ist durchaus nicht-trivial – und wäre mit denen Reichenbachs genauer zu vergleichen.
Als Sprachkritiker betätigte er sich auch im Rahmen der mathematischen Grundlagenforschung, wo er die Probleme der Umgangssprache als Metasprache der Mathematik analysierte: seine Stilanalyse der »Sprache der Mathematik« in ihrer Veränderung seit dem 19.Jhd. (komplementär zu der zumeist nicht weiter begründeten fortschreitenden Formalisierung) ist in dieser Hinsicht aufschlußreich, s. etwa »The implicit philosophy of mathematics today«.[6] Die Begründungsprobleme der Mathematik waren für ihn auch solche ihrer Lernbarkeit und damit solche der mathematischen Sprache. Dabei geht er in seinen Arbeiten zurück auf die Grundfigur der Symbolisierung als erster Stufe mathematischer Formalisierung, die zwangsläufig an die sprachspezifischen Strukturen der jeweiligen »Umgangssprache« gebunden ist. Darauf baut die Mathematik i. e. S. als Ensemble symbolische Operationen in der so geschaffenen Symbolwelt auf, die aber eben (anders als bei der axiomatischen Gegenposition eines Hilbert) doch immer an die Erfahrungen rückgebunden bleibt.[7] Zu dieser Seite seines Werks, s. die Beiträge in der Gedenkschrift (Q). Dort wird auch ein instruktives Beispiel für seine Argumentation abgedruckt: »Thoughts on Teaching Mechanism. Didactical phenomenology of the concept of force« (S. 71-87).
In seiner Autobiographie beschreibt er anekdotisch, wie er dank der Solidarität der niederländischen Bevölkerung auch die deutsche Besatzungszeit überleben konnte (eine Emigration in die USA hatte er Ende der 30er Jahre erwogen, aber keine Möglichkeit dazu gesehen). Er war zunehmend literarisch-publizistisch tätig und lebte wohl auch davon: seit 1940 schrieb er auf niederländisch: Gedichte, Prosastücke, später auch journalistische Glossen u. dgl. – Deutsch war für ihn, wie er in der Autobiographie sagt, zur Fremdsprache geworden. Bei seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Niederländischen hatte er übrigens auch begonnen, davon eine Grammatik (auch in Hinblick auf die Poetik!) zu schreiben (s. dort S. 317).[8] Seine Heimatstadt Luckenwalde hat ihm noch kurz vor seinem Tod 1990 die Ehrenbürgerschaft verliehen.
Q: F.s Autobiographie »Schrijf dat op, Hans. Knipsels uit een Leven«, Amsterdam: Meullenhoff 1987; Pinl III; Nachrufe: H. van Bos, in: Historia Mathematica 19/1992: 106-108; K. Strambach/F. D. Veldkamp, in: Geometria dedicata 37 (2)/1991: 191; Gedenkschrift L. Streefland (Hg.), »The Legacy of H. F.«, Dordrecht usw.: Kluwer 1993.
[1] Brouwer war im WS 1926-1927 in Berlin.
[2] Berlin: Springer 1931.
[3] S. z.B. von ihm "Zur intuitionistischen Deutung logischer Formeln", in: Compositio Mathematica (Groningen) 4 / 1936: 112 – 116.
[4] Amsterdam: North Holland 1960 (mehr wohl nicht erschienen).
[5] Nach Einschätzung von Uwe Mönnich (pers. Mitteilung) stellt der von F. hier entwickelte Ansatz allerdings mehr auf nachrichtentechnische Probleme (die ungestörte Übertragung von Nachrichten) ab, als auf einen systematischen theoretischen Entwurf. Die einzige mir bekannte Reaktion auf das Werk aus sprachanalytischer Perspektive findet sich bei Martin Lang, Spiegel Philosophie. Ausgewählte Nachrichten, philosophisch buchstabiert. Osnabrück: Selbstverlag 2014: 635 (der sich dort auch in seinen Erwartungen an das Werk enttäuscht gesehen hat).
[6] In: R. Klibansky (Hg.), »La philosophie contemporaine«, Bd. 1, Florenz: La nuova Italia 1968: 342-368, bes. S. 355ff.
[7] Insofern mit Entsprechungen zum phänomenologischen Programm, s. hier bei Husserl. Zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund der mathematischen Grundlagendiskussion s. z.B. Mehrtens 1990, wo F. durchgängig als Vertreter und Interpret des Intuitionismus erscheint.
[8] Dazu wird beigetragen haben, daß er mit der niederländischen Germanistin Susan Lutter verheiratet war.