Hercus, Luise Anna (geb. Schwarzschild)
Geb. 16.1.1926 in München.
Ihre jüdische Familie floh vor der rassistischen Repression 1938 nach England, wo sie unter offensichtlich schwierigen materiellen Verhältnissen leben mußte, unterstützt von Familienangehörigen in den USA. 1943 begann H. ihr Studium der Romanistik mit einem Stipendium in Oxford, wo sie noch vor ihrem Abschlußexamen einen Lehrauftrag erhielt. Später studierte sie zusätzlich noch Indologie, in der sie 1948 das Examen ablegte.
Zunächst publizierte sie noch sporadisch zu romanistischen Fragen, etwa zu einem lautgeschichtlichen Problem in der altfranzösischen Eulalia-Sequenz („A problem of Early Walloon phonology“),[1] später breit in der Indologie mit ausgesprochen formalen sprachwissenschaftlichen Beiträgen. Ihr Schwerpunkt lag dort beim Mittelindischen, wobei sie sich für dessen Rekonstruktion ausgiebig auf die Befunde der neuindischen Mundarten stützte, so z.B. bei der Rekonstruktion der variationsreichen Futurbildungen: „Notes on the future system in Middle Indo-Aryan“,[2] oder der ebenfalls variationsreichen Entwicklungen infinitivischer Formen: „Notes on the history of the infinitive in Middle Indo-Aryan“.[3]
Bei methodischen Fragen verweist sie in früheren Arbeiten gelegentlich auch noch auf Parallelen in der Romanistik, wo vergleichbare Komplikationen durch das Nebeneinander von (progressiven) gesprochenen Dialekten und koexistierender (konservativer) Schriftsprache bestehen, s. „Notes on the declension of feminine nouns in Middle Indo-Aryan“.[4] Gelegentlich publiziert sie auch noch auf französisch, so ihre Studie „Quelques adverbes pronominaux du moyen indien“,[5] wo sie die Spannung zwischen „lautgesetzlicher“ Entwicklung und paradigmatischer Remodellierung der Formen behandelt.
1956 heiratete sie den australischen Physiker Graham Hercus, dem sie im gleichen Jahr nach Melbourne folgte. Dort unterrichtete sie zunächst Sanskrit an der Melbourne University und setzt auch ihre indo-arischen Publikationen fort (vor allem mit einer ausgedehnten Rezensionstätigkeit). Demgegenüber brechen ihre romanistischen Publikationen im Jahr der Übersiedlung ab. Die indologischen Arbeiten bekommen jetzt auch einen deutlicheren strukturalen Zuschnitt: Lautgeschichtliche Untersuchungen sind orientiert auf silbenstrukturelle Beschränkungen auf der einen Seite und grammatische Domänenbeschränkung auf der anderen wie in „Some ‚unusual‘ sound-changes in Prākrit“.[6]
Indiz dafür, daß sich ihre Interessen verschieben, sind die syntaktischen Fragen, die jetzt in den Vordergrund ihrer Arbeit kommen, z.B. die Infinitivbildungen in Zusammenhang mit dem Ausdruck der Personalmarkierung in: „A study of some features of the imperative in Middle Indo-Aryan“.[7] Das entspricht Fragen, wie sie sich bei der Syntax der australischen Sprachen stellen, mit deren Studium sie jetzt begann. Auslöser dafür war die Unterbringung eines Aboriginee-Kindes in ihrem Haus, dessen Schicksal sie sehr berührt hat, s. den autobiographisch angelegten Bericht über ihre Arbeiten „Listening to the last speakers“.[8] 1982 gab sie mit anderen noch eine Festschrift für den Indologen de Jong heraus („Indological and Buddhist Studies“),[9] trug selbst aber nicht mehr dazu bei. 1969 wurde sie zur Dozentin für Sanskrit und Prākrit (Mittelindisch) an der Australian National University in Canberra ernannt, wo sie 1976 auch den Ph. D. für ihre publizierten Arbeiten der Indologie und zu den australischen Sprachen erhielt.[10]
Gegenstand ihrer späteren Untersuchungen sind zunächst die sprachlichen Verhältnisse in ihrem Heimatstaat Victoria, in dem die australischen Sprachen bis dahin als ausgestorben galten. Als Ergebnis systematischer Recherchen in den Jahren 1962 – 1966 publizierte sie 1969 eine Bilanz der noch greifbaren Reste und eine Rekonstruktion der Verhältnisse in “Victorian Languages: A late survey in two parts”.[11] In der von ihrer Ausbildung her gewohnten Weise bemüht sie sich um die Rekonstruktion der Dialektgeographie in dem Gebiet von Victoria, wobei sie die Isoglossen als Spuren der Wanderungsgeschichte (der verschiedenen Wellen der Einwanderung) zu deuten versucht, allerdings mit dazu quer liegenden Befunden vor allem in der Phonologie. Den größten Teil des Bandes bildet ein vergleichend angelegtes Wörterbuch.
Ihre philologische Orientierung behält sie auch bei den weiteren Arbeiten zu den australischen Sprachen bei. In diesem philologischen Sinne bearbeitet sie die z.T. nur entstellt überlieferten Texte aus der frühen Missionarszeit unter kritischer Heranziehung ihrer Rekonstruktion der Verhältnisse in Victoria, s. „Texts in Victorian languages“.[12] Vor dem Hintergrund ihrer Rekonstruktion ist es ihr sogar möglich, aus den spärlichen Daten der Erinnerung an eine andere Sprache bei einem hundertjährigen Gewährsmann aus Victoria deren Struktur zu rekonstruieren, s. „A note on Narinari“.[13] Gerade bei derartigen Arbeiten ist sie immer bemüht, den fragmentarischen Zustand der Überlieferung nicht ihren Gewährsleuten zuzuschreiben, wie es die folkloristische Überlieferung der Texte mit sich bringt, sondern den repressiven Verhältnissen, unter denen diese leben mußten, s. dazu ausführlich in ihrem entsprechenden Rekonstruktionsversuch „A grammar of the Wirangu language from the West Coast of South Australia“.[14]
H. unternahm ihre Forschungen zu den australischen Sprachen in einer Zeit, als die koloniale Tradition der Unterdrückung, um nicht zu sagen: der Ausrottung der Aboriginees noch ungebrochen war; entsprechend waren die Probleme ihrer Arbeit, nicht zuletzt auch die Widerstände auf Seiten der potentiellen Gewährsleute. Inzwischen lebt vermutlich in Victoria kein Sprecher der dortigen Aboriginee-Sprachen mehr, so daß H.s Buch die wichtigste Quelle für die weitere Arbeit in diesem Bereich ist. Aus der Arbeit mit den von ihr noch aufgespürten Gewährsleuten in Victoria ergab sich für sie zwangsläufig die regionale Ausweitung: Entsprechend den greifbaren Verwandtschaftsverhältnissen der Gewährsleute, aber auch dem geographischen Raum der Stammeswanderungen weitete sie den Horizont ihrer Untersuchungen auf New South Wales aus. So hat sie eine umfassende Beschreibung des Bāgandji vorgelegt, das in einer an Victoria angrenzenden Region von New South Wales gesprochen wird, auf der Grundlage von selbst erhobenen Daten, die ihr eine detaillierte Darstellung der dialektalen Differenzierungen erlauben, die sie wiederum in Isoglossenkarten darstellt. Die umfangreichen Texte, die sie erhoben hat, erlauben hier auch eine detaillierte Grammatik und vor allen Dingen auch eine Syntax. Auch hier mündet die Darstellung in einem historischen Rekonstruktionsversuch; s. dazu auch schon vorher „Dialectal Differentiation in Bāgandji“.[15] Zu einer besonders auffälligen Erscheinung in einer dialektalen Variante dieser Sprache, dem Gunu, in dem aufgrund besonderer Sandhi-Erscheinungen die enklitisierten Pronomina gewissermaßen für Tempusdifferenzen flektiert erscheinen, hatte sie bereits vorher publiziert („Tense Marking in Gunu-Pronouns“).[16]
Inzwischen war sie zu einer Autorität in der australischen Sprachforschung geworden, so daß ihre Arbeit auch vom Australian Institute of Aboriginal Studies (Adelaide) unterstützt wurde; dort bildete sie eine ganze Reihe von jüngeren Sprachwissenschaftlern auf diesem Gebiet als persönliche Schüler aus (sie sind als Beiträger in ihrer Festschrift [Q] versammelt). H. besitzt offensichtlich die Fähigkeit, das Vertrauen der eingeborenen Gewährsleute zu erwerben, die dann auch bemüht sind, ihr ihr Wissen um die Tradition anzuvertrauen.[17] Die Bedingungen dafür schafft sie bei ihren Feldforschungen durch gemeinsame Exkursionen mit den Gewährsleuten zu den traditionellen Plätzen, an die rituelle Erzählungen und Gesänge gebunden sind, so daß die Gewährsleute sie dort erinnern und vortragen können, als Grundlage für die Aufzeichnungen von H. So bemüht sie sich auch bei ihren sprachwissenschaftlich formalen Analysen, die in die Sprachstrukturen eingeschriebenen kulturellen Verhältnisse zur Geltung zu bringen, z.B. die spezifischen Verwandtschaftsverhältnisse in den komplexen Pronominalsystemen, s. (mit I. White) „Perception of kinship structure reflected in the Adnjamathanha Pronouns“[18] (das Adnjamathanha ist ebenfalls eine Sprache am Nordrand von Victoria).
In dieser Zeit waren, nicht zuletzt aufgrund der Arbeiten an der National University in Canberra, wo H. arbeitete, die australischen Sprachen zunehmend in das Zentrum der typologisch orientierten allgemeinen sprachwissenschaftlichen Diskussionen geraten. H. beteiligt sich zwar nicht an den theoretischen orientierten Diskussionen, indirekt spiegeln diese sich aber doch in ihren späteren Arbeiten, insbesondere die Diskussionen um den typologisch kritischen Punkt, die offensichtlich „flache“ („nicht konfigurationelle“) syntaktische Struktur in diesen Sprachen. Gewissermaßen als Antwort auf diese Diskussionen legte sie eine gerade im grammatischen Bereich sehr detaillierte Beschreibung vor: „A Grammar of the Arabana-Wangkangurru Language, Lake Eyre Basin, South Australia“,[19] wo sie die syntaktischen Verhältnisse als gesteuert von der reichen Morphologie entwickelt, die sie entsprechend detailliert darstellt. Bemerkenswert an dieser Grammatik ist der große Raum, den sie stilistischer Variation etwa in der Wortstellung einräumt, der in der neueren syntaktischen Diskussion einen zentralen Raum einnimmt.
Seit 1974 (nach dem Tod ihres Mannes) lebt sie auf einer von ihr selbst bewirtschafteten Farm in der Nähe von Canberra, wo sie von der Schafzucht bis zur Wartung des Maschinenparks sich auch um die praktischen Alltagsprobleme kümmert (s. die Darstellung von White in der Festschrift, Q) – und wo sie eine Zuflucht für australische Wildtiere geschaffen hat. Ihre Forschungen führt sie auch nach der Pensionierung weiter, genau so wie ihre Mitherausgeberschaft (seit 1973) der “Papers in Australian Linguistics/Pacific Linguistics”. In den letzten Jahren arbeitet sie an den Unternehmungen mit, die genetischen Verhältnisse der australischen Sprachen (insbes. der großen südlichen Pama-Nyunga-Gruppe) zu klären, so (gemeinsam mit J. Simpson) „Thura-Yura as a subgroup“,[20] mit einem umfangreichen etymologischen Wörterverzeichnis, das lautgeschichtliche Entwicklungen zu extrapolieren erlaubt, und (mit P. Austin) „The Yarli languages“.[21] Gewissermaßen orthogonal dazu analysiert sie den Abbau der genuinen grammatischen Strukturen in Folge der Isolation der letzten Sprecher und des dominanten Kontakts mit dem Englischen, dessen Strukturen die Fluchtlinie für den sprachlichen Umbau bilden, so z.B. beim Verlust der grammatischen Kategorie (± veräußerbar), die bei den letzten Sprechern nur noch in idiomatischen Spuren zu fassen ist: „The influence of English on possessive systems as shown in two Aboriginal languages, Arabana (northern SA) and Paakantyi (Darling River, NSW)“.[22]
Aktiv wirkt sie in den letzten Jahren bei der Politisierung der Sprachforschung zu den Aboriginee-Sprachen mit, die sich durch die Prozesse in der Folge des „Aboriginal Land Rights Act“ von 1976 ergaben, bei denen die Stämme Rechtsansprüche (und Schadenersatzforderungen) für besetzte (und vor allem von Minengesellschaften genutzte) Gebiete geltend machen können. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Ortsbezeichnungen in diesen Gebieten zu, die im Sprachgebrauch der Einheimischen inkongruent mit den dezentrierten Identifikationssystemen der westlichen Geographie sind, weil sie in den Mythen der Stämme verankert sind und deren narrative Strukturen spiegeln (insofern auch bei verschiedenen Stämmen, die in den gleichen Gebieten wandern, inkongruent sein können), s. dazu den von H. mitherausgegebenen Band „The Land is a Map: Placenames of Indigenous Origin in Australia“,[23] der im Anhang einen Katalog zu politisch korrektem Umgang mit australischen Ortsnamen enthält. Der (gemeinsam mit J. Simpson) verfaßte Einleitungsartikel, macht diese Probleme exemplarisch deutlich: durch den Aufweis der metonymischen Bezeichnungsstruktur in solchen Wanderungsbeschreibungen (gebunden an eponymische Ahnen), mit der zusätzlichen Komplikation der eventuellen Tabuisierung bestimmter Bezeichnungen gegenüber Nicht-Eingeweihten. In Ihrem Beitrag „Is it really a placename?“ (S. 63-72) zeigt sie die Schwierigkeit einer kontextfreien Analyse von Ortsnamen, die oft nur im Kontext epynomischer Mythen Sinn machen und insofern nur mit den „kompetenten“ Sprechern dekodiert werden können. Das gilt insbesondere für delokutive Namen, die Passagen aus solchen Mythen zitieren, die als Ortsnamen paradox erscheinen können, wie „wo-ist-das?“, „du-gehst-dahin-ich-gehe-dorthin“ u.ä. 2007 wurde sie zum Ehrenmitglied der LSA ernannt. Zur Rolle von H. in der australischen Sprachforschung, die mit ihren Arbeiten einerseits systematisch strukturale Analysen nutzte, andererseits diese systematisch mit ethnologischen Forschungen verknüpfte (daher auch Textsammlungen aufbaute), s. J. Simpson, R. Amery, M.-A. Gale in: „I could have saved you linguists a lot of time and trouble: 180 years of research and documentation of South Australia’s Indigenous languages, 1826-2006“.[24] Ein anekdotisch reiches Bild von H. findet sich in N. Rothwell „Living Ark“.[25]
Q: Festschrift von Peter Austin et al. (Hgg.): “Language and history: Essays in honour of Luise A. Hercus” 1990; Hinweise von Peter Austin.
[1] In: French St. 6/1952: 235-242.
[2] In: J. Royal Asiatic Soc. 1953: 42-52.
[3] In: Indian Linguistics 16/1955: 29-34.
[4] In: J. Royal Asiatic Soc. 1956: 181-190.
[5] In: J. Asiatique 244/1956: 265-273 und 245/1957: 241-252.
[6] In: J. American Orient. Soc. 92/1972: 100-104.
[7] In: J. Royal Asiatic Soc. 1965: 92-98.
[8] In: W.B. McGregor (Hg.), “ Encountering Aboriginal languages”, Canberra: Pacific Linguistics 2008: 163-178.
[9] Delhi: Sri Satguru 1982.
[10] Wiles, Royce (Hg.), “Collected articles of L.A. Schwarzschild on Indo-Aryan 1953-1979“, Canberra: Australian National Univ. 1991.
[11] Canberra: Dep. of Linguistics, nachgedruckt 1986.
[12] In: Papers in Australian Linguistics 7/1974: 13-43.
[13] In: Papers in Australian Linguistics 11/1978: 119-131.
[14] In: Pacific Linguistics C-150 (Canberra 1999).
[15] In: Papers in Australian Linguistics 13/1980: 159-166.
[16] In: Pacific Linguistics A-47/1976: 33-55.
[17] Zu ihrer Art, ihren Gewährsleuten Respekt zu erweisen und sie so überhaupt erst zur Mitarbeit zu gewinnen, s. „Listening“ 2008.
[18] In: Papers in Australian Linguistics 6/1973: 47-72.
[19] In: Pacific Linguistics C-128, (Canberra 1994).
[20] In: C. Bowern/H. Koch (Hgg.), „Australian Languages“ (= Current Issues in Linguistic Theory 249), Amsterdam usw.: Benjamins 2004: 583-645.
[21] In: Bowen/Koch a.a.O.,: 227-243.
[22] In: Monash University Linguistic Papers 4 (2)/2005: 29-41.
[23] Canberra: Pandanus 2002.
[24] In: W. B. McGregorm a.a.O..: 85-111, bes. S.95 ff.
[25] In: The Australian v. 18.8.2008 ( http://www.theaustralian.news.com.au/story/0,,24129613-16947,00.html, Jan. 2009).